Sahneschnitten - Gerd Gahr - E-Book

Sahneschnitten E-Book

Gerd Gahr

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Beschreibung

Der Gewinn einer Sahnetorte in einem Ideenwettbewerb im Stadtviertel und eine nicht ganz korrekte Wiedergabe eines Zeitungsinterviews brachten den Autor auf die Idee, seine gesammelten "Sahneschnitten", sprich autobiografische und historische Fakten teils humorvoll, teils nachdenklich in Buchform festzuhalten. Diese wird ergänzt durch eine Vielzahl von Fotos, um den Leser auch nur mal zum Durchblättern einzuladen

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Dieses Buch widme ich meinem großen Bruder Rolf

(1950-2017)

und meinen Co-Autoren Anna und Liam

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1 Es beginnt mit einem Irrtum

Kapitel 2 Was ist der Crengeldanz?

Kapitel 3 Historischer Überblick

Kapitel 4 Mein Crengeldanz

Kapitel 5 Familie

Kapitel 6 Kindheit im Müllensiefenring

Kapitel 7 Unsere Tante Emma heißt Margot

Kapitel 8 Noch mehr Geschäfte

Kapitel 9 Ohne Anspruch auf Vollständigkeit

Kapitel 10 Haus Zeller

Kapitel 11 Hurra, Hurra, die Post ist da

Kapitel 12 Umzug zur Crengeldanzstraße

Kapitel 13 Vom Loewe-Opta zum Mister Hit

Kapitel 14 Schul- und Konfirmandenunterricht

Kapitel 15 Tiefpunkt

Kapitel 16 Weiterleben

Kapitel 17 Klassenfahrten Teil 2

Kapitel 18 Vom Hand- zum Basketball

Kapitel 19 Umbruch

Kapitel 20 Was soll ich werden?

Kapitel 21 Rückkehr in die Siedlung

Kapitel 22 Straßenfeste

Kapitel 23 Dunkle Vergangenheit

Kapitel 24 Notbahnhof und Luftkrieg

Kapitel 25 Moses und die Wilhelmslust

Kapitel 26 Unser erstes Kind

Kapitel 27 Taubenvatters Jupp

Kapitel 28 Bier, Pilze, Reifen

Kapitel 29 Haus Katharina

Kapitel 30 Walter, Kotelettes und Bier

Kapitel 31 Phantomschmerz

Kapitel 32 Sand, Soda und Kalk

Kapitel 33 Die Scheinriesen

Kapitel 34 Ziegelsteine und Mauern

Kapitel 35 Ewige Ruhe

Kapitel 36 Braune Kunst am Bau

Kapitel 37 Auf dem Wagen

Kapitel 38 Noch mehr von Straßenbahnen

Kapitel 39 Müll und Schrott

Kapitel 40 Drei weitere Villen

Kapitel 41 Apotheke

Kapitel 42 Schlussbetrachtung

Kapitel 43 Bildanhang

Fotos von zeitgeschichtlichen und militärhistorischen Gegenständen aus der Zeit 1933-1945 sind nur zu Zwecken der staatsbürgerlichen Aufklärung, der Abwehr verfassungswidriger und verfassungsfeindlicher Bestrebungen, der wissenschaftlichen und kunsthistorischen Forschung, der Aufklärung oder Berichterstattung über die Vorgänge des Zeitgeschehens oder der militärhistorischen und uniformkundlichen Forschung abgebildet (Paragraph 86a StGB).

Kapitel 1 Es beginnt mit einem Irrtum

Die Westdeutsche Allgemeine Zeitung WAZ berichtet am 24.11.2020 in ihrer Lokalausgabe Witten als e-Print über das Projekt „Sahneschnitten“ des Quartiersmanagements Heven-Ost/ Crengeldanz:

Dazu wird dieser Text veröffentlicht:

Dem jungen WAZ-Redakteur, der mich bei der Veranstaltung ausgiebig interviewt hat, ist wohl einiges bei der Begriffsbestimmung Crengeldanz/Heven durcheinandergeraten beim Verfassen seines Artikels. Ich habe ihm ganz deutlich erklärt, dass ich hauptsächlich den Ortsteil Crengeldanz vertrete.

