Aus der Traum (Kartei) - Durs Grünbein - E-Book

Aus der Traum (Kartei) E-Book

Durs Grünbein

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Beschreibung

Provokativer könnte ein poetischer Buchtitel nicht sein, und doch lässt der Dichter an einem nicht zweifeln: »Ganz insgesamt wird das, was man die Realität nennt, überschätzt.« Und so steuert er im ersten Teil seines Buches mit aller Kraft der Imagination konsequent hinein in die Sturmzone jener Realität, die den meisten als das Maß aller Dinge erscheint.

Als welthistorisches Ereignis zeigt sich der Widerspruch zwischen Realität und Traum im Untergang eines Staates, der DDR, und den Metamorphosen seiner Gesellschaft bis heute. An den Gegensätzen von Freiheit und Solidarität auf der einen Seite, Hass und Spaltung auf der anderen, an Deutschland und Europa entwickelt der Autor im zweiten Teil seine Idee eines phantasiegeleiteten Widerstands gegen den Fetisch kruder Realität.

Wo aber lägen Traum und Wirklichkeit näher beisammen als in der Kunst? In einer dritten Sektion wendet sich der Autor jenen Dichtern und Philosophen zu, an deren Ästhetiken und Ideen er die eigenen Vorstellungen geschärft hat. Der Bogen spannt sich von der Antike bis in die Gegenwart, von Ovid über Pascal und Descartes bis Celan.

Durs Grünbeins neues Buch ist eine über Leitmotive miteinander verbundene Sammlung von Schriften verschiedener Genres: aus Aufsätzen, Reflexionen, Reden, Traumnotizen, Vorträgen, Sprechertexten und Gedichten. Ihr Ursprung verdankt sich der speziellen Arbeitsweise des Dichters. Aus der sammelnden und ordnenden Kartei seiner Stichworte ist ein Fundbuch hervorgegangen, das sich auf jeder Seite gewinnbringend aufschlagen lässt.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 666

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Durs Grünbein

Aus der Traum (Kartei)

Aufsätze und Notate

Suhrkamp

Aus der Traum (Kartei)

Für Eva

Inhalt

I

Fußnote zu mir selbst

Das Reservoir der Träume

Aus der Traum (Kartei)

Die Kröte mit den Gaumenaugen

Traumnotizen I

Traumstadt Berlin

Die Couch

Von der Kunstlosigkeit der Träume

Das Model

Gesten und Zeichen

Das Spielhaus

Ratten träumen von Schokolade

Traum und Futur

Schlachtung

Tabuzone

Traumdeutung

Der Nabel des Traums

Schlafen

Überschwemmung

Traumnotizen II

Afrikanischer Traum

Männerfreundschaft

Den Traum zertrümmern

Realität

Schlafwandler

Alexanderplatz

Der Mann in der Litfaßsäule

Keplers Leben und Traum

Die Höhle

Der Planet Watte

Asbest

Die Akademie des Meeres

Das Punktum des Gedichts

Paraphrase

II

Der Weg nach Bornholm

Oktoberfilm. (Sprechertext)

Humboldts Bunker

Weekend am Döllnsee

Kanzleramt

Unfreiheit. Eine Rede

Solidarität

Aufbruch in die politische Kälte

Die süße Krankheit Dresden

III

Ein Klassiker für viele Fälle

Eine Träne für Petronius

Hoheslied auf einen Fluß

Sittengemälde. Das Tagebuch des Samuel Pepys

Das entblößte Menschenherz. Monsieur Nicolas (Rétif de la Bretonne)

Erotik als Erkenntnisform

Selbstentblößung

Das Zeitalter der Galanterie

Die Schule der Frauen

Der erste proletarische Schriftsteller

Zensur

Der Schrecken im Bade. Ein Hörspiel von Kleist

Der Fasanentraum

Reimereien in Weimar

Mit den Dämonen vertraut

Der Balzac des Rodin

Porta Nigra

Aus der Distanz

Imaginäres Rußland

Waffenstillstand 1918

»Poseidon war überdrüssig seiner Meere«

Ein Buch für Eingeweihte

Der Verschollene

Elegien für einen Irrtum

Praxis

Artistik und Existenz

Die Causa Pound

Das öde Land – ein Remake

Sterne, Städte, Gehirne

Pasolini, der Gerechte

Geschichtsland Schatten

»Berlin, du deutsche deutsche Frau«

Versiegelte Zeit

Im Schmetterlingstal

Eine Gedankenlänge Stille

Sarajevo. Danach

IV

Der Indianer des Geistes. Bagatellen über das Leben des Philosophen Pascal

Vom Schnee

V

Aschenbecher und Blütenblatt

Versuch über die Stubenfliege

Die Insel, die es nicht gibt

Abbildungsnachweise

Einige Anmerkungen

I

Fußnote zu mir selbst

Ich habe die Straße der modernen Poesie an ihrem oberen Ende betreten, dort, wo sie überging in die schmucklosen, tristen Vorstädte, bei den Endhaltestellen der Straßenbahnen, den Autobahnzufahrten. Was ich als erstes sah, waren graue Mauerstücke, Lücken zwischen den Häusern, Gräben entlang der Straße, das Erdreich aufgerissen, zerwühlt. Meine Heimatstadt war vom Krieg zerstört.

Ich mußte feststellen, daß zuletzt beinah alles auf der Strecke geblieben war: die Versformen, der Grundrhythmus der Strophen, die großen balladenhaften Spannungsbögen, der Geheimnischarakter, die feine Lineatur der bedeutungsreichen Worte, schließlich die Poesie selbst. Wenn jemand erklärt hätte, sein Dichten verfolge die Absicht, dem Ausdruck Klarheit zu verschaffen, dem Versbau Bedeutung, dem Klang der Worte Anmut und Leben, man hätte ihn ausgelacht. Es galt als abgemacht, daß das meiste, was die konventionelle Lyrik bereithielt, nur mehr Plunder war, etwas Unbrauchbares, das dem direkten Ausdruck im Wege stand. Ich las Rimbauds Schilderungen von seiner Jahreszeit in der Hölle und nahm es als realistischen Bericht, die Umwelt darin war mir vertraut. So fing mein Dichterleben an.

Es war eine Befreiung, die den innersten Kern des Poetischen sprengte und dabei ungeahnte Kräfte freisetzte. Wer sich mit der Musik vieler Jahrhunderte angereichert fühlte, mochte getrost dem Lockruf ins Offene folgen, er würde sich in der nackten Gegenwart aufgehoben fühlen wie in Abrahams Schoß. Wer sein Vertrauen zum Wort behielt, dem kam nun die Komik, die allem Ausdruck innewohnt, von allen Seiten zu Hilfe, und das Absurde war ihm ein Trost.

Es hatte sich erwiesen, daß Gedichte mehr sind als feststehende Rituale in lange befestigten Formen. Mochten sie auch ihre Würde dem uralten Status der Elegie verdanken, sie waren doch mehr als nur Verlust- und Vergänglichkeitsbilanzen, Feiertagsgeschenke oder Zutat auf Trauerannoncen. Seit den Tagen der frühen Moderne war jeder Stilbruch erlaubt – im Namen der Überraschung. Ausdruck war nun etwas Unmittelbares, man erzwang ihn durch Inkongruenz, Disharmonie, gewagte Sprünge, die Kombination des scheinbar Unvereinbaren. Damals hat das Gedicht, mit einem verführerisch jungen Lächeln, all seinen zeremoniellen Befangenheiten Adieu gesagt, Goodbye, досвида́ния! Damals hat es, neben den entlegeneren Nerven, auch seine Muskeln entdeckt, sein freches Grinsen, die Süße, die in der Zerstörung der Formen lag. Den Verlust seiner Schmuckfunktionen sollte, wie sich zeigte, ein Zuwachs an Mimik aufwiegen, eine erhöhte Alarmbereitschaft für die kleinen tragischen wie die großen komischen Dinge des Lebens. Der Augenblick zog in das Gedicht ein, sein Stilmerkmal war das scharf beobachtete Detail. Und wachsam hielt er von nun an dort die Stellung, im Zentrum des Gedichts, mißtrauisch gegen die dunklen Heere der hysterischen Ideen, mit ihrem Potential, alles ringsum zu verwüsten.

Nach vielen Jahren ununterbrochener Praxis kann ich sagen: Das Gedichteschreiben ist wohl zuallererst eine Übung in radikaler Selbsterforschung. Es wendet sich gegen die Generalisierungen. Es unterläuft den Roman der Geschichte, die immer kollektiv voranschreitet, rechthaberisch in ihrem Anspruch, den Einzelnen mit seinen Eigenheiten zu vereinnahmen. Dagegen steht das Gedicht, das aus den Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts gelernt hat. Ich erinnere mich, daß ich der großen Erzählungen sehr müde war, schon am Beginn, als ich anfing, regelmäßig zu schreiben. Ich war siebzehn, als ich mit der modernen Poesie mein Glück versuchte. Es war wirklich nichts Besonderes. Man kratzte sein weniges Erspartes zusammen und setzte auf ein paar magere Zeilen. Ich begann mit einer einfachen Lektion. Sie betraf diesen Körper – das einzige, was der Staat, in den ich durch genetischen Loswurf hineingeraten war (der glorreiche Arbeiter-und-Bauern-Staat DDR), beschlagnahmen konnte, indem er mich zum Militär einberief und in die Großbetriebe zur Produktion. Dann fand ich bei dem jungen Ossip Mandelstam den Vers: »Man gab mir einen Körper – wer / sagt mir, wozu? Er ist nur mein, nur er« –, und fortan war es um mich geschehen. Aus der Sicht dieses Körpers mußte etwas getan werden, wollte man nicht als Gefangener enden eines Regimes, das auf ebendiesen Körper Anspruch erhob, indem es ihm geographische Grenzen setzte, ihn disziplinierte und als Geisel einbehielt für etwas, dessen es anders nicht habhaft wurde – nennen wir es Ich oder Seele oder Bewußtsein. Dafür, daß es dies Unfaßbare, stets Unzuverlässige nie ganz vereinnahmen konnte, rächte es sich mit der Beschlagnahmung jenes, der nur allzu sichtbar war, eine leichte Beute. Not macht erfinderisch: Das Schreiben war damals mein erster Schritt über die Grenzen des Körpers und der geschlossenen Gesellschaft hinaus.

