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Harold und seine Freunde treffen auf die russische Geheimagentin Ludmilla Kalaschnikow. Sie arbeitet für den KGB (also für den Knochen-Geheim-Bund). Ausgerechnet Ludmilla will dabei helfen, Ottos Eltern zu befreien. Doch können die Freunde ihr trauen? Zum Glück gibt es ja noch Igor, den einäugigen Friedhofswärter, der immer ein wachsames Auge hat… Tja, aber leider nur eins. Der siebte Band der kultigen Kinderbuch-Reihe um den Jungen Otto, seine Freundin Emily und Sensenmann Harold – ein spannendes, lustiges und Geist-reiches Abenteuer von Sonja Kaiblinger mit witzigen Illustrationen von Fréderic Bertrand für kleine und große Leser ab 10 Jahren. Der Titel ist auf Antolin.de gelistet.
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Seitenzahl: 196
Inhalt
Fröhlichen 300. Geburtstag!
Der einäugige Igor
Familienbesuch
Ludmillas tollkühner Schlachtplan
Gina und Igor
Ludmillas Poltergeistfalle
Willkommen im Windkanal
Die dunkelste Stunde
Poltergeistalarm in der Schule!
Die Fledermaus ist los
Die Wahrheit über Ludmilla
Ein Hinweis aus der Mülltonne
Darkos Gruselschloss
Willkommen in Russland
Generaldirektor Ivan Knochski
Vincents Geheimnis
Ivan Knochskis Belohnung
Fröhlichen 300. Geburtstag!
Nicht zu glauben, dass du schon dreihundert Jahre alt bist«, verkündete Harold und gab der Sensenfrau seines Herzens einen Kuss auf die knochige Wange. »Ich schwöre, du siehst keinen Tag älter aus als hundertfünfzig, meine Liebste.«
»Prost!«, riefen die anderen Partygäste. »Auf unsere Gundula. Beste Poltergeist-Jägerin, seit es Poltergeister gibt! Möge sie noch lange leb… äh … existieren.«
An diesem Abend im März war in MrOlsens altem Nachbarhaus die Hölle los. Für Gundulas Geburtstag hatte Ottos Kumpel Scary Harry weder Kosten noch Mühen gescheut und die beste Party organisiert, die sich eine Sensenfrau nur wünschen konnte. Nicht nur Otto, Emily, Tante Sharon und Onkel Archibald waren eingeladen, auch einige Sensenmänner vom SBI gaben sich die Ehre – und natürlich fehlte auch Hausgeist Hubertus von Ochsenreuth nicht. Otto hatte ihn vom letzten Österreichurlaub mitgebracht und für die Party hatte er ihnen sogar seine neue Bleibe, das Nachbarhaus, zur Verfügung gestellt.
»Vielen Dank, meine lieben Partygäste«, ergriff Gundula das Wort. Für ihren großen Tag hatte sie sich extrahübsch gemacht und sogar Lippenstift entlang der Kiefer aufgetragen. »Bitte, bedient euch am Büfett. Wir haben die besten Köstlichkeiten aus Diesseits und Jenseits zusammengetragen.«
»Die besten Köstlichkeiten? Was für ein verdammter Saftladen«, lästerte Vincent, der in Ottos Kragen hockte. »Es gibt Suppe, Hackbraten und Kuchen am Büfett, aber nicht ein einziges Gericht für mich. Dabei habe ich extra dick und fett auf meiner Antwortkarte vermerkt, dass ich einen sehr speziellen Speiseplan habe. Ich esse nur Fliegen, Würmer, Schnecken … Moment mal. Sind das etwa Riesenmaden da hinten im Eck, rechts neben der Guacamole?«
»Nein, Vincent«, kicherte Emily. »Das sind bloß Calamari.«
»Igitt. Meeresfrüchte. Ekeliges Zeug. Esse ich ganz sicher nicht.« Vincent seufzte. »Das bedeutet dann wohl, dass ich heute wieder mal unfreiwillig Diät halten muss. Dusseliger Sensenmann …«
»Schscht, Vincent, Harold kommt«, mahnte Otto.