Eine per E-Mail verschickte kleine Richtigstellung meinerseits findet dann keine Beachtung mehr seitens der WAZ.

Diese sicherlich nicht weltbewegende Geschichte findet so einen Abschluss, aber sie erinnert mich an eine Idee, die schon lange in meinem Kopf herumschwirrt. Mein ganzes Leben hat sich im und am Crengeldanz abgespielt und gerade im vergangenen Jahr 2020 als Vorruheständler bin ich trotz Corona-Krise zu vorher nicht gekannten Aktivitäten in Bezug auf Heimatforschung gekommen. Insbesondere engagiere ich mich für Themen und Projekte des oben schon genannten Quartiersmanagements Heven-Ost/Crengeldanz, wobei mein Schwerpunkt eben eher auf dem Bereich Crengeldanz liegt. Dabei lernt man viele neue interessante Menschen kennen. Mit manchen habe ich mich sogar angefreundet. Einer meiner neuen Freunde bestärkt mich letztendlich, mein Wissen zum Thema Crengeldanz und Umgebung zu Papier zu bringen, nachdem ich mal im Scherz gesagt habe, ich wolle ein Buch darüber schreiben. Es soll weder eine wissenschaftliche Abhandlung werden, noch die Wiederholung von schon bekannten Tatsachen, auf die allerdings nicht ganz verzichtet werden kann. Es soll kein Geschichtsbuch werden, eher ein Buch mit Geschichten. Anknüpfend an meine persönliche Biografie berichte ich von Bekanntem, von Bekannten, von nicht so Bekannten und von Unbekanntem aus meiner Sicht der Dinge. Mal mit, mal ohne Humor, aber hoffentlich so, dass der Leser sich ein Bild machen kann. Um das zu vereinfachen, mische ich den Text mit entsprechenden Bildern.

Kapitel 2 Was ist der Crengeldanz?

Der Crengeldanz, so die umgangssprachliche Bezeichnung, ist ein Stadtteilbezirk von Witten-Mitte, Witten, Nordrhein-Westfalen. Er liegt im Nordwesten der Stadt und grenzt an den Bochumer Stadtteil Langendreer. Westlich gelegen sind die Stadtteilbezirke Papenholz und Krone. Im Süden geht er im weiteren Verlauf der Crengeldanzstraße in die Innenstadtbereiche Tannenberg, Sandstraße und Jahnstraße über und die östliche Begrenzung wird durch die Neubausiedlung Sonnenschein gebildet. Die große Kreuzung Crengeldanzstraße/ Hörder Straße/Bochumer Straße bildet das Herzstück des Gebietes.

Kapitel 3 Historischer Überblick

Der Crengeldanz gilt als einer der historisch wichtigsten Plätze Wittens. Welche Bedeutung mag das Wort Crengeldanz wohl haben? Crengeldanz geht zurück auf das alte Wort „Kringeltanz – im Kreis tanzen“ und damit kann man auf einen heidnischen Versammlungs- und Festplatz schließen, wie Gerrit Haren in seinem Buch „Geschichte der Stadt Witten“ von 1926 schreibt. Haus Crengeldanz als Adelssitz einer adeligen Familie „von Dücker“ wird erstmals im 14. Jahrhundert erwähnt. Heute ist das Gebäude aus dem Jahre 1607 noch vorhanden. Die Ländereien mit Mühle, Gutshof und Gärten sind verschwunden oder stark verändert.

Der schöne Teich direkt vor dem Haus verlandet zurzeit (2021) und ist als solcher kaum noch zu erkennen.

