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Im Mittelpunkt dieses Berichts steht eine Frau aus einfachen Verhältnissen. Es geht um das Leben von Dora W., die aus Schlesien nach Dresden kommt, mit sechzehn Mutter wird und mit fünfundzwanzig den Untergang der Stadt im Bombenkrieg miterlebt. Ziegenhüterin auf dem Lande, dann Ladenmädchen und Gärtnereigehilfin in einer niederschlesischen Kleinstadt sind ihre ersten Lebensstationen, bevor sie in dem Schlachtergesellen Oskar den Mann fürs Leben findet und ihm nach Dresden folgt, um dort eine Familie zu gründen. Eine kurze Zeit ist ihr dort geschenkt; es sind ihre goldenen Jahre, wie es scheint, aber dann stürzt die Perspektive, und es ereilt sie wie alle anderen der Krieg und mit ihm das Ende Dresdens in einer von Großmachtstreben und Rassenwahn vergifteten Gesellschaft.
Mit ihrer Geschichte verfolgt der Autor ein Einzelschicksal im historischen Kontext vor und nach dem Einmarsch des Nationalsozialismus in jedes einzelne Leben. Was macht die Diktatur aus den Menschen, die ihren Anforderungen kaum gewachsen sind und sich recht und schlecht durchschlagen? Dabei gewinnt das Auftauchen des Halleyschen Kometen im Jahre 1910, der Weltuntergangsphantasien befeuerte, eine symbolische Bedeutung für die Vernichtung der sächsischen Metropole im Feuersturm des Februars 1945.
Am Beispiel von Dora W. wird erzählt, wie Geschichte den Geschichtslosen widerfährt, zuletzt als Schrecken und zu späte Einsicht.
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Seitenzahl: 360
Durs Grünbein
Der Komet
Suhrkamp
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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2023
Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2023.
© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2023
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Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner
Umschlagfoto: Regina Göllner
eISBN 978-3-518-77728-2
www.suhrkamp.de
Die Geschichte der Dora W.
»… und mich sollte nicht jammern Ninive, eine so große Stadt, in der mehr als hundertundzwanzigtausend Menschen sind, die nicht wissen, was rechts oder links ist, dazu auch viele Tiere.«
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Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Informationen zum Buch
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Nachweise zu den Abbildungen
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Der Komet
In der Nacht, als Dresden zugrunde ging, war die Familie in alle Winde zerstreut. Deutschland in den Grenzen des Dritten Reiches, mit jeder Annexion erweitert, jedem Anschluß, und von Westfront zu Ostfront, von Eroberung zu Eroberung blitzschnell angeschwollen wie eine Blase, erst in den letzten Kriegsmonaten unaufhaltsam geschrumpft, Großdeutschland – die Sortiermaschine mit den stählernen Greifarmen – hatte sie alle auseinandergetrieben. Sie hatte dem politischen Gegner den Garaus gemacht, Sozialdemokraten und Kommunisten, die Arbeiterschaft auf Linie gebracht, bürgerliche und kleinbürgerliche Milieus durcheinandergewirbelt. Sie hatte die jüdischen Familien zerrissen, deutsche Juden in alle Weltteile vertrieben, Millionen Juden in den Osten deportiert, wo sie mit Mann und Frau und Kind vernichtet wurden. Hatte Zwangsarbeiter aus allen Teilen Europas ins Reich verfrachtet: in die Rüstungsfabriken, in deutsche Unternehmen, kleine und große Firmen, und bis auf die letzten Landgüter und Bauernhöfe. Hatte die wehrfähigen Männer von den Frauen getrennt, die Kinder von den Eltern, Nachbarn einander entfremdet, die Soldaten von den Zivilisten daheim und die Parteimitglieder und die Bonzen von der Masse der Volksgenossen. So wie sie binnen weniger Jahre die Gesellschaft in eine Kriegsmaschine umgebaut, jeden Bürger erkennungsdienstlich erfaßt und an seinen Platz gestellt hatte. Die Bevölkerung nach Rassen sortiert, die Gesellschaft nach Ständen – Nährstand, Wehrstand, Lehrstand – und die verschiedenen Regionen in lauter Gaue. Gerade so, als hätte man ein modernes Industrieland mit seinen Autobahnen und Stahlwerken, seinen Schiffswerften und Forstgebieten, Einwohnermeldeämtern und dem diversen Volk in den Mietshäusern und Villen in das alte Germanien zurückverwandeln können, wo auf Thingstätten in freier Natur der Stammesgeist beschworen und in den Eichenhainen der Kriegsgott angebetet wurde.
Die Menschen verwalten, das konnte er, der neue Staat, den Mangel amtlich betreuen. Bezugsscheine, Lebensmittelmarken, Kleiderkarten, ein einziges papierenes Elend, Formulare über Formulare auf allen Ämtern. Nie zuvor hatte sich eine Bevölkerung in so kurzer Zeit derart gründlich aufmischen, staatlich organisieren lassen, bis jeder Einzelne abgebracht war von seinem Lebensweg, verwaltet, organisiert, formiert in Kasernen und Sportarenen, bei Massenaufmärschen rekrutiert im Namen der Nation. Nie zuvor waren so viele Bürger eines modernen Gemeinwesens in so kurzer Zeit in Akten verwandelt worden, Kennkarten, Personalbögen, entwurzelt, umgesiedelt, vertrieben, interniert und schließlich millionenfach vernichtet und verwertet. Zuletzt waren sie alle nur noch Spielzeug für die Tentakel einer Ordnung, die in jedes Heim eindrang, einem Kraken mit immer neu nachwachsenden Saugnäpfen, wie es so noch keine gegeben hatte. Einer Ordnung wie für die Ewigkeit geschaffen (mindestens tausend Jahre), die so mächtig, wie sie organisiert war, nur noch von außen, vom Himmel her, mit Flächenbombardements der kriegswichtigsten und zum Teil auch der schönsten Städte, mit Blitz und Donner, also mit beinah übernatürlichen Kräften, am besten mit einer Atombombe (die dann zu spät kam), auf den Boden der Tatsachen zurückzubringen war.
