17,99 €
Mit seinem Gedichtband Grauzone morgens überraschte im Jahr 1988 ein 26jähriger Dichter aus Dresden – aus der damaligen DDR. Ein »Hineingeborener«, der von seinem Land sich nicht mehr poetische Aufbauhilfe abverlangen ließ, zog mit scharfgeschnittenen Momentaufnahmen aus dem »Ghetto einer verlorenen Generation« in den Metropolen des Sozialismus seine erste Bilanz – mit nüchternem Blick »in Augenhöhe«.
Mit seinem zweiten Gedichtband Schädelbasislektion hat Durs Grünbein den »stillen Aufruhr« poetischer »Zeitrafferaufnahmen« weitergetrieben. Die Tagträume in den Rissen des Alltags von damals sind benennbar geworden.
»Komm zu Dir Gedicht. Berlins Mauer ist offen jetzt. / Wehleid des Wartens. Langweile in Hegels Schmalland / Vorbei wie das stählerne Schweigen …«
Illusionslos und radikal hat Durs Grünbein in Schädelbasislektion seine Gedichtsprache fortentwickelt.
»Vielleicht war diese Stille nichts
Als die Halbwertszeit
Einzelner Wörter
In mir
Und wer bin ich:
Ein genehmigtes Ich,
Blinder Fleck oder bloßer Silbenrest
… (– ich)
Zersplittert und wiedervereinigt
Im Universum
Von Tag zu Tag,
Gehalten vom Bruchband der Stunden
Zusammengeflickt,
Stückweise
Und in Fragmenten
›I feel so atomized.‹«
Zeitgenossenschaft im Dialog mit der Tradition ist in den Gedichten von Durs Grünbein höchst gegenwärtig: Seine lyrischen Lektionen zur Jahrtausendwende haben die poetischen Gewißheiten an Ganglien und die Normen des Gereimten an Neuronen abgetreten.
Die Gedichte in Schädelbasislektion reagieren auf den Zerfall der Sprache in die geschwätzige Phrase – »zu jeder Schandtat bereit« –; auf den schmerzhaften Verlust des seiner nicht mehr selbst gewissen Ich; auf mörderische Großstadteinsamkeit und die Zerstörung der sozialistischen Ikonen. Die Gedichte von Durs Grünbein sezieren die Auflösung des modernen Ich:
»Was Du bist steht am Rand / Anatomischer Tafeln.«
Der Mensch und der Dichter: Ein »metaphysisches Tier«.
Die Liebe: »Auf der Zunge zergangen, löschen Spermien den Durst / Auf den Nachwuchs.« (Après l’amour)
Die Sprache: »Rache des Fleischs / Durch den Kehlkopf.«
Das Gedicht: Ein gehirnphysiologischer Resonanzkörper.
Deutschland: »O Heimat, zynischer Euphon.«
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 60
Durs Grünbein
Schädelbasislektion
Gedichte
Suhrkamp
Man is a thought-sign
Charles Peirce
Inhalt
I Schädelbasislektion
1
2
3
4
5
Posthume Innenstimmen
Inframince
Après l’amour
French kiss
Dieu trompe – l’œil
Fisch im Medium
II Niemands Land Stimmen
Niemands Land Stimmen
1. Unten am Schlammgrund
2. In Tunneln der U-Bahn
3. Vorm Fernseher die Toten
4. Inside out outside in
5. Begegnen ... dem Tag
III Tag X
Tag X
Block und Komma
Transsibirischer Ozymandias
Sieben Telegramme
23/10/89
1/11/89
12/11/89
26/12/89
31/12/89
15/1/90
13/3/90
IV Die Leeren Zeichen
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
V Der Cartesische Hund
Der Cartesische Hund
Portrait des Künstlers als junger Grenzhund
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
VI O Heimat, zynischer Euphon
O Heimat, zynischer Euphon
Gedicht über Dresden
VII Casta Diva
Casta Diva
Nachruf auf eine verbotene Stadt
Morgenandacht und Ketzerei
VIII Annoncen
Annoncen
Ode an das Dienzephalon
Zerebralis
Ultra Null
IX Buna
Buna
Yeti
Fünf Falsche Töne
Loses Blatt. Biomechanischer Almanach
Appendix
I Schädelbasislektion
1
Was du bist steht am Rand
Anatomischer Tafeln.
Dem Skelett an der Wand
Was von Seele zu schwafeln
Liegt gerad so verquer
Wie im Rachen der Zeit
(Kleinhirn hin, Stammhirn her)
Diese Scheiß Sterblichkeit.
