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Der neunte Band der Werkausgabe enthält unter dem Titel »Betrachtungen zur Zeit« neun große Essays Jüngers, darunter »Der Kampf als inneres Erlebnis« und »Über den Schmerz«. Der vorliegende Band entspricht Band 7 der gebundenen Ausgabe. Nicht nur in seinen Tagebüchern, auch in der stärker reflektieren Form des Essays setzt sich Jünger mit dem Kriegserlebnis auseinander, so insbesondere in der vierzehnteiligen Abhandlung »Der Kampf als inneres Erlebnis«, aber auch in »Feuer und Bewegung« und »Über die Mobilmachung«. In dem Essay »Der Friede« richtet Jünger das »Wort an die Jugend Europas und an die Jugend der Welt«, und gewidmet ist seinem gefallenen, gleichnamigen Sohn. Jünger entwirft hierin eine neue Friedensordnung, die sich gleichwohl als Utopie erwies. In den folgenden essayistischen Betrachtungen »Über die Linie«, »Der Waldgang« und »Der gordische Knoten« sucht Jünger zeitkritisch und zeithistorische die Weltsituation in der Nachkriegszeit, insbesondere zu Beginn der 1950er Jahre zu charakterisieren, die so stark von dem Dualismus zwischen der Sowjetunion und den USA geprägt wurde. Ferner enthält der Band die Essays »Über den Schmerz« (1934), »Der Weltstaat« (1960) sowie eine »Ansprache zu Verdun« (1979).
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Seitenzahl: 731
ERNST JÜNGER – SÄMTLICHE WERKE
Tagebücher I-VIII
Band 1 Der Erste Weltkrieg
Band 2 Strahlungen I
Band 3 Strahlungen II
Band 4 Strahlungen III
Band 5 Strahlungen IV
Band 6 Strahlungen V
Band 7 Strahlungen VI, VII
Band 8 Reisetagebücher
Essays I-IX
Band 9 Betrachtungen zur Zeit
Band 10 Der Arbeiter
Band 11 Das Abenteuerliche Herz
Band 12 Subtile Jagden
Band 13 Annäherungen
Band 14 Fassungen I
Band 15 Fassungen II
Band 16 Fassungen III
Band 17 Ad hoc
Erzählende Schriften I-IV
Band 18 Erzählungen
Band 19 Heliopolis
Band 20 Eumeswil
Band 21 Die Zwille
Supplement
Band 22 Verstreutes – Aus dem Nachlaß
Sämtliche Werke 9
Essays I
Betrachtungen zur Zeit
Klett-Cotta
Die 22 Bände der Sämtlichen Werke, die zwischen 1978 und 2003 bei Klett-Cotta erschienen sind (1–18: 1978–1983; Supplemente 19–22: 1999–2003), enthalten Ernst Jüngers Fassung letzter Hand. Ihr folgt diese Taschenbuchausgabe in Seiten- wie Zeilenumbruch. Offensichtliche Fehler wurden korrigiert, die posthum erschienenen Supplementbände integriert. Der vorliegende Band entspricht Band 7 der gebundenen Ausgabe.
Klett-Cotta
www.klett-cotta.de
© 2015 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung
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Alle Rechte vorbehalten
Reihengestaltung Ingo Offermanns, Hamburg, unter
Verwendung von Illustrationen von Niklas Sagebiel, Berlin
Gesetzt von pagina, Tübingen
Datenkonvertierung: Lumina Datamatics GmbH
Printausgabe: ISBN 978-3-608-96309-0
E-Book: ISBN 978-3-608-10909-2
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
INHALT
Der Kampf als inneres Erlebnis
Einleitung
Blut
Grauen
Der Graben
Eros
Pazifismus
Mut
Landsknechte
Kontrast
Feuer
Untereinander
Angst
Vom Feinde
Vorm Kampf
Feuer und Bewegung
Die Totale Mobilmachung
Über den Schmerz
Der Friede
I Die Saat
II Die Frucht
Über die Linie
Der Waldgang
Der Gordische Knoten
Der Weltstaat
Ansprache zu Verdun
am 24. Juni 1979
MEINEM LIEBEN BRUDER FRITZ
ZUR ERINNERUNG AN DIE BEGEGNUNG
AUF DEM SCHLACHTFELD
VON LANGEMARCK
ERSTAUSGABE 1922
REVIDIERTE FASSUNG 1926
Zuweilen erstrahlt an den Horizonten des Geistes ein neues Gestirn, das die Augen der Rastlosen trifft, Verkündigung und Sturmsignal einer Weltwende wie einst den Königen aus dem Morgenlande. Dann ertrinken die Sterne ringsum in feuriger Glut, Götzenbilder splittern zu irdenen Scherben, und wieder einmal schmilzt alle geprägte Form in tausend Hochöfen, um zu neuen Werten gegossen zu werden.
Die Wellen solcher Zeit umbranden uns von allen Seiten. Hirn, Gesellschaft, Staat, Gott, Kunst, Eros, Moral: Zerfall, Gärung – Auferstehung? Noch flirren rastlos die Bilder vorüber, noch wirbeln die Atome in den Siedekesseln der Großstadt. Und doch wird auch dieser Sturm zerflattern, auch dieser Glutstrom zu Ordnung erkalten. Noch zerschellte jede Raserei an grauem Gemäuer, oder es fand sich einer, der sie mit stählerner Faust vor seinen Wagen spannte.
Warum ist gerade unsere Zeit an Kräften, vernichtenden und zeugenden, so überreich? Warum trägt gerade sie so ungeheure Verheißung im Schoß? Denn mag auch vieles unter Fiebern sterben, so braut zu gleicher Zeit die gleiche Flamme Zukünftiges und Wunderbares in tausend Retorten. Das zeigt ein Gang auf die Straße, ein Blick in die Zeitung, allen Propheten zum Trotz.
Der Krieg ist es, der die Menschen und ihre Zeiten zu dem machte, was sie sind. Ein Geschlecht wie das unsere ist noch nie in die Arena der Erde geschritten, um unter sich die Macht über sein Zeitalter auszuringen. Denn noch nie trat eine Generation aus einem Tore so dunkel und gewaltig wie aus dem dieses Krieges in das lichte Leben zurück. Und das können wir nicht leugnen, so gern mancher wohl möchte: Der Krieg, aller Dinge Vater, ist auch der unsere; er hat uns gehämmert, gemeißelt und gehärtet zu dem, was wir sind. Und immer, solange des Lebens schwingendes Rad noch in uns kreist, wird dieser Krieg die Achse sein, um die es schwirrt. Er hat uns erzogen zum Kampf, und Kämpfer werden wir bleiben, solange wir sind. Wohl ist er gestorben, sind seine Schlachtfelder verlassen und verrufen wie Folterkammer und Galgenberg, doch sein Geist ist in seine Fronknechte gezogen und läßt sie nie aus seinem Dienst. Und ist er in uns, so ist er überall, denn wir formen die Welt, nicht anders, Anschauende im schöpferischsten Sinne. Hört ihr nicht, wie er aus tausend Städten brüllt, wie rings Gewitter uns umtürmen wie damals, als der Ring der Schlachten uns umschloß? Seht ihr nicht, wie seine Flamme aus den Augen jedes Einzelnen glüht? Manchmal wohl schläft er, doch wenn die Erde bebt, entspritzt er kochend allen Vulkanen.
Indes: Nicht nur unser Vater ist der Krieg, auch unser Sohn. Wir haben ihn gezeugt und er uns. Gehämmerte und Gemeißelte sind wir, aber auch solche, die den Hammer schwingen, den Meißel führen, Schmiede und sprühender Stahl zugleich, Märtyrer eigener Tat, von Trieben Getriebene.
Im Schoße versponnener Kultur lebten wir zusammen, enger als Menschen zuvor, in Geschäfte und Lüste zersplittert, durch schimmernde Plätze und Untergrundschächte sausend, in Cafés vom Glanze der Spiegel umstellt, Straßen, Bänder farbigen Lichtes, Bars voll schillernder Liköre, Konferenztische und letzter Schrei, jede Stunde eine Neuigkeit, jeden Tag ein gelöstes Problem, jede Woche eine Sensation, eine große überdröhnte Unzufriedenheit am Grund. Technisch noch produktiv, standen wir mit Ben-Akiba-Lächeln am Ende der Kunst, hatten die Welträtsel gelöst oder glaubten uns auf dem besten Wege dazu. Der Kristallisationspunkt war schier erreicht, der Übermensch nahe herbeigekommen.
So lebten wir dahin und waren stolz darauf. Als Söhnen einer vom Stoffe berauschten Zeit schienen Fortschritt uns Vollendung, die Maschine der Gottähnlichkeit Schlüssel, Fernrohr und Mikroskop Organe der Erkenntnis. Doch unter immer glänzender polierter Schale, unter allen Gewändern, mit denen wir uns wie Zauberkünstler behängten, blieben wir nackt und roh wie die Menschen des Waldes und der Steppe.
Das zeigte sich, als der Krieg die Gemeinschaft Europas zerriß, als wir hinter Fahnen und Symbolen, über die mancher längst ungläubig gelächelt, uns gegenübertraten zu uralter Entscheidung. Da entschädigte sich der Mensch in rauschender Orgie für alles Versäumte. Da wurden seine Triebe, zu lange schon durch die Gesellschaft und ihre Gesetze gedämmt, wieder das Einzige und Heilige und die letzte Vernunft. Und alles, was das Hirn im Laufe der Jahrhunderte in immer schärfere Formen gestaltet hatte, diente nur dazu, die Wucht der Faust ins Ungemessene zu steigern.
Das liegt nun hinter uns, schwarz und unheimlich wie ein Wald, zur Nacht durchschritten. Wer könnte nicht verstehen, daß da der Atem schneller weht? Wir stürzten uns wie Taucher ins Erleben und kehren verändert zurück.