Jede Generation entwickelt ihre eigene Sensibilität, heißt es. Man versteht dies unmittelbar, wenn man eine Gruppe junger Menschen beobachtet, dem Krachen ihrer Surfbretter lauscht, ihren angesagten Songs zuhört, ihre Gesten studiert. Es ist eine neue Art, auf der Welt zu sein und auf diese zu reagieren. Die Landstraße mag noch dieselbe sein, aber die Kinder, die sich auf ihr zum Spiel verabreden, sind andere, sie sprechen andere Sätze, ihre Träume haben sich verändert – wohin, wird die Zukunft zeigen. Genauso verhält es sich mit der Poesie. Über diese schlichteste und zugleich rätselhafteste aller Künste hat Jean Cocteau gesagt: »Sie ist unerläßlich, aber ich weiß nicht genau, wofür.« An dieser Unbegründbarkeit liegt sehr viel. Sie ist vermutlich sogar die Essenz der Sache, darum bleibt das Zitat auch über die erste Erheiterung hinaus gültig.

Was ihre Gegenstände betrifft, so sind sie tatsächlich uralt und bei allem Variantenreichtum beinah stereotyp, wie es scheint. Es sind die Liebe, das Begehren, das Rätsel der Zeit, die Schocks der Erkenntnis, die einer am eigenen Leib macht – und der immer wiederkehrende Glücksmoment, sich als Teil des Universums lebendig zu fühlen. Dies drängt im Gedicht zur Sprache, koste es, was es wolle. Aber es ist das spezifische Erlebnis eines Einzelnen, das hier für Abwechslung sorgt und die Dinge von Zeit zu Zeit neu erstrahlen läßt – so noch nie zuvor angeschaut.

Heute kann ich hinzufügen: Der Dichter ist wirklich das Wesen, das seinem Leitstern folgen muß, seinem Daimon, wie es in der Sprache des Sokrates hieß. Daß es ein Philosoph war, der mit diesem Ausdruck auf der Rolle des Individuums beharrte, sagt uns, wie eng das Erwachen der Persönlichkeit im frühen Griechenland mit dem Erwachen des Geistes einherging. Niemand sollte sich von der später so bequemen Trennung in Dichten und Denken irremachen lassen. Besser, man geht von einer Arbeitsteilung aus, die am Ende allen zugute kommt. Der Dichter muß seiner eigenen Traumwirklichkeit folgen, nicht selten auch seiner abgründigen Psyche, wie es alle die Zerrissenen taten, die sich ins goldene Buch der Menschheit eintrugen – hier hat jeder seinen Favoriten parat. Der Dichter ist einer, der lernen mußte, allein zu sein, nonkonform, keinem verpflichtet – keiner äußeren Macht, keinem höheren (religiösen oder philosophischen) Prinzip, nicht einmal einer vorherrschenden literarischen Strömung. Er wird aber, bei aller sozialen Kontaktfreudigkeit, auch dann noch der Einsiedler inmitten der Gesellschaft sein, wenn alle Religionen, alle demokratischen Ideale zu kollektiver Routine verkommen sind.

»Dichtung ist der Triumph der Kontemplation«, sagte Wallace Stevens, und er tat es mit herausforderndem Blick auf die Philosophie. Das erinnert an das platonische »Selbstgespräch der Seele«, das bei den Griechen begann, nein, früher noch, im alten Ägypten mit dem lyrischen Liebesgeflüster einiger Hofdamen, und im Grunde nie aufgehört hat. Dieses Selbstgespräch, unter Einbeziehung eines heimlichen Mitwissers, als welcher der Leser ins Spiel kommt, sobald das Gedicht das Licht einer Buchseite erblickt, ist die Grundbewegung, der innerste Antrieb der Poesie. Dabei gilt: Die poetische Wirklichkeit ist eine andere als jene, die uns unterm Namen Realität immer neu verkauft werden soll. Sie ist zugleich flüchtiger und dauerhafter als diese. Sie legt sich nicht mit ihr an, warum auch? Sie sieht das Fadenscheinige jeder Realität, die menschlichen Konstruktionen dahinter und überwindet sie spielend mit Hilfe der Imagination. Sie erzieht den, in dem sie erwacht, zum permanenten Widerstand gegen den Fatalismus der Fakten und ist damit politischer als jede Politik. So ist die Unabhängigkeitserklärung der Poesie auch mehr als ein bloßer ästhetischer Akt. Sie verdeutlicht das Lebensprinzip, dem jeder Mensch, wie verstrickt und von den Umständen korrumpiert er auch immer sich durchwindet, in der Sehnsucht doch folgt, ob er nun schreibt oder nicht. Das Wagnis der Dichtung besteht nur darin, daß sie dies demonstrativ tut, für jeden nachprüfbar, der an der unvergeßlichen Wendung, der Aussagekraft von Metapher und Gleichnis einen Halt zu finden sucht, während Zeit ihn davonreißt. Dichtung ist die Garantie dafür, daß es sich gelohnt hat, die Muttersprache zu erlernen. Wenn es ihr gelingt, findet sie hin und wieder das schlagende Bild, das auf der inneren Retina bleibt und einen lebenslang schützt und begleitet.

Das Reservoir der Träume

»Kleiner verständiger Traum,

wenn ich Abend für Abend

in meinem Bett

Betten zähle,

wieviele

und wo

ich geschlafen habe

in meinem Leben,

und an all diesen Stellen,

während ich schlief,

habe ich an einem Traum

geträumt,

der sich Abend für Abend

derselben Stelle

nähert ‌…«

Inger Christensen, Brief im April

1

»Zum letztenmal Psychologie!«, der Stoßseufzer,

den Franz Kafka in eins seiner Oktavhefte schrieb,

fällt mir als erstes ein, höre ich das Wort Traum.

Vom Traum Auskunft zu geben, das Träumen

als einen unvorhersehbaren, wundersamen Akt

im eigenen Leben zu begreifen heißt aber zuerst,

ihn von aller Zuschreibung freizuhalten.

Ihn wie ein Tier zu behandeln, ein seltenes Tier,

nicht wie einen Gegenstand, den man zerlegt.

Es gibt Fische, die sterben, zerrt man sie ans Licht.

Es sind dies die Fische der Tiefsee, Lebewesen

aus den tiefen Ozeangräben:

dem Philippinengraben,

dem Marianengraben,

dem Tongagraben. Oder umgekehrt,

Erscheinungen aus den Räumen der weiten Welt.

»Freud hat den Traum psychologisiert«,

notiert ein junger Philosoph in Paris, Michel Foucault,

und wendet sich mit allem gebotenen Respekt ab

vom Diskurs der analytischen Seelenkunde.

Nach Freud war der Traum die Art, wie die Seele

auf die im Schlafzustand einwirkenden Reize reagiert.

Damit war die moderne Traumdeutung geboren,

im Zeichen und mit den Zeichen der Psychoanalyse.

Es galt nun die Reize zu finden, die in den Schlaf

einbrachen und erst die Träume bewirkten.

Reste von Seelentätigkeit halten nachts

das Bewußtsein in Spannung, sie stören den Schlaf.

Darin zeige sich das Gemeinsame aller Träume.

Ihr Anstoß komme entweder von außen –

ein Weckersignal, ein Schrei, das Regenrauschen,

oder tief aus den Eingeweiden: der Leibreiz.

So bringt die Erektion den Erotikfilm hervor,

Verdauungsstörungen liefern Szenen des Ekels,

der Zahnschmerz führt zum Sturz in den Hausflur.

Auch ein Ohrwurm könne der Auslöser sein,

ein Stachel in Form eines Wortspiels, ein Streit

im Hotelzimmer nebenan, eine ferne Detonation.

Auch der Krach, den draußen die Großstadt macht.

Nach orthodoxer Lehre sind sie das Material,

aus dem der Traum sein Kino erschafft.

Ein Apparat hinter der Stirn ist da, der verarbeitet

Erinnerungsreste des Lebens zu Szenenfolgen.

Was aber sagt das über die Qualität der Bilder,

ihre Eigenart und eigentümliche Eloquenz?

Nur Ungefähres, kontert Foucault. Die »Traumdeutung«

erschöpft sich in einer Relation zwischen dem Bild

und seinem verborgenen Sinn.

Verfehlt wird so der Traum,

der Traum als konkretes Geschehen,

der Traum als ureigene plastische Synthese,

der Traum als kostbare Form der Erfahrung,

als Kunstwerk, Exzeß, Phantasieprodukt,

als eine Ausdrucksform, ähnlich der Poesie.

Gemeint ist der Schlaftraum, dieser ganz

gewöhnliche Vorgang, der wie das Atmen,

der Herzschlag zum Leben gehört. Der Traum,

auf den wir nur selten achten, in einem

von hundert Fällen vielleicht. Über ihn

läßt sich in aller Offenheit sagen:

»Träumen heißt: Ich weiß nicht, wie mir geschieht.«

Es war Ludwig Binswanger, ein Schweizer Psychiater

und Schüler Sigmund Freuds, der es unternahm,

den Traum aus seiner Funktionalisierung

zu lösen, seine Reduktion auf Symbole

aufzuheben. Im Ausdrucksakt

des Träumens wird die Welt zurückgewonnen,

die gesamte Welt, in der sich der Träumer bewegt.

Foucault wird deutlich, wenn er Binswanger folgt:

»Doch ist das Träumen gewiß etwas anderes

als eine Bilder-Rhapsodie: aus dem einfachen Grunde,

daß es eine Erfahrung im Modus der Bildhaftigkeit ist.«

Nicht nur ist dies ihre Autonomie: Daß die Bilder

im Traum sich selber zum Sprechen bringen, auch

steckt der Traum voll Eigensinn, und der Träumer

in seiner Spaltung als Betrachter und Leinwand

ist ein Medium, aktiv und passiv zugleich –

der Projektor und seine Projektion.

