Schätze finden statt Fehler suchen - Anja Cantzler - E-Book

Schätze finden statt Fehler suchen E-Book

Anja Cantzler

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Beschreibung

Herausforderndes Verhalten bringt pädagogische Fachkräfte an ihre Grenzen. Die Kinder selbst aber wollen nicht provozieren. Hinter ihrem gezeigten Verhalten steckt ein Bedürfnis, eine Not, ein guter Grund. Diesen zu ergründen und dabei ruhig und klar uzu bleiben, macht die Professionalität pädagogischer Fachkräfte aus. 12 Beispiele aus dem Kita-Alltag werden reflektiert, Hintergrundwissen vermittelt und Handlungsalternativen aufgezeigt.

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© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2023

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlagkonzeption und -gestaltung: Gestaltungssaal,

Rohrdorf bei Rosenheim

Satz: Sabine Hanel, Gestaltungssaal

Coverillustrationen: © Dzm1try – shutterstock, © pokki77 – shutterstock,

© redstone – shutterstock

Illustrationen im Innenteil: © Dzm1try – shutterstock,

© redstone – shutterstock, © Sabine Hanel - Gestaltungssaal

E-Book-Konvertierung: Konvertierer

ISBN (Print) 978-3-451-39666-3

ISBN EBook (EPUB) 978-3-451-82880-5

ISBN EBook (PDF) 978-3-451-82870-6

Inhalt

Einleitung

1 Auf die Haltung kommt es an

2 Kommunikation will gelernt sein

3 Der herausfordernde Weg zur Autonomie

4 Spielerische Aggression als Übungsfeld

5 Eine andere Form der Entschuldigung

6 Konflikte gehören zum sozialen Miteinander

7 Ein Hilferuf nach Co-Regulation

8 Angriff als Weg der Verteidigung

9 Der Wunsch nach Nähe und Autonomie in der Wackelzahnzeit

10 Mikrotransitionen überschaubar gestalten

11 Verweigerung als Schutz vor Überforderung

12 Wenn Kooperation nicht mehr geht

13 Die Schätze der Kinder zu finden heißt auch, zu sich selbst zu finden

Exkurs: Das innere Bild vom Kind als Schlüssel

Exkurs: Kratzen, Beißen, Hauen bei älteren Kindern

Exkurs: Wenn Kinder Krieg spielen

Exkurs: Mobbing im Kindergartenalter

Exkurs: Posttraumatische Belastungsreaktionen

Exkurs: Makrotransitionen

Exkurs: Die Wechselwirkung von Mikro- und Makrotransitionen

Exkurs: Warum Kinder weglaufen

Exkurs: Regeln – verordnet oder verhandelt?

Danke

Literatur

Einleitung

In der Praxis häufen sich die Stimmen, dass die Kinder immer schwieriger und immer auffälliger werden. Viele pädagogische Fachkräfte fühlen sich zunehmend überfordert; sie haben das Gefühl, nur noch wenig ausrichten zu können, und sind oftmals verunsichert, wie sie am besten mit den Verhaltensweisen der Kinder umgehen können. So kann leicht der Eindruck entstehen, die Kinder seien mitverantwortlich für die zunehmend schlechten Rahmenbedingungen in der Kinderbetreuung, oder zumindest deren Eltern, die ihr Kind zu früh in die Kita geben bzw. ihm einfach zu viel „durchgehen“ lassen.

Aber sind tatsächlich die Kinder so viel schwieriger geworden? Wodurch entsteht dieser Eindruck? Heißt es nicht: Bevor ein Kind Probleme macht, hat es welche?