»Dusseliger Sensenmann«, sagte Vincent extra laut.
»Wie schön, dass ihr euch fast alle amüsiert«, lachte Harold und lehnte sich ans Büfett. Wie immer trug er seine bodenlange schwarze Kutte, Jeans und verschiedenfarbige Sneaker. Otto kam es fast so vor, als hätte er seine Turnschuhe für den besonderen Anlass geputzt. »Ist das nicht toll, dass so viele Sensenmänner hier sind? Das halbe SBI ist unserer Einladung gefolgt. Aber natürlich nur die coolen Leute.«
»Es ist wirklich bombastisch hier«, erklärte Emily und rückte ihre Geisterbrille zurecht. »Wie eine riesige Halloweenfeier.«
»Dabei haben wir März! Aber wenn es nach mir ginge, könnten wir das ganze Jahr über Halloween feiern«, lachte Harry und klopfte ihr auf die Schulter. Dann wandte er sich Otto zu. »Gefällt’s dir auch, Otto? Amüsierst du dich? Zumindest ein bisschen?«
Otto war klar, was Scary Harry damit andeuten wollte. Seit ihrem letzten gemeinsamen Abenteuer und dem Wiedersehen mit Ottos Eltern war seine Laune nicht gerade die beste gewesen. Es war sein sehnlichster Wunsch, Mum und Dad endlich aus dem Jenseitsgefängnis Qualcatraz zu holen, nur leider hatte das nicht ganz so geklappt, wie Otto sich das vorgestellt hatte. Anstatt einfach mit Otto zu flüchten, hatten seine Eltern darauf bestanden, vom Boss des SBI begnadigt und rechtmäßig aus der Gefangenschaft entlassen zu werden. Etwas, was Otto damals total überrascht hatte und ihm nie in den Sinn gekommen wäre. Doch eine Begnadigung des SBI-Bosses zu bekommen, war beinahe ein Ding der Unmöglichkeit. Weil der Kerl noch nie jemanden begnadigt hatte. Und weil keiner wusste, wie der Boss des SBI überhaupt aussah. Für viele war er nichts weiter als ein lebloser Schatten, der durch die Gemäuer des SBI geisterte. Doch dass Otto dieser Gedanke mächtig Angst einjagte, musste Scary Harry nicht unbedingt wissen. Er hatte nicht vor, seinem knochigen Kumpel heute die Laune zu verderben. »Ja, doch. Ich amüsiere mich prächtig«, erklärte er.
»Na fein.« Scary Harry schien ihm zu glauben. »Mach dir keinen Kopf wegen deiner Eltern. Das bekommen wir hin. Und wenn deine Sehnsucht zu groß wird, besuchen wir sie einfach wieder im Gefängnis.« Er beugte sich näher, damit die anderen Sensenmänner nichts hören konnten. »Und zwar reisen wir über den geheimen Raum 006.«
Otto begann zu grinsen. Ein geheimer Besuch klang ausgezeichnet. »Sicher?«
Harold lachte. »Todsicher.«
Das war ja fabelhaft. Das einzig Gute an der düsteren Situation mit Ottos gefangenen Eltern war, dass sie vor Wochen einen Weg gefunden hatten, sie im Gefängnis zu besuchen. Der Weg führte über einen Raum namens Raum 006 ins Jenseitsgefängnis. Dieser Raum wurde vom SBI dazu genutzt, Gefangene ins Jenseits zu transportieren. Die Sache war gefährlich, denn wenn die heimlichen Besuche aufflogen, konnte Otto im schlimmsten Fall ebenfalls eingebuchtet werden, doch für seine Eltern war ihm kein Risiko zu groß.
»Und jetzt nimm dir noch etwas vom Apfelstrudel, der ist wirklich köstlich«, sagte Harold. »Hubert hat ihn gebacken. Scheint, als wäre dieser nervige österreichische Geist doch für etwas gut.«
»Wird gemacht.« Otto lächelte, während Tante Sharon und Onkel Archibald in Ottos Richtung schlenderten. Onkel Archibald trug einen Partyhut und trank ein Glas Bier, während Tante Sharon ein Lachsbrötchen aß.
