Sand hat tausend Farben - Nadja Neubauer - E-Book

Sand hat tausend Farben E-Book

Nadja Neubauer

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Beschreibung

SANDT HAT TAUSEND FARBEN erzählt die Geschichte einer Begegnung, erzählt vom Geschmack des Lebens, von den Farben der Sehnsucht, von Beziehung und Liebe, und der Hoffnung, die am Ende bleibt. Sand ist nicht nur sandfarben. Sand hat tausend Farben! Mara hat die Wüste durchwandert und diese kleine Weisheit ist ihr geblieben: Sand leuchtet in so vielen verschiedenen Farben wie die Wüste selbst. Die Erkenntnis vom Leuchten der Wüste und vom Licht in wüsten Zeiten trägt sie durch dieses Jahr, ein Jahr, das anders ist als die Jahre, die sie bisher durchlebt hat: Sie begegnet Mark. Obwohl sie unterschiedlicher nicht sein könnten, entwickelt sich zwischen den beiden eine Liebesbeziehung, die mit allem, was Liebe ist, und was Beziehung zwischen Ich und Du bedeutet, Maras Gedankenwelt auf den Kopf stellt. SAND HAT TAUSEND FARBEN begleitet Mara und ihre Freunde durch ein Jahr, das geprägt ist von Sehnsucht, der Suche nach sich selbst und der Erkenntnis, dass wir nicht alles in der Hand haben, und lieben auch bedeutet, lassen zu können.

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Über das Buch:

SANDT HAT TAUSEND FARBEN erzählt die Geschichte einer Begegnung, erzählt vom Geschmack des Lebens, von den Farben der Sehnsucht, von Beziehung und Liebe, und der Hoffnung, die am Ende bleibt.

„Die Wüsten müssen bestanden werden, die Wüsten der Einsamkeit, der Weglosigkeit, der Schwermut, der Sinnlosigkeit, der Preisgegebenheit. Gott, der die Wüste schuf, erschließt auch die Quellen, die sie in fruchtbares Land verwandeln.“ (Alfred Delp: Worte der Hoffnung. Echter Verlag, Würzburg 2009. S. 48)

Zur Autorin:

Nadja Neubauer, 1989 in Nürnberg geboren, hat in Erlangen Theater- und Medienwissenschaften und Soziologie, in Bamberg Kommunikationswissenschaft studiert. Nach einem journalistischen Volontariat beim Radio ist sie als Moderatorin und Redakteurin tätig.

Für alle, die suchen, sehnen, lieben und lassen.

Inhaltsverzeichnis

Im Winter: Hellgrau bis Beige

Weggedanken

Erwarten

Erste Begegnung

Von Namen und Annahmen

Dein Lächeln

Komplizierte Welt

Die zweite Begegnung

Unter der Oberfläche

In irgendeiner Bar

Wo du zuhause bist

Schneetreiben

Liebe – tatsächlich?

Alleinsein

Familienfest

Im Frühling: Vielleicht Rosé

Alles neu

Frühlingsfarben

Woran glaubst du?

Rosarote Wolken

Liebesleid

Torschlusspanik

Die Hochzeit

Alles anders

Im Sommer: Ein wenig Dottergelb

Sofageflüster

Umzug

Wüstentage

Sandsturm

Ende eines Sommers

Im Herbst: Wie Ocker

Herbstspaziergänge

Wie Ocker

Fragmente und Scherben

Zerbrochenes Glas

Fliegen

Bei Regen: Rostrot

Abschied

Überleben

Lukas und Steffi

Lucy und Max

Mara

Nachwort der Autorin

Im Winter:

Hellgrau bis Beige

Weggedanken

Der Weg zum Bahnhof ließ ihr viel Zeit zum Nachdenken. Auf dem Weg gab es heute nichts, das sie vom Grübeln hätte abhalten können. Manchmal waren es Gedanken, die kamen und gingen, leicht wie eine Feder im Wind. Manchmal waren es aber auch Gedanken, die schwer waren und sie mit ihrem Gewicht überrollten wie ein Fünftonner.