Im Traum bin ich der Akteur. Ich bestimme

das Tempo, die Szenenfolge, den Ausschnitt,

den mein Gesichtsfeld mir liefert. Die Räume

bewegen sich auf mich zu, in rasantem Wechsel.

Enorm ist die Tiefenschärfe der Traumbilder,

ihre taghelle Klarheit. Luzider

als der reale Tag scheint oft der geträumte.

So sind die optischen Phänomene in den Phasen

der schnellen Augenbewegung hinter den Lidern,

die phototechnischen Qualitäten der Aufnahmen,

die Spezialeffekte, die Schwenks und Schnitte

nicht nur für Künstler, für jeden Menschen

bedeutsamer als Woher-Wohin,

das Brimborium ihrer Bedeutung.

2

DER TRAUM IST EINE SCHULE DER IMAGINATION.

Als solchen verstanden ihn etwa die Surrealisten.

Es hat Dichter gegeben, die zeitlebens versuchten,

auf das Niveau ihrer Träume zu kommen. »Der Schlaf«,

sagt ein anderer Psychologe, Freuds erster Apostel

in Wien, Wilhelm Stekel, »ist ein Tauchen

in die Vergangenheit, ein Versinken

in den unermeßlichen Ozean der Erinnerungen

des Menschen und der Menschheit.«

Das ist die Drehung ins Universelle. Eine Sicht,

die den Traum als Aufbruch versteht,

als Expedition ins Unbekannte.

Der Träumer ist mithin viel mehr

als nur ein Spielball seiner Affekte und Sorgen,

als das Kind im Brunnen unerfüllbarer Wünsche.

Er ist der Mann in der Taucherglocke,

Der Offizier an Bord eines U-Boots,

Der Scout in der Wildnis,

Der Astronaut in den Weiten des Alls.

Aus Little Nemo in Slumberland, dem Jungen,

der nachts als Riese im Schlafanzug

an New Yorks Wolkenkratzern hinaufturnt,

ist Nemo geworden, der Exilant, Misanthrop,

20 ‌000 Meilen unter dem Meer

in seiner schwimmenden Hightech-Festung.

Das ist der Träumer als Dichter. Er untersteht,

wie Cocteau sagt, den Befehlen seiner Nacht.

In einer einzigen Nacht erlebt er mehr

als in zehn Jahren Schule, Eheleben, Beruf,

als in den unbeschwertesten Kindertagen.

In den Momenten vorauseilenden Träumens

Erfährt sich mancher von vielen Seiten.

»Die Träume einer Nacht, aufgeschrieben,

geben vielleicht ein Werk in 20 Bänden,

ungefähr so groß wie ein Konversationslexikon«,

sagt derselbe Stekel, und mit Blick auf Freuds

zentrale These der Wunscherfüllung ergänzt er:

»Der Traum ist der einzige Zauberer,

Der das Unmögliche möglich macht.«

Diese Expansionen, diese Höhenflüge

und Tieftauchgänge meinen aber noch mehr

(davon abgesehen, daß sie auch

ihre Kehrseite haben: die Katastrophe;

einer meiner wiederkehrenden Alpträume

geht so: Ich bin der elende Astronaut,

der bei Reparaturarbeiten an der Raumstation

aus der Luke gesaugt wird nach draußen

und auf Nimmerwiedersehen ins All abtreibt) –

sie künden von der Neuordnung des Raumes

im Modus des Träumens. Weitung

und Stauchung der Räume werden erlebt.

Einsteins Relativitäts-Phantasien, Minkowskis

nichteuklidische, vierdimensionale Räume,

aber auch der dunkle Raum, den ein anderer

Minkowski, Psychopathologe, beschrieb:

der Raum, in dem die Stimmen widerhallen,

ein Hörsaal mit einer besonderen Akustik

für die Halluzinationen, in denen sich

die Sender aller Radiostationen sämtliche

Popsongs zuwerfen, vermischt mit den Echos

der im Körper gespeicherten Peiniger –

Lehrer, Geliebte, Eltern und Vorgesetzte,

die laut und scharf durcheinanderreden,

eine Kakophonie, Bit für Bit wiederholt

im wandernden Klangraum des Traums.

Aber auch dies, eine andere Zeitstruktur,

wird in Träumen verinnerlicht. Was bringt sie?

Was bewirkt sie, wenn einer sich ganz

dem Traumfluß hingibt? (Er hat keine Wahl.)

Die reine Gegenwart aller Zusammenhänge.

In scheinbar wirren Episoden, Handlungsfetzen,

die ganze Geschichte von Anfang an und sogar

bis zum Ende im Traum vorweggenommen.

Wie oft stirbt man im Schlaf, wird erstochen,

von Pfeilen durchbohrt, gerät unter die Räder,

stürzt von Brücken herab, Treppen und Türmen,

fällt in den Fahrstuhlschacht, findet den Weg

aus dem brennenden Haus nicht, ertrinkt

als Kind in der Pfütze, geht unter im Meer?

Im Traum läuft das Leben im Zeitraffer ab,

erlischt in einer Sekunde der Unachtsamkeit.

Das Imaginäre als Diagonale des Daseins –

das ist, sagt Foucault, nicht die Unwirklichkeit,

vielmehr ein Spiel von Licht und Dunkelheit,

Wechsel der Jahreszeiten, von Tag und Nacht.

Der Traum liegt im Keuzverkehr vieler Zeiten.

So ergibt sich die Nähe von Lyrik und Traum.

Hier wie da gleiten die Bilder, sie zerfließen,

erscheinen nur kurz, doch nicht als Gemälde,

es gibt keinen Rahmen, höchstens Sequenzen,

die keine Leinwand hält. Diese Traumfabrik

ist nicht Hollywood, ist kein Cinemascope.

Sehen heißt hier die Bilder töten. (Heiner Müller)

Warum nicht Dichter sein? In den Träumen

Ist jeder ein Dichter. Jeder schafft das –

diesen Gang in den Siebenmeilenstiefeln,

das Spontane, Übergangslose, die genialen

Sprünge von Bild zu Bild wie im Gedicht,

den ganzen Blumenstrauß. Anderntags

ist er wieder derselbe, mit sich allein

unter den großen Bildkomplexen, der Lawine,

bedrohlich über ihm hängend: die Existenz.

Der Traum beschreibt uns. Er entspricht

unserer Natur bis in die kleinsten Schwächen.

Wir sind seine Erfinder.

Hier, sagt das Traum-Ich,

führe ich die Regie. Ich verteile die Rollen,

ordne an, was mir zustößt, dirigiere jeden,

der mir in die Quere kommt, ich erlebe

meine Ohnmacht und schaue mir dabei zu.

Passiv bin ich und aktiv zugleich, ich,

der Idiot meiner Träume,

der Super-Protagonist* –

»Das Subjekt des Traumes oder die erste

Traum-Person ist der Traum selber«,

meint Foucault mit dem Überschwang dessen,

der die Romantiker wiederentdeckt,

Novalis und Schelling und Franz von Baader.

Seit Novalis wissen wir »von der Leichtigkeit

unserer Seele, in jedes Objekt einzudringen,

sich in jedes sogleich zu verwandeln«.

Wir sind die Stadt, die wir durchstreifen,

das Bett, in dem wir auf Reisen gehen.

Wir sind die Objekte und ihre Tücke.

Die Abenteuer, die wir im Traum bestehen,

sind typisch für uns. Nur uns stoßen sie zu,

nur wir erleben sie so, manche von ihnen

oft und oft wiederholt. Wie David Bowie singt:

»Always crashing in the same car.«

Am Abend sind die Kontaktlinsen trocken

nach einem Tag voller Mißgeschicke.

Die Augen tränen. Der Blick aber schwimmt

durchdringend weiter. Bis zuletzt

kämpft jeder um den bewußten Moment,

bis Müdigkeit ihm den Boden wegzieht:

erschöpft sinken wir in den Schlaf.

Und da ist sie, breitet sich vor uns aus:

die Landschaft des Träumers, der endlich

reines Subjekt ist, ein Unterworfener

und Getriebener und zugleich Zensor

seiner Getriebenheiten und Unterwerfungen

im Raum seiner ewigen Kollisionen,

wo Geschichte sich ihm enthüllt, endlich

als das erkennbar, was ein Leben als ganzes

ausmacht mit all seinen Widersprüchen

und Hindernissen. Am Horizont

der Träume laufen die Routen zusammen,

alle die Irrwege, die er als Einzelner ging.

Und plötzlich steht man, wie ich eines Tages

in meinem heftigsten Reisejahrzent,

nach Sprüngen über drei Kontinente,

nachdem ich in Tokio, Toronto, Melbourne war

mit einem seltsamen Zwischenstop in Kuala Lumpur,

zu Haus vor dem Gartentor und sieht

eines Nachts das Elternhaus auf der Autobahn

auf einem Tieflader abtransportiert

und hat lange das Nachsehen. »In dieser

ursprünglichen Räumlichkeit

der Landschaft entfaltet sich der Traum,

und zu ihren wichtigsten Gefühlswerten

findet er zurück.«

3

Aber wie träume ich denn? Ich bewege mich

durch meine Träume wie Alice

im Wunderland. Auch ich hoffe immer,

es ist mein Traum und nicht der eines

anderen, eines Doppelgängers,

der mich vertritt. Alles, was mir zustößt,

kommt mir bekannt vor. Es erinnert mich

an etwas aus der Tagwelt Vertrautes,

aus dem Kontext gerissen, verdichtet.

Fester bin ich dort, abgedichtet, evakuiert

in diese Gegenwelt. Dabei spüre ich stark

das Traumhafte des Traumgeschehens.

Alles erscheint in einem veränderten Licht,

in stürzenden Perspektiven, sonderbaren

Proportionen: Kleines wird groß,

Fernes rückt nah und umgekehrt. Im Traum

gehen die Schauplätze ineinander über.

Hier grenzt mein altes Klassenzimmer

an den Konzertsaal, die heimische Küche

an den Club in Paris, eine Sauna in Finnland,

und diese öffnet sich auf den Kai von Neapel,

von dem die Fähre nach Ischia ausläuft.

