Scary Harry (Band 2) - Totgesagte leben länger - Sonja Kaiblinger - E-Book

Scary Harry (Band 2) - Totgesagte leben länger E-Book

Sonja Kaiblinger

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Beschreibung

Während Sensenmann Harold Urlaub macht, wird die ganze Stadt von einer Geisterplage heimgesucht und ein toter spanischer Torero versucht, sich bei Otto und seiner Tante einzunisten. Einen weiteren Geist kann Otto wirklich nicht gebrauchen! Zur selben Zeit taucht ein mysteriöser Vertreter auf, der ein Spray namens Anti-Ghost an spukgeschädigte Menschen verkauft. Otto und seine Freundin Emily haben den Verdacht, dass Ottos verstorbener Onkel Archibald etwas mit der Sache zu tun hat. Kurzerhand beschließen die beiden, sich ins Jenseits einzuschleusen. Das ist komplizierter als gedacht - doch zum Glück eilt ihnen Harold zu Hilfe. Der zweite Band der kultigen Kinderbuchreihe um Otto und Sensenmann Harold - ein spannendes, witziges und Geist-reiches Abenteuer für kleine und große Leser.

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Ein ungebetener Geist

Otto! Sag mal, hörst du schlecht?«, krähte eine Stimme. »Zeit zum Aufstehen. Raus aus den Federn!« Kurz darauf streifte irgendetwas Ottos Haare und plumpste neben ihm auf das Kopfkissen. Otto öffnete die Augen einen Spalt. Vincent, seine Hausfledermaus, saß vor ihm.

Otto brummte unwillig, drehte sich um und bohrte sein Gesicht tief ins Kissen. Dabei kniff er die Augen ganz fest zu. Er hatte gerade einen spannenden Traum gehabt, an dem er unbedingt festhalten wollte. Sensenmann Harold hatte ihn ins Jenseits mitgenommen. Aber es war nicht die Spur gruselig gewesen. Sie waren einfach durch das Portal in der Pendeluhr spaziert und in einem abgefahrenen, kitschig-bunten Land hinter den Wolken gelandet, das Otto irgendwie an die Welt von Alice im Wunderland erinnert hatte.

Seit Otto durch Zufall Freundschaft mit einem echten Sensenmann geschlossen hatte, träumte er oft von Harold und ihren gemeinsamen Abenteuern. Ins Jenseits hatte Harold Otto zwar in Wirklichkeit noch nicht mitgenommen, aber vor ein paar Wochen hatten sie einem geisterklauenden Vergnügungsparkbesitzer namens Philippe Bleu das Handwerk gelegt. Sogar Vincent hatte sich dabei als ziemlich nützlich erwiesen. Inzwischen war er jedoch wieder zu seiner Lieblingsrolle als Nervensäge vom Dienst zurückgekehrt.

»Nun komm schon!«, rief Vincent jetzt und hüpfte auf Ottos Kissen auf und ab. »Es ist höchste Zeit. Erste Stunde: Biologie. Hopp, hopp, hopp – aus dem Bett im Schweinsgalopp!«

Plötzlich fuhr ein stechender Schmerz durch Ottos Ohrläppchen.

Otto rappelte sich hoch und funkelte sein Haustier wütend an. »Mann, Vincent, geht’s noch? Du hast mich gebissen!«

Vincent grinste und zeigte seine Vampirzähne. »Ich bin besser als jeder Wecker!«

»Du spinnst doch!« Otto deutete zum Fenster. »Es ist tiefste Nacht. Der Vollmond steht noch am Himmel.«

»Quatsch. Es ist sieben Uhr morgens«, beharrte Vincent. Trotzig verschränkte er die Flügel.

»Es ist Nacht!«

»Es ist Morgen!«

»Nacht!«

»Morgen!«

»Klappe!« Otto warf sich zurück aufs Bett. Er würde ganz sicher nicht um zwei oder drei Uhr morgens aufstehen und zur Schule gehen, bloß weil eine freche Fledermaus es verlangte. Vincents Streiche waren auch schon mal besser gewesen.