»Oh und Leute, vergesst nicht, euch einen guten Platz für die Show zu sichern«, erklärte Scary Harry. »Die wird der absolute Knaller!«
»Show? Meinst du die Band dort drüben?« Otto deutete ins Wohnzimmer, wo vier Sensenmänner bereits wild in die Saiten ihrer Gitarren hauten. »Die sind gar nicht mal so schlecht. Wie heißen die denn?«
»Das sind die Toten Rosen!«, erklärte Harold stolz und begann, begeistert im Takt zu wippen. »Eine der beliebtesten Bands im Jenseits! Es hat eine ganze Stange Geld gekostet, sie anzuheuern.«
Doch die Toten Rosen waren noch nichts im Vergleich zu dem Showprogramm, das danach folgte. Denn Scary Harry verblüffte alle Gäste mit einer unglaublichen Tanzeinlage. Dass er sich in Breakdance und Hip-Hop versuchte, war ja kein Geheimnis, aber dass er auch noch Michael Jacksons Moonwalk und den Roboter beherrschte, war doch ziemlich erstaunlich.
»Zugabe! Zugabe!«, riefen die knochigen Partygäste im Chor.
»Na fein.« Scary Harry grinste verlegen und straffte dabei die Schultern. »Die nächste Tanzeinlage ist noch nicht ganz ausgefeilt. Und ich bräuchte dazu die Unterstützung von meiner fabelhaften Gundula.«
Gundula im Publikum wurde bis über beide Ohren rot, als der Lichtkegel sie traf. »Nicht, Harold! Das haben wir noch nicht so oft geprobt.«
»Ach, das schaffen wir schon.« Harold gab dem Skelett mit der Baseballmütze an den Turntables ein paar Anweisungen. »DJ Skully, leg den Song auf, den wir besprochen haben!«
Otto erkannte den Song sofort. Es war ein Lied aus dem alten Film »Dirty Dancing«, den Emily so gerne guckte. Und ehe er sichs versah, lief Gundula auf Harold zu, im Begriff, eine komplizierte Hebefigur mit ihm zu vollführen.
Nur dass die leider nicht wie geplant klappte. Gerade, als Harold Gundula an den Rippen packte und sie elegant über seinen Kopf heben wollte, verließ ihn die Kraft und er plumpste zusammen mit ihr auf den Boden.
Das Geräusch der knackenden Knochen ließ Otto erschaudern. Und auch die anderen Partygäste sogen hörbar die Luft ein, während die Musik aus den Boxen abrupt verstummte. Einige Gäste zückten sogar ihre Handys und schossen Fotos.
»Uns geht’s … bestens!«, rief Harold und rappelte sich auf. Dann wischte er sich scheinbar die Schweißperlen von der Stirn, was Otto doch ein wenig ungewöhnlich fand, da sein Kumpel ja keine Haut mehr besaß. »Das war … alles so geplant. Eine komödiantische Einlage. Tadaaaa!«
Die Partygäste klatschten verhalten und murmelten hinter vorgehaltener Hand, doch Harold gab sich Mühe, sich nichts anmerken zu lassen. Gundula hingegen strafte ihn mit bösen Blicken.
»Doch lasst euch eins gesagt sein! Das war noch nicht alles!«, machte Harold weiter. »Denn nun kommt das Highlight des heutigen Abends! Und zwar das zauberhafteste Skelett aller Zeiten. Wir haben ihn extra aus Las Vegas hierher einfliegen lassen. Nur für euch! Darf ich präsentieren: der Meister der Magie, der größte Zauberer der Geisterwelt, der Herr der Illusionen. Der unglaubliche, der mysteriöse … David Klapperfield!«
Applaus erklang, während eine mysteriöse Gestalt auf der Bühne erschien. Das Wesen war unter einem schwarzen Umhang verborgen und schien über dem Teppichboden zu schweben. Die Scheinwerfer warfen dunkles Licht an die Wand, während sich der Boden in ein Nebelmeer verwandelte.