Oftmals lagen in meinem Traumhotel

alle Schreckenskammern des Lebens

Tür an Tür beieinander: der Heizungskeller,

das Rekrutierungsbüro, die Gefängniszelle

im Untersuchungsknast nach der Verhaftung

im Oktober 89 (vor dem Fall der Mauer)

und jedes Wartezimmer davor und danach,

seit Verwaltung uns fest in den Klauen hält

über alle Systeme hinweg (Diktatur oder

Demokratie) mit ihren Steuerbüros,

Konsulaten und Einwohnermeldeämtern:

Piranesi hat solche Schachtelräume entworfen,

Labyrinthe, in denen das Ich sich verliert.

Im Traum sehe ich fern. Sehe mir selber zu,

ohne einzugreifen. Ich bin der Andere,

der sich beschattet, von andern beschattet.

Ich bin mir fremd und bedrohlich nah.

Ich kann auf der Flucht sein und bleibe

doch äußerlich ruhig. Ich spüre den Druck,

den Atem meiner Verfolger im Nacken

und wälze mich in den Kissen, strecke mich

im Bett, auf der weichen Folterbank, aus.

Jemand treibt mich in die Enge. Ich höre

mein lautes Gelächter. Das soll ich sein –

Dieser Chinese, mit seinen Chimären eins?

Ich weiche mir nicht von der Seite.

»Nichts zu sagen gibt es, über nichts.«

Oder anders: Im Traum ist die Seele

Tier und Dunkelheit zugleich.

»Jung durchschwimmt sie, ein Delphin,

Weltenschlucht um Weltenschlucht«,

wie es in einem Gedicht Mandelstams heißt.

Am Beginn der Poesie stand der Traum

vermutlich in allen Sprachen, allen Kulturen.

Bevor seine Deutung einsetzt, bevor Sprache

in ihrer Eigenmächtigkeit zuschlägt, diktiert

ein Erleben, in dem das Leben sich aufgibt

und aus der Sicht des totengleich Gelagerten

nachts revidiert, die Regeln des Seins

und spricht eine andere Sprache.

Diese wird zum Ausgangspunkt des Sagens.

Der erste englische Dichter, ein Mönch,

Lernte die Kunst des Liedes in einem Traum.

Und so ging es weiter, immer weiter

durch die Jahrhunderte, die wie im Schlaf

durchquerte Räume hinterrücks entschwinden,

von Geschichtsschreibung wachgehalten

und neuerdings auch durch die Filme,

die Fernsehserien, nachtlang verfolgt,

aufgefrischt, immer anders, immer neu

aktualisiert – nicht als Traum, versteht sich,

sondern als allgemeines Als-ob.

Oft beriefen die Dichter sich auf den Traum

Als primäre Quelle, Modell einer Erzählung,

die alle Register zog, biblisch, parabelhaft,

surrealistisch, tiefenbohrend, assoziativ,

formensprengend. Goethe bekennt,

er habe viele seiner Gedichte des Nachts

wie im Traum niedergeschrieben.

Aber auch bei Tag geht es so.

Die Worte fallen einem,

der die Antennen aufstellt und wartet,

in flüchtigen Zeilen wie Traumelemente zu,

geschrieben in einer Sprache, die neben

der Sprache des Alltags einhergeht,

leicht versetzt, verfremdet, paranormal,

übertragen in eine andere Tonart,

immer etwas neben der Spur.

»Denn die Sprache ist es«, sagt Binswanger,

»die für uns alle dichtet und denkt, noch ehe

der Einzelne es zum eigenen Dichten

und Denken gebracht hat.«

Dichter aber sind solche,

die das Nadelöhr finden,

die Rutschbahn in den Kaninchenbau,

das Loch im Himmel, den Tränenteich,

den Zugang zum Ungesagten,

das Wort an der Schwelle des Traumes.

Dichter sind Leute, die mit kalter

Aufmerksamkeit Sätze wie diese schreiben:

»Der Fischschwanz wird nur drei Tage lang

fliegen, das ist wahr, aber ach! Der Balken

wird dennoch verbrannt sein; und eine

zylindrisch-konische Kugel wird das Fell

des Nashorns durchbohren, trotz des

Schneemädchens und des Bettlers!

Weil der gekrönte Narr über die Treue

der vierzehn Dolche die Wahrheit

gesagt haben wird.« Alles klar? Maldoror.

Oder diese, vom selben Autor geäußert

in einem zweiten Anlauf, der alles

zuvor Gesungene revidiert, annulliert:

»Nichts ist gesagt. Seit mehr als 7000 Jahren,

seit es Menschen gibt, kommt man zu früh.

Was die Sitten wie alles übrige betrifft,

ist das weniger Gute beseitigt worden.

Wir haben den Vorteil, als Nachfolger

der Alten zu arbeiten, die Gewitzten

unter den Modernen.« – Soweit Isidore

Lucien Ducasse Comte de Lautréamont,

Der Prinz aus Übersee (Uruguay), der Barbar

auf den nächtlichen Pariser Boulevards

unterwegs zum Parnaß. Der Dichter

in seinem Alleingang ist kein Problem

der Literatur, er ist ein Problem

der Gesellschaft. Unbedingt

ist sein Kompositionsprinzip. Es folgt

anderen Regeln, anderen Sitten:

dem Flug der Stare, ungeachtet

der Wunderlichkeit mancher Strophen,

dem Drang der Kraken, die sich

in innerste Höhlen zurückzuziehen.

Nochmals Goethe, Dichtung und Wahrheit,

vom nachtwandlerischen Dichten:

»Ich hatte oft Lust, wie einer meiner Vorgänger

[gemeint war Petrarca] mir ein ledernes Wams

machen zu lassen und mich zu gewöhnen,

im Finstern durchs Gefühl das, was unvermutet

hervorbrach, zu fixieren. Ich war es gewohnt,

mir ein Liedchen vorzusagen, ohne es wieder

zusammenfinden zu können, daß ich einige Male

ans Pult rannte und mir nicht die Zeit nahm,

einen quer liegenden Bogen zurechtzurücken,

sondern das Gedicht von Anfang bis zu Ende,

ohne mich von der Stelle zu rühren,

in der Diagonale herunterschrieb.

[…] Für solche Poesien hatte ich

eine besondere Ehrfurcht.«

Und darum, nur darum geht es im Traum

wie im Schreiben der ungewollten Gedichte.

Fiktum und Imaginatum,

sagt der Philosoph (Edmund Husserl),

der sich bemühte, Phantasie

und gewöhnliche Bildvorstellung zu trennen.

Das BILD ist ihm klar: als Bildobjekt, Fiktum,

doch ist es ein Scheinobjekt im Streit

mit der unbestreitbaren Gegenwart.

Von dort hat es sich abgelöst, aufgepumpt

mit dem Bewußtsein der Repräsentation.

Umspielt wird es, wie ein Denkmal

umrankt, umwuchert vom Imaginatum,

das allen gehört und immer ungenau bleibt.

Der Traum ist ein »Nicht-Jetzt im Jetzt«,

schreibt Husserl, der Phantasie, Bild-

und Zeitbewußtsein zusammenfügte.

Im Traum wird die innere Lichtung betreten.

Hier werde ich meiner Einsamkeit

wie der aller andern gewahr.

Als wäre der Tod wirklich

der absolute Sinn aller Träume.

4

Ein Anachronismus ist er, der Traum,

ein Mixer von Zeiten und Orten, Reales

im Fluß überschießender Phantasien.

Dinosaurier, auf denen die Popstars reiten.

Pompeji als Photoshopbild im Schaufenster

eines Reisebüros in Neuseeland.

Titelseiten, Ohrwürmer, Idole,

die einen über Jahrzehnte begleiten.

Ein ganz gewöhnliches Paradoxon auch:

Exogenes, das sich im Inneren äußert,

Sensationen, die im verborgenen spielen.

Keiner bemerkt sie, niemanden kümmert,

was der Nachbar träumt, ein Verwandter.

Wer erfährt schon von all dem Traummüll

des Menschen, den er am innigsten liebt?

Da gibt es die Reiseträume, Sterbeträume,

Träume, in denen man nackt umherirrt,

mutterseelenallein durch die Städte.

Es gibt Eisenbahnträume, Fluchtträume,

Unfallträume und Fahrtstuhlträume. Es gibt

Geburtsträume, Essensträume: Man nimmt

die ekligsten Speisen zu sich: Maden

und Nägel, Pillen und Pilze, Haare

aus dem Flusensieb, schmutziges Kleingeld.

Angstträume gibt es und Heimatträume,

Träume von Operationen (Herz und Zahn

und Achillessehne) und solche

am offenen Hirn. In all diesen Träumen

ist ein Verrückter am Werk, ein Arrangeur,

der den ganzen Irrsinn steuert, sein LEBEN.

Es ist seins, und er weiß nichts davon.

Ein Traumorgan bringt die Bilder hervor,

Visionen und Revisionen und Fernsehserien

der inneren Anschauung. Slow motion,

Fast forward, Einzelbild, Rückprojektion:

alles wird ausprobiert, und das Filmteam

ist längst über alle Berge, wenn der Wecker

früh klingelt und sein Schrillen sagt: Cut!

Man spricht vom Traumauge, vom Traumbild,

vom Traumgesicht und vom Trug im Traum.

Man weiß, daß es eine Traumgewalt gibt

und eine Traumwelt, in der vieles sich trifft,

vieles mit vielem verbunden ist

wie es die Traumlogik will.

Mehr als einmal geschah es mir, daß ich

auf Reisen in irgendeinem Hotel erwachte,

mir schien, daß alles nur geträumt war,

und ich mich fragte: Wo bin ich?

Im permanenten Unterwegssein hatte ich

wie im Traum die Orientierung verloren.

»Weil aber die Traumbilder immer wechseln«,

sagt Pascal, »und eines und dasselbe sich wandelt,

berührt uns das, was man dort sieht, weniger

als das, was man im Wachen sieht.«

So ist es: Der Tag, jeder weitere Tag

zieht mich, je länger ich lebe, in seinen Bann

wie ein beständiger Traum, von dem ich

zu meiner Bestürzung erkennen muß,

daß ich niemals aus ihm erwachen kann.