Was ging am Grunde vor? Träger des Krieges und seine Geschöpfe, Menschen, deren Leben zum Kriege führen mußte und durch ihn in neue Bahnen, neuen Zielen zu geschleudert wurde – was waren wir ihm, und was war er uns? Das ist eine Frage, die heute mancher zu beantworten sucht. Mit ihr beschäftigen sich auch diese Blätter.
Das menschliche Geschlecht ist ein geheimnisvoller, verschlungener Urwald, dessen Kronen, vom Hauch freier Meere umglitten, sich immer mächtiger aus Dunst, Schwüle und Dumpfheit der klaren Sonne entgegenrecken. Sind die Gipfel mit Duft, Farbe und Blüten umhüllt, so wuchert in den Tiefen eine Wirrnis seltsamer Gewächse. Fällt, wenn die Sonne verglüht, in die Becher federnder Palmen eine Kette roter Papageien wie ein Geschwader königlicher Träume, so dringt aus der bereits in Nacht getauchten Niederung das widrige Durcheinander kriechenden, schleichenden Getiers, kreischender Aufschrei von Opfern, die der hinterlistige Überfall gieriger, mordgeübter Zähne und Krallen aus dem Schlafe, der Höhle, dem warmen Neste in den Tod reißt.
So wie der Urwald immer ragender und gewaltiger zur Höhe strebt, seines Wachstums Kräfte aus dem eigenen Niedergange, seinen im schlammigen Boden verwesenden und zerfallenden Teilen saugend, so erwächst jede neue Generation der Menschheit auf einem Grunde, geschichtet durch den Zerfall unzähliger Geschlechter, die hier vom Reigen des Lebens ausruhen. Wohl sind die Körper dieser Gewesenen, die zuvor ihren Tanz geendet, vernichtet, im flüchtigen Sande verweht oder vermodert auf dem Grund der Meere. Doch ihre Teile, ihre Atome werden vom Leben, dem sieghaften, ewig jungen, wieder herangerissen in rastlosem Wechsel und so erhoben zu ewigen Trägern lebendiger Kraft.
So behält auch des Daseins Inhalt, jeder Gedanke, jede Tat und jedes Gefühl, das diese endlose Reihe von Vorgängern durch die Gefilde des Lebens schnellte, ewigen Wert. Wie der Mensch sich aufbaut auf dem Tier und seinen Bedingungen, so wurzelt er auch auf allem, was seine Väter durch Faust, Hirn und Herz im Gang der Zeiten erschufen. Seine Geschlechter gleichen den Schichten eines Korallenstaates; kein Steinchen ist denkbar ohne die unzähligen, schon längst erloschenen, auf die es sich gründet. Der Mensch ist der Träger, das ständig wechselnde Gefäß all dessen, was vor ihm getan, gedacht und empfunden wurde. Er ist auch der Erbe aller Sehnsucht, die vor ihm andere mit unwiderstehlicher Gewalt den fernen, in Nebel gehüllten Zielen zutrieb.
Noch immer schaffen die Menschen an einem Turmbau von unermeßlicher Höhe, zu dem sie ein Geschlecht, einen Zustand ihres Seins mit Blut, Qual und Sehnsucht auf den anderen schichten.
Wohl schwingt sich der Turm in immer steilere Höhe, seine Zinnen erheben den Menschen immer mehr zum Überwinder, geben seinem Blick immer größere, reichere Länder preis, doch schreitet der Aufbau nicht in ruhigem Gleichgewicht fort. Oft ist das Werk bedroht, Mauern stürzen oder werden niedergerissen von Toren, Entmutigten, Verzweifelten. Rückschläge längst bezwungen geglaubter Zustände, Ausbrüche elementarer Gewalten, die brodelnd kochten unter erstarrter Kruste, offenbaren die lebendige Macht uralter Kräfte.
Aufgebaut aus unzähligen Bausteinen ist auch der Einzelne. Die endlose Kette der Ahnen schleift ihm am Boden nach; er ist gefesselt und gesponnen mit tausend Bändern und unsichtbaren Fäden an das Wurzelgeflecht des Urwaldsumpfes, dessen gärende Wärme seinen Urkeim gebrütet. Zwar hat sich das Wilde, Brutale, die grelle Farbe der Triebe geglättet, geschliffen und gedämpft in den Jahrtausenden, in denen die Gesellschaft die jähen Begierden und Lüste gezäumt. Zwar hat zunehmende Verfeinerung ihn geklärt und veredelt, doch immer noch schläft das Tierische auf dem Grunde seines Seins. Noch immer ist viel Tier in ihm, schlummernd auf den bequemen, gewirkten Teppichen einer polierten, gefeilten, geräuschlos ineinandergreifenden Zivilisation, verhüllt in Gewohnheit und gefällige Formen; doch wenn des Lebens Wellenkurve zur roten Linie des Primitiven zurückschwingt, fällt die Maskierung: nackt wie je bricht er hervor, der Urmensch, der Höhlensiedler, in der ganzen Unbändigkeit seiner entfesselten Triebe. Das Erbteil seiner Väter flammt in ihm auf, immer wieder, wenn das Leben sich auf seine Urfunktionen besinnt. Das Blut, das im maschinenhaften Treiben seiner steinernen Geniste, der Städte, kühl und regelmäßig die Adern durchfloß, schäumt auf, und das Urgestein, das lange Zeiten kalt und starr in verborgenen Tiefen geruht, zerschmilzt wieder in weiße Glut. Die zischt ihm entgegen, Lohe, Ansprung, vernichtender Überfall, immer, wenn er hinabsteigt in das Gewirr der Schächte. Von Hunger zerrissen, in der keuchenden Verschlingung der Geschlechter, in der Begegnung auf Leben und Tod ist er immer der alte.
Im Kampf, der alle Übereinkunft vom Menschen reißt wie die zusammengeflickten Lumpen eines Bettelmannes, steigt das Tier als geheimnisvolles Ungeheuer vom Grunde der Seele auf. Da schießt es hoch als verzehrende Flamme, als unwiderstehlicher Taumel, der die Massen berauscht, eine Gottheit, über den Heeren thronend. Wo alles Denken und alle Tat sich auf eine Formel zurückführt, müssen auch die Gefühle zurückschmelzen und sich anpassen der fürchterlichen Einfachheit des Zieles, der Vernichtung des Gegners. Das wird bleiben, solange es Menschen gibt.
Da spielt die äußere Form keine Rolle. Ob im Augenblick der Begegnung die Krallen gespreizt und die Zähne entblößt, ob roh gekantete Beile geschwungen, hölzerne Bogen gespannt werden oder ob sehr feine Technik die Vernichtung zu höchster Kunst erhebt, stets kommt der Punkt, wo aus dem Weißen im Auge des Feindes der Rausch des roten Blutes flammt. Immer löst der keuchende Ansprung, der letzte, verzweifelte Gang dieselbe Summe der Gefühle aus, ob nun die Faust die geschnitzte Keule oder die sprengstoffgefüllte Handgranate schwingt. Und immer auf den Gefilden, wo die Menschheit ihre Sache zur blutigen Entscheidung stellt, mag es der schmale Paß zwischen zwei kleinen Bergvölkern, mag es der weitgeschwungene Bogen moderner Schlachten sein, kann alles Grausige, alle Häufung raffiniertester Schrecken nicht so den Menschen mit Grauen durchtränken wie die sekundenlange Erscheinung seines Ebenbildes, das vor ihm auftaucht, alle Feuer der Vorzeit im verzerrten Gesicht. Denn alle Technik ist Maschine, ist Zufall, das Geschoß blind und willenlos; den Menschen aber treibt der Wille zu töten durch die Gewitter aus Sprengstoff, Eisen und Stahl, und wenn zwei Menschen im Taumel des Kampfes aufeinanderprallen, so treffen sich zwei Wesen, von denen nur eins bestehen kann. Denn diese zwei Wesen haben sich zueinander in ein Urverhältnis gesetzt, in den Kampf ums Dasein in seiner nacktesten Form. In diesem Kampfe muß der Schwächere am Boden bleiben, während der Sieger, die Waffe fester in der Faust, über den Erschlagenen hinwegtritt, tiefer ins Leben, tiefer in den Kampf. So ist der Aufschrei, den solcher Anprall mit dem des Feindes vermischt, ein Schrei, der sich Herzen entringt, vor denen die Grenzen der Ewigkeit schimmern. Es ist ein Schrei, im Flusse der Kultur längst vergessen, ein Schrei aus Erkennen, Grauen und Blutdurst.
Auch aus Blutdurst. Das ist neben dem Grauen das zweite, was den Kämpfer mit einer Sturzflut roter Wellen überbrandet: der Rausch, der Durst nach Blut, wenn das zuckende Gewölk der Vernichtung über den Feldern des Zornes lastet. So seltsam es manchem klingen mag, der nie um Da-Sein gerungen: Der Anblick des Gegners bringt neben letztem Grauen auch Erlösung von schwerem, unerträglichem Druck. Das ist die Wollust des Blutes, die über dem Kriege hängt wie ein rotes Sturmsegel über schwarzer Galeere, an grenzenlosem Schwunge nur der Liebe verwandt. Sie zerrt schon im Schoße aufgepeitschter Städte die Nerven, wenn die Kolonnen im Regen glühender Rosen den Morituri-Gang zum Bahnhof tun. Sie schwelt in den Massen, die sie umrasen mit Jubelruf und schrillen Schreien, ist ein Teil der Gefühle, die auf die zum Tode schreitenden Hekatomben niederschauern. Gespeichert in den Tagen vor der Schlacht, in der schmerzhaften Spannung des Vorabends, auf dem Marsche der Brandung zu, in der Zone der Schrecknisse vorm Kampf aufs Messer, lodert sie auf zu knirschender Wut, wenn der Schauer der Geschosse die Reihen zerschlägt. Sie ballt alles Streben um einen Wunsch: sich auf den Gegner stürzen, ihn packen, wie es das Blut verlangt, ohne Waffe, im Taumel, mit wildem Griff der Faust. So ist es von je gewesen.