Die Mutter lag mit Scharlach in einem Krankenhaus links der Elbe, die Töchter, sieben und vier Jahre alt, waren bei einer Freundin im Haus untergekommen, der Familienvater war in Rußland verschollen. Seit über einem Jahr gab es von ihm kein Lebenszeichen mehr. Zum letzten Mal war er zum Weihnachtsfest 1943 auf Urlaub dagewesen. Im Glas des Buffetschranks im Wohnzimmer steckte noch immer die Karte mit dem Feldpoststempel und den knappen Zeilen: »Bin auf dem Wege nach dem Osten.« Knapp und sachlich, wie es seine Art war. Oskar war nie ein Mann großer Worte gewesen. Die Postkarte war in einer Garnison bei Gera abgestempelt, Feldpost Oktober 1941, sie zeigte einen neuen Bauabschnitt der Reichsautobahn. Der Feldzug nach Polen war ihm erspart geblieben, aber er war in Belgien im Einsatz gewesen, hatte den Einmarsch in Paris miterlebt als Koch und Gulaschkanonenchef einer Kavallerietruppe. Er hatte die Avenue des Champs-Élysées vom Pferderücken aus gesehen. Von den Flüchtlingstrecks unterwegs war nie die Rede gewesen, keine Einzelheiten vom Leid der Zivilbevölkerung, aber eines Tages kamen ein Brief aus dem Soldatenheim der Wehrmacht an der Place de Clichy und immerhin ein dickes Paket, von dessen Inhalt man sich noch lange erzählte. Damals hatte sie gedacht: Schau an, so einfach kann ein Krieg also gewonnen werden. Ein Durchmarsch auf allen Linien war das gewesen, und gut, auf deutscher Seite waren die Verluste überschaubar geblieben. Die Passanten auf der Ansichtskarte rund um den Kiosk, diese Einheimischen in ihren modischen Kleidern und Anzügen, taten ihr leid. Man sprach ja doch kein Französisch. Wie Oskar sich dort wohl verständigt hatte? Aber es war wohl nur gerecht, sie würden merken, daß man nur eine alte Niederlage korrigieren wollte. Die Männer in der Wehrmachtsuniform würden ihnen auf ihre preußisch disziplinierte Art schon vermitteln, daß man nicht als Feind gekommen war. Die wenigen Zeilen aus Paris hatten ihr signalisiert, daß es Oskar gutging dort im Süden. Von ein paar neuen Kochrezepten schrieb er, die er gelernt habe, und von den raffinierten Zutaten der Franzosen und daß er sie demnächst ausprobieren würde, wenn man wieder beisammensäße am Wohnzimmertisch in der Liliengasse. Damals, beim ersten Heimaturlaub, hatte sie an ihm einen neuen, schwärmerischen Zug bemerkt. Da war es gut gewesen, daß sie ihm mit dem Kinderwagen entgegengekommen war und ihm die Jüngstgeborene hatte präsentieren können: Elfriede Rosi, das zarte Kind. Und er hatte sie wie einen Pokal in die Arme genommen, ein Geschenk des Himmels in dieser schwierigen Zeit. Das Püppchen mit den schwarzen Knopfaugen, das ihn anlächelte und von da an nicht mehr aufhören würde zu lachen, sobald man sie in die Luft hob und unter den Armen kitzelte. Aber der Sieg über Frankreich währte nicht lange. Eine letzte Frühlingspause noch, ein Aufatmen, als alle Heimkehrer sich mit ihren Liebsten an den heimischen Seen vom Weltkrieg erholten, ein paar weinselige Stunden in Lokalen mit Spaziergängen im Stadtpark, Verwandtenbesuchen, tiefen Blicken in die Kinderwagen, dann wendete sich das Kriegsglück, und es kam die Einberufung nach Rußland. Mit einem Schlag war die erhebende Zeit vorbei. Ein Jahr verging, die schlechten Nachrichten im Bekanntenkreis mehrten sich, immer öfter hieß es jetzt, der Onkel, der Neffe, der einzige Sohn sei an der Ostfront schwer verwundet worden. Und dann sah man sie überall, die schwarz umrandeten Annoncen in der Zeitung und in den Schaukästen der Parteistellen, viele mit einem Hakenkreuz verziert und mit der Formel versehen »Für Führer und Vaterland«, und man bekam weiche Knie bei dem verstörenden Wort gefallen, das so sanft klang und bei dem sie instinktiv immer die Augen schloß. Wie leicht sich das anhörte: Da fiel einer irgendwo in den Schnee oder rollte von einem Erdhügel herab wie der Apfel, der vom Stamm fällt. Er fällt nicht weit, sagte das Sprichwort, aber dann war es doch sehr, sehr weit weg gewesen.
Mit einer Nachbarin aus dem Haus in der Liliengasse – Tante Trude, wie die Kinder sie nannten, ihrer einzigen Vertrauten, mit der sie einen Pakt geschlossen hatte für den Ernstfall – ging sie oft ins Kino, um sich abzulenken. Und um die Wochenschau mit den Berichten von der Ostfront zu sehen, bei der sie im Dunkel des Vorführsaals tapfer die Augen aufhielt. Da war aber nichts, was ihr im Donnern der Artillerie, im Rasseln der Panzerketten hätte Halt geben können. Die Bilder von den deutschen Divisionen, die immerfort siegten und dann doch zurückweichen mußten, huschten so schnell vorüber, daß sie vergaß, unter den grauen Stahlhelmgestalten den einzigen Uniformierten herauszufinden, den sie vermißte. Schließlich gab sie es auf, lehnte sich zurück in die Polster und genoß das anschließende Spektakel der Sehnsucht, irgendeine Liebesschmonzette mit Marika Rökk oder Ferdinand Marian. Im Kino hatte sie immer abschalten können, war entrückt in selige Gefilde. Einmal, das war noch zu Friedenszeiten im Oktober 1938, sah sie Die vier Gesellen, und das war ein Ding. Anders als die ewigen Lustspielfilme, da ging es um etwas, das konnte sie nie mehr vergessen. Vier junge Frauen suchten ihr Glück im Beruf, als Selbständige in der Werbebranche, wollten hoch hinaus und machten es den Männern schwer, weil jede ihren eigenen Kopf hatte und etwas konnte. Daß Hans Söhnker, der Charmeur, zuletzt die schöne Schwedin besiegte und die anderen nach und nach umfielen, in den Hafen der Zweisamkeit und der Ehe einliefen bis auf eine, die Malerin – geschenkt. Den Versuch war es doch wert gewesen. Trude war ganz ihrer Meinung, gleich dreimal sind sie in diesen Film ausgeschwärmt, und ihre Männer hatten nicht die leiseste Ahnung, was sie beide dort vor der Leinwand erlebten.
In der ersten Kriegsphase, als es gegen England ging, war immer die Rede von der Luftüberlegenheit gewesen, täglich Angriffe auf London, nun aber gab es auch in Dresden den ersten Fliegeralarm. Immer tiefer drangen die Bomber auf deutsches Gebiet vor. Offenbar hatte die Führung sich verrechnet, wie in so vielem. So glimpflich die Angriffe für sie, weit im Südosten des Reichs, auch abliefen, man bekam doch eine Vorstellung von den Illusionen, auf denen die Wehrmachtsberichte beruhten. Im dritten Kriegsjahr mußten sie manchmal mitten in der Filmvorführung, sobald der Voralarm ertönte, in den Luftschutzraum hinabsteigen. Die Zeichen an den Hauswänden sah sie dann überall: LSR, dazu der Pfeil, der nach unten zeigte. Es ging immer nur abwärts. Das Leben spielte sich zunehmend in der Verdunkelung, im Untergrund ab.