»Denn das Leben«, schließt Pascal den Gedanken,

ist nur ein um ein Weniges weniger

unbeständiger Traum.«

5

Einer meiner wiederkehrenden Träume geht so: Ich habe die Brille verlegt und kann nur noch unscharf sehen. Für einen Brillenträger die Katastrophe. Ich bekomme es mit der Angst zu tun. Wenn das so bleibt, denke ich, bin ich geliefert, werde auch nichts mehr schreiben können. Mein eingeschränkter Orientierungssinn, der verringerte Bewegungsradius, der Verlust an Überblick, Handlungsfähigkeit: alles summiert sich zu einer großen Lähmung. Ich bin hilflos. Wo zum Teufel ist meine Brille? Ein chassidisches Gleichnis fällt mir dazu ein.

Es beschreibt die kommende Welt, das Jenseits. Da ist die Stube wie jetzt, in seinem Zimmer das schlafende Kind und wir, die Eltern, gekleidet wie immer. Alles ist wie bei uns, jetzt und hier auf Erden, nur ein klein wenig anders.

Was ist das also, ein Blick, der ungehinderte Blick in die sichtbare Welt, frage ich mich? Gesetzt den Fall, ich wäre der Blinde. Gott sei Dank kann ich sehen, ich muß nicht im Dunkeln dahinvegetieren. Es geht mir nicht so wie dem blinden slowenischen Photographen, der als Kind eines Tages für immer das Augenlicht verlor. Wie konnte er sagen, ein Blick sei die Summe aller Träume? Die Finsternis, meint er, ist nur ein Schein, denn das Leben jedes Einzelnen, so dunkel es auch sein mag, besteht aus Licht.

So absolut mir die Aussage erscheint, endlich weiß ich, sie betrifft auch die Träume. Der Traum ist wie das Arbeiten an einer imaginären Wahrnehmungsfront. Er sprengt die Ketten der Realität. In ihm befreit sich die Imagination, wird zur weltverändernden Triebkraft.

Der Surrealismus war ein Versuch, der vorerst letzte, den modernen Menschen, den Menschen der Technik, der Soziologie und der Psychoanalyse, als einen im Traum Verankerten zu begreifen. Letzter Versuch auch der Kunst, ihn als solchen zu befreien, indem er sich seiner Traumanteile bewußt wird. »Träume sind Kryptogramme der Wirklichkeit«, sagt André Breton. Und: »Ich glaube an die künftige Auflösung der beiden äußerlich so widersprüchlichen Zustände – Traum und Wirklichkeit.« Der Sinn für die Kunst, die Empfänglichkeit für Liebe, die Sehnsucht nach dem Anderen – auch sie, vermute ich, werden schließlich im Traum vorgeprägt und entfacht. Und sind damit schwer nur im Tagesgeschäft einzulösen, im Auf und Ab der gesellschaftlichen Prozesse und ihrer widerstreitenden Interessen. Wir alle verlieren uns, finden uns erst wieder jenseits der Träume.

»Was ist das also, ein Blick?« fragt der Blinde: »Es ist vielleicht die Summe aller Träume, wobei man den Anteil der Alpträume wenn möglich außer acht läßt. Die Finsternis ist nur Schein, denn das Leben jedes einzelnen, so dunkel es auch sein mag, besteht aus Licht.« (Evgen Bavčar)

Aus der Traum (Kartei)

Die Kröte mit den Gaumenaugen

Regelmäßig beliefern die Zeitungen den Betrachter mit immer neuen Mutanten und Monsterformen aus Biologie und Technik. Einige dringen ans Licht aus den Forschungslaboren, die normalerweise kein Unberufener betritt, andere tauchen in der Landschaft an den Stellen auf, wo sie vom Menschen am intensivsten geschändet wurde. Wir sehen, was in Genetikerhänden aus Mäusen und Schnecken werden kann. Fische in Baggerseen gehören in dieses Panoptikum, seltsam entfärbte Lurche aus radioaktiv verseuchten Regionen, allerlei Kleingetier, welches das Pech hatte, in der Nähe von Chemiewerken sein Auskommen zu suchen. Daneben gibt es, wie alle gewöhnlichen Wunder der Natur, seit eh und je das Albino-Reh oder das Kalb mit den zwei Köpfen. Diese Wesen erinnern daran, wie schon in den Mythen und Märchen das Deformierte höchste Beachtung fand, im Handlungsgang jederzeit auftauchen konnte.

Neu ist nur, daß uns die Photographie ihr Vorhandensein nun bezeugt. Dabei kommt es zu den sonderbarsten Wiedererkennungsmomenten. Kein Traum hat uns darauf vorbereitet, in die Gaumenaugen der Kröte zu schauen, die ein Kanadier in seinem Garten fand. Und doch könnte sie das Totemtier vieler Träume sein. Ihre Augen, die aus dem Dunkel der Mundhöhle glotzen, geben ein Bild vom inneren Sehapparat des Träumers, der auch in tiefer Nacht noch auf Beobachtungsposten ist. Schließt sie ihr Maul, um zu schlucken, ist sie blind, öffnet sie es, wird die Welt ihr zur Beute: Sehen und Einverleiben sind für sie eins. Und schlafen wir nicht oft über lange Strecken mit offenem Mund?

»Der Träume Herr, der große Isachar, saß vor dem Spiegel, den Rücken eng an dessen Fläche, den Kopf weit zurückgebeugt und tief in den Spiegel versenkt. Da kam Hermana, der Herr der Dämmerung, und tauchte in Isachars Brust, bis er ganz in ihr verschwand.« (Franz Kafka, Nachgelassene Schriften)

Traumnotizen I

Es ist der Traum, der dem Dasein die poetische Dichte verleiht. Er wappnet uns mit der Undurchdringlichkeit der Augenblicke.

Immer wieder gibt es im Leben Momente, wo man plötzlich innehält und die Umwelt wie zum ersten Mal sieht. Man begreift dann, daß man in seinem Leben wie in einem Film oder einer Folge von Standbildern gefangen ist und daß es einem unmöglich ist, von der Leinwand herabzuschauen. Da es im übrigen auch keinen Zuschauerraum gibt, bleibt der Blick aus der eigenen Blase die reine Sehnsucht. Erst im Traum scheint es uns manchmal, als könnten wir aus dem Bild heraussehen und uns selber dort auf der anderen Seite begegnen.

Im Traum öffnet sich, so plötzlich, wie der Pfau sein Rad schlägt, der große Fächer der Psyche.

Von allen Ausdrucksformen kommt die Poesie ihm am nächsten. Sie versetzt das Wort in den Traumzustand. Mein ganzes Sinnen dreht sich im Alltagsleben darum, die Poesie zurückzugewinnen.

Traumstadt Berlin

Nirgends kann ich so herrlich ins Tagträumen geraten wie in Berlin. Es ist die Stadt, in der ich die längste Lebenszeit verbracht habe, das meiste schon kenne, mag sie den Ortsansässigen auch fortwährend mit ihren Baustellen täuschen. Sie war mir vertraut vom ersten Augenblick an, als ich sie vor mehr als dreißig Jahren über die Warschauer Brücke betrat. Seither ist sie mir wie das Schlafzimmer, in dem man schon Tausende Nächte verbrachte und auch im Dunkeln jeden Zentimeter vom Stuck bis zur Fußleiste kennt.

Das Tagträumen stellt sich ein, wenn es keine Überraschungen mehr gibt. Dann wird der Blick frei für die Übergänge von Innen und Außen – jene Grenzübergangsstellen, von denen es in Berlin, solange es Mauerstadt war, einige gab. Für die damalige Welt war Berlin eine Stadt mit lauter geheimen Öffnungen. Es gab stacheldraht-umkränzte Portale, kilometerlange Strände aus brandenburgischem Sand, die zu einem Sprung in den Todesstreifen einluden. Es gab Fluchttunnel und Brücken, auf denen bei Nacht und Nebel Spione und politische Gefangene ausgetauscht wurden. Nun sind alle diese Schleusen und Schattenzonen verschwunden, mitsamt der massiven Betonbarriere, die damals Westen und Osten in einer Tagundnachtgleiche hielten. Die Übergangsstellen aber haben sich noch erhalten, man muß sie nur zu finden wissen. Der Ureinwohner der Stadt verdankt ihrer einstigen Teilung ein Verhaltensmuster, das noch bei Tag seine Träumereien reguliert. Er orientiert sich an den Rissen im Asphalt, an den Abbruchkanten der Häuser. Er folgt mit versiertem Blick dem Verlauf alter Brachflächen, den Lücken im Bebauungsplan und läßt sich nicht irremachen von Großstadtreklame. Mit ihm gehen die Träume einer zerrütteten, übernächtigten Stadt – einer Stadt, die immer wieder aus ihren Trümmern und scheiternden Spekulationen aufersteht. Eine Bausünde folgt auf die nächste, die Stadt geht schwanger mit immer neuen größenwahnsinnigen Projekten. Zum Glück gibt es Anhaltspunkte in dieser dauernden Improvisation – sie regeln zuverlässig den Traumverkehr. Sogleich kann man wieder dem historischen Grundriß folgen und läßt sich treiben durch die steinerne preußische Stadt.

Zum Träumen tragen nicht wenig auch die vielen Sprachen bei, die hier überall auf den Straßen den Ohren schmeicheln. Es überwiegt natürlich das Englische, doch liegen auch sämtliche europäische Sprachen und einige orientalische stets in der Luft. Das Russische macht dabei den Generalbaß: Man hört es auf den Flaniermeilen, an deren Rand die Mercedeslimousinen parken, Särge, auf Hochglanz poliert, denen plötzlich quicklebendig ein Toter entspringt. Man hört es in der Nähe der teuren Boutiquen und auf den Rolltreppen der Kaufhäuser. Um eine der Currywurstbuden schwärmen Chinesen, die wundersamerweise alle chinesisch sprechen. Nur die Türken werfen sich deutsche Formeln zu, meistens kurz abgehackt. Die Sprachen bewirken, daß man für immer der Fremde und Ungläubige bleibt. Es genügt eine U-Bahn-Fahrt, und man ist, auf den Bänken zwischen lauter würdigen Bartträgern eingezwängt, weit draußen wie auf einem Basar, der die Kulturen mischt. Irgendwo tritt man ans Tageslicht, blinzelt in die Sonne auf der Suche nach einem vertrauten Kirchturm und erblickt die nächstbeste Mietskaserne, die allen anderen gleicht und doch nicht gleicht. Der kleine Unterschied sorgt dafür, daß schon wieder ein Tagtraum sich an ihm neu entzündet.