Das ist der Ring von Gefühlen, der Kampf, der in der Brust des Kämpfers tobt, wenn er die Flammenwüste der riesigen Schlachten durchirrt: das Grauen, die Angst, die Ahnung der Vernichtung und das Lechzen, sich im Kampfe völlig zu entfesseln. Hat er, eine durch das Ungeheure rasende kleine Welt in sich, die bis zum Platzen gestaute Wildheit in jäher Explosion, dem klaren Gedächtnis für immer verlorenen Augenblicken entladen, ist Blut geflossen, sei es eigener Wunde entströmend oder der des anderen, so sinken die Nebel vor seinen Augen. Er starrt um sich, ein Nachtwandler, aus drückenden Träumen erwacht. Der ungeheuerliche Traum, den die Tierheit in ihm geträumt in Erinnerung an Zeiten, wo sich der Mensch in stets bedrohten Horden durch wüste Steppen kämpfte, verraucht und läßt ihn zurück, entsetzt, geblendet von dem Ungeahnten in der eigenen Brust, erschöpft durch riesenhafte Verschwendung von Willen und brutaler Kraft.
Dann erst erkennt er den Ort, an den ihn der stürmende Schritt verschlagen, erkennt das Heer von Gefahren, denen er entronnen, und erbleicht. Hinter dieser Grenze beginnt erst der Mut.
Auch das Grauen gehört zu dem Ring von Gefühlen, die seit langem in unseren Tiefen ruhen, um bei gewaltigen Erschütterungen mit Urkraft hervorzubrechen. Selten umflattern seine dunklen Schwingen die hohe Stirn des Modernen.
Dem Urmenschen war es steter, unsichtbarer Begleiter auf seinen Wanderungen durch die Unermeßlichkeit öder Steppen. Es erschien ihm in der Nacht, in Donner und Blitz, und warf ihn mit würgendem Griff in die Knie, ihn, unseren Ahnen, der, seinen armseligen Kieselstein in der Faust, allen Mächten der Erde gegenüberstand. Und doch hob gerade dieser Augenblick seiner größten Schwäche ihn über das Tier hinaus. Denn das Tier kann wohl Schreck empfinden, wenn plötzlich eine Gefahr es anspringt, es kann Angst empfinden, wenn es verfolgt und in die Enge getrieben wird, doch das Grauen ist ihm fremd. Es ist das erste Wetterleuchten der Vernunft.
Auch der Wollust, dem Rausch des Blutes und der Lust des Spieles ist es nahe verwandt. Lauschten wir nicht alle als Kinder lange Winterabende unheimlichen Geschichten? Da bebten alle Fibern, man hätte sich in eine sichere Höhle verkriechen mögen und konnte doch nicht genug bekommen. Das war, als ob man, in Schilf und Schlamm verirrt, auf ein Nest gefleckter Schlangen gestoßen wäre und könnte nicht fliehen aus Lust, das scheußliche Geringel zu betrachten.
An Stätten, wo das Volk gesteigertes Leben sucht, auf jedem Jahrmarkt, jedem Schützenplatz lockt auf bemalter Leinwand das Grauen in grellen Farben. Lustmorde, Hinrichtungen, Wachskörper, mit eitrigen Geschwüren besät, lange Reihen anatomischer Scheußlichkeiten: wer das zur Schau stellt, kennt die Masse und füllt die Tasche. Oft und lange stand ich vor solchen Buden und starrte in die Gesichter der Heraustretenden. Fast stets war da ein Lachen und klang doch so seltsam verlegen und gepreßt. Was sollte dieses Lachen verbergen? Und weshalb stand ich dort? War das nicht meine Lust am Grauen? Die Lust der Kinder und des Volkes ist keinem fremd.
Wie das Kind in der Gesindeküche, der Bauernbursche im Schreckenskabinett, so hockten in ihren Kasernenstuben junge Freiwillige um einen Älteren geschart, aus dessen Stimme noch das Grauen des Schlachtfeldes bebte. Wurden die Gesichter auch fahl, die Augen dunkel, so war doch kaum einer, der nicht noch brennender den Tag des Ausmarsches ersehnte. Jeden trieb es, der Gorgo ins Antlitz zu starren, mochte auch der Herzschlag darüber verstummen.
Und die Stunde kam für jeden, wo es aufbraute, dunkel, unbestimmt, aus der Tiefe, gerade wenn man am wenigsten daran gedacht. Wenn die Felder leer waren wie an hohen Festtagen, und doch ganz anders. Wenn das Blut durch Hirn und Adern wirbelte wie vor einer ersehnten Liebesnacht und noch viel heißer und toller. Wenn man dem tosenden Lärm da vorn immer näher und näher rückte, die Schläge immer dröhnender, immer hastiger sich jagten, wenn vor der Überfülle hetzender Gedanken rings die Ebenen erglühten, wenn man so Gefühl war, daß Landschaft und Geschehen später nur dunkel und traumhaft der Erinnerung enttauchten. Die Feuertaufe! Da war die Luft so von überströmender Männlichkeit geladen, daß jeder Atemzug berauschte, daß man hätte weinen mögen, ohne zu wissen, warum. O Männerherzen, die das empfinden können!
Dann strich es die Kolonne entlang mit Fledermausschwung, daß Lachen und Zuruf im Munde erstarben. Am Wege zur Seite lag einer hölzern und steif mit spitzem, wachsgelbem Gesicht, aus dem die Augen so gläsern ins Leere starrten. Der erste Tote – ein unvergeßlicher Augenblick, der das Herzblut zu stockenden Eiskristallen zerfror. Da bäumte sich in jedem das Grauen auf als blasser, scheuender Gaul vor nächtlichem Abgrund. Und jedem bohrte sich für alle Zeiten ein anderer Eindruck ins Hirn. Dem einen die Hand, wie eine Kralle in Moos und Erde geschlagen, dem anderen die bläulichen Lippen über der Weiße des Gebisses, dem dritten die schwarze, blutige Kruste im Haar. Ach, man konnte noch so vorbereitet sein auf diesen Augenblick, alles zerschellte an dieser grauen Gestalt am Wegrand, auf deren schmutzigem Gesicht schon die ersten blauen Fliegen spielten. Diese Gestalt und die unzähligen, die noch folgten, erschienen immer wieder in ihren tausend verzerrten Stellungen, mit zerrissenen Körpern und klaffenden Schädeln, bleiche mahnende Geister, irren Grabenbesatzungen in den Minuten vorm Sturm, bis der erlösende Schrei zum Angriff erscholl.
Das Grauen ist in unserer Vorstellung unlöslich mit dem Tode verflochten; wir können es nicht von ihm trennen, wie es der Urmensch nicht trennen konnte vom Blitzstrahl, der neben ihm zur Erde flammte. Ob späte Geschlechter auch dieses Grauen überwinden und in derselben mitleidsvollen Rührung an uns zurückdenken werden, an uns und die Gefühle, die unsere Brust durchzitterten auf den Irrwegen durch die unendliche Einöde der Fronten?
Auf diesen nächtlichen Gängen durch zuckende Wüsten war das Herz so einsam und verwaist, als ob es pendelnd über dem tödlichen Schimmer vereister Meere schwänge. Alle Wärme wurde verschlungen von lauernder Unerbittlichkeit rundum. Unzählige Male verhallte das klagende Geheul eines langsam Sterbenden in die Leere. Weiter, nur weiter, der sicheren Höhle zu!
Obwohl man lange Jahre über das zerstampfte, narbenbesäte Gefilde geschritten war, fuhr man doch immer wieder plötzlich auf, wie aus Wahnsinn und schrecklichen Träumen erwachend. Wo war man? Irgendwo auf den Kraterfeldern des Mondes? Ausgestoßen in die Tiefen eines Inferno? Das konnte doch keine irdische Landschaft sein, dieser höllische Tanzplatz des Todes, an den Rändern von gelblichen Flammen umfaßt! Keine Herdstätte blinkte ihr friedliches Licht in den Raum, nur die bunten Signale der Vernichtung fuhren aus irgendeinem Erdloch in die Luft als feuriges Vorspiel eines krachenden Gemetzels. Kein Strauch, kein winziges Hälmchen streifte den stolpernden Fuß. Fahle Nebel und giftige Gase umschwammen Inseln trauriger Bäume, schwarze, zerschlagene Gerippe. Manchmal tauchte ein Haus auf, verlassen und zerfallen wie ein Wrack am Grunde des Meeres. Was war es, das im ungewissen Lichte aus allen Winkeln mit schleimigen Fangarmen nach dem Herzen tastete? Das Grauen des Todes und der Verwesung.
Die Verwesung. Manch einer zerging ohne Kreuz und Hügel in Regen, Sonne und Wind. Fliegen umschwirrten seine Einsamkeit in dichter Wolke, schwüler Dunsthauch umschwebte ihn. Unverkennbar ist der Geruch des verwesenden Menschen, schwer, süßlich und widerlich haftend wie zäher Brei. Nach großen Schlachten brütete er so lastend über den Feldern, daß auch der Hungrigste das Essen vergaß.
Oft hielt ein Fähnlein eherner Gesellen sich endlose Tage im Gewölk der Schlacht, verbissen in ein unbekanntes Stückchen Graben oder eine Reihe von Trichtern, wie sich Schiffbrüchige im Orkan an zertrümmerte Masten klammern. In ihrer Mitte hatte der Tod seine Feldherrnstandarte in den Boden gestoßen. Leichenfelder vor ihnen, von ihren Geschossen gemäht, neben und zwischen ihnen die Leichen der Kameraden, Tod selbst in ihren Augen, die seltsam starr in eingefallenen Gesichtern lagen, diesen Gesichtern, die an die grausige Realistik alter Kreuzigungsbilder erinnerten. Fast verschmachtet hockten sie in der Verwesung, die unerträglich wurde, wenn wieder einer der Eisenstürme den erstarrten Totentanz aufrührte und die mürben Körper hoch in die Lüfte schleuderte.