Otto hielt gespannt den Atem an.
»Dieser Auftritt ist ja schon mal einsame Klasse«, wisperte Onkel Archibald. »Glaubst du, er zersägt eine junge Frau? Oder zaubert Kaninchen aus dem … huch!«
Onkel Archibald verstummte. Während aus den Lautsprechern ein Trommelwirbel ertönte und die Menge gespannt darauf wartete, dass es losging, stürmte eine fremde Sensenfrau ins Wohnzimmer. Mit einem Kampfschrei stürzte sie sich auf David Klapperfield.
»Hab ich Sie!«, schrie sie und warf David Klapperfield zu Boden. Dann zog sie ein langes Seil aus ihrer Kutte und wickelte es um den schwarzen Umhang des Magiers. »Ich verfolge Sie schon seit unzähligen Jahren. Dachten Sie wirklich, Sie könnten mir entkommen, Sie elender …«
»Was um alles in der Welt tun Sie hier?« Harold war aufgetaucht, während die Frau den Zauberer gerade an den knochigen Handgelenken fesselte. »Und wer sind Sie eigentlich? Ich kann mich nicht erinnern, Sie überhaupt eingeladen zu haben.«
»Haben Sie auch nicht.« Jetzt merkte Otto, dass die Sensenfrau mit starkem russischem Akzent sprach. Beinahe ein wenig wie Madame Olga. »Aber ich musste hier aufkreuzen.« Sie stellte ein Bein auf den Rücken des Zauberers, um ihn an der Flucht zu hindern. »Mein Name ist Ludmilla Kalaschnikow. Ich komme aus Russland und habe endlich fertiggestellt, woran ich schon seit Jahrhunderten arbeite: Ich habe den Boss des SBI geschnappt.«
Der Magier unter Ludmilla Kalaschnikows Stiefel gab ein Stöhnen von sich. Und die ganze Festtagsgemeinde hielt überrascht den Atem an.
»Den Boss des SBI?«, fragte Gundula und eilte an Harolds Seite. Abschätzig musterte sie die russische Sensenfrau, die mit ihrer Lederhose, den hohen Stiefeln und dem roten Lippenstift alle Blicke auf sich zog.
»Er muss es sein«, erwiderte Ludmilla und würdigte Gundula keines Blicks. »Er schwebt, ist gesichtslos und stets unter einem schwarzen langen Umhang verborgen. Und er schmuggelt sich mit Vorliebe auf Partys von Sensenmännern, um zu kontrollieren, ob alle Mitarbeiter des SBI seine Befehle befolgen.«
Otto nagte nervös an seiner Unterlippe, während er die Worte der russischen Sensenfrau sacken ließ. Konnte das wirklich wahr sein? War dieser David Klapperfield gar nicht der, für den er sich ausgab? Sondern der Boss des SBI? Derjenige, der seine Eltern eingebuchtet hatte und der es als Einziger in der Hand hatte, sie wieder zu befreien? Wenn es tatsächlich er war, den diese Ludmilla gerade gefangen hatte, dann … dann …
»Selbst wenn. Die Beschreibung trifft auch auf David Klapperfield zu, okay?«, rief Gundula und machte sich daran, dem gefesselten Magier zu helfen.
»Im Namen des KGB, Hände weg!«, befahl Ludmilla.
»Sie … Sie sind vom KGB?«, staunte Harold.
»KGB?« Tante Sharon an Ottos Seite war plötzlich bleich geworden. »Von den Kommunisten? Die Sowjetunion ist doch schon vor vielen Jahren aufgelöst worden.«
Ludmilla warf Tante Sharon einen Blick zu. »Wer hat eigentlich diese dämlichen Lebenden hier eingeladen?«
»Hey! Das sind meine Freunde«, wehrte sich Harold.