Die Couch

Traum von der schmalen Liege, eigentlich ein Brett nur mit schwarzem Polster, das nach unseren Entwürfen gefertigt wurde. Zwei Handwerker (keiner ein Tischler) liefern es bei uns ab. Sie gehen dabei wie selbstverständlich in der Wohnung umher, seelenruhig schauen sie sich in den Zimmern um, dabei alles laut kommentierend. Einer trägt ein Piratentuch um den Kopf, der andere einen Blaumann, der Hosenboden hängt ihm fast in den Kniekehlen, beide haben übergroße Schuhe ohne Schnürsenkel an. Sie erinnern an Zirkusclowns, solche von der billigeren Sorte, die das Publikum mit Zwischenauftritten bei Laune hält, ihre Witze sind alle öde. Meine Töchter beschweren sich über ihre freizügigen Bemerkungen. »Du, die Handwerker sind frech geworden.«

Ich kümmere mich um die Herren, dränge sie diplomatisch hinaus. Aber sie haben es überhaupt nicht eilig. Im großen Wohnzimmer bleiben sie vor der neuen Liege stehen. Ziemlich schmal, das Ding, sagt der eine. Finde ich auch, erwidert der andere. Aber das hat seinen Grund, werfe ich ein. Seinen Grund, äfft mich der eine nach. Das ist eine Therapiecouch, sage ich mit einem Wort, das mir so einfällt. In diesem Moment kommt die jüngste Tochter, fängt meinen Blick auf und legt sich wortlos, wie zu Demonstrationszwecken, auf das Möbelstück. Es ist tatsächlich schmal wie ein Brett, leicht kann man links und rechts herunterfallen. Einfach still liegen – darin besteht die Therapie, füge ich triumphierend hinzu. Darauf haben die beiden nichts mehr zu sagen, ich dränge sie durch die Wohnungstür nach draußen. Kaum allein, bricht die Familie in schallendes Gelächter aus.

Von der Kunstlosigkeit der Träume

Zum Glück ist das Traumsubjekt alles mögliche, nur kein Literat. Es ist weder Psychologe noch Journalist, nicht einmal Künstler – auch wenn sein Hüter im funktionalen Leben eine dieser Rollen spielt und sein Rollenspiel sich folglich bis in den Traum hinein fortsetzt. Ohne Zweifel geht jeder auch im Schlaf noch den Tätigkeiten nach, mit denen er sein Geld verdient. Jenseits dessen aber ist er, in den besten Momenten, ein ganz anderer – der Dichter der eigenen Existenz. Dies fällt aber den meisten nicht auf, weil Dichter für sie jene unbegreiflichen, seltsamen Menschen sind, nach denen man Straßen benennt und deren Portrait man auf Briefmarken druckt. Nie würden sie selbst sich mit diesen Akrobaten der Muttersprache vergleichen, und doch hat jeder im Traum schon einmal ihre kühnsten Höhenflüge weit übertroffen.

Das Traumsubjekt ist ein Wesen, das in jedermann schlummert und das, wenn es ausbricht, in mancher Nacht Werke der Weltliteratur schafft. Nur gelingen ihm diese auf die selbstverständlichste Weise, ganz nebenbei, anstrengungslos, und niemand käme auf die Idee, sie aufzuzeichnen – ganz abgesehen von den Schreibfertigkeiten, die es dazu braucht. So sind alle diese Werke für immer verloren und werden niemals als Kunstform gelten. Wozu auch kein Grund besteht: Denn gerade das Kunstlose daran ist ihre Stärke. Eine größere Ergriffenheit als im Traum ist bei kaum einem Kunstgenuß denkbar. Vom Traum aus betrachtet, wirkt alles, was Kunst will und kann, als einstudiert und gespielt, eine fortwährende Ouvertüre nur zur großen privaten Traumsymphonie unter den freien Himmeln der Nacht.

Das Model

Ich sitze im Flugzeug am Fensterplatz. Auf dem Sitz neben mir hat ein bekanntes deutsches Photomodel Platz genommen. Es stimmt, was die Zeitungsbilder mir vorgaukeln: Sie hat tatsächlich diese extravagant langen Beine. Hautenge Jeans trägt sie, eine weiße Bluse mit überbordenden Rüschen, groß wie die Blütenblätter der Pfingstrose. Ich wage nicht, hinzusehen, presse die Stirn an das Bullaugenfenster, so verschmiert es auch ist von den Stirnen meiner Vorgänger. Ich ekle mich und vergrabe mich dennoch in dieser peinlichen Position. Immerhin sind da unten Wälder und Seenplatten, rauchende Schlote, Atommeiler, die ich mit einem Mal innig liebe. Ich versuche, mich auf diese verdammte Erde zu konzentrieren. Da überkommt mich ein schwerer Hustenanfall.

Gesten und Zeichen

Im Traum spielen Gesten die allergrößte Rolle. Es sind seltsame, undeutbare Handbewegungen, heimliche Fingerzeige, die das Geschehen vorantreiben, den Träumer in einen Hinterhalt locken, vom Weg abbringen, den Szenenwechsel erzwingen. Ein Augenzwinkern bewirkt einen Sprung über Ländergrenzen, eine Pantomime fesselt eine halbe Ewigkeit lang an einen bestimmten Ort – etwa an eine toskanische Piazza im Sonnenlicht, an den Bahnsteig einer Provinzstadt im strömenden Regen, während auf dem Abstellgleis ein Zug steht, in dem die Menschen alle eingeschlafen sind. Seltsame Signale erreichen den Träumer im Handumdrehen, manchmal erst auf den zweiten Blick oder aus den Augenwinkeln bemerkbar. Oft kommen sie aus der Tiefe des Raumes, wie das Detail auf einem Gemälde, das man nach langem Hinsehen erst gewahrt. Dann aber springt es einem ins Auge, kehrt beharrlich wieder und wird, gerade seiner Undeutbarkeit wegen, zum Stachel, an dem man sich blutig ritzt.

Diese stummen Gesten sind die Wegweiser, die aus der nächtlichen Traumwanderung das Umherirren durch ein Labyrinth machen. Doch kommt keine von ungefähr: Man würde sie alle leicht wiedererkennen, könnte man das bei Tag Erlebte wie einen Film rückwärts spulen und nach Belieben anhalten. Dann würde sich zeigen, was es mit ihnen auf sich hat, woher ihre Verstörungskraft rührt. Es sind die am wenigsten begriffenen Elemente in der Theatralik des Alltagslebens: ein konspirativer Handschlag hier, das verstohlene Streicheln zweier Verliebter da, das hektische Gestikulieren eines Ertrinkenden hinter einer Fensterscheibe, die Zeichensprache eines Taubstummen am Straßenrand – jedesmal von befremdlicher Prägnanz im Fluß des Geschehens, den der Mensch durch sich hindurchgehen läßt. Sie fallen in den Schlitz der Unaufmerksamkeit wie die Münze in den Opferstock.

Wir kennen den Lotsen auf dem Flugfeld mit seinen Signalkellen, auf dem Kopf die Ohrenschützer gegen den Lärm der Turbinen. Was aber hat es zu sagen, daß derselbe Mann plötzlich auf dem Markusplatz in Venedig steht, von Tauben umringt? Was will sein Winken uns diesmal bedeuten?

Das Spielhaus

Baue mit der jüngsten Tochter ein Spielhaus aus Holzlatten. Wir sind in ihrem Kinderzimmer. Nachdem es fertig ist, wird eine Wolldecke darübergebreitet, nun muß es noch dekoriert werden. Was soll hinein? Die Zeichnung einer weißen Friedenstaube, Bilder aus Zeitungen, die wir gemeinsam zerschneiden: Frauen in Modeklamotten, Mädchen auf Pferden, Girlgroups und Boygroups, die Gesichter amerikanischer Teenie-Stars, verschiedene Haustiere, eine Siamkatze, Meerschweinchen, ein Zwergkaninchen. Seltsam, ich muß mehrmals hinsehen, glaube es kaum. Zwischen alldem hängt plötzlich ein Photo der Margot Honecker, Volksbildungsministerin der ehemaligen DDR.

Ratten träumen von Schokolade

Unter den heutigen Neurospezialisten sind die Schlafforscher ein ganz besonderes Trüppchen. Einer von ihnen hat den Nachweis erbracht, daß auch Ratten träumen. Und man weiß allerdings auch sogleich, wovon. Wochenlang hatte man die armen Tiere darauf abgerichtet, in einem Labyrinth nach Schokolade zu suchen. Nicht ohne ihnen zuvor ein paar haarfeine Meßfühler in den Hirnstamm zu bohren und diese mit einem Computer zu verkabeln, der die Spionagedaten aus dem Rattenhirn sogleich auswerten konnte. Nun zeigte sich eines Nachts, da man vergessen hatte, die Apparatur abzuschalten, daß die Tiere im Schlaf nichts anderes taten, als auch nach Feierabend noch durch das Labyrinth zu trippeln. Sie waren, die elektrischen Aktionsmuster bewiesen es, auf der Suche nach der Traumschokolade. Quod erat demonstrandum.

Aber taugt dies wirklich als Argument der Physiologen gegen die Psychologen? Wird nicht Freuds These vom Traum als Generator der Wunscherfüllung gerade damit gestützt? Ein einfacher Cartoon in Disney-Manier könnte das Experiment illustrieren. Wir kennen nun also den Inhalt der Gedankenblase zu Häupten der träumenden Ratte: Sie zeigt ein Stück Schokolade. Aber was ist mit den verschwiegeneren Begehrlichkeiten des Tieres, die kein Neuronengewitter uns als bekanntes Bewegungsmuster zu dechiffrieren hilft? Experimente sind Antworten auf zuvor gestellte Fragen. Im Glücksfall erfüllt ihr Resultat eine Erwartung. Hätte man das Rattenhirn im Moment der Paarung angezapft – wer weiß, was das nächtliche Zucken der zierlichen Pfötchen uns noch alles verraten hätte?