Was half es, daß sie die nächsten mit Sand und Kalk bestreuten oder eine Zeltbahn über sie warfen, um dem steten Anblick der schwarzen, gedunsenen Gesichter zu entgehen. Es waren zu viele; überall stieß der Spaten auf etwas Verschüttetes. Alle Geheimnisse des Grabes lagen offen in einer Scheußlichkeit, vor der die tollsten Träume verblichen. Haare fielen in Büscheln von Schädeln wie fahles Laub von herbstlichen Bäumen. Manche zergingen in grünliches Fischfleisch, das nachts durch zerrissene Uniformen glänzte. Trat man auf sie, so hinterließ der Fuß phosphorische Spuren. Andere wurden zu kalkigen, langsam zerblätternden Mumien gedörrt. Anderen floß das Fleisch als rotbraune Gelatine von den Knochen. In schwülen Nächten erwachten geschwollene Kadaver zu gespenstischem Leben, wenn gespannte Gase zischend und sprudelnd den Wunden entwichen. Am furchtbarsten jedoch war das brodelnde Gewühl, das denen entströmte, die nur noch aus unzähligen Würmern bestanden.
Was soll ich eure Nerven schonen? Lagen wir nicht selbst einmal vier Tage lang in einem Hohlweg zwischen Leichen? Waren wir da nicht alle, Tote und Lebendige, mit einem dichten Teppich großer, blauschwarzer Fliegen bedeckt? Gibt es noch eine Steigerung? Ja: es lag dort mancher, mit dem wir manche Nachtwache, manche Flasche Wein und manches Stück Brot geteilt hatten. Wer darf vom Kriege reden, der nicht in unserem Ringe stand?
Schritt nach solchen Tagen der Frontsoldat durch die Städte des Hinterlandes in grauen, schweigenden Kolonnen, gebeugt und zerlumpt, dann erstarrte sein Anblick selbst das gedankenlose Treiben der Sorglosen dahinten. »Wie aus dem Sarge genommen«, flüsterte einer seinem Mädchen zu, und jeder erbebte, den die Leere der toten Augen streifte. Diese Männer waren vom Grauen durchsättigt, sie wären verloren gewesen ohne den Rausch. Wer kann das ermessen? Nur ein Dichter, ein poète maudit in der wollüstigen Hölle seiner Träume.
Et dites-moi s’il est encore quelque torture
Pour ce vieux corps sans âme et mort parmi les morts?
Durchdringendes Grauen, in seinen feinen Ausstrahlungen nur Empfindsamsten zugänglich, lag im Kontrast, aufknisternd, wo Leben und Vernichtung in starker Verkörperung sich berührten. Es entquoll der Zerstörung, furchtbar in ihrer scheinbar irrsinnigen Zwecklosigkeit.
Wie geschändete Grüfte gähnten wüste Dörfer in die Nacht, von weißem Mondlicht durchflutet, von Aasdunst umwittert, mit grasbedeckten Straßen, über die lautlose Rudel von Ratten schwirrten. Zögernd bog man um die Brandstätten reicher Höfe, in unbestimmter Angst, plötzlich auf die Geister friedlichem Dahinleben Entrissener zu stoßen. Konnte der Abbé nicht hinter der Ruine des Pfarrhauses auftauchen? Was mochte das Dunkel der Keller verbergen? Eine Frauenleiche mit strähnigem Haar, auf schwarzen Grundwassern treibend? In den Ställen hingen Tierkadaver, immer noch an verkohltes Gebälk gekettet. Im geborstenen Torweg lag wie ein winziger Leichnam eine Kinderpuppe.
Man zog ja über das Grausige hinweg mit genagelten Stiefeln, ehern und blutgewohnt. Und doch fühlte man, wie etwas um die verwaisten Kamine strich und einem den Hals zuschnürte, so eisig, daß man schlucken mußte. Man war ja ein Träger des Krieges, rücksichtslos und verwegen, hatte manchen umgelegt, über den man weitergeschritten war mit starken Gefühlen in der Brust. Doch dies war wie ein Kinderwimmern aus wilden Mooren, eine gespenstische Klage wie das Glockengeläut des versunkenen Vineta über Meer und Mittag. Gleich dem Untergang jener übermütigen Stadt spürte man das hoffnungslose Versinken einer Kultur, erschauernd vor der Erkenntnis, im Strudel mit hinabgerissen zu werden.
Zwischen Lachen und Wahnsinn liegt oft nicht mehr als Messers Schneide. Einmal, zu Beginn einer Offensive, durchschritt ich eine Stadt, aus der die Bewohner nur das nackte Leben gerettet hatten. Ein Begleiter stieß mich lächelnd an und deutete auf ein Haus, dessen Dach und Mauern schon von Rissen klafften. Ein Schaufenster hatte sich merkwürdig klar erhalten inmitten der beginnenden Zerstörung. Es barg ganze Reihen von Damenhüten. Wenige Tage zuvor hatte ich, am Spätabend einer Schlacht, einen gefallenen Freund suchend, die Körper einer Leichengruppe auseinandergezerrt. Plötzlich war mir aus dem zerrissenen Rock des einen eine gemästete Ratte entgegengesprungen. Trotzdem hat mich dieses Erlebnis nicht so gepackt wie der geisterhafte Kontrast zwischen der verödeten Straße und dem glänzenden Flitter aus lackiertem Stroh, Seide und bunten Federn, der so an Frauenhände und an die tausend Überflüssigkeiten erinnerte, die unser Leben erst farbig machen.
Ein anderes Mal, während endloser Nachtwache im dunklen Winkel einer Schulterwehr mit einem alten Krieger zusammen, fragte ich ihn im Laufe einer geflüsterten Unterhaltung nach seinem grausigsten Erlebnis. In kurzen Pausen erglühte seine Zigarette unterm Stahlhelm und bewarf das fleischlose Gesicht mit rotem Glanz. Er erzählte:
»Zu Beginn des Krieges stürmten wir ein Haus, das eine Wirtschaft gewesen war. Wir drangen in den verbarrikadierten Keller und rangen im Dunkel mit tierischer Erbitterung, während über uns das Haus schon brannte. Plötzlich, wohl durch die Glut des Feuers ausgelöst, setzte oben das automatische Spiel eines Orchestrions ein. Ich werde nie vergessen, wie sich in das Gebrüll der Kämpfer und das Röcheln der Sterbenden das unbekümmerte Geschmetter einer Tanzmusik mischte.«
Es gäbe noch viel zu berichten. Von Männern, die gellend und lange lachten, nachdem ein Geschoß ihnen den Schädel zertrümmert, von einem, der in einer Winterschlacht sich die Uniform vom Leibe riß und grinsend über blutige Schneefelder raste, vom satanischen Humor der großen Verbandplätze und manches andere. Doch sind wir Kinder der Zeit ja der nackten Tatsachen überdrüssig geworden. So überdrüssig.
Es sind ja auch nicht die Tatsachen, sondern gerade das Ungewisse, das Unbeschreibliche, das dumpfe Ahnen, das manchmal hervorschwelt wie der Rauch eines verborgenen Schiffsbrandes. Vielleicht ist alles auch nur ein Hirngespinst. Und doch lag es wieder so greifbar, so bleiern schwer auf den Sinnen, wenn eine verlassene Schar unter dem Gewölbe der Nacht durch unbekanntes Gelände kreuzte, fern und näher von eisernen Wuchten umdröhnt. Entriß sich dann plötzlich in ihrer Mitte ein Glutstrahl der Erde, so trieb ein Schrei von erschütternder Erkenntnis ins Unendliche. Dann mochte den Hirnen im letzten Feuer der dunkle Vorhang des Grauens jäh emporgerauscht sein; doch was dahinter auf der Lauer lag, das konnte der erstarrte Mund nicht mehr verkünden.
Der Graben. Arbeit, Grauen und Blut haben das Wort genietet zu stählernem Turm, auf bangen Hirnen lastend. Nicht Wall und Bollwerk zwischen kämpfenden Welten allein, auch Wall und finstere Höhle den Herzen, die er in stetem Wechsel einsog und ausstieß. Glühender Moloch, der langsam die Jugend der Völker zu Schlacke brannte, versponnenes Geäder über Ruinen und geschändeten Feldern, aus dem das Blut der Menschheit in die Erde pulste.
Fernher schon war er Griff und kalte Faust bei Waffenprobe und Zechgelage in den Dörfern am Rande des Grauens, wo der Kämpfer wieder festen Fuß faßte, wieder tags schaffte und nachts schlief. Rastlos hämmerten die Fenster, wenn der Wagen der Vernichtung die Front entlangdröhnte, achtlos und malmend. Kaum einer der Blutgewohnten, der das noch hörte. Nur manchmal, wenn das glühende Auge des Kamins in dunkle Zimmer glotzte und dem wandernden Hirn die Blüten der Welt sich erschlossen, grell und betäubend: Großstädte auf den Gewässern des Lichtes, südliche Küsten, an denen leichte blaue Wellen zerschäumten, in Seide gegossene Frauen, Königinnen der Boulevards, dann erklirrte es, leise und scharf wie eine geschwungene Klinge, und schwarze Drohung rauschte durch die Scheiben. Dann rief man fröstelnd nach Licht und Wein.
Manchmal auch brodelte es auf, kochende Lava in riesigen Kesseln, im Westen biß dunkle Röte sich durch Morgen nebel, oder Fahnen schmutzigen Rauches flatterten vor einer sinkenden Sonne. Dann standen bis weit ins Land alle auf dem Sprunge, bange Tieflandbewohner bei brüllender Sturmflut. Wie man dort Sandsäcke und Gebälk in den Rachen geborstener Dämme stopft, so schleuderte man Bataillone und Regimenter in die flammende Lücke zerrissener Gräben. Irgendwo stand einer am Telefon mit granitenem Gesicht über rotem Kragen und stieß den Namen einer Trümmerstätte aus, die einst ein Dorf gewesen war. Dann klirrten Befehle und stählernes Rüstzeug, und dunkles Fieber schauerte aus tausend Augen.