»Jetzt hör doch, Otto.« Vincent wedelte mit einem Flügel vor Ottos Nase herum. »Die Pendeluhr unten im Salon schlägt gerade.«

Otto lauschte. Eins, zwei, drei … Tatsächlich zählte er ganze sieben Schläge.

Vincent warf ihm einen triumphierenden Blick zu. »Siehst du? Tante Sharons Uhren gehen nie falsch, das solltest du inzwischen wissen. Sie kontrolliert sie jeden Abend.«

»Na fein.« Otto seufzte und setzte sich auf. Wo Vincent recht hatte, hatte er recht. Ottos Tante sammelte Uhren aller Art und war berühmt dafür, dass sie auf die Sekunde genau gingen. Aber warum kündigte die Pendeluhr im Salon schon den Morgen an, obwohl es draußen stockfinster war? Irgendwas stimmte da nicht.

Otto beschloss nachzusehen. Träge kroch er aus dem Bett und tappte die Treppenstufen hinunter in den Salon.

Dort staunte er nicht schlecht. Sämtliche Uhren zeigten auf einmal unterschiedliche Zeiten an! Laut der großen Pendeluhr war es sieben Uhr. Die Zeiger der Kuckucksuhr, die sich neben Otto an der Wand befand, standen hingegen auf Mitternacht. Das Holztürchen öffnete sich und der Kuckuck schrie sich ganze zwölf Mal die Seele aus dem Leib, während gleichzeitig der Alarm einer Digitaluhr im Eck losging. Das Display zeigte halb sechs Uhr früh an. Seltsam!

»Meine Güte. Was ist das denn für ein unsäglicher Lärm?« Sir Tony war neben Otto aufgetaucht. Er trug einen gestreiften Pyjama, eine Schlafmütze mit Bommel und eine Kerze in der Hand. »Hat der Kuckuck Fieber?«

Sir Tony war einer der drei Hausgeister, die in Tante Sharons Villa wohnten. Außer Otto konnte sie niemand sehen. Warum ausgerechnet er diese seltsame Gabe besaß, wusste Otto nicht, aber inzwischen kam er ganz gut damit klar.

Gruselig waren Sir Tony, Bert und Molly nicht. Anstrengend allerdings sehr wohl. Besonders Sir Tony, der sich für den heimlichen Hausherren hielt. Deshalb ging er jeder Unregelmäßigkeit im Haushalt auf den Grund.

»Ich habe doch selbst keine Ahnung.« Otto hob die Schultern und knipste den Lichtschalter an, um die Kuckucksuhr besser inspizieren zu können. Von außen machte das hässliche Ding einen ganz normalen Eindruck. »Tante Sharons Uhren sind nie kaputt. Was ist nur los?«

Kaum hatte Otto die Worte ausgesprochen, fuhr ein Windstoß durch den Raum. Der Kronleuchter klirrte und das Bild von Onkel Archibald neben dem Fernseher geriet plötzlich schief. Ottos Arme überzogen sich mit Gänsehaut.

»Vielleicht sind das Bert und Molly, die uns einen Streich spielen wollen«, überlegte Otto und kratzte sich am Kopf. Seine zwei anderen Hausgeister verhielten sich oft genug wie die reinsten Kindsköpfe, aber vor Tante Sharons Uhren hatten sie normalerweise großen Respekt.

»Ich glaube nicht.« Sir Tony schüttelte den Kopf, während die Porzellanfigürchen auf der Kommode wie von Geisterhand auf den Boden purzelten. »Die beiden benehmen sich üblicherweise nicht wie Poltergeister.«

Aus dem Augenwinkel sah Otto etwas am Kamin vorbeizischen. Im nächsten Moment rotierten die Zeiger von Tante Sharons Kaminsimsuhr gegen den Uhrzeigersinn.