Einmal, wieder kurz vor dem Weihnachtsfest, stand da ein Fremder in Feldgrau vor ihrer Tür, den sie erst auf den zweiten Blick als den Vater ihrer Kinder wiedererkannte, den Mann, für den sie als Fünfzehnjährige geschwärmt hatte. Und zögernd schloß sie ihn in die Arme. Das Bild, wie der stämmige kleine Landser seine beiden Töchter, eine links, eine rechts, auf den Knien wiegte, hatte sich ihr eingeprägt. Was der Frontsoldat zu berichten wußte, verschweigt die Aufnahme. Man habe dort drüben viel Vieh requiriert und alles geschlachtet, was man nur in die Finger kriegen konnte. Von den Schwierigkeiten des Vormarsches hatte er ihr berichtet, davon, wie er unter widrigsten Umständen als Kompaniekoch die Kameraden mit warmen Mahlzeiten versorgte, von den Kampfhandlungen war nie die Rede gewesen. Feindberührung war die Sache der anderen, Oskar hielt sich zum Glück in den rückwärtigen Räumen auf, da, wo der Geschützdonner nur als ferne Brandung hörbar war. Die einzige Waffe, die er bei sich trug, war ein Karabinergewehr, zur Selbstverteidigung für den Fall, daß der Russe plötzlich doch in der Tür stand, um ihnen in die Töpfe zu lugen. Die hungern da drüben, fressen Kraut und Rüben, das erzählte er gern. Er hatte die Gefangenen gesehen, ganze Kompanien hatte man gefangengenommen, es war alles so schnell gegangen, und anfangs waren sie noch einigermaßen gesund, wohlgenährt gewesen, aber je tiefer man in das riesige Land eindrang, um so erbärmlicher sahen die Gestalten aus, die man dort überrollte und wie die Hasen zur Strecke brachte. Wie die Hasen? Hatte man sie denn erlegt? Von den Toten am Wegrand, den verkohlten Leichen neben den zerschossenen Panzern kein Wort. Auf einem Feld hinter Lemberg war gleich zu Beginn des Rußlandfeldzuges sein bester Kamerad gefallen, und das hatte er nie verwunden. Von da an wuchs ihm eine dicke Haut, und er ging durch den Krieg, wie er tagaus, tagein über das Gelände des Schlachthofs gegangen war. Erwähnt wurden dann nur noch die Massen an Technikschrott und daß man beim Vormarsch überall zerstörtes Kriegsgerät vorfand, zerfetzte Haubitzen, Flugzeugwracks. Der Russe zieht sich zurück, hieß es, und bald sind wir in Moskau. Drastische Schilderungen von der Läuseplage in den Stellungen, vom Sauwetter in den Wald- und Sumpfgebieten, vom schweren Vorankommen im Schlamm, in dem die Pferde des Versorgungstrupps steckenblieben, ersetzten das Schreckliche, das man den Zivilisten (und zu denen gehörte sie jetzt) niemals erklären könne. Wovon er schwieg, das begriff sie, mußte so blutig gewesen sein, daß es nicht mehr ins Damenprogramm paßte.
Ein Foto vom Truppenübungsplatz Dresden-Neustadt zeigt ihn hoch zu Roß. Ganz altmodisch war er, als Kavallerist, in den Krieg gezogen. Beim Betrachten des Bildes fallen einem die polnischen Ulanenregimenter ein, die im September 1939 deutschen Panzern vergeblich entgegenstürmten wie die Ritter im Mittelalter. Heeresgruppe Mitte geisterte von nun an oft durch die Rundfunkmeldungen, der Militärjargon griff auf den Alltag über. Heeresgruppe Mitte vorgestoßen, Heeresgruppe Mitte im Durchbruch, Heeresgruppe Mitte vor Moskau aufgehalten. Aber Moskau war nichts als ein Name für die orientalische Burg, den Kreml, in der Stalin, eben noch ein Verbündeter Deutschlands, sich verschanzte. Das Wunder, daß man nun an der Seite Rußlands stand, den Pakt mit den Bolschewisten, die doch der Erzfeind waren, der Teufel in Gestalt des Kommunismus, hatte sie nie vergessen, weil er ihr so widersinnig erschien und alles lächerlich machte, was bis dahin als hoch und heilig galt. Nun aber ging es um die Eroberung des Ostens, Barbarossa war das barbarische Codewort, im Radio von Wagner-Musik untermalt. Die Zitadellen des Bolschewismus hießen jetzt Leningrad, später Stalingrad. Sicher, das waren die Führer, die so viel Unheil gebracht hatten über die Welt, die man bekämpfen mußte, wenn auch der eine längst tot war und der andere längst verstummt. Aber plötzlich war vom Kälteeinbruch die Rede, von Temperaturen um die zwanzig Grad minus. Heimlich ging das, und heimlich lief das Geflüster um über die Winterausstattung der Wehrmacht – kein Problem, wie der Führer persönlich versicherte. Aber schon waren auch die Pessimisten zur Stelle, die wußten es besser. Sie sah Oskar noch vor sich, in seiner Uniform, die sie selbst gewaschen hatte, konzentriert, als es wieder losging, während irgendwelche Vorgesetzten auf einem Nebengleis Kommandos brüllten, aber er war jetzt ein erfahrener Soldat, das ging ihn alles nichts an. Standhaft hatten sie diese Abschiedsszene gemeistert, und sie war für einen Moment beruhigt im Gedanken daran, wie lässig er seinerzeit aus Frankreich heimgekehrt war, ohne einen Kratzer. Filmreif hatte er ihr zugewinkt, stolz auf seine Töchter, die sehr gefaßt waren, Gisela mit den schwarzen Zöpfen, die steifbeinig, scheu wie ein Reh am Bahnsteig stand, und Rosi, die sie ihm zuletzt noch am Zugfenster entgegenhielt. Er hatte ihr aufgetragen, sich gelegentlich im Schlachthof zu zeigen, mit den Kollegen war alles abgesprochen. Seitdem war sie regelmäßig mit dem Kinderwagen zum Werkstor gelaufen und hatte die Fleischrationen entgegengenommen, direkt an der Quelle.