Doch auch, wenn das Walzwerk des Krieges ruhiger lief, hing stets des Todes geballte Knochenfaust über den Wüsteneien. In breitem Landsaum um die Gräben herrschte er mit Strenge, und es galt nicht Jugend, Demut und Talent, wenn seine bleierne Geißel auf Fleisch und Knochen prasselte. Zuweilen schien es sogar, als ob er den besonders schonte, der lachenden Mundes mit frecher Hand nach seiner Maske griff.
Nacht für Nacht wanden sich dunkle Kolonnen dem Graben zu, von Gedanken in gierigen Rudeln umschwärmt. Manchmal verschwanden sie in Dörfern, schwarzen, gähnenden Wunden, durch deren Getrümmer der Fuß der Frontsoldaten schmale Schleichpfade getreten hatte. Da schwelte es aus aufgerissenen Häusern, nackte Sparren schnitten sich wie Gerippe in die Scheibe des Mondes, Aasdunst witterte aus Kellern, denen Schwärme pfeifender Ratten entglitten. So schaurig war diese erstarrte Vernichtung, daß die Phantasie auf blassen Gäulen hineinsprengte und Leben gestaltete, ein Leben zwar, wie es einem Goya den Pinsel geführt haben mochte, das aus allen Winkeln der Brandstätten kroch und zu einem scheußlichen Reigen sich verschmolz.
Tauchten sie aus den Rändern des Zerstampften als graue Schatten in endlose Laufgräben, so empfanden sie Erlösung von schwerem Druck. Denn nicht mehr wühlten sie sich durch den verwesenden Körper eines früheren Zustandes, nicht mehr durch Stätten, wo Brautbett und Wiege gestanden, auf Tischen reicher Höfe Wein und weißes Brot gelastet, demütig Altäre sich in bunter Sonne geneigt, abends von allen Türmen schwingendes Zufriedensein auf Hütten, Ställe und Felder sich ergossen.
Freier pfiff der Wind über zerwühlte Felder, hastiger wurde der Marsch, denn die dunkle Drohung gewann Form. Ganz nah erstrahlte das Silber zischender Leuchtbälle und rauschte mit kaltem Gefälle über die Kette geduckter Menschen. Gewehre zerrissen überall den Schleier der Nacht, flirrende Netze aus Stahl und spritzendem Blei überspannten das Land. Rings wanden sich die Horizonte in roten Krämpfen, eiserne Geschwader brausten zielwärts. Manchmal senkten sie sich jäh aus ihrer Steilheit, und ihre schrille Kurve ertrank in Explosion, zackigen Fetzen und lehmigem Gepolter. Da warf sich alles nieder, bang und betäubt wie vor einer allmächtigen Gottheit, und stürzte weiter, keuchend, flammengepeitschte, krachende Zermalmung im Ohr. Manch einer blieb liegen, unbeachtet, ein Stückchen Erde in starrer Faust, Erde im Mund und im schmutzigen Gesicht, ein trauriges Bündel, Sprungbrett den Folgenden, deren Herz erblaßte, wenn der Nagelstiefel im Weichen versank.
Endlich waren sie am Ziel. Da starrten andere reglos wie eherne Pfeiler auf ödes Vorland. Zum Flüstern zwangen sich die noch vom Feuerlauf Erregten, denn Ruhe war des Grabens erstes Gebot, Ruhe wie am Hochgericht oder im Hause eines Toten. Schweigend und eilig verschwanden die Abgelösten, Erlösten im Dunkel gewundener Gänge.
Nun waren sie umschlossen vom Graben, seine Herren und Sklaven zugleich, eine in Nacht verstoßene Schar, eine Schiffsbesatzung, von Eisbergen umtürmt. Sie kannten ihn; jede auf die Wälle geschleuderte Scholle war ihrer Hände Werk, jede Fußbreite seiner finsteren Winkel hatten sie tausendmal durchmessen. Sie kannten ihn, wenn nachts die Wolken als geheimnisbeladene Galeeren am Monde vorüberschwammen und Postenstände, Schulterwehren, Stollenschächte ihnen im wechselnden Licht als fremde, feindliche Welt entgegenblinkten. Sie kannten ihn, wenn die Morgennebel durch Verhüllung die Schrecken der trostlosen Wüste steigerten und den Augen, aus denen durchwachte Nächte brannten, die starre Verdrahtung als ein bewegliches Heer wirrer Gestalten erschien. Sie kannten ihn, wenn mittags ein Himmel aus Glas ihn umzirkte, den wilden Blumen lastende Gerüche entströmten und die Einsamkeit des Hinterlandes sich weit dem spähenden Blick erschloß.
Manchmal hockten sie abends beisammen vor den schwarzen Höhlen, plaudernd und Pfeife rauchend, während die laue Luft geschäftiges Hämmern und heimatliche Lieder zum Feinde trug. Spätröte umzog die Ruinen, aus Löchern und Winkeln quoll murmelnd die Nacht und drängte die Sonne von Zinne zu Zinne, bis sie von den Spitzen der Wälle in die Dunkelheit sprang. Dann gingen sie auseinander, ihr Geschäft begann. Der eine schlich als Jäger über den Draht ins Niemandsland, andere standen in Sappen lange Stunden auf schweigsamer Lauer oder schwangen die Picke gegen das Gestein der Schächte.
So lastete täglich mit neuer Wucht der Graben auf seinen gebeugten Bewohnern. Gefräßig schlang er Blut, Ruhe und männliche Kraft in sich ein, um sein schwerfälliges Getriebe zu erhalten. Zeiten kamen, wo die Arbeit hetzte, ohne Pause tage- und nächtelang. Hatte Regen die Gräben verschwemmt, eiserner Wirbel sie umgepflügt, so galt es, sich in Schlamm und Erde zu wühlen, um, ans Licht gezerrten Tieren gleich, wieder im Boden zu verschwinden.
Auch zu Zeiten der Trockenheit und wenn der Kriegsgott selten die stählerne Keule auf den Boden stampfte, waren hundert starre Augen auf das Vorland, auf die andere Seite gerichtet. Hundert Ohren hingen ewig an den wechselnden Stimmen der Nacht, dem Ruf eines einsamen Vogels, dem Klirren des Windes im Draht. Schlimmer als die schnellen Stunden offener Feldschlacht war diese ewige Bereitschaft, das Auf-der-Lauer-Liegen, Anspannung aller Sinne, Erwartung mörderischen Begegnens, während Wochen, Monate versickerten. Von den Alpen zum Meer spannte sich die Kette erstarrter Männer über Äcker, Wälder, Sümpfe, Flüsse und Gipfel, Winter und Sommer, Tag und Nacht. Verwittert, zerschlissen, gedörrt, in lehmiger Kruste, leblos bis auf die Lichter, die in der dunklen Tiefe der Augen schimmerten, schienen sie in den Graben verwurzelt als Teil der Erde, die sie umschloß. Unendlich wie der eintönige Wellenschlag ferner umnachteter Ozeane ist die Summe der Gedanken, Wünsche, Flüche, Hoffnungen, die die Einsamkeit der ungezählten Stunden bewegte. Tanzte mittags kochende Luft über dem gelben Sande und ließ die Fernen erzittern, dann enttauchten der Hitze Träume von goldener Ernte, Sensen, blitzend vor Schwung, Rast unter den Schatteninseln einzelner Bäume im Feld. Wärme, Enge, Häuslichkeit, Weihnacht wurden glühende Vision, wenn weithin durch die Dünne eisiger Nächte das Gestampf erstarrter Füße klirrte und das Mondlicht den Stahl der Gewehre mit blauer Kälte bezog. Rauschte Regen wochenlang in gleichmäßiger Stärke, so tönte nur das Plätschern heranwatender Ablösungen, klatschender Aufschlag bröckelnder Erde und die Linien entlang ein unaufhörliches Husten, bis auch der letzte Wimpel des Mutes in den schlammigen Fluten versank.
Doch stets, in Hitze, Nässe oder eisigem Wind, lag auf den Grund des Seins gesenkt das Gefühl, im Kampfe zu stehen, Kämpfer zu sein. Wochenlang schien alles wie sonst, der Graben ein Ort wie jeder andere, an dessen Rändern Blumen blühen und den die Nacht mit Ruhe überspannt. Doch manchmal, wenn vorn zwei Drähte aneinander schwangen, ein Steinchen rollte, ein Rauschen das hohe Gras durchglitt, zeigte sich, wie alle Sinne auf der Lauer lagen. Dann schärften Ohr und Auge sich bis zum Schmerz, der Körper duckte sich unterm Helm, die Fäuste umkrallten die Waffe. Stets war das Gewehr im Bereich des Armes; sprang plötzlich Feuer auf oder schallten wirre Rufe herab in die Stollen, so war nach ihm der erste Griff der noch vom Schlafe Trunkenen. Dieser Griff aus der Tiefe des Schlafes heraus zur Waffe war etwas, das im Blute lag, eine Äußerung des primitiven Menschen, dieselbe Bewegung, mit der der Eiszeitmensch sein Steinbeil gepackt hatte.
Das prägte dem Grabenkämpfer den Stempel des Tierischen auf, das Ungewisse, das elementar Verhängnisvolle, die wie zur Urzeit von ständiger Drohung geladene Umgebung. Anderen starrten auch oft genug die leeren Augenhöhlen des Todes entgegen, doch nur für Stunden oder kurze Tage. Erhob sich der Flieger über die Heere, so war es nur zu kurzem Spiel ums Leben, das durchzufechten in weißem Kragen und mit gelassenem Lächeln dem Mutigen wohl ansteht. Ihm war der Kampf noch ein berauschender Trunk, im Becher des Augenblicks kredenzt, wie in den verschollenen Tagen wogenden Angalopps durch Feld und Tau, während die Morgensonne auf bunten Röcken und nackten Klingen tanzte, oder des Paradeangriffs der Infanterie hinter der Seide durchschossener Fahnen, umrauscht von der gebändigten Wut eherner Märsche. Früher wurde der Krieg von Tagen gekrönt, an denen Sterben Freude war, die sich erhoben über die Zeiten als schimmernde Denkmäler männlichen Mutes.