2
Dieser Traum vom Leichthin
Kennt doch niemals Erbarmen.
Zwang? Ist zwecklos. Ein Dschinn
Hält sich selbst in den Armen
Reiner Luft (Griechisch: Pneuma).
Erst ein Blindflug macht frei.
Sich oft bücken gibt Rheuma.
Du verstehst ... Samurai.
3
Zwischen Sprache und mir
Streunt, Alarm in den Blicken,
Ein geschlechtskrankes Tier.
Nichts wird ganz unterdrücken
Was mein Tier-Ich fixiert
Hält – den Gedankenstrich kahl
Gegen Zeit imprägniert:
Bruch der aufgeht im All.
4
Ohne Drogen läuft nichts
Hier im Irrgang der Zeichen
Wo du umkommst gesichts-
Los in blinden Vergleichen.
Träumend ... Rate für Rate
Von den Bildern beäugt.
Wer ist Herr der Opiate
Die das Hirn selbst erzeugt?
5
Unterm Nachtrand hervor
Tauch ich stumm mir entgegen.
In mir rauscht es. Mein Ohr
Geht spazieren im Regen.
Eine Stimme (nicht meine)
Bleibt zurück, monoton.
Dann ein Ruck, Knochen, Steine.
... Schädelbasislektion.
Posthume Innenstimmen
Inframince
Unverwandt streunend, der Traum eine Lichtung im Ich
Nimmst du die Sprache der Dinge mit unter die Haut.
Jeder in seiner Welt... unerkannt ... soviele Welten.
Was sich hier zeigt bleibt versteckt, was sich erinnert
Vergeht an der Drehung des Strickes an dem du hängst.
»Hab mich verirrt.« /
»Name?« /
»Auf Wiedersehn.« /
»Komm zurück.«
Die Sache wird inhaltsleer wenn du denkst, kein Vergleich
Mit diesem Hirn, schwimmend im Liquor, ein grauer Schwamm.
Sprache zerfällt, unverdaut, sie verwest wie Pupillen,
Ur-Zeit verramscht wie die Meeresschildkröten auf Bali.
Archimedes’ Punkt, unter uns gesagt, ist kein Ort.
Das Übel liegt an der Wurzel der Sätze, am Grund
Der Idiome und Stile, die man irgendwann sattkriegt.
Über der Zeit das Vergessen spricht fließend Latein.
Après l’amour
Gleich nach dem Vögeln ist Liebe der bessere Stil.
Die Tierhaut entspannt sich, das Herz fängt sich ein.
Flacher Atem bläst Schweiß aus den Schlüsselbeinmulden.
Auf der Zunge zergangen, löschen Spermien den Durst
Auf den Nachwuchs. Die Achselhöhlen, den müden Bauch,
Alles holt sich der Schlaf. Wie nach zuviel Theologie
Kehren die Laken sich um. Altes Dunkel am Rand,
Neue Ränder im Dunkel. Die Kniekehlen zwitschern
Zweistimmig stimmlos ihr Post-Coital, ein Rondeau.
Eben noch naß, richten die Härchen wie Fühler sich auf.
Betäubt, summa summarum gestillt, hört dieser Schmerz
Des Lebendigseins bis zur Erschöpfung auf wehzutun.
Zurück in der Zeit, sind die Körper an keinem Ziel.
Gleich nach der Liebe ist Vögeln der bessere Stil.
French kiss
Aus meinem Zwischendrinsein kein Hehl, mach ich zuletzt
Was draus zu machen mir einfällt, nicht viel, ein Gedicht.
Plötzlich wird Pfeifen im Wald zur besten Methode.
Streichhölzer, Tische, Nachtbars sind hier nur Holz.
Die Stimme bleibt weg in den einzelnen Pausen.
Unterm Moos, unerwartet, gibt eine Liebe Laut –
Zungenschlag wie das Quietschen von Gummistiefeln.
Ohne Anfang und Ende ist er jederzeit da, dieser
Ablauf der Mythen und Fakten tauscht und maskiert
Wie im Schachspiel die Hirne. Und was heißt schon
Eine-stehende-Welle-verlassener-Zeit? Etwa Rauch?
Was am Tauchen zum Bleiben reizt ist der Übergang.
Die Gefahr, daß im Innehalten die Frage stirbt.
Einsam auf weiter Flur steht ein gelangweiltes Und.
Dieu trompe – l’œil
Ganz klar, dein Entzücken hat wie ein Fledermausflug
Diesen flüchtigen Raum erzeugt und durchsucht, René.