Jetzt starrte Ludmilla wieder Harold an. »Wenn diese Menschen auch nur die geringste Ahnung hätten, wüssten sie, dass der KGB noch existiert. Und mit den Kommunisten haben wir nichts am Hut. Wir sind der Knochen-Geheim-Bund.«
»Der Knochen-Geheim-Bund«, wiederholte Vincent ehrfurchtsvoll. »Ist ja krass.«
»Nichts als eine zufällige Namensgleichheit mit den Kommunisten.« Ludmilla lachte. »Und jetzt pfuscht mir nicht länger ins Handwerk und lasst mich meinen Job erledigen. Und zwar, den Boss des SBI nach Russland zu bringen und ihn dort zu verhören. Wir sind ihm nämlich schon seit Jahren auf den Fersen und wissen, dass er …«
Weiter kam Ludmilla nicht. In diesem Moment ertönte ein lauter Knall und die russische Sensenfrau wurde zur Seite geschleudert. Das mysteriöse Wesen, das zuvor am Boden unter Ludmillas Stiefel gelegen hatte, hatte sich wieder aufgerichtet. Dann nahm es seine Kutte ab.
Otto traute seinen Augen kaum. Das hier war ganz bestimmt nicht der Boss des SBI. Das war ein Knochengerippe im Frack, das einen Zauberstab in der Hand hielt.
»Der Boss des SBI? Dass ich nicht lache«, ließ der Kerl hören und schwang seinen glitzernden Zauberstab. »Ich bin David Klapperfield und niemand sonst. Und Sie, Sie randalierende russische Rabaukin, werde ich gleich mal als Erstes zersägen, kapiert? Danach können Sie Ihre Knochen einzeln zusammensetzen.«
Ludmilla rappelte sich auf und starrte den Magier an. Täuschte Otto sich oder wirkte sie plötzlich ziemlich verlegen? »Sie … Sie sind ja wirklich David Klapperfield!«, staunte sie. »Aber wie haben Sie es geschafft, über dem Boden zu schweben? Das können nur die wenigsten Sensenmänner.«
»Ein Trick!«, lachte der Magier. »Ihr wisst, ein echter Zauberer verrät nur ungern seine Tricks, aber bevor mich diese Verrückte nach Russland verschleppt, mache ich eine Ausnahme.« Er holte ein Skateboard hinter seinem Rücken hervor. »Seht nur, das Ding kann schweben.«
»Ein schwebendes Skateboard! Das ist ja mal ein Ding!«, rief Vincent begeistert. »Sagen Sie, gibt’s das auch in Fledermausgröße?«
»Wozu brauchst du denn ein schwebendes Skateboard?«, lachte Emily. »Du kannst doch fliegen.«
»Auch wieder wahr.« Vincent hob die Schultern. »Wenn ich kurz vorm Verhungern bin, bin ich nun mal nicht ich selbst, stimmt’s, Otto?«
Otto schwieg und starrte gedankenverloren auf den Magier, der sich gerade den Schmutz von der Kutte klopfte und das schwebende Skateboard zurück in seinen Zauberkoffer stopfte. Einen Moment lang hatte er doch tatsächlich gehofft, diese verrückte Sensenfrau würde recht haben. Der Boss des SBI, in Madame Olgas altem Haus! Das wäre mehr, als Otto je zu hoffen gewagt hätte. Dann hätte er dem Kerl nämlich verklickern können, dass er keine Ruhe geben würde, bis seine Eltern begnadigt waren. Aber nun … nun war Otto genauso weit wie zuvor.
»Sei nicht traurig, Otto.« Offenbar verstand es Onkel Archibald bestens, Ottos Gedanken zu lesen. »Selbst wenn der Boss des SBI geheimnisvoll, unauffindbar und ein Phantom ist, wir werden nicht aufgeben, bis wir ihn umzingelt haben. Wir holen deine Eltern da raus. Verstanden?«
Otto nickte traurig, während das Licht ausging und David Klapperfield, immer noch etwas mitgenommen von dem plötzlichen Überfall, mit seiner Show begann. So eine Sensenmann-Zaubershow war bei Weitem spektakulärer als alles, was man im Diesseits von Zauberern kannte. Statt eines Hasen zauberte Klapperfield eine Ratte aus dem Hut, außerdem schaffte er es sogar, einen Freiwilligen in zehn Tauben zu verwandeln, die sich im Anschluss in zwanzig Schmetterlinge weiterverwandelten. Es war gigantisch!