Traum und Futur

Die Zukunft langweilt ihn mehr als die Vergangenheit. Und aus der Perspektive der Träume wird klar, warum. Mag sein, daß mancher Traum prophetische Qualitäten besitzt, daß in ihm Vorzeichen auftreten, die ein Geschehen vorwegnehmen – immer aber baut sich das Traumdrama aus dem bereits Gelebten auf. Sehr wohl werden da Episoden und Motive, Personen und Requisiten umgruppiert, so daß es scheint, als würden einzelne Szenen aus dem fünften Akt schon gespielt, bevor noch der dritte beendet ist. Das aber täuscht nur, wie jeder weiß. Wir bleiben, solange die einzelnen im Traum verhandelten Lebensthemen nicht abgeschlossen sind, Teilnehmer an ein und derselben Premiere. Der Blick in die Zukunft ist weiter nichts als das Querlesen im Programmheft. Der Träumer eilt nicht wirklich in seinem Leben voraus, auch wenn es Augenblicke gibt, in denen Alter und Jugend, Damals und Übermorgen scheinbar zusammenfallen. Die eigene Zukunft aber bleibt stets uneinholbar. Man mache die Gegenprobe und versuche Kierkegaards Formel einmal umzukehren: »Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden.« Daß man sein Leben statt dessen rückwärts lebt und vorwärts versteht, mag als Paradox taugen, aber läßt es sich wirklich denken?

Die Zukunft muß für den ganz in Gegenwart eingehüllten Menschen immer unzugänglich bleiben, man nähert sich ihr höchstens durch Spekulation. Die Vergangenheit dagegen zeigt sich – wie so viele Verbrechen – als zum größten Teil unaufgeklärt und ist schon darum unendlich anziehend. Die Zukunft ist das unvorstellbare Unbekannte, die Vergangenheit das noch nicht verstandene Allzubekannte. Vergangenheit macht selbst den historischen Laien zum Detektiv (der Historiker tritt früh in den Polizeiapparat ein). Zukunft dagegen läßt uns wie die Wünschelrutengänger umhertappen. Futurologie kann als Geschäftszweig nur Schwindel sein, eine Pseudowissenschaft zur Herstellung eines Phantasieprodukts. Zu sagen, man sei Zukunftsforscher, ist etwa so wahr, als wollte man behaupten, man sei ein programmatischer Träumer.

Schlachtung

Wir waren auf einem Bauernhof untergebracht, hausten in Zelten auf einer Wiese unter Apfelbäumen, und dies offenbar schon geraume Zeit. Es war eine Notunterkunft, wir waren Evakuierte, aufs Land hinausgetrieben, eine unbekannte Katastrophe hatte uns aus der Stadt verbannt.

Aber an diesem Morgen geschahen merkwürdige Dinge. Die Tiere waren unruhig, sie brüllten, gackerten, zeterten, blökten. Ein Inspektionsgang durch das Gehöft, und wir sahen die Bescherung. Der Bauer hatte all sein Vieh »nackt ausgezogen«. Die Schafe stolperten frischgeschoren umher, das Geflügel war bei lebendigem Leibe gerupft, ein Kaninchen schleifte sein halb gehäutetes Fell hinter sich her. Es war ein schrecklicher Anblick. Die Tiere aber waren ganz zutraulich, besonders die Schafe, die sich an unseren Beinen rieben. An langen Leinen schaukelten zwischen den Scheunen Kälberfelle, Schweinsblasen, Teppiche, selbst Schlangenhäute kunterbunt durcheinander. Aber alles, was sich bewegen konnte, kam freudig auf uns zu und rollte uns nackt vor die Füße. Auch ein gehäuteter Hund sprang, mit dem nackten Schwanz wedelnd, um uns herum. Eine sonntägliche Stimmung lag über diesem Schauplatz einer Notschlachtung, daß einem ganz sonderbar zumute war. Eine große Flügeltür mit einem Holzriegel ging einladend im Wind auf und zu, dann lockte uns das geöffnete Hoftor nach draußen. Wir gingen ins Dorf und setzten uns an den Feuerlöschteich – der war eine braungelbe, blutunterlaufene Brühe.

Tabuzone

Das Massiv des Schlafs: In seinen Ausläufern erst, an den äußersten Rändern, wird es regelmäßig von den Expeditionen des Traumes erfaßt. In welchen rauhen Gebirgsregionen wir uns die meiste Zeit in den zutiefst unerinnerbaren Nachtphasen bewegen, zeigt sich, wenn uns ein Zwischenfall aus dem Schlaf reißt. Ein Kind hat uns wach geschrien, ein Alarm uns aufgerüttelt: Da stürzen wir aus der inneren Dunkelheit bruchlos in die äußere und merken nun erst, daß es ein Territorium gibt, zu dem der Traum niemals Zugang hat. Ein Gelände, das wir nur mit dem geschlossenen inneren Auge passieren können. Wir befinden uns, wenn wir träumen, immer schon auf dem Rückweg von den Wanderungen durch diese Zentralmassive des Schlafs. Es ist auch nicht einmal ausgemacht, ob es sich da um echte Hochgebirgslandschaften handelt. Man spricht wohl besser von einer Tabuzone, aus der selten eine Information herausdringt, von einem tiefschlafgeschützten Sperrgebiet, das immer schon hinter uns liegt, wenn erst die Träume anheben, an die wir uns dann in allen Einzelheiten erinnern.

Traumdeutung

Was dem Leser der Traumdeutung auffällt: Freud versteckt oft seine interessantesten Gedanken in den Fußnoten (er versteckt darin gewissermaßen sich selbst). Zum Beispiel in jener auf Seite 119 meiner S.-Fischer-Studienausgabe mit dem roten Pappdeckel, wo es um die neue Methode als solche geht – in Abgrenzung zu allen bisherigen Traumlehren (der eines Artemidoros, Makrobius, Aristoteles, Cicero usw.). Da heißt es dann, kleingedruckt: »Die Technik, die ich im folgenden auseinandersetze, weicht von der antiken in dem einen wesentlichen Punkte ab, daß sie dem Träumer selbst die Deutungsarbeit auferlegt. Sie will nicht berücksichtigen, was dem Traumdeuter, sondern was dem Träumer zu dem betreffenden Element des Traumes einfällt. –«

Das ist insofern recht, aber doch nicht ganz billig, als Freud in den Dialog mit dem Träumer gerade das hineinlegt, was ihm zuvor als theoretisch nützlich, man könnte auch sagen, unbewußt brauchbar erschien – das sexuelle Osterei, Abrakadabra, das seither alle Psychoanalytiker, die aus der Schule kommen, zu suchen gewohnt sind. Soll man von höherer Unschuld reden? Stimmt es, daß hier der erste Traumdeuter antrat, der mit der vorausgesetzten Überlegenheit der Aufklärer über die Aufzuklärenden wirklich brach? Dazu der junge Michel Foucault: »Die Psychoanalyse gelangt nur zum Eventuellen.« Und weiter: »So hat ihm [dem Traum] Freud eine psychologische Dimension wieder zuerkannt; aber als spezifische Form der Erfahrung hat er ihn nicht begriffen.« Die Falle, besonders für Dichter aufgestellt, war: Freud nahm dem Traum die Freiheit, die ihm als Traum gebührt. Er nahm ihm die Freiheit, zu deren Gebrauch sonst nur Poesie im Bewußtsein der Allgemeinheit die Lizenz hat: die Freiheit der von nichts und niemandem (auch nicht von dem in sein Begehren verstrickten Ich) abhängigen Imagination. Der Triumph der Freudschen Traumdeutung ist die Niederlage der dichterischen Vorstellungskraft. Diese begreift sich dagegen als Agentin des unendlichen Kosmos und der in ihm sich orientierenden, endlichen Existenz.

Der Nabel des Traums

Armer, heroischer Freud. Großer Gelehrter und Mediziner und Liebhaber der Philologie und Mythologie, der er war, mußte er sich im Dickicht der Träume verirren. Er verlor sich an die unendliche metaphorische Vielfalt der Stoffe seiner wankelmütigen Traumerzähler – der zahlenden Patienten auf der Couch in der Praxis Bergstraße, im neunten Bezirk Wiens. »In den bestgedeuteten Träumen muß man oft eine Stelle im Dunkel lassen, weil man bei der Deutung merkt, daß dort ein Knäuel von Traumgedanken anhebt, der sich nicht entwirren will, aber auch zum Trauminhalt keine weiteren Beiträge geliefert hat. Dies ist dann der Nabel des Traums, die Stelle, an der er dem Unbekannten aufsitzt.«

Dies ist aber auch das Armutszeugnis der Theorie. Mit ihm bricht das Ganze wie ein Kartenhaus in sich zusammen.

Und alles fing so verheißungsvoll an: mit einer Verstörung des Therapeuten, den eine seiner Patientinnen, eine junge Witwe, tiefer beschäftigte, als er sich eingestand. Sie brachte ihn auf die heiße Spur. Denn nie war sie völlig auszuschalten, die Sorge des Nervenarztes, auf der Suche nach den psychischen Krankheitsursachen etwas Organisches übersehen zu haben. Es wäre der Kunstfehler des Psychoanalytikers, sein Versagen schlechthin. In diesem Dilemma wird ihm Entlastung zuteil durch den berühmten »Traum von Irmas Injektion«.