Wenn die Liebe vom Zufall abhängt, Zufall im Sinne von Vorsehung, im Sinne von Fügung, dann kann Onlinedating nicht derselbe Zauber innewohnen wie einer zufälligen Begegnung mit einem Fremden. Onlinedating hat nichts mit Zufall zu tun: Ich bestimme, wann, wo, mit wem ich mich treffe. So einfach. So banal. So wenig zauberhaft wie eine Essiggurke im Einmachglas. Vielleicht ist dieser Vergleich gar nicht so schlecht. Vielleicht schmeckt ein solches Treffen sogar ein wenig nach Essig, ein wenig sauer, ein wenig bitter, ein wenig süß. Jedenfalls wohnt einem solchen Treffen kein Zauber inne. Ich kann nicht versuchen, wie Tomas und Teresa in Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins eine so entstandene Liebesbeziehung auf ihre Zufälle hin zurückzuverfolgen bis zu dem Zufall, der ihr Ursprung war, ein ursprünglicher Zufall, der dafür sorgte, dass aus einer Begebenheit Bedeutung erwuchs. Ein Glied dieser Kette fügt sich in das andere, ich muss nur folgen, deuten, entscheiden, nächster Schritt. So wird schließlich aus dieser Kette zufälliger Begebenheiten von wäre ich nicht und hätte ich nicht eine bedeutungsvolle Kette von Zufällen.

Ihr Blick schweifte umher, blieb auf den grauen Asphaltkacheln am Bahnhofsboden haften, die Geschichten erzählten von den Passanten, die vorübergegangen waren und ihre Spuren hinterlassen hatten. Sie fragte sich, zu welchen Leuten mit welchen Geschichten, die nun hier im Asphalt des Bahnhofgeländes verewigt waren, sie wohl gehörten. Was erzählten sie? Sie betrachtete den Schmutz in den Ecken, an den Wänden. Warum müssen Bahnhöfe immer so schrecklich lieblos behandelt werden? Die Tragik des Allgemeinguts machte sie zu Grenzbereichen der Zivilisation. Und wenn eine rote Kaffeemaschine, die einer dem anderen schenkt, der Ausdruck wortloser Liebe ist? Verrät ein liebloser Umgang damit dann diese Liebe nicht? Was bedeutet das für die Beziehung, die hinter oder vor dieser Liebe steht?

Sie betrachtete die Stufen und stieg sie eine nach der anderen hinauf. Bewusst setzte sie ihre Schritte, den Blick bald nach oben gerichtet, um das Licht zu sehen. Da war nur Grau am oberen Treppenabsatz. Grau. Alles war grau. Die Treppe, der Bahnsteig, der Himmel. Selbst die Menschen waren grau in ihren Mänteln und Jacken. Hellgrau, dunkelgrau, anthrazit, fast schwarz. Sie wartete, bis die Bahn kam, und stellte sich vor, dass sie mit den anderen zusammen, dem grauen Himmel, der Treppe und dem Bahnsteig zu einer grauen Masse verschmolz, zu irgendeiner gallertartigen grauen Masse, zäh dahinwabernd, vor, zurück, kaum Bewegung, alles Stillstand. Nur die grauen Wolken am grauen Himmel zogen gemächlich leicht dahin. Die Bahn kam. Die Masse geriet in Bewegung, teilte sich, und verteilte sich auf freie Plätze und im Gang. Es dünstete. In der Bahn war es eng und warm. Sie schaute aus dem Fenster. Andere lasen, gähnten, starrten auf ihr Smartphone, checkten Mails, Accounts und die neuesten News, hörten Musik, unterhielten sich. Sie schaute aus dem Fenster. Die ganze Zeit. Es war ihre Zeit der Ruhe, bewusst dazusitzen und die Welt vor dem Fenster an ihr vorbeiziehen zu lassen.