Trotzdem war Otto nicht nach Staunen zumute. Die Turbulenzen vor der Zaubershow hatten ihn daran erinnert, was er zu tun hatte. Und ihm kam der Gedanke, dass Ludmilla Kalaschnikow vom KGB ihm vielleicht dabei helfen konnte. Doch als er seinen Blick über die knochigen Köpfe der Sensenmänner schweifen ließ, die gut gelaunt mit den Hüftknochen wippten und gespannt die Show verfolgten, fiel ihm auf, dass Ludmilla Kalaschnikow längst verschwunden war.
Der einäugige Igor
Selbst Tage nach Gundulas Party war das Erscheinen der mysteriösen Ludmilla Kalaschnikow im Radieschenweg immer noch das Gesprächsthema Nummer eins. Während Tante Sharon und Onkel Archibald froh waren, dass von der unfreundlichen russischen Sensenfrau jede Spur fehlte, ärgerte sich Hausgeist Hubertus von Ochsenreuth maßlos darüber, dass er ausgerechnet während dieses kleinen Zwischenfalls nicht da gewesen war. Er hatte stattdessen noch ein paar andere Geister überreden wollen, kurz entschlossen auf der Party zu erscheinen – auf der er sich unter all den Sensenmännern in der Unterzahl fühlte.
Genau wie Hubertus ärgerte sich auch Otto. Von Ludmilla Kalaschnikow fehlte jede Spur. Was, wenn die Sensenfrau wirklich wusste, wo sich der Boss des SBI herumtrieb? Wenn dem wirklich so war, dann war diese russische Lady seine einzige Hoffnung, jemals an ihn ranzukommen.
»Ich habe es dir doch schon so oft erzählt. Niemand kennt den Boss des SBI persönlich«, erklärte Scary Harry, während er, Otto und Emily nach der Schule über den alten Friedhof des Städtchens schlenderten. In der Schule hatten sie erst kürzlich eine Aufgabe bekommen, in der es darum ging, die Lebensgeschichte einer der hier begrabenen Personen zu erzählen. Noch hatten Otto und Emily sich allerdings niemanden ausgesucht, was daran lag, dass Otto wahrlich Dringenderes auf dem Herzen hatte.
»Wirklich niemand?«, fragte Emily und schob die Geisterbrille zurück auf die Nase. So oft, wie sie das Ding in letzter Zeit trug, war Otto den schrägen Anblick inzwischen gewohnt. »Aber wie erteilt er dann den anderen Sensenmännern und Sensenfrauen Anweisungen?«
»Ganz einfach«, erklärte Harold und ließ sich auf eine Parkbank fallen. »Über seine Mittelsmänner. Ihr könnt euch doch noch an Rufus Rattlebone erinnern, nicht wahr? Meinen direkten Vorgesetzten?«
Otto schauderte bei dem Gedanken. Es war noch gar nicht so lange her, da hatte Rufus Rattlebone, Harolds ehemaliger Vorgesetzter, Harold, ihm und Emily das Leben zur Hölle gemacht. Ähnlich wie der Boss des SBI war auch Rattlebone äußerst mysteriös gewesen. Otto gruselte es immer noch bei dem Gedanken an den Kerl, der ihm eines Nachts einen Besuch abgestattet hatte. Er hatte Otto gewürgt, ohne ihn zu berühren.
»Dieses alte Klappergestell, wie könnte ich das vergessen?«, lachte Emily. »Gott sei Dank ist Rattlebone endgültig über alle Berge. Du hast jetzt einen neuen Chef, nicht wahr?«
»Oh ja.« Harold grinste breit. »Gerry Goldblatt ist sein Name! Der totale Gesundheitsapostel, sag ich euch! Seit der in meiner Abteilung das Sagen hat, müssen wir an unseren Schreibtischen auf Gummibällen sitzen und in der Kantine gibt’s nur mehr veganes Essen.« Er kicherte. »An manchen Tagen wünsche ich mir den alten Despoten Rattlebone zurück.«
»Und dieser Gerry Goldblatt kann uns nicht helfen?«, fragte Otto.