(Foto: Gerd Gahr)

Das Auffinden und die Nutzbarmachung von Steinkohle im Raum Witten und der dadurch bedingte wirtschaftliche Aufschwung führt gegen Ende des 18. Jahrhunderts zum Bau von modernen Chausseen nach französischem Vorbild. So entsteht am Crengeldanz die schon erwähnte Dreier-Kreuzung, die von großer Bedeutung für das Gebiet wird. Die Einrichtung der ersten Post 1825, das Abhalten von riesigen Schafsmärkten ab 1848, der Bau einer Brauerei durch die Familie Dönhoff, dem neuen Besitzer des alten Adelssitzes vor dem Verkauf an die Gebrüder Müllensiefen, sowie um 1899 die Einrichtung der ersten Straßenbahnlinie von Langendreer kommend über den Crengeldanz bis hin nach Bommern führend sind Beispiele dafür.

Eine handkolorierte Karte von 1820 zeigt die Chausseegeldempfangsstelle im „Alten Brauhaus“, wie die Wirtschaft im Fachwerkhaus der Brauerei genannt wurde. Man beachte den Teich auf der anderen Straßenseite.

(Landesarchiv NRW Abteilung Westfalen W051/KartenA Nr.6632)

Der wichtigste Meilenstein für die weitere wirtschaftliche Entwicklung ist der Erwerb von großen Teilen der Besitzung durch den Iserlohner Landrat Peter Müllensiefen. Dieser sucht einen geeigneten Platz zur Ansiedlung einer Glasfabrik für seine Söhne Gustav und Theodor. Neben der guten verkehrstechnischen Situation ist das Vorkommen von Sand als Rohstoff zur Glaserzeugung ein anderer Grund für die Wahl des Standortes. Glasfabrik Gebr. Müllensiefen, Crengeldanzer Glasfabrik, Detag, Flachglas, Pilkington und NSG Automotiv lauten die Firmenbezeichnungen im Laufe der Jahre. Davon wird noch in einem späteren Kapitel die Rede sein.

(Künstler unbekannt, Peter Eberhard Müllensiefen (1766-1847))

(Künstler unbekannt, links Theodor Müllensiefen (1802-1879)) (rechts Gustav Müllensiefen (1799-1874))

Bis zur Gebietsreform von 1929 bilden die Häuserfronten Hörder Straße 4 bis 12 die westliche Grenze der ursprünglichen Stadt Witten. Der Gehweg und der Straßenkörper davor gehören zur schon eigenständigen Gemeinde Langendreer. Große zusammenhängende Gebietsteile vom Crengeldanz und Krone werden erst im Zuge dieser Reform zusammen mit den neuen Stadtteilen Annen, Rüdinghausen, Bommern und Heven der Stadt Witten zugeordnet.

(Stadt Witten: alter Stadtplan)

Kapitel 4 Mein Crengeldanz

Mein Crengeldanz ist ein wenig enger geschnitten. Im Norden reicht er auch bis zur Stadtgrenze. Im Westen und im Süden bilden das ehemalige Straßenbahndepot und die Eisenbahnstrecken die Abgrenzung. Der östliche Rand führt an der Grenze der Glasfabrik, dann am Waldrand des Parks entlang über den Acker nach Norden wieder bis zur Grenze nach Langendreer. Vielfach wird dieser Bereich auch als der untere Crengeldanz bezeichnet.

Dieser enger gefasste Bereich ist gemeint, wenn in meiner Familie und in meinem Bekanntenkreis vom Crengeldanz gesprochen wird. Hier bin ich im Jahre 1956 geboren als Hausgeburt in der Schottstraße 52. Der nach den Krieg neu errichtete Bereich dieser Straße in unmittelbarer Nähe zur Detag wurde 1957 umbenannt in Müllensiefenring. Mit Blick nach Süden sind die Häuser Nr 1-3 im rechts gelegenen Block und Nr 7-11 gegenüber im linken zu sehen. In Nr 3 und später in Nr 9 verbrachte ich die ersten zehn Jahre meines Lebens.