Sand dachte sie auf einmal. Die Menschen draußen waren alle grau, die hier drinnen auch. Fifty shades of grey. Fifty shades of sand. Sand ist nicht nur sandfarben. Wenn wir das Wort sandfarben benutzen, haben wir eine ungefähre Vorstellung davon im Kopf, welche Farbe wir damit meinen, wie etwas aussieht, das sandfarben ist. Dabei ist Sand nicht einfach nur sandfarben. Sand hat so viele Farbschattierungen: Ocker, rost, gold, beige, weiß, rosé. Sie musste lächeln bei dem Gedanken an die Wüstenfarben. Die Wüste bei Regen, bei Sturm, Wind und Kälte. Der Wüstenhimmel war grau damals, nicht sonnenscheinwolkenlosblau. Er war grau wie der Himmel heute. Doch der Sand, der Sand leuchtete in all seinen Farben.

Erwarten

Sie musste beim Aussteigen wieder an die rote Kaffeemaschine denken, die sie ihren Eltern geschenkt hatte. Sie war nicht so gut darin, ihre Liebe in Worte zu packen. Eine Kaffeemaschine machte es ihr leichter. Sie war das Medium, das die Botschaft übermittelte. Übermitteln sollte. Leider konnte die Maschine nicht sprechen. Somit blieb ihre Botschaft stumm. Ein stummer Ausdruck von Liebe, der falsch gedeutet, nicht richtig verstanden wurde. Die Kaffeemaschine war für ihre Eltern eben nur eine Kaffeemaschine, ein Geschenk zwar, aber dennoch ein Gebrauchsgegenstand, der kaputt gehen konnte. Während für sie mit der Kaffeemaschine ihr Medium der Liebe kaputt ging, ging für ihre Eltern nur eine rote Kaffeemaschine kaputt, die sich durch jede andere ersetzen ließ. Die Liebe ließ sich nicht einfach ersetzen. Liebe ließ sich nie einfach ersetzen. Jede Liebe ist einzigartig. Ihre Kaffeemaschine war einzigartig.

Wo musste sie hin? Sie blieb kurz auf dem Bahnsteig stehen und schaute auf die Beschilderung. Schließlich wandte sie sich nach links. Sie vergrub die Hände in den Jackentaschen und zog den Kopf ein klein wenig zwischen die Schultern, ehe ihr klar wurde, dass sie sich nicht kleiner machen wollte als sie ohnehin schon war. Also streckte sie den Kopf und straffte die Schultern. Sie spürte die kühle Luft zwischen Hals und Jackenkragen, aber er sollte nicht glauben, sie sei unsicher oder nicht selbstbewusst genug. Warum machte sie sich Gedanken darüber, was er von ihr halten könnte? Sie kannte ihn noch nicht einmal. Aber sie hatte mit ihm geschrieben. Er war eines von vielen 2D-Bildern in ihrem Kopf, das sich nun in ein 3D-Bild verwandeln würde.

Sie versuchte in sich hineinzuhören, versuchte zu hören, wie sie sich fühlte. Ihr Inneres war leer. Da waren keine besonderen Geräusche in ihr. Vielleicht ein leises Kribbeln, ein schwaches Klopfen. Sie musste an die Essiggurke im Glas denken: ein wenig sauer, ein wenig bitter, ein wenig süß, vielleicht auch pikant. Wie das Treffen wohl werden würde? Für sie war die erste Begegnung entscheidend, nicht das, was man vorher schriftlich ausgetauscht hatte. Worte konnten noch so viel sagen, noch so liebevoll, humorvoll, intelligent oder einfühlsam sein; aber das Herz? Das Herz sagte nicht viel, es brauchte nicht viele Worte, es schlug höher oder es schlug eben nicht höher. Man konnte sich riechen oder eben nicht. Man war sich sympathisch oder eben nicht. Die Begegnung von Angesicht zu Angesicht, das 3D-Bild war entscheidend.