Otto kam ein neuer Gedanke. »Vielleicht … handelt es sich hier ja um einen fremden Geist.« Er blinzelte, konnte aber nichts erkennen.

Sir Tony zog die buschigen Augenbrauen hoch. »Ein fremder Geist? Hier in meinen vier Wänden? Na warte, dem werde ich die Meinung sagen.« Er schwebte auf die Kaminsimsuhr zu und reckte den Hals. »Wer wagt es, ohne Erlaubnis in Sir Tonys Villa einzudringen? Das ist Hausfriedensbruch!«

Eigentlich war es längst nicht mehr Tonys, sondern Tante Sharons Villa, aber Otto fand es besser, seinen Freund nicht zu unterbrechen.

Anstelle einer Antwort gab die große Pendeluhr in der Ecke einen merkwürdigen, schiefen Schlag von sich. Ihre Zeiger rotierten jetzt in entgegengesetzte Richtungen.

»¡Cállate! Halt die Klappe, du fette Sack!«, ertönte schließlich eine kichernde Stimme aus dem Uhrenkasten. Irrte Otto sich oder konnte er einen spanischen Einschlag heraushören?

Im nächsten Moment hüpfte eine schmächtige Gestalt aus dem Uhrenkasten und baute sich selbstbewusst vor Sir Tony auf. »Das ist jetzt meine Spuk-casa! Ich bin Fernando, Stierkämpfer aus Sevilla!« Der Geist sprach mit rollendem r und reckte das Kinn, um eindrucksvoller zu wirken. »Ich habe es mit viele fette Stiere aufgenommen, dagegen bist du nur eine lauwarme Tortilla! ¿Claro?«

Der Geist war ungefähr so groß wie Otto, hatte pechschwarzes gelocktes Haar, einen langen gezwirbelten Schnauzbart und trug ein Kostüm mit goldenen Verzierungen. Mit einer blitzschnellen Handbewegung zog er ein rotes Tuch hervor und wedelte damit vor Sir Tonys Nase herum. »¡Arrriba!«

»Meine Güte.« Sir Tony verdrehte die Augen und sah den Winzling abschätzig an. Offenbar dachte er nicht mal daran, sich mit diesem frechen Knirps zu duellieren. »Welcher einfältige Sensenmann hat dich denn hier vergessen? Bestimmt war dieser Harold wieder mal zu faul –«

»Jetzt aber mal halblang.« Ottos Blick schnellte von dem mysteriösen Torero zum Türrahmen, wo just in diesem Augenblick Harold mit einem Stapel Gurkengläser erschienen war. »Wer sagt denn, dass dieser missratene Speedy Gonzales hier auf mein Konto geht?«, empörte er sich. »Du solltest den Geistern kein Sterbenswörtchen glauben, Otto!« Beinahe rutschte ihm eines der Gurkengläser herunter.

Unwillkürlich musste Otto grinsen. Als er dem Skelett mit der Kutte und den verschiedenfarbigen Turnschuhen zum ersten Mal hier im Salon begegnet war, hatte er sich vor Schreck beinahe in die Hosen gemacht. Doch das war inzwischen Vergangenheit. Dafür war der Sensenmann ein viel zu liebenswerter und witziger Zeitgenosse. Er konnte ja nichts für seinen Job.

Jede Nacht lieferte Harold die Gurkengläser mit den frisch eingesammelten Seelen ins Jenseits. Das Portal befand sich genau hier in Tante Sharons Wohnzimmer, und zwar in der alten Pendeluhr.