Blick zwischen die Häuserzeilen im Müllensiefenring (Abzug vom Originalglasnegativ als Postkartenvorlage 1962, Sammlung Gerd Gahr) (Mit freundlicher Genehmigung des Schöning-Verlags Lübeck)

Unser Sandkasten mit Bäumen vor der Umgestaltung

heutiger Zustand nach der Sanierung (Fotos: Gerd Gahr)

Luftbild 1958, Crengeldanz mit Detag Glasfabrik mit Ausschnittsvergrößerung (Abzug und Ausschnitt vom Originalglasnegativ um 1960, Sammlung Gerd Gahr) (Mit freundlicher Genehmigung des Schöning-Verlags Lübeck)

Blick auf die Glasfabrik Crengeldanz 1930 Hörder Straße/Langendreer Straße (Foto: Stadtarchiv Witten)

(Foto: Gerd Gahr)

Kapitel 5 Familie

(Foto: privat)

Gerdchen beim Lullen. Wenn ich mal zu lange heule, werde ich auch Brüll-Gerda genannt. Das führt dann zu einer weiteren Steigerung der Lautstärke.

Geboren bin ich 1956 als Hausgeburt in der Schottstraße 52. Die neuen Siedlungshäuser werden ein Jahr später als eigenständige Straße mit dem Namen Müllensiefenring gewidmet.

Einmal in der Woche kommt ein Gemüsebauer mit Pferd und Wagen in die neue Straße, der großen Eindruck auf mich macht. „Der Papoppelmann pommt“ ist einer meiner ersten Sätze. Die K-Schwäche ist übrigens vererbbar und wächst sich später raus. Dem Pferdegespann wird bald die Durchfahrt verboten, weil die Fahrbahn noch keinen festen Belag hat und die Aschendecke durch das Wenden des schweren Wagens immer wieder zerstört wird.

(Foto: privat)

Meine Mutter und meine Frau am selben Baum mit 60 Jahren Zeitunterschied (Foto: Gerd Gahr)

Einschulung am 25.04.1962 Rolf, Brigitte, Mama Erna, Papa Walter, Helga, der Autor und Opa Otto

Und dann bin ich der Papa und heute selbst der Opa (Fotos: privat)

Meine Mutter Erna ist ein echtes Kind des Crengeldanzes, geboren in der Schottstraße, vormals Scharnhorststraße, auch Gartenstadt genannt. Opa Otto und Oma Guste leben in dem Haus Nr 37. Opa ist als junger Mann aus Mecklenburg in den Ruhrpott ausgewandert und hiergeblieben. Über vierzig Jahre lang ist er Straßenbahnwagenführer bei der Westfälischen Straßenbahn, später bei der Bogestra. Er hat Glück und braucht erst in den letzten Kriegstagen zum Volkssturm. Oma Guste ist Hausfrau und in meiner Erinnerung immer ein wenig schwermütig. Sie stammt aus einer vielköpfigen Familie und bringt Onkel Erich mit in die Ehe, den mein Opa laut Beschluss des Familienrates nicht adoptieren darf. Ich hab als kleines Kind die Fähigkeit, sie schon zu bemerken, wenn sie von der Schottstraße in den Müllensiefenring abbiegt. Dann kommt von mir der Ausruf: „Dada pommt!“. Beim Essen von heißer Suppe kommt von Opa regelmäßig der Ausspruch: “Mensch Guste! Dich hört man wieder bis nach Zeller pusten“. Das ist die Kneipe an der Ecke zur Hörder Straße, zweihundert Meter entfernt. Als Vorschulkind bin ich oft und gerne bei den Großeltern.

Mama Erna, Oma Guste, Onkel Erich als Matrose und Opa Otto mit Parteibonbon zu Kriegszeiten (Foto: privat)

Väterlicherseits gibt es in der Familie Opa August und Oma Selma, wohnhaft im Königsholz in Witten. Sie sind deutlich älter als Opa und Oma Schottstraße und stammen aus dem ehemaligen Westpreußen. Opa August dient in jungen Jahren dem Kaiser als Berufssoldat, wechselt nach dem ersten Weltkrieg die Seiten. Als kommunistischer Parteisekretär wird er von den neuen polnischen Machthabern des Landes verwiesen. Zur Zeit der französischen Ruhrbesetzung wird er wieder als unerwünschte politische Person ausgewiesen. Oma Selma und ihr unehelicher Sohn, mein Vater Walter, den Opa später adoptiert, werden eine Zeitlang von der sogenannten Roten Hilfe unterstützt. Opa August ist ein schlimmer Finger und gründet mit zwei Kumpanen eine Minipartei in der Weimarer Republik. Über sein Leben im Dritten Reich ist nichts weiter bekannt. Ich kenne ihn nur als alten Mann, der die spärliche Rente mit dem Verkauf von selbstgemachter Schuhcreme aufbessert. Oma Selma stirbt, als ich gerade sechs Jahre alt bin. Meine Geschwister haben mehr Erinnerung an sie, weil sie mehr Kontakt zu ihnen hatten.