Sie schaute auf das Display ihres Handys und checkte die Uhr. Ob er schon da war und wartete? Es war noch Zeit, aber sie wollte auf keinen Fall vor ihm da sein. Wenn sie vor dem Treffen die Gelegenheit bekam, ihn zu beobachten, noch ehe er sie sah, verschaffte ihr das einen Vorsprung. Was tat er, wenn er wartete? Wie bewegte er sich? Wirkte er nervös, angespannt, gelassen, cool, freudig? Suchte er unauffällig die Richtungen ab, aus denen sie kommen konnte? Was tat er, wenn sie näherkam und er sie erkannte? Lächelte er schon von weitem oder blieb er kühl, tat so, als ob ihn das alles nichts anging? Kam er ihr entgegen, oder wartete er, bis sie bei ihm war? Kleinigkeiten. Kleinigkeiten, die ihr schon ein wenig mehr über ihn verrieten als ein paar Fotos und ein Instagram-Account. Das Beobachten verschaffte ihr außerdem Gelegenheit, sich auf die doch sehr wahrscheinliche Tatsache einzustellen, dass er in 3D nicht ihr Typ war. Sie nutzte die Zeit zum Überlegen, wie sie reagieren wollte, um ihm diese Tatsache nicht direkt beim ersten Hallo entgegenzuschmettern.

Eigentlich hasste sie es, das Online-Dating. Sie wollte dem Zufall nicht vorgreifen. Sie wollte nicht in die Hand nehmen, was ein anderer fügen sollte. Andererseits schloss das eine das andere ja nicht aus. Der Zufall, der für sie doch keiner war, hatte weiterhin seine Chance. Er begleitete sie, wo immer sie hin ging. Sie erweiterte diese Chance nur ein wenig. Sie hatte nichts zu verlieren, nur zu gewinnen, wenn es denn einmal so käme. Bisher hatte kein Treffen ihr Herz höherschlagen lassen. Es war bei Worten geblieben, bei netten, angenehmen, langweiligen, oberflächlichen, leeren Worten, bei Worten, die für sie keine weitere Bedeutung hatten. Trotzdem war sie gespannt auf jede Begegnung und auf den Menschen, dem sie begegnen würde.

Erste Begegnung

Sie kam nicht. Das war klar. Warum sollte sie? Warum war er nur so blöd, und ließ sich immer wieder darauf ein. Die letzten Dates hatten ihm doch bewiesen, dass es sinnlos war, reine Zeitverschwendung.

Er musste gähnen und starrte wieder auf die Uhr. Er war ungeduldig. Es war noch Zeit, aber er hasste es, zu warten. Er hasste es, wenn sie ihn warten ließen und ihm das Gefühl gaben, das Treffen sei ihnen nicht wichtig, er sei ihnen nicht wichtig. Vielleicht musste er warten, weil sie nicht wussten, was sie zu diesem Treffen anziehen sollten. Zu aufreizend, zu sexy, zu sehr Schlabberlook, zu sportlich, nicht sexy genug, was will ich ihm mit meinem Outfit sagen? Dabei war es ihm vollkommen egal, was sie ihm mit ihren Klamotten sagen wollten. Er wollte ihnen mit seinen Klamotten auch nichts sagen. Es wäre falsch zu meinen, dass er keinen Wert auf Äußeres legte, aber was nützte es, wenn ihre Klamotten ganze Geschichten erzählten, sie selbst aber nichts zu erzählen hatten?

Er musste wieder gähnen. Verdammt. Warum war er so müde? Er schaute auf sein Handy und rief ihr Profil noch einmal auf. Manchmal war es ihm passiert, dass ihm der Name entfallen war, einfach weg. Wie ausgelöscht. Er konnte sich plötzlich nicht mehr erinnern, wie sie hieß. Den ganzen Abend über konnte er sich nicht auf das Gespräch konzentrieren, weil er ständig an den Namen denken musste, den er vergessen hatte. Er wollte sich die Blöße nicht geben, sie noch einmal danach zu fragen. Jemanden beim Namen zu nennen, war ein Zeichen von Wertschätzung, ein Zeichen von Respekt. Er hatte das Treffen schließlich beendet.