»Ich dachte ja nur«, murmelte Sir Tony. »Jeder herumspukende Geist sitzt doch nur deshalb hier auf Erden fest, weil einer von euch Sensenmännern ihn nicht rechtzeitig eingefangen hat.« Er schnaubte. »Und du bist ja wohl für dieses Gebiet hier zuständig.«

Harold stellte die Gurkengläser auf dem Wohnzimmertisch ab. »Das ist zwar korrekt«, er zückte sein Schmetterlingsnetz und schritt auf den fremden Geist zu, »aber bei dem da haben eindeutig meine spanischen Kollegen Mist gebaut.«

Trotzig blickte ihm der Torero entgegen. »Und wennschon. Ich wohne jetzt in diese Villa«, beharrte er und ließ seinen Blick durch den Salon schweifen. »Die Ambiente hier gefällt mir. Die vielen Uhren machen die casa so … heimelig.«

Harold tippte sich mit seinem knochigen Zeigefinger an die Schläfe. Es klang hohl. »Heimelig? Bei dem ständigen Ticken? Der Kerl hat sie nicht mehr alle.« Dann, an den Geist gewandt, fragte er: »Wie lange bist du eigentlich schon tot?«

»Lange genug«, blaffte der Torero.

»Liegt es länger als einen Vollmond zurück?«, erkundigte sich Harold.

Otto sah gespannt zu. Von Harold wusste er, dass sich die Seelen Verstorbener nur bis zum nächsten Vollmond ins Jenseits bringen ließen. Danach waren sie zu einem Geisterdasein auf Erden verdammt.

»Ich glaube, er ist schon länger tot«, warf Sir Tony ein. »Er sieht schon aus wie ein richtiger Geist.«

»Stimmt«, pflichtete ihm Otto bei. Wenn jemand gerade erst das Zeitliche gesegnet hatte, erschien seine Seele als rot glühender Ball über dem Kopf des Toten. Das hatte Otto selbst beobachtet, als sein Nachbar MrOlsen gestorben war.

Harold überlegte. »Nun, wir können ganz leicht herausfinden, ob wir den Typ noch loswerden können.«

»Ai, ai, ai. Was zur Guacamole –«, fluchte der kleine Geist, aber in diesem Moment hatte Harold schon sein Schmetterlingsnetz über ihn gestülpt. Mit einer geübten Handbewegung stopfte er ihn in ein leeres Glas und schraubte den Deckel darauf. Nun konnte Otto den Kerl nur noch dumpf auf Spanisch fluchen hören.

»Mal sehen, ob das Jenseits den noch aufnimmt«, murmelte Harold, während er sich an der Pendeluhr zu schaffen machte. Nachdem sie dreizehn Mal geschlagen hatte, öffnete er den Uhrenkasten und stellte das Glas aufs Förderband. Es dauerte bloß ein paar Sekunden, bis das Band Harolds Gurkenglas wieder ausspuckte. Aus dem kleinen Schlitz unter dem Ziffernblatt kam ein Bon.

Harold hielt den Zettel so, dass Otto ihn auch lesen konnte.

FEHLER! Abgabefrist überschritten. Seele kann nicht mehr angenommen werden.

Der Geist im Glas grinste frech.

»Mist«, fluchte Harold und nahm etwas widerwillig das Gurkenglas entgegen. Er betrachtete den Inhalt. »Was mache ich denn jetzt mit dem Kerl?«

»Hierbleiben kann er jedenfalls nicht«, sagte Sir Tony entschlossen und verschränkte die Arme.

Da musste Otto ihm allerdings recht geben. Drei Geister, eine sprechende Fledermaus und ein chaotischer Sensenmann reichten ihm. Er brauchte nicht auch noch einen streitlustigen Torero, der es liebte, an der Uhrzeit herumzuschrauben.

»Moment mal.« Otto hatte eine Idee. »In der Kürbisgasse gibt es doch eine alte, verfallene Villa, gleich neben dem Haus von meinem Klassenkameraden Stan.«

Harold lachte. »Stan? Der Typ, der sich vor Angst angepinkelt hat, als er mich gesehen hat? Hat der dich nicht immer geärgert?«

Otto nickte. Stan war eine echte Plage. Aber das windschiefe Haus auf seinem Nachbargrundstück schien geradezu ideal für einen Geist. Und wenn Stan von dem Spuk etwas mitbekam, umso besser.