Die aktuellen Rahmenbedingungen in der Kinderbetreuung lassen sich nicht wegdiskutieren und könnten bei Weitem besser sein. Auch hat sich die Welt, in der Kinder aufwachsen, im Vergleich zu vor 30 Jahren ziemlich verändert. Und dann haben die Ereignisse der letzten Jahre, wie zum Beispiel die Pandemie, ganz bestimmt ihr Übriges dazu getan, dass Kinder zunehmend durch ihr Verhalten darauf aufmerksam machen, dass die Rahmenbedingungen für sie gerade nicht ganz einfach sind und sie verständnisvolle Erwachsene an ihrer Seite brauchen, um das alles einordnen und damit angemessen umgehen zu können.

Worauf möchten uns die Kinder also aufmerksam machen? Was bereitet ihnen gerade Probleme, die sie alleine nicht bewältigen können? Welche Gründe stecken hinter dem oft für Fachkräfte kaum nachvollziehbaren Verhalten der Kinder?

Dieses Buch möchte pädagogische Fachkräfte dabei unterstützen, sich in die Erlebenswelt der Kinder hineinzubegeben und dadurch den eigenen Blickwinkel zu erweitern. Es geht darum, die Schätze, Kompetenzen und Ressourcen der Kinder zu entdecken und sich nicht an deren vermeintlichem Fehlverhalten aufzuhalten.

Gemeinsam geht es auf Schatzsuche – denn jedes Kind hat einen guten Grund für sein Verhalten. Dieser gute Grund ist wie ein verborgener Schatz, der uns den Glanz und die Schönheit der verschiedenen Lösungsansätze offenbart.

In jedem Kapitel wird eine typische Situation aus dem pädagogischen Alltag beschrieben, die immer wieder auch in meinen Seminaren thematisiert wird. Es handelt sich um Situationen, in den Fachkräfte nicht selten an ihre eigenen Grenzen stoßen. Diese Praxisbeispiele werden dann fachlich und wissenschaftlich analysiert, um die guten Gründe der Kinder herauszufinden. Ausgehend davon werden alternative Sicht- und Herangehensweisen angeregt.

Dabei geht es nicht darum, ein komplettes Rezept für den Umgang mit herausforderndem Verhalten anzubieten. Hier werden lediglich einzelne (wichtige) Zutaten vorgestellt. Jedes Kind ist einzigartig, und jede Situation ist immer ein bisschen anders. Und darauf sind die verschiedenen Methoden in diesem Buch ausgerichtet. Alle Anregungen und Impulse sind als Anschauungsbeispiele zu verstehen, die die einzelne Fachkraft in der Praxis dabei unterstützen sollen, die unterschiedlichen Verhaltensgründe der Kinder wahrzunehmen und darauf individuell zu reagieren.

1 „Bevor Kinder Probleme machen, haben sie welche“

Auf die Haltung kommt es an

Immer mehr pädagogische Fachkräfte äußern den Eindruck, dass die Zahl der Kinder mit herausforderndem Verhalten in den letzten Jahren stark zugenommen hat. Versucht man, diese Einschätzung mit wissenschaftlichen Studien zu untermauern, kommt man jedoch zu einem anderen Schluss. Demzufolge erweist sich die Anzahl seit 15 Jahren als mehr oder minder konstant hoch (vgl. nifbe 2022, S. 10ff.).

Und die Auswirkungen der Pandemie sind zur Zeit noch nicht absehbar. Erste Ergebnisse der „COPSY“-Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf lassen einen Anstieg der Belastungsreaktionen und psychischen Störungen „insbesondere bei Kindern aus sozial benachteiligten Verhältnissen und mit Migrationshintergrund“ (ebd., S. 11) vermuten. Eine Studie des Deutschen Jugendinstituts (DJI), die bereits im ersten Lockdown durchgeführt wurde, ergab einen Anstieg von circa zehn Prozent mehr Kindern mit herausforderndem Verhalten. Vermehrt haben sich in diesem Zusammenhang zum einen emotionale Probleme wie Traurigkeit und Niedergeschlagenheit, die sich bei Kindern in Form von Kopf- und Bauchschmerzen, Übelkeit und Ängstlichkeit äußern. Andere Kinder wiederum reagieren mit Hyperaktivität in Form von Unruhe, Überaktivität, Zappeligkeit, Unkonzentriertheit und hoher Ablenkbarkeit (ebd., S. 12).