Er war ungeduldig. Sie hatte gesehen, dass er schon zum zweiten Mal auf die Uhr geschaut hatte innerhalb von fünf Minuten. Fast musste sie lachen. Sie war noch nicht zu spät, eigentlich war er zu früh. Warum also die Ungeduld?

Er sah aus wie auf den Fotos. Das war schon mal ein Pluspunkt. Ihr war es noch nie passiert, dass jemand ein falsches Foto verwendet hatte, aber es war doch jedes Mal überraschend, wie fotografisches Abbild und Realität auseinanderdriften konnten. Da waren sie doch tatsächlich älter, dicker, bärtiger, kahler, kleiner oder weniger muskulös als auf den Fotos. Sie war nicht oberflächlich. Ganz im Gegenteil. Aber für ihre Erwartungen konnte sie nichts; und wenn ein Foto Erwartungen in ihr weckte, wollten diese erfüllt werden. Meistens machte es ihr nichts aus, wenn das Foto nicht exakt mit ihren Vorstellungen übereinstimmte. Sie sah auf ihren Fotos vermutlich auch anders aus als erwartet. Porträts waren nur Abbilder, Sekundenbruchteile ihrer selbst, festgehalten in der Zeit; aber die Art, wie jemand sich bewegte, lächelte, sprach, die Mimik und Gestik, die Körperhaltung und der Körper in Bewegung, konnte man nicht auf den Fotos sehen, ebenso wenig wie den Charakter einer Person. Jeder Mensch war die Summe vieler Teile, und einer stand keine hundert Meter von ihr entfernt und wartete darauf, dass sie ihn Stück für Stück zu einem Gesamtbild zusammensetzte.

Es reichte ihm. Er hatte keine Lust mehr, zu warten. Was soll’s. Es war windig und kühl. Er hatte noch genug offene Dates, konnte sich zu einem anderen Treffen verabreden, oder es endlich bleiben lassen.

„Hi, Mark! Du bist doch Mark? Wartest du schon lange?“ Ihre Stimme ließ ihn kurz zusammenzucken. Wo war sie hergekommen? Er musterte sie. Sie war klein, schlank, normal irgendwie. Auf den ersten Blick war sie so wie ihr Profil ihm verraten hatte.

„Äh, hi! Nein, nicht so lange.“ Ihr plötzliches Auftauchen hatte ihn aus dem Konzept gebracht. Er hatte sie nicht kommen hören, nicht kommen sehen. Das nicht hatte ihm Zeit genommen, auf sie zu reagieren. Mist, wie hieß sie nochmal? Der Name war weg.

Sie wartete, ob noch mehr kam, dann sagte sie: „Okay. Gut. Es ist auch echt frisch heute. Was machen wir?“ Sie war irritiert. Sie wurde den Eindruck nicht los, dass er hatte gehen wollen. Wenn er keine Lust auf das Treffen hatte, warum hatte er dann zugesagt? Warum war er dann gekommen? Er wirkte unwillig. Irgendetwas schien ihn zu stören. Hatte sie etwas falsch gemacht? Im selben Moment hasste sie sich für diesen Gedanken. Wenn er mies drauf war, lag das sicher nicht an ihr. Trotzdem war ihr die Lust auf diese Begegnung vergangen. Mark stand einfach da, und sagte nichts. Hatte er sie nicht verstanden? Was war los mit dem Kerl?

Sie standen einander gegenüber und schauten sich an. Es war eine merkwürdige Situation. Beide wollten, wollten nicht, und konnten doch nicht gehen. Die Situation hielt sie gefangen. Der Rahmen, den sie für dieses Treffen schon vorher abgesteckt hatten, war an Verhaltensregeln geknüpft, an gegenseitige Erwartungen, denen eine Richtung vorgegeben war, die sie nicht ändern konnten. Doch es lief aus dem Ruder.