»Ich könnte ihn da hinbringen und freilassen«, bot Harold an und steckte das Glas in die Seitentasche seiner Kutte. »Gibst du mir die genaue Adresse, Otto?«

Otto überlegte. »Kürbisgasse sechzehn. Nein, Moment, ich glaube, es war die Nummer vierzehn. Ja, genau, Kürbisgasse vierzehn!«

»Sicher?«, vergewisserte sich Harold.

»Äh … ja.«

Als Otto die Treppen hoch- und zurück in sein Zimmer schlurfte, war er sich doch nicht mehr ganz sicher, ob die Adresse tatsächlich stimmte. Aber er beschloss, sich nicht länger darüber den Kopf zu zerbrechen. Wenn die Uhr im Treppenhaus richtig ging, war es tatsächlich erst zwei Uhr morgens und die Aussicht auf weitere fünf Stunden Schlaf ließ ihn augenblicklich todmüde werden. Vorsorglich holte Otto aus seinem Nachttischchen eine Packung Ohrenstöpsel, bevor er sich wieder ins Bett legte. Er wollte morgen früh ausgeschlafen sein. Und er hegte immer noch die leise Hoffnung, seinen Traum von vorhin weiterzuträumen. Diesmal würde ihn jedenfalls weder eine freche Fledermaus noch ein ungebetener Geist daran hindern.

Archibalds Vermächtnis

Endlich«, seufzte Emily und ließ sich auf Onkel Archibalds abgenutzten Ledersessel in der geheimen Bücherkammer fallen. Der Raum war durch eine versteckte Falltür in Ottos Zimmer zugänglich und Otto vermutete, dass sein verstorbener Onkel die Kammer eingerichtet hatte. Otto und Emily kamen oft hier herunter, wenn sie ungestört mit den Geistern reden wollten. Oder einfach nur so. Der Raum hatte etwas Beruhigendes.

Müde strich Emily sich eine zottelige Haarsträhne hinters Ohr. »Ich dachte schon, der Schultag geht nie zu Ende. Die Lehrer haben doch alle einen Knall.«

Da musste Otto seiner besten Freundin zustimmen. Sämtliche Lehrer der Sigmund-Schwefelkopf-Schule hatten sich heute äußerst seltsam benommen. MrSchreiber, der Deutschlehrer, zum Beispiel war heute Morgen mit tiefen dunklen Augenringen ins Klassenzimmer geschlurft, hatte verkündet, dass er schon seit Tagen nachts kein Auge mehr zubekommen habe und deswegen keinen Unterricht halten könne. Stattdessen hatte er die Klasse ganze fünfzig Seiten aus dem Deutschbuch alleine durchkauen lassen. Otto hatte nicht mal die Hälfte davon kapiert.

In Mathematik war es sogar noch schlimmer geworden. Der Mathelehrer, MrPickles, war normalerweise die Ruhe in Person, doch heute wirkte er fahrig und unkonzentriert. Bei einer einzigen Gleichung hatte er sich an der Tafel vier Mal verrechnet. Das war ganz und gar untypisch für ihn.

»Zu meiner Zeit gab es in der Schule auch nichts zu lachen«, pflichtete Sir Tony Emily bei, obwohl sie ihn weder sehen noch hören konnte. »Der Unterricht war zermürbend. Wir mussten stundenlang strammstehen und die Strafen waren drakonisch.«

»Oh ja«, ertönte eine glockenhelle Stimme im Eck. Sie gehörte Molly, dem einzigen weiblichen Hausgeist in Tante Sharons Villa. Sie hockte auf dem riesigen alten Globus und drehte sich im Kreis. »Und diese Umgangsformen hast du dir offenbar gut gemerkt und auf dein Hauspersonal übertragen, nicht wahr?«

»Pfff!«, machte Sir Tony. Molly und ihr bester Kumpel Bert hatten zu Lebzeiten in der Küche der Villa gearbeitet und Sir Tony, dem ehemaligen Hausherren, immer noch nicht ganz verziehen, dass er sie damals nicht besonders nett behandelt hatte.