Der Graben dagegen machte den Krieg zum Handwerk, die Krieger zu Tagelöhnern des Todes, von blutigem Alltag zerschliffen. Romantische Sage war auch das Gefühl beklommener Ahnung geworden, das den Soldaten beschlich am Vorabend, am Lagerfeuer, beim Ritt ins Morgenrot, und das ihm die Welt zu einem dunkel-feierlichen Dom, den vollen Atemzug zum Abendmahl vor schwerem Gange wandelte. Zu lyrischem Sinnen, zur Ehrfurcht vor der eigenen Größe hatte der Graben keinen Raum. Alles Feine wurde zermahlen und zerstampft, alles Zarte überflammt von grellem Geschehen.
Auch in den kurzen Tagen der Ruhe war keine Zeit zur Hingabe an solche Stimmungen. Da stürzte man sich ins Leben, packte es mit beiden Fäusten, jagte es sich durchs Hirn in geballten Räuschen, als ob man den Galeeren entronnen wäre. Da konnte man begreifen, warum eine sinkende Mannschaft die Pumpen verläßt, die Rumfässer zerschlägt und die Flamme der Sinne noch einmal bis an den Himmel schießen läßt. Zuzeiten wurde das Bedürfnis Zwang, die schwarzen Dämme zu sprengen, mit denen der Graben die Gewässer des Daseins umkesselte, und der ständig drohenden Hammerfaust im Rausche zu spotten.
Auch in den Stollen, den Unterständen, die man sich zu Schutz und Ruhe gewühlt hatte, erblühten selten Stunden, in denen sich die Bahn des Lebens über ein träges Dämmern hinausschwang. Wie konnte man auch freier atmen in diesen Höhlen, deren holzverkleidete Wände ein gelblicher Schimmel zerfraß, auf deren Nebeln die kleinen, zitternden Lichter der Kerzen schwammen und das feuchte, grobrindige Gebälk mit glitzernden Mänteln behängten. Das waren enge Geniste eingehüllter, schmutziger Menschen voll Qualm, Dünsten und Tabaksrauch. Zuweilen stand einer auf, wortlos, nahm das Gewehr in die Faust und verschwand. Dann polterte ein anderer herunter, stumpf, verwacht, und nahm den leeren Platz, ein kaum bemerkter Wechsel. Wortfetzen, abgerissen wie die kurzen Hiebe der draußen zerschellenden Geschosse, fügten sich zu eintöniger Unterhaltung. Man war so ineinander versponnen, so auf dasselbe Rad des Schicksals geflochten, daß man sich verstand, fast ohne zu sprechen. Jeder wanderte durch dieselbe nächtliche Landschaft, ein Seufzer, ein Fluch, ein Witzwort waren die Flammen, die für Augenblicke das Dunkel über dem Abgrund zerrissen.
Wohl gab es Stunden, in denen Kameradschaft erglühte und die Ketten zerschmolz, mit denen der Graben die Herzen umwand. Eben war noch jeder für sich gewesen, einer hatte in die Glut des winzigen Ofens gestarrt, einer von seinem Brote ein grobes Stück gehobelt, einer auf der Pritsche die Decke über den Kopf gezogen. Da hatte eine Stimme die Dumpfheit zerbrochen und erzählt von irgendeinem Dorfe, irgendwelchen Leuten, von Sonntag und Alltag, Ruhe und Arbeit. Da schlug in jedem Verwandtes, der kleine unbekannte Kreis, der doch ein ganzes Leben umschließt, das Blinken der Scholle unterm Pfluge, der Rauch über heimatlichen Dächern, das Schwingen der Festglocken über einsamen Feldern. Dann sprangen die Herzen, Quellen läuteten aus verborgenen Adern, die teilnahmslose Starre der Augen schmolz vor Glanz. So zärtlich, so unbeholfen bot jeder seine kleine Welt den andern dar, daß die Welle seines Gefühls auch sie hoch über den Graben hinausriß. Das war einer der Augenblicke, in denen der Mensch die Wucht des Grabens von sich wälzte und Menschlichkeit wie der flüchtige Leuchtkegel eines Scheinwerfers über das Grauen der Wildnis huschte. Wäre in solchem Augenblick draußen ein Schatzgräber des Gefühls über das zernarbte Land geschritten, so hätte die menschengefüllte Höhle ihm wie Gold aus der Tiefe emporgefunkelt.
Doch rasch zerflockte diese Klarheit wieder in der Ewigkeit des Grabens. Maschinenmäßig nahmen sie wieder den Spaten zur Faust, bestiegen den Postenstand oder schlichen ins Ungewisse. Erschöpft, durchfroren, vor Aufregung zitternd kehrten sie zurück und warfen sich auf die Bretter des Lagers. Langsam verflackerte die Kerze, eine Ratte nagte am Stollenrahmen, unaufhörlich trommelten die Tropfen ihre einförmige Melodie. Schlossen sich endlich die brennenden Augen, so waren auch im Schlaf die Hirne noch von lauernden Schrecken umstellt. Rastlos wälzten sich die Körper auf harten Hölzern, oft genug krallte sich ein Ächzen, ein Aufschrei aus der Tiefe wilder Träume in das Dunkel des winzigen Raums. So fliegt aus dumpfen Ställen Kettengeklirr und der klagende Ruf verlassener Tiere gespenstisch über Felder und einsame Höfe.
War man doch auch hier im Schoße der Erde vom Grauen mit tausend Armen umstrickt. Irgendwo, ganz nah, neben einem, unter einem, konnte es in wirren Gängen schürfen, wühlen, picken und Sprengstoff häufen, schleichend und heimlich beim Gloste der Grubenlichter. Irgendwo in den Löchern des Niemandslandes konnte eine flüsternde Schar, sprungbereit und waffenbehangen, darauf harren, sich zu jähem Gemetzel, zu kurzer Orgie in Feuer und Blut gegen den Graben zu werfen. Überall war der Umkreis durchwebt von verborgenem Huschen und Treiben, von schattenhaften, unter ihrer Waffenlast keuchenden Trägerketten, vom Tuscheln und Raunen gerüsteter Gestalten. Und dieser Druck, diese Schwere, über erstorbene Felder gewälzt, lastete auch wie eine bleierne Glocke über dem Herzen jedes Einzelnen. Das zeigte sich, wenn draußen dumpf eine Scholle vom Grabenrand brach oder ein frierender Posten den Ruf nach Ablösung herunterklingen ließ. Dann wurde das Band des Schlafes von grellem Erkennen zerrissen, der Schläfer schrak hoch in der Erwartung, vor dem dunklen Tore eines schrecklichen Ereignisses zu stehen.
Und einmal, früher oder später, brach der Tag heran, der dieses dunkle Tor erflammen ließ, der alle Ahnung und alle Erwartung übergrellte im Blitz der Erfüllung. Meist sprangen diese brüllenden Gewitter die Besatzung an mit urplötzlicher Wut wie wilde Tiere aus dem Hinterhalt. So kochte unvermutet der Kessel auf, wenn sich die schwarzen Bänder der Drahtverhaue aus der Dämmerung schälten und Truggestalten die schlafdurstigen Augen der Posten umwogten. Dann zerkrachten mit einem Male die Horizonte, die Morgennebel wurden trunken von brandigem Rot, über dem Graben wölkten sich Feuer, spritzende Erde und Qualm.
Diese Wolke war der feurige Vorhang, unter dem die Männer des Grabens kämpften und starben, ein Vorhang, der alles auf ewig verhüllte, was diese Stunden gebaren an Mut und übermenschlicher Kühnheit, ein Vorhang, durch den der Tod herniederwuchtete auf Opfer, die seiner harrten, unsäglich verlassen in ihre traurigen Löcher verstreut. Unzählige sind so gefallen, einsam und menschheitsfern in dunklen Höhlen oder qualmigen Trichtern, ohne daß der letzte, suchende Blick der glasigen Augen etwas anderes traf als nackte, zerrissene Erde rundum. Unzählige andere fielen über den Körpern dieser Gefallenen auf den Gipfeln der Schlacht, wenn lange Menschenwellen den Gräben entfluteten.
Da zeigte der Graben sein wahres Gesicht. Alles fiel von ihm, womit der Mensch, der die Verhüllung des Gräßlichen liebt, ihn geschmückt und verziert. Zermalmt, zerfetzt waren die Ruhebänke, die geschnitzten Bretter, der Blumenstrauß, vom Posten in eine Granathülse gepflanzt. Nur noch die steilen Wände, die Klötze der Schulterwehren standen als starre, schwarze Kulissen, vor denen in Feuer und Nebel sich eine Kette dramatischer Szenen jagte. Da hetzten in kämpfenden Rudeln die Auserlesenen von Nationen, furchtlose Stürmer, durch den Dämmer, dressiert, auf Pfiff und kurzen Ruf sich in den Tod zu stürzen. Begegneten sich zwei Trupps von solchen Kämpfern in den schmalen Gängen der flammenden Wüste, so prallte die Verkörperung des rücksichtslosesten Willens zweier Völker zusammen. Das war der Höhepunkt des Krieges, ein Höhepunkt, der alles Grausige, das zuvor die Nerven zerrissen hatte, übergipfelte. Eine lähmende Sekunde der Stille, in der sich die Augen trafen, ging voran. Dann trieb ein Schrei hoch, steil, wild, blutrot, der sich in die Gehirne brannte als glühender, unvergeßlicher Stempel. Dieser Schrei riß Schleier von dunklen, ungeahnten Welten des Gefühls, er zwang jeden, der ihn hörte, vorwärts zu schnellen, um zu töten oder getötet zu werden. Zitternde Leuchtbälle hingen über dem Würgen, dessen Geist kein Bericht fassen kann und das keinen Zuschauer hatte außer den in dunklen Winkeln Verblutenden, deren aufgerissenen Augen diese Wüstheit das letzte Bild war, das sie mit hinübertrugen in das große Schweigen.