Die Essiggurke war überhaupt nicht im Glas, dachte sie. Es war wie Essigsäure, reine Essigsäure.

Zeitverschwendung, dachte er, wenn er den Namen nicht erinnerte.

Sie steckten beide fest. Ihre Gedanken kreisten um sich selbst. Sie kreisten nicht umeinander. Augenblicke des Schweigens vergingen, vielleicht waren es aber auch nur wenige Sekunden, die Mara viel zu lange vorkamen.

Von Namen und Annahmen

„Hast du eine andere erwartet? Ich bin Mara, die, mit der du geschrieben hast.“

Sie schaute ihn fragend und ein wenig herausfordernd an, wollte dieses peinliche Schweigen beenden. Wenn er jetzt wieder nichts sagte, dann würde sie auf dem Absatz kehrt machen und gehen.

Sie wartete. Seine Augen weiteten sich unmerklich. Der Name! Mara bemerkte es nicht. Sie sah nur ein flüchtiges Interesse, das sie vorher nicht wahrgenommen hatte.

„Alles klar, Mara. Lass uns irgendwo hingehen und einen Kaffee trinken. Es ist ungemütlich hier draußen.“

Hätte sie gewusst, was die Erinnerung an ihren Namen bei ihm ausgelöst hatte, hätte sie in diesem Augenblick der glücklichste Mensch der Welt sein können. Sie hatte die Situation gerettet, sie hatte die Begegnung gerettet, sie hatte ihn gerettet. Hätte sie es gewusst. So war sie einfach froh, dass das Treffen nicht auf so unschöne Weise beendet wurde, ehe es richtig begonnen hatte, und sie den restlichen Tag doch noch zufrieden ausklingen lassen konnte; zufrieden damit, dass sie ein nächstes Treffen hinter sich gebracht haben würde, sich abermals überwunden hatte, und nichts dabei verloren hatte, sondern eine weitere Begegnung gewonnen.

Sie musterte ihn beim Gehen. Unauffällig. Er trug helle Jeans und einen dunkelblauen Mantel, dazu weiße Turnschuhe. Die Hände hatte er in den Manteltaschen vergraben. Sein Kopf wippte beim Gehen leicht vor und zurück. Er war groß. Es war nicht schwer, größer als sie zu sein, aber er war ein ganzes Stück größer, und er war schlank, fast ein bisschen drahtig für seine Größe, jedenfalls war er nicht kräftig. Was noch? Auf seinem Profil hatte er ein Foto gehabt, auf dem sich die Sonnenstrahlen in seinem Gesicht spiegelten. Sein Haar war dort, wo die Sonne es traf, kastanienfarben, der Rest dunkelbraun, fast schwarz. Was sie gefesselt hatte, waren seine Augen. Als würde sie in einen Herbstwald eintauchen. Ein Lichtspiel von Bernstein, rotem Weinlaub, Ebenholz, und Tannengrün. Es war faszinierend. Eigentlich hatte sie ihn nur deshalb nicht weggewischt. Normalerweise gab sie keinem eine Chance, der überhaupt keine persönlichen Infos von sich Preis gab. Wenn diese Augen nicht gewesen wären, die sie jetzt gar nicht sehen konnte, weil er beim Gehen kein einziges Mal zu ihr herüber schaute, wäre sie jetzt nicht hier. Hatte er auf dem Foto eigentlich gelächelt? Sie erinnerte sich nicht.

Sie hatten nur kurz geschrieben. Ein bisschen Smalltalk, ein paar Nettigkeiten, wenige Infos, dann hatte er sie um ein persönliches Treffen gebeten.

Er war nicht der Typ für viel Gerede, wenn es dann am Ende doch nicht passte. Davon abgesehen hatte er keine bestimmten Erwartungen. Er machte sich vorher keine Gedanken darüber, was er von ihnen wollte. Er wollte nichts. Er wollte sich treffen, alles andere ergab sich dann oder eben nicht. Was auch immer. Er war nicht wählerisch, was seine Dates anging. Aber er mochte es nicht, wenn sie ihn langweilten. Dann war er ganz schnell wieder weg. Und leider kam der Punkt früher oder später, an dem sie anfingen, ihn zu langweilen.