Otto seufzte und setzte sich auf die Armlehne des Sessels. »Drakonische Strafen, na toll. Ich bin heilfroh, dass es die heute nicht mehr gibt. Wenn man durch eine plappernde Fledermaus im Schulranzen ständig unangenehm auffällt, weiß man nette Lehrer zu schätzen.« Er zwinkerte Emily zu.

Sir Tony rümpfte die Nase. »Den Unterricht zu meiner Zeit kann man doch mit dem heutigen gar nicht mehr vergleichen. Wir haben damals immerhin noch Manieren gelernt.«

»Ach wirklich?« Molly grinste.

»Sehr wohl.« Sir Tony überhörte den sarkastischen Unterton und hob sein Doppelkinn. »Heute geht es bloß noch um dieses Internet. Computer hier, Computer da. Ihr Schüler lernt doch heutzutage nur noch Unfug«, maulte er. »Habt ihr überhaupt noch Fächer wie Erdkunde? Ihr Kinder wisst wahrscheinlich nicht mal mehr, wo Großbritannien liegt.«

»Gar nicht wahr!«, widersprach Otto.

Sir Tony zog die Augenbrauen hoch, dann schwebte er hinüber zu dem Globus, auf dem Molly saß. »Mach mal Platz, Molly«, brummte er und drehte schwungvoll die Erdkugel.

Molly verlor das Gleichgewicht und purzelte herunter. »Was fällt dir eigentlich ein?«

»Ja, ja, entschuldige«, murmelte Tony lapidar und wedelte mit der Hand. »Also, was ist nun, Otto? Hast du in Erdkunde aufgepasst?«

Das konnte Otto nicht auf sich sitzen lassen. »Natürlich.« Triumphierend drückte er seinen Finger auf die Stelle, wo sich Großbritannien befand. »Das ist ja wohl das Allereinfachste überhaupt! Sogar Stan könnte … Hoppla!«

Abrupt brach Otto ab. Als sein Finger eben den Globus berührt hatte, war ein Klicken ertönt, als wäre ein Mechanismus in Gang gesetzt worden.

Ungläubig sah Otto zu, wie die Hälften des Globus ganz langsam auseinanderklappten und sich dann untereinanderschoben. Onkel Archibalds alter Globus besaß ein Innenleben!

»Das ist ja der Wahnsinn!« Neugierig pirschte sich Emily vor. »Ein Geheimfach im Globus! Darauf muss man erst mal kommen. Ich glaube, du hast gerade so eine Art Knopf gedrückt, Otto.«

Tatsächlich. Der Globus hatte sich jetzt in eine Halbkugel verwandelt und offenbarte ihnen sein Inneres: Auf einem hölzernen Brett befand sich eine verstaubte Kiste. Sie schien unverschlossen.

Die vier traten näher.

»Oh, ein Schatz?« Molly bekam große Augen. »Ich wusste doch schon immer, dass deine Tante einen Schatz versteckt! Goldbarren, Münzen, Rubine, Diamanten … Wir sind reich!«

»Meine Tante?« Grinsend zog Otto die Augenbrauen hoch. »Wir sind doch nicht in einem Piratenfilm. Tante Sharon hat nie und nimmer einen Schatz versteckt. Sie hat keine Ahnung, dass es diese Kammer überhaupt gibt. Das sieht man ja schon an der dicken Staubschicht auf den Regalen.« In der Tat war nichts und niemand vor Tante Sharons Putzfimmel sicher. Wenn sie die Kammer jemals entdeckte, würde sie vermutlich erst einmal alles desinfizieren.

Otto kaute auf seiner Unterlippe. »Jede Wette, dass Onkel Archibald die Kiste hier versteckt hat.«

Molly verdrehte die Augen. »Wie langweilig. Der war doch Wissenschaftler. Bestimmt hat er bloß ein paar verstaubte Reagenzgläser hier eingebunkert. Na toll. Also doch kein Schatz!« Enttäuscht ließ sie ihre Zöpfe hängen.