Kurze, rasende Fieber waren diese Orgien der Wut; waren sie verraucht, so ließen sie den Graben zurück wie das zerwühlte Bett eines an Krämpfen Gestorbenen. Blasse Gestalten mit weißen Verbänden starrten in das Wunder der aufgehenden Sonne, außerstande, die Wirklichkeit der Welt und des Erlebten begreifen zu können. In eintöniger Wiederholung stiegen und fielen die Schreie der Verwundeten, die im Zwischenfeld, in Trichtern oder in stachligen Drähten versponnen, langsam verloschen.
Wieder zogen die Tage und Nächte über den Graben dahin, Schiffe, die immer gleiche Fracht in die Ewigkeit schleppten. Verwesung brütete über der Landschaft. Langsam zerfielen die Toten, vereinten sich ganz mit der Erde, ganz mit dem Graben, um den sie gekämpft hatten. Irgendwo in Wind und Dämmern schwankten am Grabenrande zwei Weidenruten, die ein Kamerad zum Kreuze gebunden.
Als der Krieg wie eine Fackel über das graue Gemäuer der Städte lohte, fühlte sich jeder jäh aus der Kette seiner Tage gerissen. Taumelnd, verstört durchfluteten die Massen die Straßen unter dem Kamme der ungeheuren Blutwelle, die sich vor ihnen türmte. Winzig wurden vor dieser Welle alle Werte; das Feine, das Verwickelte, die immer schärfer geschliffene Nuance, die ausgeklügelte Zersplitterung des Genusses verdampften im sprühenden Krater versunken geglaubter Triebe. Die Verfeinerung des Geistes, der zärtliche Kultus des Hirns gingen unter in einer klirrenden Wiedergeburt des Barbarentums. Andere Götter hob man auf den Thron des Tages: Kraft, Faust und männlichen Mut. Dröhnte ihre Verkörperung in langen Kolonnen bewaffneter Jugend über die Asphalte, so hingen Jauchzen und ehrfürchtige Schauer über der Menge.
Es entspricht der Natur, daß diese Wiederentdeckung der Gewalt, dieses auf die Spitze getriebene Mannestum auch die Beziehungen zwischen den Geschlechtern verändern mußte. Dazu kam ein heftigerer Wille, das Leben zu erfassen, ein innigerer Genuß am Sein im Eintagsfliegentanze über dem Schlunde der Ewigkeit.
Jede Erschütterung der Grundlagen der Kultur löst jähe Ausbrüche der Sinnlichkeit. Der Lebensnerv, bislang isoliert und gepolstert mit allen Sicherungen, welche die Gemeinschaft bieten konnte, liegt plötzlich schutzlos da. Das Dasein, vom Menschen achtlos eingesogen wie die weite Luft, ist preisgegeben, die ungewohnte Nähe der Gefahr ruft traumhafte und verwirrende Gefühle hervor. Sorglich auf die Felder der Jahre verteilt stand die Ernte des Genusses; versiegt der Urquell, so müssen die Früchte verdorren. Die Schätze in den Truhen, der Wein in den Kellern, alles was früher Besitz und Fülle hieß, ist plötzlich seltsam überflüssig und beinahe zur Last geworden. Die Faust möchte die Dukaten umkrallen – wie lange wird man noch Zeit haben, sie zu genießen? Wie ist der Burgunder so köstlich! Wer wird dies Weinchen schlürfen, wenn ich nicht mehr am Leben bin? Wird man warm, wenn der Erbe die Nase ins Glas senkt und die Blume kostet? Ach, daß man alle Fässer in einem einzigen, wilden Zuge leeren könnte! Nach uns die Sintflut, im Grabe gibt es keine Freuden mehr!
O Leben du! Noch einmal, einmal noch, vielleicht das letzte! Raubbau treiben, prassen, vergeuden, das ganze Feuerwerk in tausend Sonnen und kreisenden Flammenrädern verspritzen, die gespeicherte Kraft verbrennen vorm Gang in die eisige Wüste. Hinein in die Brandung des Fleisches, tausend Gurgeln haben, dem Phallus schimmernde Tempel errichten. Soll der Schlag der Uhr auf ewig verstummen, so mögen die Zeiger noch rasch durch alle Stunden der Nacht und des Tages über das Zifferblatt schnurren.
So lösten sich die Kräfte, die bisher als ein verwickeltes Räderwerk ineinandergegriffen hatten, aus ihrem gewohnten Gang, um sich zu einer gewaltigen Äußerung des sinnlichen Menschen zu vereinen. Das war Notwendigkeit, zwar verborgen unter romantischen Schleiern und vom Geiste der Zeit in seine mehr oder minder gefälligen Formen gegossen, doch jener Rückschlag, der stets eintrat, eintreten wird, wenn der feste Boden der Existenz zu wanken beginnt. So flackerten die Lichter aus allen Kammerfenstern in die ungewisse Nacht, brausten die Straßen der Städte vor hastigem Gewühl, war die Luft bis zum Platzen von Werbung und Hingabe überspannt. Das ist ein Köstliches am Leben, daß es gerade, wenn der Tod am gierigsten würgt, in Krieg, Revolution und Pestilenz, am buntesten und tollsten dahinflirrt. Und jede der unzähligen Umschlingungen, in die zwei Menschen im Gewitterausbruch der Weltenwende zueinander flüchteten, war ein Sieg des Lebens in seiner ewigen Kraft. Dumpf fühlte das wohl jeder, auch der Verzagteste: Wenn sein Atem im Wirbel der Liebe erstarb, war er so vom Ich gelöst, so in das kreisende Leben versponnen, so eingegossen ins ewige All, daß für diesen Augenblick ihm der Tod in wahrer Gestalt: klein und verächtlich, erschien. Tief unten blieb er zurück, wenn die Kurve des Gefühls steil über die Besinnung hinausschoß.
Zwei Impulse treten uns so als Ursachen dieser Springflut sinnlicher Erscheinungen entgegen: Der Drang des Lebens, sich noch einmal gesteigert zu äußern, und die Flucht in das Dickicht der Räusche, um in der Lust die drohenden Gefahren zu vergessen. Daneben schwingt viel anderes mit, doch unsere beschränkte Fragestellung wird dem Reiche der Seele ja immer nur kleine Provinzen entreißen können.
Je länger der Krieg dauerte, desto schärfer prägte er die geschlechtliche Liebe in seine Form. Unter den Schlägen der rastlosen Hammerschmiede verlor sie bald Glanz und Politur, wie alles, was der Mensch mit in den Kampf gebracht hatte. Auch sie wurde von dem Geist durchtränkt, der in den Kämpfern der großen Schlachten webte. Der Stil der Materialschlacht und des Grabenkampfes, der rücksichtsloser, wilder, brutaler ausgefochten wurde als je ein anderer, erzeugte Männer, wie sie bisher die Welt nie gesehen hatte. Es war eine ganz neue Rasse, verkörperte Energie und mit höchster Wucht geladen. Geschmeidige, hagere, sehnige Körper, markante Gesichter, Augen, in tausend Schrecken unterm Helm versteinert. Sie waren Überwinder, eingestellt auf den Kampf in seiner gräßlichsten Form. Ihr Anlauf über zersplitterte Landschaften bedeutete den letzten Triumph eines phantastischen Grausens. Brachen ihre verwegenen Trupps in zerschlagene Stellungen ein, wo bleiche Gestalten mit irren Augen ihnen entgegenstarrten, so wurden ungeahnte Energien frei. Jongleure des Todes, Meister des Sprengstoffes und der Flamme, prächtige Raubtiere, schnellten sie durch die Gräben. Im Augenblick der Begegnung waren sie der Inbegriff des Kampfhaftesten, was die Welt tragen konnte, die schärfste Versammlung des Körpers, der Intelligenz, des Willens und der Sinne.
Gewiß waren es nur wenige Erlesene, in denen so gedrängt der Krieg sich ballte, doch wird der Geist einer Zeit ja immer nur von Einzelnen getragen. In allem, was sie trieben, mußte das Wesen dieser Männer der kurzen, rücksichtslosen Tat hervorbrechen. Wie sie den Alkohol in seinen starken, unverwässerten Formen am höchsten schätzten, mußten sie in rotem Ansprung gegen die Hürde jeglichen Rausches stürzen. Sich voll in den Taumel werfen, Leben trinken war die Parole in den kurzen Atempausen zwischen den Schlachten. Was schadete es, wenn sie die Morgensonne unterm Getrümmer des Zechtisches fand? Bürgerliches Reputationsgefühl lag weltenfern. Was war Gesundheit? Wichtig für Leute, die ein langes Alter erhofften.
Scharfäugig und verwittert schritten sie über die Straßen fremder Städte, Landsknechte auch der Liebe, die nach allem die Hand ausstrecken durften, weil sie nichts zu verlieren hatten. Flüchtige Wanderer auf den Wegen des Krieges, griffen sie zu, wie sie es gewohnt waren, mit harter Faust und ohne viel Sentiment. Sie hatten keine Zeit zu langer Werbung, romanhafter Entwicklung, zum Drum und Dran, das auch dem kleinsten Bürgermädchen Bedürfnis bleibt. Sie forderten von der Stunde Blüte und Frucht. So mußten sie die Liebe suchen an Orten, wo sie sich ohne Schleier bot.
Erglühten nicht Nacht für Nacht die Kreuzpunkte der Heerstraßen im Zeichen Eros’, des Entfesselten? Da paradierte in langen Reihen bereite Weiblichkeit, die Lotosblumen der Asphalte. Brüssel! Leben, unter tausend Schiffsschrauben zerschäumt. Wie war sein Schwung ungeheuer, und doch so erschreckend mechanisch wie dieser Krieg selbst. Da konnte nur stählerne Eigenart bestehen, ohne im Strudel verschliffen zu werden. Reine Funktion waren diese liebesgewandten Körper, die rauschend sich in Aufforderung wiegten, mit Kleidern wie mit leuchtenden Plakaten behängt. Lange lehnte ich einmal an einer Laterne und trank immer wieder dasselbe Bild, das sich wiederholte wie der eintönige Aufschlag von Wellen am Strand. Immer wieder. Selbst die Sprache fehlte, sonst geeignet wie Tischtuch, Messer und Gabel, das Tierhafte einer Mahlzeit zu mildern.