Er ging neben ihr. Sie unterhielten sich. Sie fragte etwas, er antwortete, während seine Gedanken anderswo waren. Ihre wenigen Worte vorhin hatten etwas Entwaffnendes gehabt, das ihn überrascht hatte. Dass sie ihm ihren Namen genannt hatte, war ein kluger Schachzug gewesen. Er hätte sonst nicht weiterspielen können. Jetzt war wieder alles offen.

„Du lächelst wohl nicht oft?“

Sie sagte es einfach frei heraus. Vor ihnen auf dem Tisch standen eine Tasse schwarzer Kaffee ohne Milch und Zucker, und ein Cappuccino mit viel Milchschaum und wenig Zucker. Sie saßen sich an dem kleinen, runden Tisch im Café gegenüber umgeben vom Stimmengewirr der anderen Gäste, die versuchten, bei einem heißen Getränk und netten Gesprächen dem trüben Herbstwetter draußen zu entkommen.

Er musterte sie ein wenig überrascht. Warum hatte sie das gefragt? Es war ihr einfach so rausgerutscht. Sie hatte wieder an das Foto denken müssen und an ihr Gespräch auf dem Weg hierher, das irgendwie angenehm gewesen war, ein Gespräch unter Fremden, die die gemeinsame Absicht zusammengeführt hatte, sich ein wenig besser kennenlernen zu wollen, etwas voneinander zu erfahren, ohne zu viel zu verraten, weil man sich doch noch nicht wirklich und nicht gut genug kannte.

Die eingetretene Stille war zu laut. Sie nahm ihre Tasse und konzentrierte sich auf den Milchschaum, der kleine Bläschen an der Oberfläche warf, um die Stille nicht hören zu müssen. Sie hatte schon gemerkt, dass er im Smalltalk hervorragend war, und da hatte er ihr etwas voraus. Wenn sie jedoch abseits von Belanglosigkeiten und Allgemeinplätzen zwischen Hobbies und Lieblingsreisezielen, noch unerfüllten Abenteuern und beruflichen Vorstellungen etwas sagte, das vom Regelkanon der Konversation einer solchen Verabredung abwich, schien er jedes Mal aus dem Konzept gebracht. Sagte man einem quasi Fremden, dass man sein Lächeln vermisste?

„Tut mir leid, das ist mir so rausgerutscht.“ Sagte sie schnell.

„Bist du immer so direkt?“

„Ich beobachte nur. Tut mir leid. Vergiss es.“

War es so? Lächelte er wirklich so selten? Schon zum zweiten Mal an diesem Nachmittag hatte sie ihn zum Nachdenken gebracht.

Als sie schließlich beide wieder ihrer eigenen Wege gingen, dachte sie über diese Begegnung nach. Sie dachte immer über die Begegnungen nach. Analysierte, was sie erlebt hatte, analysierte ihr Verhalten und fragte sich, was sie für die Zukunft daraus mitnehmen konnte. Das erste Zusammentreffen war dabei nie so komisch wie das Loslösen. Wie verblieb man am Ende? Wann war der richtige Zeitpunkt zu gehen, wenn das Treffen gut lief, und wann der richtige Zeitpunkt, wenn es nicht so gut lief? Wie ging man auseinander, ohne zu viel zu versprechen, aber auch nicht zu viel offen zu lassen?