Ein Vorurteil gegen Freud besagt, er habe hinter allem stets nur das Sexualmotiv sehen wollen. »… daß die Mehrzahl der Träume Erwachsener sexuelles Material behandelt und erotische Wünsche zum Ausdruck bringt«, kann als ein Credo gelten. In diesem ersten seiner Psychiaterträume aber ist es nur eines von mehreren Gegenständen der Wunscherfüllung, um das sich seiner Lehre zufolge alle Träume bemühen. So hervorspringend das Motiv der »Injektion« ist, der Selbstdeuter verfolgt ein bescheideneres Ziel. Es geht ihm nicht um den Koitus mit einer hysterischen Witwe, sondern nur um die Konkurrenz unter Fachkollegen. Die nächtliche Phantasie befreit ihn vom Gewissensbiß, er habe als Arzt gepfuscht. Ein Freund trägt die Schuld an Irmas unerfolgreicher Behandlung. Jede weitere Spekulation versagt sich der Deuter, schon aus Zensurgründen – mit Rücksicht auf die eigene Ehefrau, eine potentielle Leserin der Traumdeutung. Sein Triumph ist die Entdeckung eines Mechanismus (des Prinzips der Wunscherfüllung beim Träumen). Das Sexualmotiv ist dabei ebenso nebensächlich wie der Vorwurf des leichtfertigen Umgangs mit einer gefährlichen Droge – Freuds Empfehlung des Kokains, die er zur selben Zeit in mehreren Schriften aussprach. Die Spritze hat nur die Funktion, den Kollegen als Dilettanten bloßzustellen und sich selbst damit reinzuwaschen. Der Nabel des Traumes bleibt im Nebel. »Ich kenne selbst die Stellen, von denen aus weitere Gedankenzusammenhänge zu verfolgen sind; aber Rücksichten, wie sie bei jedem eigenen Traum in Betracht kommen, halten mich von der Deutungsarbeit ab.«

Armer, verschwiegener Freud. Entdeckerstolz läßt ihn alles andere beiseite schieben und vertuschen. Das Wichtigste ist ihm der Denkmalwert seiner Erkenntnisposition. Er weiß noch den Ort, und er weiß noch die Zeit. Dem Freund Wilhelm Fliess gegenüber resümiert er die Krankengeschichte von der widerspenstigen Irma und ihrer Zähmung im Traum so:

»Glaubst du eigentlich, daß an dem Hause dereinst auf einer Marmortafel zu lesen sein wird:

›Hier enthüllte sich am 24. Juli 1895 dem

Dr. Sigm. Freud

Das Geheimnis des Traumes.‹?«

Bedenkt man das Bild vom Nabel des Traumes, so kann man sagen: Freud war der Materialist der Metapher. Ein Bruder im Geiste des ökonomieanalytischen Materialisten Marx. Sexus und Kapital sind die beiden ehernen Säulen am Eingang der bürgerlichen Ordnung, ein Labyrinth, in dem die sozial verklammerten, frei begehrenden Individuen des Westens umherirren.

Was nützt uns aber die Diagnose der beiden realitätsgierigen Agnostiker? Das unbekannte, häßliche Bauwerk vermessen haben sie, mitsamt seinen Bewohnern und Mietern, doch wie sich jetzt zeigt – es ließ sich nie sprengen. Wir sind noch immer die alten. Ihre Theorien haben die Verhältnisse nur diskursiv vermint und sind damit Teil des Problems, nicht der Lösung geworden. Ihre sorgfältige Sammelarbeit hat dazu beigetragen, daß wir nun wie Gorillas im Nebel umherstolpern – aufgeklärte Gorillas, in einem nur scheinbar gelichteten Nebel.

Schlafen

Wie würden die Außerirdischen staunen, könnten sie uns sehen, wenn wir vorm Schlafengehen mit kleinen Plastikstäbchen im Mund herumfahren, dabei die Zähne bleckend, um uns schließlich auf einem dieser länglichen Möbelstücke auszustrecken. Dort rollen wir uns dann ein wie die Igel, ziehen eine Decke über uns und schließen die Augen. Diese seltsamen Erdlinge: Nach einem festgelegten Rhythmus erstarren sie und stellen für mehrere Stunden jede Aktivität ein. In der Haltung von Toten verbringen sie bestimmt ein Drittel ihrer Lebenszeit. Ihre Wohnungen gleichen dann Grabkammern oder Mausoleen, vollgestopft mit allerlei überflüssigen Beigaben. Nichts, was sie bei Tage so dringlich beschäftigt hat und was ihre Zivilisation ausmacht – die Häuser, der Blechschrott in den Straßen, die elektrifizierten Ballungszentren, vom All aus gut sichtbar –, ist mehr von Wichtigkeit. Eine große Apathie hat sie erfaßt, und sämtliche ihrer Projekte ruhen. Es ist, als wäre die Welt um sie her auf einmal zu Ende. Ist ihnen klar, daß dieser Zustand vielleicht der eigentliche ist, insofern er dem gleicht, der ohnehin eines Tages herrschen wird und geherrscht hat, bevor sie zur Welt kamen? »Der Mensch steckt sich zur Nacht ein Licht an, wenn sein Auge erloschen ist«, sagt Heraklit. »Im Schlaf ist er ein angezündeter Toter.« In seiner stabilen Seitenlage stellt er, unfreiwillig, alles in Frage, was ihn bei Tag antreibt und rastlos macht. Er wird sich selber zum Fragezeichen, wie er da liegt, gekrümmt oft, verstrickt in sein traumhaftes inneres Leben, von dem Kafka meinte, daß es alles andere ins Nebensächliche rückt. Er muß dazu nicht einmal träumen. Auch so ist das Rätsel vollkommen.

Überschwemmung

Die Töchter sind alle dabei, mit Wasserfarben Papiere und Leinwände zu bemalen, jede in ihrem eigenen Kinderzimmer. Es herrscht eine heilige produktive Stille in der Wohnung wie selten. Niemand streitet oder stampft auf den Boden vor Zorn, weil eine Haarspange fehlt, ein Lippenstift, der Schuh einer Puppe. Kein Telefon klingelt, die Erwachsenen sind aus dem Haus. Da schiebt sich langsam eine Pfütze unter der Wohnungstür hindurch. Das Treppenhaus ist bereits überschwemmt, schon steigt der Pegel bis in den ersten Stock. Der Teppich im Flur hat sich vollgesaugt, die kleine Gipsstatue des Apollo steht bis zu den Fußknöcheln im Wasser. Die ersten Spielsachen dümpeln entlang der Türschwellen. Die Töchter aber ahnen von alldem nichts, so vertieft sind sie in ihre Malereien. Die eine kniet auf dem Stuhl, die Zunge im Mundwinkel, und pinselt einen Affenkopf, auf dem Schreibtisch liegt Brehms Tierleben aufgeschlagen. Die andere hat ein Gruppenbild auf der Staffelei – »Meine Familie« –, an dem sie seit Wochen schon arbeitet. Die Jüngste in der Küche sitzt an ihrem Eßtisch auf Rädern, läßt die Buntstifte kreisen, sie ist die abstrakte Malerin der Familie. Im Augenblick ist sie mit Schlangenlinien und Korallenformen beschäftigt, die Finger der kleinen Hände sind in äußerster Konzentration abgespreizt. Das Wasser hat sich nun überall in der Wohnung verteilt, bis in die hintere Speisekammer ist es vorgedrungen. Nach und nach geraten die Möbel in Bewegung, werden zu Treibgut in der Strömung. Die Mädchen aber lassen sich nicht aus der Ruhe bringen, sie pinseln und kritzeln und zeichnen, als wollten sie uns ein Geschenk machen. Mir ist es peinlich, ich überlege, wie lange es dauert, bis die Feuerwehr eintrifft, und wie man alles wieder trocken bekommt, bevor irgend jemand etwas merkt. Dann wird die ganze Wohnung zum sinkenden Ozeandampfer. Wasser läuft über die Aquarelle, die Töchter schwimmen wie Nixen durch die geöffneten Oberlichter hinaus ins Freie.

Traumnotizen II

Es ist der Traum, der einen immerfort an die Freiheit erinnert, wie kein anderer Quell. Von dorther kommen die Impulse, den Notwendigkeiten zu mißtrauen, den so eisernen Verhältnissen die nötige Verachtung entgegenzubringen. Im Traum habe ich Blut geleckt. Im Traum werde ich mir des Möglichen bewußt, das mir die Realität immer aufs neue versagt.

Manche verfügen über große innere Zeitreserven. Man sieht es ihnen von außen nicht an – ahnt aber, daß sie wirklich das Zeug haben zu großen Träumern.

Einmal wirklich ausgeschlafen, und du fühlst Riesenkräfte in dir. So war es immer, obgleich ich seit Jahrzehnten täglich spät erst aufs Laken sinke und höchstens dreimal im Jahr noch den Schlaf vor Mitternacht kenne.

Der ausgeschlafene Mensch hat nichts zu fürchten, nicht einmal seine Alpträume. Der Traum, das weiß er, wird alles aufgreifen, alles verdrehen und auf den Kopf stellen, was in seinen Strudel gerät.

Nur im Traum läßt sich dies größte aller Naturphänomene erleben: die Befreiung von Kausalität. Es beginnt immer damit, daß der Körper schon nach wenigen Atemzügen wie ein Einbaum hinaustreibt auf den Ozean Zeit, bevor er sich langsam auflöst im nichteuklidischen Raum.

Blitzspur im nächtlichen Dunkel – das sind die Träume, ein grelles Nachbild des Oszillierens zwischen Sein und Nichtsein.

Afrikanischer Traum

Nachts bin ich mehrmals erwacht, ich lag nackt auf dem rauhen, backofenwarmen Bettlaken des Hotels Savanna. Einmal weckte mich ein blutfrischer Traum: Ich bin mit meinen Eltern auf Safari in einem Land, das wir im Gespräch Kamerun nennen. Ausflug ins Landesinnere, wir erklettern einen Felsen in einer dunstigen Steppenlandschaft. Hoch oben auf einem Plateau steht ein hellenistischer Tempel, die Säulen verziert mit Girlanden tropischer Früchte und verschlungenen Ornamenten, wie man sie sonst von aztekischen Pyramiden her kennt. Wir tragen uns gegenseitig aus einem Reiseführer seine Entstehungsgeschichte vor. Beim Aufstieg bemerken wir in der Ferne eine große Menschenmenge, die schnell näher kommt, eine Art Truppenbewegung mit Pferden, Kamelen und Kleintransportern, begleitet vom ungeheuren Getöse einer Schalmeien- und Trompetenmusik, die aus Kofferradios von den offenen Ladeflächen der Fahrzeuge dröhnt. Einige der Instrumente, groß wie Alphörner, ragen über die Fahrerhäuser und die schweren Maschinengewehre auf den Transportern hinaus.