Nun aber machte das Gerücht von den Erfrierungen die Runde, von amputierten Fingern und Zehen, und sie fing an, sich Sorgen zu machen. Einmal war ein Kollege vom Schlachthof gekommen, Fronturlauber, stand vor der Tür und brachte Entwarnung: Oskar gehe es gut, unserem Pfiffikus, der weiß sich zu helfen und ist immer da für die Kameraden aus seiner Truppe. Das kannte sie schon, selbst im Krieg machte er also Überstunden. Dann kam der Frühling und mit ihm wieder ein Hoffnungsschimmer: Er schrieb etwas von Urlaub, Feldpoststempel Charkow, das lag in der Ukraine. Beim letzten Mal hatte er ihr den Atlas aufgeschlagen und die Route der Bewegungen seiner Truppe nachgezeichnet, den Atlas sollte sie stets zu Rate ziehen und mit dem Zeigefinger nachfahren, das würde sie beide verbinden. Doch dann verlor sich die Spur wieder, und sie blieb Monate ohne Nachricht von ihm. Es begann die Zeit, in der sie immer öfter Heiraten annonciert sah, Blitzheiraten junger Frauen mit den Soldaten dort draußen an den Fronten, auch im Bekanntenkreis gab es solche Fälle. »Für die uns anläßlich unserer Vermählung erwiesene Aufmerksamkeit senden wir herzlichen Dank.«
Frauenfreundschaften ergaben sich, aus der Not geboren, Feldpostkarten wurden herumgereicht. »Von meiner Ostreise die herzlichsten Grüße! Bin heute in Winniza angelangt, werde morgen den Rest meiner Fahrt machen, dann endlich am Ziel.« Abgeschickt am Bahnhof Schepetowka – wie fremd das klang. Von allen Frontabschnitten trafen Söhne und Väter ein, nur er war lange nicht dabei. »Als Koch«, schrieb er einmal, »das kannst Du Dir vorstellen, bin ich hier unabkömmlich.« Aber dieses hier, wo sollte das sein? Mach Dir keine Sorgen, mir geht es gut. Es war immer dasselbe, was diese Krieger von der Front schrieben, immer nur Nichtssagendes, Beruhigendes, als hätte ihnen eine höhere Macht die Hand geführt und die Zeilen diktiert. Als würden sie nun bereits aus einem Jenseits schreiben, das sich keiner daheim vorstellen konnte in seinen blutgetränkten Ausläufern. Sie wußte nur, er war nun dort im Unbestimmten, das der Heeresbericht mit immer neuen Ortsnamen erwähnte, draußen in den unendlichen Weiten Rußlands, die sie allenfalls aus Büchern kannte, aber sicher nicht aus den Romanen Tolstois und Turgenjews.
Damals muß sie verstanden haben, daß sie nun in der Falle saß, Mutter zweier kleiner Kinder, Nichtverdienerin, Soldatenfrau, und wie die großen Epiker es ihren Heldinnen zugestanden, wird sie erschüttert begriffen haben: Das ist also mein Leben. Sie war, bei aller Schlichtheit, ein Mensch, der zu Betrachtungen neigte. Zog gern Bilanz aus dem, was ihr widerfahren war, schrieb auf Zetteln, die sie bald wieder verlor, den täglichen Kleinkram auf. Und schnell hatte sie sich eingerichtet in ihrem Nest in der Liliengasse in Dresden, im Alleinsein mit den Kindern. Und ging sogar wieder aus. Leider waren Tanzveranstaltungen mittlerweile verboten worden. So blieben nur die Cafés, in denen sie auf Frauen traf, die in derselben Lage waren wie sie. Man erkannte sich an der Kleidung, sie hielt immer darauf, sich adrett zu kleiden, niemand sollte mehr das Mädchen vom Lande in ihr sehen. Sie hatte den Sprung aus dem Erdendunkel geschafft, war nun auf sich gestellt in der großen Stadt, wenn sie auch immer noch jeden Groschen umdrehen mußte. Man erkannte sich an gewissen Gesten, an der Art, sich vertraulich über den Tisch zu beugen, an dieser Aura von Einsamkeit, die eine Soldatenfrau umgab. Und prüfte einander: Wer hatte, irgendwo da draußen auf dem Kriegsschauplatz, den Mann, den Bruder, Onkel oder den Sohn in der Gefahrenzone? Es genügte, wenn eine elegante Dame in einem der Cafés unter den Altmarktarkaden, schick herausgeputzt im leichten Sommerkleid, mit Tirolerhut, am Nachbartisch einen schneidigen Herrn im Waffenrock beim Cognac um Feuer bat, daß sie sich abwenden mußte. Szenen wie diese gaben ihr einen Stich ins Herz.
Vom Tod Kaiser Wilhelms in seinem kleinen Schloß im holländischen Exil erfuhr sie in einer Nebenmeldung. Es gab nun nichts mehr, woran man sich halten konnte. Die Zeit war aus den Fugen, Deutschland an so vielen Fronten gebunden, alle hatten den Überblick verloren. In ihrer kleinen Welt, mühsam geordnet, begann mit dem Chaos da draußen eine seltsame Gleichgültigkeit um sich zu greifen. Gerüchte schwirrten umher, die auch der Volksempfänger, das in alle Hinterhöfe plärrende Radiogerät, nicht einholen konnte. Einmal, als sie von der Fischhalle in der Webergasse kam und den Ring entlangging, sah sie viel Volk um eine Säule an der Ecke zur Prager Straße versammelt und hörte Fetzen der Goebbels-Rede, in der die Rußlandoffensive verkündet wurde. Sie erinnerte sich an den pastoralen Ton, der abgehackt auf die Menge herunterprasselte. »In diesem Augenblick vollzieht sich ein Aufmarsch, der in Ausdehnung und Umfang der größte ist, den die Welt bisher gesehen hat.«
In Dresden war von dem welthistorischen Schritt kaum etwas zu spüren. In der Kunststadt ging das Leben seinen gewohnten heiteren Gang, die Stimmung allgemein: siegeszuversichtlich. Dabei ahnte sie, daß sich da etwas zusammenbraute, etwas Fürchterliches auf sie alle zukommen würde. Lebendig war sie wie wenige in ihrer Umgebung, impulsiv, oft grundlos fröhlich und dann wieder zu Tränen gerührt, Pionierin des Augenblicks. Worum ging es denn? Darum, die täglichen Aufgaben zu meistern, dafür gab es Routinen: die Wäsche bügeln, Eintopf kochen, den Haushalt ordnen, eine gute Mutter sein, jemand, dem keiner zu nahe trat, weil er seinen Alltag unauffällig bewältigte. Es war das einzige Feld, auf dem sie sich wirklich behaupten konnte in ihrer immer neugierigen, jeder Situation gewachsenen, perfekten Fasson. Was für ein Wort, aber es traf ihre Lebensart. Denn auf die Form – Kleidung, Frisur, Haltung, im ganzen die Selbstbeherrschung – war sie immer bedacht. Schönheitspflege mit Puder und Hautcreme (Khasana), sich schön machen ohne Extravaganz, zu jeder Jahreszeit das Passende tragen, auch wenn sie nur auf den Markt ging und keinem Mann mehr gefallen mußte, begriff sie als Pflicht. Sie orientierte sich an der Mode der Zeit, ließ sich von Zeitschriften wie Die Dame oder die neue Linie anregen und kaufte von ihren Ersparnissen Unterwäsche, in der sie sich weiblich fühlte (die der Venus-Werke in Chemnitz). Es war nicht einfach, mit den feinen Damen Schritt zu halten, untersetzt wie sie war mit ihren kräftigen Hüften. Das meiste zauberte sie selbst an der Nähmaschine, da war sie Virtuosin wie andere am Klavier. Kleider mußten knapp die Knie bedecken, an den Blusen war ein Spitzenkragen angebracht oder die Schleife, ohne Hut und Handtasche ging sie nicht auf die Straße. Die Frage des Lippenstifts – meistens kam sie ohne ihn aus, scherte sich aber nicht um Kampagnen, wie die deutsche Frau auszusehen habe, natürlich und ungeschminkt. Gelegentlich trug sie Handschuhe, nur für echten Schmuck fehlte das Geld.