Scary Harry verdrehte die Augen. »Im Leben nicht. Der Kerl bekommt von unserem Oberboss auch bloß E-Mails mit Anweisungen, die er dann an uns weiterleiten muss. Wie ich schon sagte, niemand weiß, wo der Boss steckt.«
Otto überlegte. »Ich frage mich allerdings, warum Ludmilla dem Boss des SBI auf den Fersen ist.«
»Bestimmt hat er jemanden umgebracht«, riet Emily.
»Umgebracht?« Jetzt meldete sich Vincent zu Wort, der schon seit geraumer Zeit auf einem Grabstein saß und Fliegen mampfte. »Streng doch mal deine Rübe an, Emily. Im Jenseits sind doch alle tot. Wen soll er denn da abgemurkst haben?«
»Ups.« Emily lachte verlegen. »Da hast du wohl recht. Vielleicht hat er … genau wie du … bunte Süßigkeiten im Jenseits vercheckt? Im Jenseits gibt’s doch keine Farben.«
»Na klar doch.« Vincent reckte seinen Hals und verputzte eine Fliege, die sich unklugerweise genau neben ihm niedergelassen hatte. »Und Graf Dracula trinkt bloß Tomatensaft.«
»Ich meinte ja nur.« Emily wirkte eingeschnappt.
»Was auch immer der Kerl angestellt hat, er ist ganz sicher ein schlimmer Finger«, überlegte Otto. »Er hat meine Eltern eingebuchtet, weil sie zu viel wussten. Und er war in die Operation Pestbeule verwickelt.«
»Oh bitte, erinnert mich nicht an Operation Pestbeule«, jammerte Harold und vergrub seinen Schädel in seinen knochigen Händen. »Dann muss ich immer daran denken, dass ich eigentlich gar nicht mehr beim SBI schuften müsste.«
Armer Harold. Die meiste Zeit machte ihm sein Job als Sensenmann Spaß. Dafür musste er Nacht für Nacht Seelen einsammeln, sie in Gurkengläser stecken und sie dann über das Portal in Ottos Wohnzimmer ins Jenseits schaffen. Nachdem Ottos Eltern Operation Pestbeule hatten auffliegen lassen, hätte Scary Harry nicht mehr länger als Sensenmann schuften müssen. Otto zuliebe war er dann doch geblieben. Doch an besonders anstrengenden Tagen schien er seine Entscheidung ein wenig zu bereuen.
»Wie auch immer. Fest steht, dass der Boss des SBI kein Unschuldiger ist, wenn ihm sogar der russische Knochen-Geheim-Bund auf den Fersen ist«, erklärte Vincent, der gerade den Hals reckte, um ein weiteres Insekt zu schnappen. Doch dann gab er ein verzweifeltes Winseln von sich. »Aua! Mifft! Daff war eine Weffpe. Und fie hat mir in die Lippen geftochen!«
»Selbst schuld, wenn du so verfressen bist.« Harold konnte sich ein schadenfrohes Grinsen nicht verkneifen.
»Halt doch die Klappe, Fenfenmann!«, schmollte Vincent und verschränkte die Flügel. »Du bifft doch nur neidiff, weil du keine Lippen mehr hafft.«
»Trotzdem kann ich eine Fliege von einer Wespe unterscheiden, Flugratte«, giftete Harold zurück.
»Erstaunliff, wo du eigentliff gar kein Gehirn mehr hafft …«
»Äh, Leute, wir …«, begann Emily und starrte über Ottos Schulter auf den Schotterweg, der die Gräber trennte.
»Jetzt nicht, Emily!« Harold schnitt ihr das Wort ab. »Ich muss der Flugratte ein für alle Mal klarmachen, wer hier die Hosen anhat.«
»Hofen? Du fpinnft wohl. Trägft du überhaupt Hofen unter deiner Kutte?«, lästerte Vincent weiter.