In diesem Fall war es nicht schwer gewesen. Er hatte ihnen die Entscheidung abgenommen, als er sagte, er hätte versprochen, seinem besten Freund, der gerade in eine neue Wohnung gezogen war, beim Aufbau der Küche zu helfen. Sie fand zwar, dass man eine Küche doch eher tagsüber aufbaute und nicht am Abend, wo eine nachbarliche Beschwerde wegen Ruhestörung vorprogrammiert war, aber sie zweifelte nicht am Wahrheitsgehalt seiner Aussage. Warum sollte sie zweifeln? Sie kannte ihn nicht gut genug, um beurteilen zu können, ob er die Wahrheit sagte oder seinen Freund nur als billige Ausrede benutzte, um das Date beenden zu können. Da sie sonst aber ihrerseits etwas hätte sagen müssen, um das Date für beendet zu erklären, ohne unhöflich zu wirken, war sie froh, dass er ihr zuvorgekommen war. Einer von beiden musste den ersten Schritt machen, musste sagen, dass es Zeit war, zu gehen, wenn man nicht gemeinsam die Nacht verbringen wollte.

Sie war wieder auf dem Weg zum Bahnhof, unterwegs in der kühlen Herbstluft. Es war dunkel geworden. Die unterschiedlichen Grauschattierungen waren einem grauen Einheitsbrei gewichen. Der Wind hatte zugenommen und wirbelte abgefallene Blätter und am Boden liegendes Zeitungspapier, Taschentücher und anderen Straßendreck durch die Luft. Ob sie sich wieder sehen würden? Es gab Dates, da wusste man schon beim Verabschieden, dass es keine Wiederholung geben würde, und solche, da tauschte man Nummern mit dem unausgesprochenen Wunsch, sich wieder sehen zu wollen, der sich manchmal erfüllte, manchmal aber auch in der Vorstellung verhaftet blieb, und manchmal nur aus Verlegenheit und zum Glück nicht offen geäußert worden war.

Bei Mark wusste sie es nicht. Sie hatte gespürt, dass da etwas war, das einem Wunsch nach Mehr gleichkam. Ob es ihm genauso ging, ob er sie anziehend gefunden hatte und sie wiedersehen wollte, wusste sie nicht.

Hätte man sie gebeten, das Treffen zu beurteilen, hätte sie mit Blick auf die Essiggurkenmetapher gesagt, dass es am Ende doch nicht bitter wie Essigsäure geschmeckt hatte. Viel mehr war es voller Geschmack gewesen, der sich nicht eindeutig einer Geschmacksrichtung zuordnen ließ. Es hatte von allem ein bisschen und doch viel mehr gehabt, hatte ein wenig sauer, süß, würzig-pikant, auch bitter und ein bisschen scharf geschmeckt. Sie hatte noch kein Einmachglas geöffnet, das so voller Geschmack war wie dieses, ohne zu wissen, wonach es genau schmeckte.

Ob sie sich wieder sehen würden? Sie wusste es nicht, aber sie hoffte es.

Dein Lächeln

Sie hatte damals tatsächlich gehofft, dass sie Mark wieder sehen würde. Sie hatte wissen wollen, wer der Mensch war, der hinter diesem Namen steckte, und der ihr im Café gegenübersaß. Nicht die Infos, die sie von ihm bekommen hatte, und die er sie hatte sehen lassen. Sie wollte wissen, was er sie nicht hatte sehen lassen.

Sie weiß noch, dass sie damals ein wenig überrascht war, dass er sie nicht gefragt hatte, ob sie mit zu ihm kommen wollte. Hatte sie ihn doch eher ein wenig oberflächlich eingeschätzt, wie jemanden, der mitnahm, was ging. Aber er hatte noch nicht einmal eine Andeutung in diese Richtung gemacht. Im Café hatte er ihr ein paar Mal in die Augen geschaut, als ob er darin etwas suchte. Was er gefunden hatte, hatte er nicht verraten.

Du lächelst wohl nicht oft. Es war mehr eine Feststellung als eine Frage gewesen, und wenn sie jetzt an diese erste Begegnung damals zurückdachte, konnte sie sich nicht mehr daran erinnern, ob und was er ihr geantwortet hatte. Im Nachhinein dachte sie, hätte ihr jemand beim ersten Date dasselbe gesagt, sie hätte beleidigt reagiert, vielleicht wäre sie sogar aufgestanden und gegangen. Er war geblieben.