Und plötzlich war er wieder da, auf Fronturlaub. Und wurde doch jedesmal schweigsamer. Alles mußte man ihm aus der Nase ziehen: Von Requirierungen war die Rede und wie man den armen Bauern die Schweine und das Geflügel abnahm und sie immer schon mit erhobenen Händen vor ihren erbärmlichen Hütten standen, unschöne Szenen. Er erwähnte die kleiner werdenden Fleischrationen, sprach von Rinderhälften, tiefgefroren, schon ergraut, die man in einer größeren Stadt erbeutet hatte. Davon, wie er den Fraß mühsam im Kessel auftauen mußte, und von der gnadenlosen sibirischen Kälte. Das meiste verschwieg er. Daß dies kein normaler Krieg mehr war, kein Sonntagsspaziergang wie der nach Paris, hatte sie ohnedies begriffen. Und sich erinnert, wie eifersüchtig sie damals gewesen war, er könnte sich eine der schönen Französinnen anlachen, irgendein leichtes Mädchen auf den Pariser Boulevards, die selbst schon eine Verführung waren. Das Paket mit den Strumpfhosen, die er ihr damals geschickt hatte, hätte ein verstecktes Zeichen sein können. Sie hatte sie extra für ihn angezogen, als der Feldzug endlich vorbei war, und dem Krieger sein Lieblingsessen zubereitet, Kalbshachse mit Kartoffelbrei, damit er sich nach dem letzten Bier wie ein Ochse auf sie stürzen konnte, der »wilde Oskar«, wie seine Schlachterkollegen ihn nannten.
Schon gar nichts erzählte er von den Grausamkeiten, die auch ihn erschreckten, wie sie aus Andeutungen wußte. Von Erschießungen hinter der Front, in irgendwelchen Waldstücken, vom kurzen Prozeß, den auch Wehrmachtsangehörige mit den ortsansässigen Juden, potentiellen Partisanen, machten. Da draußen im Osten geschah etwas Ungeheuerliches, nach menschlichen Maßstäben Unfaßbares, auch wenn sie im friedlichen Dresden, wo die Besucher noch immer entspannt über die Brühlsche Terrasse spazierten, so taten, als sei das alles nur Greuelpropaganda. Sie hätte gern mehr von den einfachen Leuten gehört, Zivilisten wie sie, die dort drüben vor der Dampfwalze aus Panzern, Haubitzen und den teuflischen Flammenwerfern flohen, die ihr in der Wochenschau vorgeführt wurden, vom Alltag der Zivilbevölkerung unter der Besatzung. Das waren doch alles wehrlose Menschen, und sie versuchte sich vorzustellen, wie die vorrückenden Truppen in ihren Dörfern wüteten, wenn es keine Regeln mehr gab. Lieber erzählte er ihr vom Versagen der Technik »in dieser Scheißkälte«, hielt sich mit Details auf, irgendwelchen Gummidichtungen, die verschleißen konnten, Zündern, die versagten, erzählte von Motoren, die überm Feuer angewärmt werden mußten, um die Fahrzeuge wieder in Gang zu bringen. Erst wenn er in Stimmung war, nach ein paar Gläsern Wodka, den er neuerdings trank, ließ er etwas von der überwältigenden russischen Landschaft durchblicken, den sagenhaften Wäldern und Sümpfen, in denen der Einzelne zu einem Regenwurm schrumpfte, der sich am liebsten in der Erde verkrochen hätte.
Es beruhigte sie zu wissen, daß sein Posten die Feldküche war, die Betreuung der Gulaschkanone, und daß er meistens damit beschäftigt war, den Nachschub an Lebensmitteln zu verwalten, das requirierte Fleisch zu verarbeiten, ganz so, als wäre das Kriegshandwerk nur die Fortsetzung seiner Arbeit zu Hause im Schlachthof. Ins Gefecht hinausgeschickt wurden immer die anderen. Ich bin nur der Maître de cuisine, sagte er nicht ohne Stolz – ein Wort, das er aus Frankreich heimgebracht hatte. Als Chefkoch, beruhigte er sie, halte er sich in den rückwärtigen Räumen auf, immer nah am Verbandsplatz, in den Quartieren der Truppe und jedenfalls weitab vom Schuß. Von den Plünderungen russischer Dörfer, von Frauen, die ihnen dort in die Hände fielen und die man natürlich schonend behandelte, man brauchte sie ja zum Melken der Kühe, zum Erbsenlesen (wie Aschenputtel), allenfalls Andeutungen. Und nichts von den schaurigen Verletzungen mancher Kameraden. Die aber sah sie dann nach und nach auf den Straßen Dresdens und einmal in voller Härte, als sie dazukam, wie ein Lazarettzug im Hauptbahnhof einfuhr und lauter Schwerverwundete auf ihren Bahren ausgeladen wurden. Wie robust doch der Mensch war. Tatsächlich: Wie ein Regenwurm kroch er immer wieder aus dem Schlachten hervor, verstümmelt, von Kopf bis Fuß in Verbände gewickelt, die Arme und Beine geschient, Menschenkörper in grotesker Versteifung. Sie fragte sich, wie einer das aushielt, ohne verrückt zu werden inmitten des Elends, nur mit dem nackten Leben davongekommen zu sein. Als Kriegsuntauglicher zu enden, aber so, daß man immer noch weiterkriechen konnte mit Arm- und Beinprothesen, galt schon als Lottogewinn für den einfachen Mann. Das Kürzel u. k. machte die Runde, zwei Buchstaben, von denen der gemeine Frontsoldat nur träumen konnte. Das betraf Leute, die ihre Arbeitsstelle behielten, weil sie als kriegswichtig eingestuft wurden für den Dienst an der Heimatfront – Privilegien, wohin man sah.
Dann kam Stalingrad, und Stalingrad, ein Ort, der von Anfang an nichts Gutes verhieß mit seinem stählernen Namen, galt nach lang anhaltenden Kämpfen plötzlich als verloren. Sie erinnerte sich, wie eine Bekannte aus der Neustadt, Schneiderin in einer Privatfirma an der Königsbrücker Straße, unweit der Schauburg, einem Filmtheater, in das sie mit Trude hin und wieder ausging, ihr von einem Kunden erzählte, der dort im Atelier erschienen war, zum Maßnehmen für seine Offiziersuniform. Stell dir vor, wer neulich hereingeschneit kam. Ein gutsituierter Herr, auffallend höflich, ganz anders als die meisten unserer Kunden, diese eitlen Fasane von der Partei, die immer eine große Welle machen, als müßten sie mit dem dicken Göring persönlich konkurrieren. Und wer war das?