»Äh, Leute, Emily hat recht«, meinte jetzt auch Otto. Inzwischen war ihm auch aufgefallen, dass ein grimmig aussehender, buckeliger Mann mit Glatze zwischen den Gräbern hindurch auf sie zugeschritten kam. Drohend hielt er eine Schaufel auf sie gerichtet. »Ich habe zwar keine Ahnung, wer das ist, aber ich glaube, er will uns gleich eins überbrat…«
Otto verstummte, denn in diesem Moment blieb der fremde Mann stehen und starrte wütend in Ottos Richtung.
Otto beugte sich zu Emily hinüber. »Ist das ein Geist?«, fragte er leise.
Emily ließ ihre Geisterbrille von der Nase gleiten. »Nein. Ich kann ihn auch so sehen.«
»Ich bin kein Geist, sondern der neue Friedhofswärter!«, rief der Mann. Offenbar besaß er ein erstaunlich gutes Gehör. »Und ihr haltet euch unbefugt auf meinem Friedhof auf.«
Otto schluckte und starrte den Kerl mit der Schaufel an. Er trug braune zerrissene Kleidung und eine Augenklappe, die sein rechtes Auge verdeckte. Der Mann erinnerte ihn an den Glöckner von Notre-Dame aus dem Disneyfilm.
»Ist doch gar nicht wahr!« Offenbar ließ Emily sich von dem gruseligen Äußeren des Kerls nicht einschüchtern. »Auf dem Friedhof darf sich jeder aufhalten. Außerdem müssen wir für ein Schulprojekt recherchieren.«
Und mit unserem Sensenmann-Kumpel eine geheime Krisensitzung einlegen, wollte Otto noch hinzufügen. Aber da der Friedhofswärter ein Mensch und offenbar nicht im Besitz einer Geisterbrille war – wie auch, immerhin war die Brille Onkel Archibalds hauseigene, geheime Erfindung – konnte er Scary Harry nicht sehen. Zum Glück, denn sonst hätte der Friedhofswärter bestimmt Fragen gestellt.
»Aber nicht um diese Uhrzeit«, knurrte der Kerl und deutete mit seiner Schaufel auf die große Uhr über dem schmiedeeisernen Eingangstor. »Es ist fünf nach sechs. Um sechs Uhr wird der Friedhof geschlossen.« Er brüllte: »Und jetzt verschwindet, wenn ihr nicht wollt, dass ich euch hier rausjage, verstanden?«
»Okay, okay, wir gehen ja schon«, erklärte Otto, packte Vincent und steckte ihn unauffällig in seinen Rucksack. »Nichts für ungut, Mr…«
»Der einäugige Igor«, erklärte der Mann. »So nennt man mich.«
»Na fein, Mister der einäugige Igor.« Otto seufzte. »Wir gehen ja schon.«
»Auf Wiedersehen«, fügte Emily noch hinzu, während alle drei die Beine in die Hand nahmen. Als sie hinter dem nächsten Grabstein verschwunden waren, hielt Otto an. Da war etwas, hinten bei den alten Gräbern, was ihn innehalten ließ.
»Wartet, Leute. Habt ihr das gesehen?« Er spähte über seine Schulter in den hinteren Bereich des Friedhofs, wo sich unzählige verwitterte Grabsteine aneinanderreihten.
»Ein irrer Mörder mit Schaufel?« Emilys Atem ging stoßweise. »Oh ja, hab ich gesehen.«
»Das meinte ich nicht.« Otto deutete auf einen hohen Grabstein. »Seht ihr die dunkel gekleidete Person da? Ihr Körper ist unter einer Kutte verborgen. Ich glaube, das ist Ludmilla Kalaschnikow.«
Harold winkte ab. »Das da? Das ist eine alte Mutti, die Blumen gießt.«
Otto kaute auf seiner Unterlippe herum. »Aber warum starrt sie uns dann die ganze Zeit über an?«
»Jetzt seid ihr immer noch hier.« Direkt hinter ihnen war Igor aufgetaucht, der unheilvoll die Schaufel schwenkte. »Hab ich euch nicht gesagt, dass der Friedhof längst geschlossen ist?«