Ein abstrakter Witz fegt die astralen Roste blank.
Wo immer Spuk mehr als Ultraschall war oder Zoologie
Sind nun Skalare ... Vektoren... Tensoren... am Ziel
Keines Wegs, den ein gelenktes Geschoß schnell verbraucht.
Einmal vermessen läßt uns der Raum wunschlos zurück.
Langeweile, codiert, macht den Tod zur Null im Perfekt.
Ein neuralgischer Punkt, zwischen X und X auf dem Sprung,
Jagt sich das Ich nun, verstört, durch ein Fehlerprogramm.
Zwischen den Zeilen des Elektrons erstarrt das Duell.
Weiter hinaus als gedacht wird das Restlicht zum Stern.
Folge dem Richtungspfeil bis die Landschaft sich hingibt.
Unter den Füßen, René, ist der Boden noch immer heiß.
Fisch im Medium
Was gemeint ist heißt Name, was verschwiegen bleibt Ding.
Weitverzweigt sind die Sätze – zu jeder Schandtat bereit –.
Peinliche Immanenz... In die Gödelschen Öden verrannt
Wird das Geschwätz wie der heilige Geldumlauf paranoid.
Der tägliche Aktienindex, ein Coup, gibt dem Spiel
Das Maß aller Dinge, die Regeln für Schicksal im Text.
Die Spiegel, ins Kühlfach gelegt, werden blind. Feierlich
Schwelt in Archiven und Banken das humanistische Gold.
»Ich hätte mich gern wie ein Fisch in den Medien bewegt.«
II Niemands Land Stimmen
First Citizen:
I the great tow? Why the great tow?
Shakespeare/Coriolanus
Niemands Land Stimmen
Unten am Schlammgrund
In Tunneln der U-Bahn
Vorm Fernseher die Toten
Inside out outside in
Begegnen... dem Tag
1. Unten am Schlammgrund
Auf den Boden gesunken
Dieser warmen aquarischen Nacht,
Ströme
Von Luftblasen sprudelnd vor Augen
(Ein glasiges Perlen, ein Tanz
Klebriger Laichkugeln
In Mineralwasser lichtwärts)
Müde in einer U-Bahn
(»Was fährt, das fährt.«)
Unten am Schlammgrund
der Straßen
Schaukelnd zwischen Erinnerungsschlieren:
Ein deutscher Wachtraum.
... irgendwas macht, daß Musik
Die du morgens gehört hast
dir abends noch einmal
Hochkommt, erbrochener Schleimrest
Von Rhapsodien in Schwarz,
Dunkelgrau, Violett...
(Langsame Kamerafahrt durch die Lakunen
Eines gespaltenen Hirns).
Lichtpunkte, Schreie
und jähe Blendungen
auf einer
Unendlich schleichenden
Schnellen Fahrt
ohne das Jaulen,
Ohne das Heulen des Schienenwolfs.
Eingepfercht
Diesseits von Raum und Zeit
(Der Verwandlungen und des Pollenflugs,
Der Kontinentaldrift und der Erfindungen,
Der Hierarchiezerfälle und der Geburten)
Gefangen in einer Geschwindigkeitsdruse,
ein Knäuel,
Umspeichelt, verdaut,
im Ekel zerwürgt,
Oder steckengeblieben in einer
Von diesen Speiseröhren der Stadt.
So dämmerst du
wieder einmal
mitten im Zwischendrin:
»In der Mitte von Nirgendwo«
Oder schlimmer noch
wie in Platos Höhlengleichnis.
Alles entrinnt
Wo ein Gemäuer die Blicke schwärzt
Hinterrücks auf die deutlichen Dinge
Sonnlichtgetränkt.
Nur ihr Abbild ist sichtbar:
Halbschatten entzündeter Dünste
In Werbespots hingehaucht,
Fotografien in Hochglanz,
Illusionen gelackter Dinge,
Scheinfrüchte im Hologramm,
Tropfen kandierten Schweißes
und diese großen Brocken
Erotisierter Luft
unter 500-Watt-Strahlern
hoch aufgetürmt.
Nichts vom Lichtgeflimmer,
nichts von den sommersprossigen Dingen,
den Archetypen der Freude
Übertaghell
und gespiegelt im Wasser,
bewegliche Schatten...
Ein nichtiger Bote
hockst du im Neonlicht,
fährst
Mit den Furien des Verschwindens
(fett über der Zeit),
betrogen um manchen Atemzug,
manchen Andrang, den ihre Abenteuer
Als bloße Verheißungen heischen,