»General Paulus, der Ritterkreuzträger.«
Sie hatte Oskar davon berichtet, aber der hatte nur mit den Schultern gezuckt. Groß und klein, das trifft sich kaum, war seine Devise. Da hatte sie, von seiner Gleichgültigkeit enttäuscht, etwas begriffen von den Sphären, die sich selten berührten, und wenn, dann nur in Zufallsmomenten, die wenig bedeuteten. In den Illustrierten, die sie am Kiosk aufgereiht sah, mochten solche Begegnungen stattfinden, im Kino kamen sie öfter vor als im gewöhnlichen Leben. Die junge Dame war so ein Blatt – dort, auf den bunten Seiten, konnte ein modisches Kleid, eine schmucke Frisur, der teure Hut Herzen öffnen bei einer Plauderei im Café, den Ritterkreuzträger zum Schmelzen bringen. In ihrer Welt gab es die Wunder nicht, von denen die Schlager raunten.
Die wenigen kostbaren Urlaubstage wurden vor allem zum Kochen genutzt, zu intensiver Körperpflege. Zum Wundenlecken, wie er das in seinen seltenen Anfällen von Ironie nannte. Oder man machte mit den Töchtern Ausflüge an die Elbwiesen und in den Großen Garten: Rosi im Kinderwagen, Giselas erste Laufversuche, der Anschein von Normalität eines Ehelebens fast so wie vor dem Krieg. Aufpassen mußten sie nur, daß nicht wieder etwas passierte. Zwei Kinder waren genug, man kam schon so kaum über die Runden, wenn der Ernährer zu Hause fehlte. Denn schon war er wieder fort, hinausgefegt vom Sturmwind, als der ihr der Krieg in all seiner Unberechenbarkeit immer erschien. Und dann – war die Verbindung abgebrochen, und sie hatte nichts mehr von ihm gehört. Man mußte keine Feindsender hören, auch so breiteten sich die Nachrichten, die schlechten zumal, in Windeseile aus. Auch der Laie begriff, daß es von nun an anders kam. Daß das Glück sich gewendet hatte und die Walze auf die Heimat zurollte, teilte sich allen mit.
Er war nun unerreichbar, war dort – auf der anderen Seite, bei den Mongolenhorden. Und das konnte vieles heißen: entweder gefangen in irgendeinem Lager, von Hunger und Typhus bedroht oder schlimmer noch – aber den Gedanken ließ sie nicht zu – gefallen. Den abscheulichen Euphemismus, der ihr nun täglich aus den Todesanzeigen entgegenschlug, fand sie immer besonders perfid. Als wäre das alles nur eine einzige große Ernte. Die Sache mit den Äpfeln … Zinnsoldaten fielen, von Knabenhand gefällt, aber doch nicht Menschen. Sie sackten zusammen, wenn eine Patrone das weiche Körpergewebe durchschlug, und schrien noch lange in ihren verrenkten Posen, während das Blut im Rhythmus des Herzschlags aus ihnen heraussprudelte. Daß Oskar lebte, unbedingt überleben würde, dessen sei sie sich jederzeit sicher gewesen, sagte sie später gern. So sicher, daß sie auch von den Horoskopen nichts wissen wollte, die Trude manchmal anschleppte, wenn man sich über die Zeitungen beugte, um den Gang der Ereignisse zu deuten. Das Naturkind aus den schlesischen Dörfern hatte seinen eigenen positiven Aberglauben, von dem niemand es abbringen konnte.
Im Grunde war sie immer das Kind vom Lande geblieben, die Ziegenhirtin, die aus Platzmangel manchmal bei den Tieren schlafen mußte. Ein starker Überlebenswille bei aller Traurigkeit, das Gefühl, mit den Naturkräften im Bunde zu sein, jederzeit aufbrechen zu können, auch wenn das Leben manchmal fast aussichtslos schien. Genau wie Oskar, der auf einem Bauernhof aufgewachsen war, nah beim Vieh, mit dem er von früh an vertraut war, vor allem mit den Pferden, die er zuerst als Zugtiere kennengelernt hatte. Daß er auch reiten konnte, erfuhr sie erst später. Aber er konnte es, und wie ein Reiter aus der Eisenzeit saß er in seiner ersten Uniform nach der Einberufung in die Dresdner Albertkaserne im Sattel, und sie bewunderte ihn staunend und dachte, wie wenig sie ihn doch kannte. Die Feldwirtschaft, der Segen der Erde, auch die Erfahrung des Hungers, das war etwas, das sie beide ohne viele Worte vereinte. Wie sehr sie mit der Welt des Landlebens verbunden geblieben war, auch noch als Städtebewohnerin, begriff ich erst beim Lesen der Romane Hamsuns, die in ihrem spärlich bestückten Bücherregal einen prominenten Platz einnahmen.
Oskar hatte sie nach Dresden gezogen, weg von der Kindheitserde, und dort wollte sie auf ihn warten. So wie sie immer gewartet hatte, von dem Moment an, als er ihr begegnet war. Mit Oskar, dem zukünftigen Schlachtermeister, dem sie versprochen war, seitdem die beiden sich in der schlesischen Heimat über den Weg gelaufen waren (das war ihr Ausdruck), begann das fleischliche Leben unter den Fleischern, der Weg allen Fleisches, von dem schon die Bibel kündete: Da sah Gott auf die Erde, und siehe, sie war verderbt, denn alles Fleisch hatte seinen Weg verderbt auf Erden. Das blutige Schlachterhandwerk war eine der sicheren Konstanten in ihrem Leben. Und es war, das wußte sie, Männersache, im Frieden wie im Krieg, immer wurde geschlachtet.