Aus dunklen Ecken alter Stadtviertel glommen rote Augen von Laternen Lockung zu einer hastigen Faust voll Genuß. Im Innern unscheinbarer Häuser schimmerten Spiegel, ertrank flutendes Licht in der Schwere roten Samts. Das war ein trunkenes Gelächter, wenn der metallische Griff in weißem Fleisch versank. Krieger und Mädchen, ein altes Motiv.
Was ging in den Dörfern vor, die unzählig das Grauen umgürteten? Tot lagen sie im Dunkel, wenn man hindurchmarschierte, nur das Bajonett des Postens flimmerte auf dem Markt. Und doch grub fremde Rasse sich unauslöschlich in fremdes Land.
Wenn das rote Leben gegen die schwarzen Riffe des Todes braust, setzen sich ausgesprochene Farben zu scharfen Bildern zusammen. Das sind Epochen der Enthüllung, der Entfesselung, abhold allem Feinen, Zarten und Lyrischen. Überall ballt rückschnellendes Leben sich zu barbarischer Fülle und Wucht, nicht zuletzt in der Liebe und in der Kunst. Da ist keine Zeit, seinen »Werther« tränenden Auges zu lesen.
Zuweilen gewiß – sind wir nicht Prisma, das alle Farben splittert, wer möchte sie auf eine Formel bringen? – erglomm selbst am Rande der Materialschlacht ein wärmerer Schimmer. Er zitterte vielleicht durch die geborstenen Fensterläden des ersten bewohnten Häuschens über das kalte Grauen der Nacht als suchender Arm eines Vorpostens des Gefühls. Da lagen in einer Bauernkammer zwei Menschen unter grobem Linnen aneinander und fühlten sich für kurze Stunden geborgen an der Grenze der Vernichtung, wohl sicher wie zwei junge Vögel in der Höhle eines Baumes, wenn knarrend nächtliche Wälder sich im Sturmwind wiegen. Vielleicht ein Student und ein pikardisches Bauernmädchen, zusammengeschleudert an irgendeiner Klippe des Krieges. Nun waren sie ganz Empfindung, zwei Herzen, ineinander brennend in einer eisigen Welt. Während die kleine Fensterscheibe im Hammertakt der nahen Front erbebte, streiften zwei Lippen des Mannes Ohr, eindringlich bemüht, die ganze Melodie der fremden Sprache in ihn hineinzugießen. Da mochte diese Minute eine Ahnung von der Seele ihres Landes in ihm entzünden, heller als die Weisheit der Bücher und aller Hohen Schulen zuvor. Denn was ist das Verständnis des Hirnes gegen das des Herzens?
Solche Nacht war Entsühnung, Erlösung, mochte auch der Morgen in brüllendes Feuer zerspringen. Einer marschierte wohl in den Reihen der alten Landsknechte mit glänzenden Augen und leichtem Schritt. Verschanzte sich sein Herz auch nicht hinter trotzigen Liedern und harten Scherzen, so erbebte es doch minder unter heimlichen Schauern als die ihren. Klar stand er im Hagel der Geschosse, noch den Hauch der Küsse im Haar. Der Tod nahte als Freund, ein reifes Korn fiel unterm Schnitt.
Der Krieg ist die mächtigste Begegnung der Völker. Während sich in Handel und Verkehr, bei Wettkämpfen und Kongressen nur die vorgeschobenen Spitzen berühren, kennt im Kriege ihre gesamte Mannschaft nur ein Ziel, den Feind. Welche Fragen und Ideen auch immer die Welt bewegten, stets war es der blutige Austrag, der über sie entschied. Wohl wurden alle Freiheit, alle Größe und alle Kultur in der Idee, im Stillen, geboren, doch nur durch Kriege erhalten, verbreitet oder verloren. Durch Krieg erst wurden große Religionen Gut der ganzen Erde, schossen die tüchtigsten Rassen aus dunklen Wurzeln zum Licht, wurden unzählige Sklaven freie Männer. Der Krieg ist ebensowenig eine menschliche Einrichtung wie der Geschlechtstrieb; er ist ein Naturgesetz, deshalb werden wir uns niemals seinem Banne entwinden. Wir dürfen ihn nicht leugnen, sonst wird er uns verschlingen.
Unsere Zeit zeigt starke pazifistische Tendenz. Diese Strömung springt aus zwei Quellen, dem Idealismus und der Blutscheu. Der eine verneint den Krieg, weil er die Menschen liebt, der andere, weil er sich fürchtet.
Der eine ist vom Schlage der Märtyrer. Er ist ein Soldat der Idee; er hat Mut: daher muß man ihn achten. Ihm gilt die Menschheit mehr als die Nation. Er glaubt, daß die wütenden Völker doch nur der Menschheit blutige Wunden schlagen. Und daß, wenn die Waffen klirren, der Bau des Turmes ruht, den wir bis in den Himmel treiben wollen. Da stemmt er sich zwischen die blutigen Wogen und wird von ihnen zerschmettert.
Dem andern ist seine Person das Heiligste; daher flieht oder scheut er den Kampf. Er ist der Pazifist, der die Boxkämpfe besucht. In tausend schillernde Mäntel – besonders in den des Märtyrers – weiß er seine Schwäche zu kleiden, und mancher davon scheint nur allzu verlockend. Treibt der Geist eines ganzen Volkes solcher Richtung zu, so ist das ein Sturmzeichen des nahen Untergangs. Eine Kultur mag noch so ragend sein – erlischt der männliche Nerv, so ist sie ein Koloß auf tönernen Füßen. Je mächtiger ihr Bau, desto fürchterlicher der Sturz.
Da möchte jemand fragen: »Wohl mag der liebe Gott bei den stärksten Bataillonen sein, sind aber auch die stärksten Bataillone bei der höchsten Kultur?« Gerade deshalb ist es die heilige Pflicht der höchsten Kultur, die stärksten Bataillone zu haben. Es können Zeiten kommen, wo flüchtige Hufe von Barbarenrossen über die Trümmerhalden unserer Städte klappern. Nur der Starke hält seine Welt in der Faust, dem Schwachen muß sie in Chaos zerrinnen.
Betrachten wir eine Kultur oder ihren lebendigen Träger, das Volk, als ständig wachsende Kugel, so ist der Wille, der unbedingte und rücksichtslose Wille, zu wahren und zu mehren, das heißt: der Wille zum Kampf, das magnetische Zentrum, durch das ihre Struktur gefestigt wird. Verliert dieses Zentrum seine Kraft, so muß sie in Atome zerrieseln.
Beispiele aus der Geschichte sind billig. Bei jedem Zusammenbruch sehen wir Schwäche, die ein Stoß von außen plötzlich offenbart. Dieser Stoß kommt jedesmal mit unfehlbarer Sicherheit; das liegt in der Einrichtung der Welt. Die Sucht, zu zerstören, ist tief im menschlichen Wesen verwurzelt; alles Schwache fällt ihr zum Opfer. Was hatten die Peruaner den Spaniern getan? Wer Ohren dafür hat, dem singen die Urwaldkronen, die heute über den Ruinen ihrer Sonnentempel federn, die Antwort. Es ist das Lied vom Leben, das sich selbst verschlingt. Leben heißt töten.
Auf der Insel Mauritius lebte einst das Volk der Dronten, das friedlichste Volk, das man sich denken kann; waren sie doch sogar Verwandte der Tauben. Sie hatten tatsächlich keinen Feind, konnten vor Unbeholfenheit kaum gehen und nährten sich von Pflanzen. Ihr Fleisch war ungenießbar; daher ihr Beiname »die Ekelvögel«. Trotz alledem: sie waren ausgerottet, nachdem man kaum ihr verlassenes Eiland entdeckt hatte. Ein Bild, das man sich so recht vorstellen kann: Das holländische Schiffsvolk, ohne Ermatten – in solchen Dingen ist der Mensch wirklich unermüdlich, keiner ist rastloser als der Jäger – Knittel und schwere Spieren schwingend, und die vielen tausend großen, schwerfälligen Vögel, die mit erstaunten Augen das Gemetzel betrachten, bis auch ihnen der Schädel zerbricht.
»Nun immerhin, diese kleine Episode spielte noch vor dem Dreißigjährigen Krieg. Man dürfte doch annehmen, daß heute, zur Zeit des Schulzwanges, der Tierschutzvereine usw., ––– «
Im Jahre 1917 stand ich in einer Straße Brüssels vor einem erleuchteten Schaufenster. Es stapelten da ganze Berge von Porzellan, zierliche kleine Sachen aus Meißen, Limoges und Kopenhagen, farbige venezianische Kelche, große Schalen aus wasserklar geschliffenem Kristall. Ich liebe es, wenn ich durch große Städte schlendere, lange Zeit vor diesen Museen luxuriöser Kleinkunst, die funkelnd im Lichte schwimmen, zu verweilen. Sie geben dasselbe Gefühl des Reichtums, der Schönheit und der Fülle, mit dem man die Alleen eines weiten, in vornehmer Herbstlichkeit erstarrten Parkes durchschreitet, unbeeinträchtigt durch den Gedanken, daß man ihn nicht besitzt.
Für dieses Mal wurde ich jedoch gestört durch die Betrachtungen zweier Soldaten, die neben mir an der Messingstange lehnten. Es waren unverkennbare Typen der Front; der Graben hatte ihre Mäntel gebleicht und verschlissen, Kampf die Messerprofile geschärft. Die Gesichter waren kühn und intelligent, um Augen und Mund lag versteinerte Spannung, von höchstgesteigerten Augenblicken hinter hämmernden Maschinengewehren geprägt. Trotzdem zeigten sich dem geschulten Blicke in Haltung und Anzug bereits die kleinen Anzeichen beginnender Ermattung.