»Sir Archibald und langweilig?«, mischte sich Sir Tony ein und funkelte Molly eindringlich an. »Ich glaube, du weißt nicht, wovon du sprichst. Ottos Onkel war nicht einfach ein stinknormaler Wissenschaftler. Er befasste sich mit … mit …« Sir Tonys Stimme begann zu zittern.

»Womit?« Molly wurde ungeduldig.

»Na, mit … mit …«

»Mit Geisterforschung«, wisperte Otto. Er hatte die Kiste geöffnet und hielt nun ein in Leder gebundenes Büchlein in den Händen, etwa so groß wie ein Schulheft. Es trug die Aufschrift Paranormale Forschungsreihe – Streng geheim.

»Echt?« Emily klang ganz aufgeregt. »Dein Onkel Archibald, ein echter Geisterforscher? Wie spannend! Aber wer sagt uns denn, dass das Büchlein überhaupt ihm gehört hat?«

»Ich bin mir ziemlich sicher.« Otto blies über den Einband. Eine Staubwolke stob auf und löste bei Sir Tony sofort einen kräftigen Hustenanfall aus.

»Ich erkenne Onkel Archibalds Handschrift«, fuhr Otto fort. »Tante Sharon hat mir alte Briefe von ihm gezeigt.« Er blätterte das Buch langsam durch und sah sich die Seiten genauer an. »Auf den ersten Seiten befinden sich bloß Formeln. Chemische Elemente. Keine Ahnung, was die bedeuten.«

»Sieh nur, Otto!« Emily zog an seinem Shirt. »Vergiss das Büchlein. In der Kiste ist noch mehr Kram versteckt.«

Molly schwebte über Emily und versuchte, einen Blick zu erhaschen. »Vielleicht … doch noch ein Schatz?« Sie hatte die Hoffnung auf Reichtum offenbar noch nicht ganz aufgegeben. »Oder zumindest ein paar Münzen? Ein einzelner Rubin? Oh, bitte! Dann könntet ihr einen Wäschetrockner kaufen. Darin herumzuwirbeln macht bestimmt total viel Spaß!«

Otto musste unwillkürlich kichern. Molly liebte alles, was sich drehte, und fuhr am liebsten in Tante Sharons Waschmaschine Karussell.

Er wandte sich wieder an Emily. »Was denn für Kram?« Er runzelte die Stirn. Unermesslicher Reichtum wäre ihm zwar auch recht gewesen, aber eigentlich fand er den Gedanken, mehr über seinen Onkel herauszufinden, viel spannender. Er hatte Archibald nie kennengelernt und Tante Sharon hatte auch nicht besonders viel über ihn erzählt.

Und nun entpuppte sich Archibald als heimlicher Geisterforscher. Otto war sich nicht ganz sicher, was er davon halten sollte.

»Ich habe eine Brille gefunden.« Emily zog ein riesiges altes Brillengestell aus der Kiste. Es hatte unzählige Schrauben und Drähte und sah aus wie eines dieser hässlichen Teile, die Ottos Augenarzt verwendete, um die Sehstärke zu prüfen. An den Bügeln befanden sich kleine Knubbel. Waren das Lautsprecher?

Otto inspizierte die fingerdicken Gläser. »Offenbar war Onkel Archibald blind wie ein Maulwurf.«

»Setz sie mal auf«, bat Emily und kicherte.

Otto gehorchte. Es dauerte eine Weile, bis sich seine Augen an die Brille gewöhnt hatten, doch dann konnte er Emily vor sich erkennen.

»Und? Was siehst du?«, wollte Emily wissen.

»Alles ist ein wenig verschwommen.« Otto blinzelte. »Aber sonst sieht alles normal aus.«

Er war fast ein bisschen enttäuscht. Otto wusste auch nicht, was er sich erwartet hatte. Vielleicht, dass die Welt durch die Brille in Pink getaucht werden oder alles spiegelverkehrt zu sehen sein würde. Aber das Ding schien ziemlich unspektakulär.