Geboren war sie in Riemberg, einem Dorf aus wenigen Fachwerkhäusern, windschief und baufällig, im Kreis Goldberg-Haynau, Regierungsbezirk Liegnitz, Niederschlesien. Die meisten der Anwohner waren landwirtschaftliche Arbeiter, keine Landwirte. In ärmlichen Verhältnissen, wie meine Mutter gern sagte. Gemeint war die Herkunft aus einer Großfamilie mit sechs Geschwistern. Doras Mutter war noch im Jahr der Geburt an der Spanischen Grippe gestorben, am Kindbettfieber, wie es lange hieß, die wahre Ursache erfuhr man erst später. Der Vater, alles andere als ein sanfter Mensch, jähzornig und ungerecht gegen die Kinder, ein Bauer mit treffsicherer Hand, war einer, von dem man sich besser fernhielt. Den Fluchtimpuls hatte sie früh verinnerlicht, sie wollte nur weg aus der ländlichen, hinaus in die zivilisierte Welt. Der Mann ihrer Träume sollte sie retten, aus dem Elend erlösen, in dem eine Stiefmutter regierte, die männlichen Nachkommen bevorzugt wurden und allerlei zwielichtige Onkel und Großonkel einem bei mancher Gelegenheit auf die Pelle rückten. Bald hatte der Patriarch, Besitzer einer kleinen Ziegenherde, den sie im Ort den Ziegen-Kraus nannten, sich wieder verheiratet. Seine zweite Frau, »ein echtes Rabenaas«, böswillig, nur auf den Vorteil der eigenen Kinder bedacht, hatte zwei weitere Geschwister mit in die Ehe gebracht. Ihrem Ehrgeiz war es zu verdanken, daß man das Dorf mit den Fachwerkhäusern hinter sich ließ, die elende Bauernwirtschaft, vor der Dora, die Kleinste in der Kinderschar, sich oft in die Wäldchen und Wiesen verdrückte. Ihre Erinnerungen kreisten immer um die versteckten Freuden des Landlebens. Wilde Blaubeeren finden, ein Rehkitz im Feld (nicht berühren!), Schmetterlinge beim Auf- und Zuklappen ihrer Flügel beobachten, die Lerchen im Himmelsblau, keinem Wesen etwas zuleide tun, schauen, nur schauen. Es war in einer Art Märchensprache, wenn sie davon erzählte: vom Beeren- und Pilzesammeln in den Waldstücken, vom Heilkräuterpflücken (darunter den Bärlapp – die Sporen konnte man ins Feuer blasen, das ergab leuchtende Funken, daß es krachte und knisterte). Von der Heuernte im Sommer, der kleine Mädchenkörper geborgen unter der hohen Ladung auf dem Pferdeanhänger. Von den Ritterkämpfen mit Heugabeln und der Jagd nach dem Brennholz, den Glücksmomenten, Arme voller Maiglöckchen und Immortellen, von den nassen Staketenzäunen im Herbst, durch die man zum Kartoffelklauen hindurchkriechen mußte. In mancher Winternacht die Furcht vor den Kürbissen, in denen kleine Kerzen flackerten, die stille Bitte, der Schneeman mit der Karottennase, das graue Gespenst auf dem Feld, möge einen auf dem Heimweg beschützen. Im Sommer blieben die Pferdefuhrwerke auf den Sandwegen stecken, im Winter lag der Schnee oft so hoch, daß kein Durchkommen war. Flucht vor den falschen Brüdern, die ihr das Kleid über den Kopf zogen und sie bedrängten, Versteckenspielen in den Winkeln des Hofes und dann das Ziegenhüten zu jeder Jahreszeit, das sie oft freiwillig übernahm. Da war sie ungestört und mit sich allein wie die Gänsehirtin im Märchen. Die bäuerliche Wirtschaft hielt die Familie kaum über Wasser. Der schlechte Ruf des Vaters, von dem bekannt war, daß er sein Geld in den Dorfkneipen vertrank, Scham über die kargen Verhältnisse, Hunger mitunter, und dann gab es wieder nur Linsensuppe oder Möhreneinerlei, im Winter die eingelegten Eier. Der verwahrloste Hof war einer der kleinsten im Ort, das einzige Kapital waren die Ziegen und was daraus zu erwirtschaften war, die Ziegenmilch, der Käse, die Zicklein, die schnell verkauft werden mußten. Das Geschäft warf nicht viel ab, nie kam man auf den grünen Zweig. Umgeben war das Dorf von ähnlich kläglichen Nestern, die Namen wie Kosendau trugen, Lausrug, Kroitsch, bei dem das Kind an Kröten dachte, oder Röchlitz, das so fürchterlich nach Verröcheln klang. Birken von hier bis weit über Polen hinaus ins tiefste Rußland, Lindenalleen, Chausseen, Chausseen, die über Land führten mit weiteren Ortschaften, die meistens nur aus einer Ansammlung von Häusern entlang der Straße bestanden. Nur wenige Kilometer hinter dem letzten Zaun lockte die Bahnstrecke Breslau–Wien hinaus in die große weite Welt.
Der Sumpf der Sippe, das war eine Art Urgrund aus blutigem Boden, bodenverhaftetem Blut – die bekannte Formel wurde erst später geläufig, da waren die meisten der Bauern schon lange entwurzelt, aber man selbst sollte jetzt zu den Ariern gehören, einer den Juden, die als wurzellos galten, überlegenen Rasse. Dieses Blut stellte sie sich wie den grausigen roten Sud vor, sie hatte ihn beim Schweineschlachten gesehen, wie er in den Bottich floß, und man mußte rühren, schnell umrühren, damit das Blut nicht gerann. Den Boden kannte sie nur als Abgrund, feuchte Ackerkrume, unter Mühen fruchtbar gehaltenes Land, und wenn die Bauern nachdachten, wußten sie, daß ihr Elend nicht von den Juden kam. Das waren genau solche Habenichtse wie sie, die über die Dörfer zogen mit allem, was sich verhökern ließ, Geschirr und Teppichen, billigem Flitter, allerlei Zeug, das wegen des chronischen Geldmangels selten seine Abnehmer fand.
Ein Kind landloser Eltern ist die Großmutter gewesen, das waren die Ärmsten der Armen, Leute, die sich mit Feldwirtschaft bei den Großbauern verdingten (die Männer) und sich in Heimarbeit für die Abnehmer der Webstuhlproduktion krummlegten (die Frauen). Die Kinder besuchten die Dorfschule, lernten dort das Einmaleins und zumindest das Schreiben, wenn sie nicht frühzeitig aus der Schule genommen wurden, weil man sie auf den Höfen brauchte. Für die meisten war es vorgezeichnet, daß man sie bald aus dem Nest stieß. In den Erzählungen war viel vom Melken die Rede, die Ziegen mußten gemolken werden, die Kühe, früh am Morgen, bevor es zur Schule ging, auch von der Rübenernte nach Schulschluß, »mit bloßen Händen«. Die Fingernägel wurden von der fetten, feuchten Ackererde so schmutzig, daß man sie unter der Bank versteckte, wenn der Lehrer die Hefte kontrollierte. Dora erwähnte auch gern den großen See, an den es von Riemberg aus manchmal zum Baden ging, wenn man freihatte. Einmal war dort eine Frau ertrunken, die Leiche fand man nach Tagen im Schilfgestrüpp. Die Hechte, hieß es, hatten ihr das Gesicht zerfressen. Oder sie sprach von dem Dorfteich, um den die Kinder immer einen großen Bogen machten, aus Furcht vor den angriffslustigen Gänsen. Einmal war sie von einer Gänsemutter attackiert worden, die hatte sie in die Wade gebissen und dabei gezischt wie die Kreuzotter, vor der man sich gruselte. Dabei hatte kaum einer je die scheue Kreuzotter mit eigenen Augen gesehen.