Oma Selma und Opa August (Foto: privat)

Kapitel 6 Kindheit im Müllensiefenring

Ende der 1950er Jahre wohnen wir hier als Erstbezug in einer der „großen“ Wohnungen, die meist an kinderreichen Familien vermietet werden. Wie auch in vielen anderen Nachbarsfamilien, gehen beide Elternteile arbeiten. Das tägliche Leben spielt sich dem Wetter entsprechend draußen ab. Da müssen die großen Kinder auf die Kleinen aufpassen. Es herrscht allgemein eine große Angst vor „Zigeunern“, die den Ruf haben, kleine blonde Kinder zu stehlen, so wie mich... So ein-, zweimal im Jahr gibt es dann wirklich „Zigeuneralarm“, wenn am Crengeldanz „Zigeuner“ gesichtet werden. Das sind fahrende Teppichhändler mit schweren Autos, die aus dem Kofferraum die Ware verkaufen. Sofort verschwinden alle Kinder in den Häusern und nur ein paar von den Großen gehen auf Beobachtungsposten, bis die Autos verschwinden. Es kommt nie zu einem Vorfall, aber als Kind habe ich eine schlimme Angst, wenn das Wort „Zigeuner“ fällt.

(Abzug vom Originalglasnegativ als Postkartenvorlage 1962, Sammlung Gerd Gahr) (Mit freundlicher Genehmigung des Schöning-Verlags Lübeck)

Die Ackerflächen zur Hörder Straße hin gehören dem Bauern Schürmann, der auch die Gärten am Müllensiefenring verpachtet. Mein Vater hat einen davon übernommen und richtet ihn schön her. Er hat eine schwere Krankheit überwunden und blüht richtig auf bei der Arbeit in der Natur. Es entsteht eine Mischung aus Nutz- und Blumengarten mit einer kleinen Ruhewiese. Mein Bruder Rolf und ich helfen ihm dabei, Ziegelsteine für den Wegebau zu holen. Die Detag kippt an der Brückstraße direkt am Bahndamm Bauschutt ab. Opa hat eine alte zweirädrige Holzkarre, in der ich auf dem Hinweg Platz nehmen darf. Aus den Schuttbergen werden nur die besten Steine mit wenig Putzresten ausgesucht und eingeladen. Dann geht es mit vereinten Kräften zurück zum Garten. Rolf mag diese Schufterei überhaupt nicht, weil es schwierig ist, meinem Vater alles recht zu machen.

Bauer Schürmann mit der Kaltblutstute Flora beim Heuwenden

Der Hof Hörder Straße 58 (Fotos: Davide Bentivoglio, mit freundlicher Genehmigung)

Einige der Nachbarn betreiben intensive wirtschaftliche Nutzung ihrer Gärten. Eine Familie hat sogar zwei Gärten an verschiedenen Stellen. Und die Söhne müssen den Großteil der Arbeiten verrichten, meistens als bessere Alternative zu schmerzhaften Bestrafungen wie einer Tracht Prügel oder Stubenarrest. So kommt es in den Sommerferien vor, dass die beiden mal wieder ihren Frondienst ableisten müssen, während der Rest der Kinder sich auf den Weg zum Freibad Langendreer macht. Wir versuchen, die Mutter überreden, ob die Jungen mitkommen dürfen, wenn wir alle mit anpacken im Garten. Nach langem Hin und Her gibt sie ihre Einwilligung und im Nu sind alle Beete vom Unkraut befreit. Kurze Zeit später zieht ein Trupp von Kindern mit bepackten Tretrollern los mit der Maßgabe, die „Großen passen auf die Kleinen auf“. Als das heutige Ostbad komplett neu gebaut wird, weichen wir zum Schwimmengehen sogar nach Bochum Werne aus. Dieser weite Marsch ohne Aufsichtspersonen erscheint mir bei den heutigen Helikoptereltern unvorstellbar.