»Die Brille steht dir überhaupt nicht«, kommentierte Molly.

Sir Tony hatte inzwischen aufgehört zu husten. Otto wandte sich an den Geist. »Was meinst du, Tony?«

»Uaaaaaaaah!« Mit einem Satz war Sir Tony auf die oberste Sprosse der Bücherleiter gesprungen. Dort zog er die Beine an die Brust und begann zu bibbern. Er starrte Otto an, als hätte dieser sich vor seinen Augen in ein haariges Monster verwandelt.

Otto machte ein paar Schritte auf ihn zu. »Was ist denn los mit dir, Tony? Du bist doch sonst nicht so schreckhaft.«

Sir Tony kauerte sich zusammen. Auf seiner Stirn hatten sich dicke Schweißperlen gebildet. »Komm mir bloß nicht näher mit diesem … abscheulichen Ding da auf deiner Nase!«

Otto verkniff sich ein Lachen. »Sehe ich denn mit Brille wirklich so miserabel aus?«

»Nimm sie ab! Nimm sie ab!«, befahl Sir Tony und wurde noch bleicher, als er es ohnehin schon war.

Otto betrachtete den vollkommen verstörten Geist. Sir Tony verhielt sich zwar bisweilen ziemlich sonderbar, aber so hatte Otto ihn noch nie erlebt. »Erst sagst du mir, was mit dir los ist.«

»Ich w…weiß … auch nicht«, stotterte Sir Tony. Je näher Otto kam, desto kleiner machte er sich. Er schien förmlich mit dem Bücherregal zu verschmelzen. »Ich finde diese Brille einfach nur … nur f…furchtbar … gruselig.«

»Aber warum –«

Puff. Noch bevor Otto genauer nachfragen konnte, hatte sich Sir Tony in Luft aufgelöst. Alles, was Otto jetzt noch hören konnte, war das mitleiderregende Jaulen des Geistes. Er klang beinahe wie ein Hund, den man an die Leine gelegt hatte.

»Keine Ahnung, was er hat.« Molly schüttelte den Kopf und ihre Zöpfe wirbelten umher. »Ich sehe mal nach ihm.«

Einen Moment später waren Emily und Otto wieder alleine.

»Merkwürdig«, meinte Otto.

»Nicht so merkwürdig wie das Zeug, das Onkel Archibald hier sonst noch so versteckt hat.« Emily nahm ein kleines Glasfläschchen aus der Kiste. Es enthielt eine milchigweiße Substanz. »Sieht aus wie Joghurt.«

Prompt schraubte Emily den Verschluss ab und tauchte ihren Finger in die Flüssigkeit. Sie betrachtete die weiße Masse und schnupperte daran.

»Für die Wissenschaft«, seufzte sie dann und leckte ihren Finger ab.

»Nicht, Emily!«, rief Otto. »Das Zeug ist doch bestimmt schon seit Jahren abgelaufen.«

»Pfui!« Emily spuckte den Inhalt aus und reichte Otto das Fläschchen. »Das … das schmeckt noch schlimmer als ranziger Joghurt. Es schmeckt wie … Sonnencreme.«

Otto hatte zwar nicht die geringste Ahnung, wie Sonnencreme schmeckte, aber er stellte es sich nicht gerade lecker vor.

»Fassen wir mal zusammen.« Otto trat einen Schritt zurück und betrachtete die Kiste mit ihrem seltsamen Inhalt. »Wir haben hier ein Büchlein mit Onkel Archibalds geheimen Aufzeichnungen, die eindeutig beweisen, dass er sich mit Geisterphänomenen beschäftigt hat.«

Emily nickte. »Dazu eine merkwürdige Brille, die bestimmt nicht mal zu Archibalds Zeiten modern war. Und Sonnencreme.«