Bei uns gab es wenig zu lachen, sagte sie gern. Wir waren die Bauern mit den kleinsten Kartoffeln. Dabei konnte sie Tränen lachen und dann plötzlich weinen, übergangslos, das eine trat aus dem anderen hervor wie die schwarzen Wolken aus blauen Himmeln. Eine harte Kindheit, ständig mußte man auf der Hut sein vor dem Gezänk und den Prügeln. Immerfort wurde man für irgend etwas bestraft, auch bei erwiesener Unschuld, aber die Ungerechtigkeit nahm man wie ein Naturgesetz hin. Das stählte, man wurde robust. Aufwachsen in abgetragenen Kleidern, nichts für sich selbst besitzen, bis auf die einzige Puppe, aus Lumpen genäht, Trost bei Kummer und Krankheit (die schwere Mittelohrentzündung), die eines Tages im Ofen verschwand, und keiner hatte den Mut, dem verzweifelten Kind die Wahrheit zu sagen. Kein eigenes Zimmer, nur eine Kammer, in der die Geschwister schliefen, eng aneinandergeschmiegt. Barfußlaufen bis in den kalten November, es galt, die Schuhe zu schonen. Schön war das Ziegenhüten, das war ihr Glück gewesen, das einschläfernde Meckern der Tiere, das die endlosen Stunden zerhäckselte, in der Ferne Glockenläuten und um die Schläfen Bienengesumm. Endlose Sommertage, herrlich, wie man so ziellos umherschweifen konnte, die Tiere ließen einen in Ruhe, bis man sich erschöpft neben ihnen ins Gras fallen ließ, hypnotisiert von ihren starren Blicken, diesen Querstrich-Pupillen. Die erinnerten sie an die Schranken vorm Bahnübergang, magische Ziegenaugen, die einen, wenn man sich lange genug in sie versenkte, willenlos machten. Man war beinah eingeschlafen, da schleckten sie einem die nackten Fußsohlen ab, und man fiel durch die Zeiten und fand sich woanders wieder. Gern erzählte sie die grausige Legende von einer Foltermethode im Dreißigjährigen Krieg. Dem gefesselten Delinquenten wurde feuchtes Salz auf die Füße geschmiert, dann brachte man Ziegen herbei, und die Tiere leckten mit ihren rauhen Zungen so lange über die Hornhaut, bis der Arme vor Lachen umkam. Es hat sich schon einer totgelacht, lautete ein Familienspruch. Als Kind glaubte man solche Geschichten, die über Generationen vererbt wurden, Dora war nur die Überbringerin, ein wandelndes Kompendium, vollgestopft mit Bauernweisheiten und Kalenderregeln.
Merkwürdig war auch der Dorfpfarrer im Nachbarort, er ließ die Kindlein gern zu sich kommen. Dora war evangelisch getauft, und als kleinstes der Mädchen war sie dank ihrer Goldlöckchen auserwählt, an Weihnachten die Rolle des Engels beim Krippenspiel zu übernehmen. Von da an hatte der Pfarrer sie unter den anderen Kindern bevorzugt. Er hatte sie auch nach dem Gottesdienst noch zu sich bestellt und ihr sanft über das Köpfchen gestrichen. Immer habe er Süßigkeiten dabeigehabt und sie gestreichelt, sie hatte nie herausfinden können, was er eigentlich von ihr wollte.
Eines der größten Erlebnisse in früher Kindheit war ein Ausflug nach Liegnitz gewesen, einer Stadt wie aus den Bilderbüchern, mit vielen spitzen Kirchtürmen und einem ansehnlichen Schloß. Die berühmte Gartenbaustadt Liegnitz – Gugali war das Zauberwort, das sich ihr einprägte, da war sie sieben. Einen Vergnügungspark gab es dort, ein Palmenhaus, sogar einen künstlich beheizten Teich, auf dem riesige Seerosen blühten, eine tropische Art, Victoria regia, sowie indische Lotosblumen. Diese Wunder der Vegetation hat sie ein Leben lang nie vergessen können. Im Park mit den Wasserkünsten mußte sie lange gesucht werden, bis sie einer ihrer Brüder im Schatten einer Bananenstaude fand, selig verloren wie im brasilianischen Urwald, und es Schläge setzte. Da war sie wieder: Dorle, das schwarze Schaf, das sich von der Herde entfernt hatte. Unvergeßlich die Heimfahrt im Überlandbus später und das Schweigen auf den letzten Kilometern mit dem Fuhrwerk zurück ins heimische Dorf, als nur noch das Nicken der Pferdeköpfe sie tröstete und über ihnen der Sternenhimmel, den die anderen, in ihrem Grimm versunken, nicht sahen. Von da an stand ihr Entschluß fest, abzuhauen: hinaus in die Welt der Straßenbahnen und Leuchtspringbrunnen zu ziehen, den Hindenburgplätzen und den Kaufhäusern mit ihren nachts noch hell erleuchteten Schaufenstern entgegen. Einmal wollte auch sie den Zeppelin über einer der großen Städte schweben sehen. Das war es, was sie am meisten ersehnte.
Seit damals war ihr das Aufschauen zum Himmel zur festen Gewohnheit geworden, wenn sie sich unbeobachtet fühlte, das Betrachten der Wolken, minutenlang, wie sie vorüberzogen in tausendundeiner Form, Neugier auf alles, was sich da oben zusammenbraute. Von dorther kam meistens die Überraschung im täglichen Einerlei, kam der Wetterwechsel, der alles in Schwung hielt, auch der technische Fortschritt. Das Auftauchen eines Flugzeugs über den Dörfern war eine Sensation. Da oben mußte das Schicksal sichtbar werden. Anzeichen ließen sich, wenn man lange genug hinaufsah, im Himmelsblau finden. Tagsüber die stille Dramatik der stundenweise wechselnden Lichtverhältnisse, das Eindunkeln der Wolken, das den Regen ankündigte, der ihr, wenn er dann endlich losbrach, als Labsal erschien, ein Segen, der die schlimmen Momente der Kindheit vergessen ließ mit seinem alles verbindenden Rauschen.
Sie war elf, als die Familie den Weiler bei Riemberg verließ und in das nahe gelegene Goldberg umzog. Drei Jahre ging sie dort noch zur Volksschule. Es war die Zeit, als sie erstmals über den engen Horizont hinausblickte und die dörfliche Welt vergaß. Nun war die Blase geplatzt: frühe Mädchenfreundschaften, aber man durfte sich nicht verabreden. Nach Schulschluß mußte sie unverzüglich heimkommen, um im vielköpfigen Haushalt zu helfen. Die Stiefmutter diktierte eisern die Regeln, streng auf den Vorteil ihrer eigenen Brut bedacht. Und Vater Kraus, der oft abwesende, in Spirituosennebel gehüllte Mann, war zu schwach, in der Familie für Gerechtigkeit zu sorgen. Dumpfe Erinnungen an die Weihnachtszeit, selten konnte man sich einen Tannenbaum leisten, in den Notjahren allenfalls ein paar Zweige in einer Blechkanne, von Geschenken nur träumen, bis man schwarz wurde