(Foto: Stadt Bochum Bildarchiv, Freibad in Langendreer, 15.08.1953)

Nach den Osterferien 1962 werde ich eingeschult, und zwar nicht in die nächstgelegene Crengeldanzschule, sondern in die Wideyschule in der Luisenstraße. Das ist fast schon in der Innenstadt. Die besuchen mit mir jetzt alle Gahr-Kinder. Und das hat auch einen besonderen Grund. Die Erinnerung verklärt ja so manches, besonders Ereignisse aus der Kindheit. Auch im Müllensiefenring zieht sich eine kleine soziale Kluft wie eine unsichtbare Linie durch die Straße. Es gibt nicht nur die schon beschriebenen Siedlungshäuser für kinderreiche Familien und junge städtische Beamten. Die Glasfabrik errichtet um 1960 Reihenhäuser für ihre leitenden Angestellten, ausgestattet mich viel Komfort, Hausgärten und Garagen, denn alle neuen Mieter fahren schon Autos. Den feinen Damen wird von schmächtigen Lehrmädchen aus den Tante-Emma-Läden die gekaufte Ware in Weidenkörben mit großen Henkeln nach Hause getragen. Die Bilder habe ich noch im Kopf. Andererseits sind manche der Mütter in den Detaghäusern offener im Umgang als unsere. Da es zwischen uns Kindern kaum Probleme gibt, dürfen wir schon mal bei ihnen im Haus spielen. Die Spielkameraden haben eigene Zimmer, viel mehr Spielzeug und alles ist anders als bei uns zu Hause, wo es nicht üblich ist, Nachbarskinder einzuladen.

Ostern 1962 werde ich in die Wideyschule eingeschult. Mein Schulweg führt an der nähergelegenen Evangelischen Crengeldanzschule vorbei. Meine Geschwister gehen zunächst auch dort zur Schule. Das kann ich nicht so richtig verstehen, bis man mir später den Grund dafür erklärt. Mein beiden älteren Geschwister Brigitte und Rolf sind zuerst auf der völlig überfüllten Crengeldanzschule. Und auch ein Anbau mit neuer Toilettenanlage ändert nichts an der Tatsache, dass die kleineren Kinder vielfach nicht auf die Toilette gelassen werden. Mein Vater geht der Sache auf den Grund. Er bekommt Ärger mit der Schulleitung und meldet daraufhin seine Kinder ab und bringt sie in der Widey-Gemeinschaftsschule unter.

Ehemalige Wideyschule (Fotos: Gerd Gahr)

Der Winter 1962/1963 ist außergewöhnlich streng mit einer langanhaltenden Frostperiode von November bis Ende Februar. Überall entstehen Rodelbahnen, jeder Abhang wird zum Schlittenfahren genutzt. Die Detag gibt sogar den Park frei, eine kleine Anlage östlich vom Müllensiefenring, die sonst nicht betreten werden darf. Mittendrin befindet sich der Privatfriedhof der Familie Müllensiefen, auf dem bis heute Beerdigungen stattfinden. Auffallend ist ein kleiner Hügel, genannt der Hasenberg, von dem es mit Schwung den Weg bis zum Zaun runtergeht. Es wird eine Schlittenkette gebildet, in der der Mutigste bäuchlings auf dem ersten Schlitten liegt und sich mit den Füßen beim zweiten einhakt. Auf den hinteren Schlitten fahren die Kleinen im Sitzen mit und manchmal auch Erwachsene. Wir nennen das je nach Anzahl Vierer- oder Fünferbob.

(Auszug aus der Stadtgrundkarte mit eigenen Ergänzungen) Bitte mit dem Luftbild auf Seite 122 vergleichen