Was genau ist unter herausforderndem Verhalten zu verstehen?

In den letzten Jahren haben viele Begrifflichkeiten Einzug in die pädagogische Praxis gehalten. Es wird von „grenzwertigem Verhalten“, „Verhaltensauffälligkeiten“, „herausforderndem Verhalten“, „Verhaltensoriginalität“, „Verhaltenskreativität“, „Problemverhalten“, „Schwierigkeiten“ oder auch von „Störungen“ gesprochen.

Bei genauer Betrachtung wird deutlich, dass – egal, welcher Begriff benutzt wird – das Verhalten eines Kindes immer dann als auffällig bzw. „nicht normal“ bezeichnet wird, wenn es außerhalb des Erwartungsrahmens der pädagogischen Fachkräfte liegt. Immer dann, wenn ein Kind zu laut, zu wild, zu zurückhaltend, zu frech ist oder sich nicht alters“typisch“ oder situationsangemessen verhält, fällt es aus dem Rahmen.

Als herausforderndes Verhalten werden alle kindlichen Verhaltensweisen bezeichnet, durch die sich pädagogische Fachkräfte im Alltag belastet, herausgefordert fühlen und die sie oftmals an die Grenzen ihrer individuellen und situationsabhängigen Handlungskompetenzen bringen.

Doch wer setzt diesen Rahmen und von welchen Kriterien wird dieser Rahmen schließlich mitbestimmt? Empfinden zwei Fachkräfte häufig das Verhalten ein und desselben Kindes nicht auch ganz unterschiedlich? Die eine beschwert sich über das anstrengende, laute und impulsgesteuerte Kind. Der andere erfreut sich an dem lebhaften, neugierigen Kind. Relativiert sich das Verhalten eines Kindes, das sich gerne viel bewegt, möglicherweise je nachdem, in welcher Situation es sich gerade befindet? So ist das Ausleben der Bewegungsfreude im engen Gruppenraum vielleicht weniger möglich und das Kind stößt hier schneller an Grenzen als draußen oder im Bewegungsraum, wo es seinen Aktivitäten freier nachkommen kann?

Dieses Buch möchte die Definition Kinder mit Verhaltensweisen, die die Fachkräfte in bestimmten Situationen herausfordern, etablieren. Denn damit wird der Fokus nicht mehr auf das Kind und sein vermeintliches Fehlverhalten gelegt, sondern es wird deutlich, dass sein Verhalten im Kontext einer bestimmten Situation und mit Blick auf die Beziehung zu einer anderen Person, die sich durch das Verhalten herausgefordert fühlt, näher zu betrachten ist.

„Es gibt kein Kind, das aus dem Rahmen fällt, wenn wir für das Kind einen geeigneten Rahmen entwickeln.“

(Klaus Kokemoor)

Das beinhaltet auch, dass die pädagogische Fachkraft die Aufgabe hat, genauer hinzuschauen, was und womit das Kind sie gerade besonders herausfordert. Es gilt zu ergründen, was das Kind ihr mit diesem Verhalten zeigen möchte und was sie als Fachkraft dazu beitragen kann, dass das Kind die Möglichkeit bekommt, sein Verhalten zu verändern.

Jedes Kind hat einen guten Grund

Jedes Verhalten, auch das, durch das sich eine Fachkraft herausgefordert fühlt, hat aus Sicht des Kindes immer einen guten Grund. Kein Kind verhält sich herausfordernd, um den Erwachsenen damit zu ärgern. Mit seinem Verhalten teilt es etwas über sich, seine Bedürfnisse und seine Geschichte mit.

Für die pädagogische Fachkraft besteht die Aufgabe darin, die positive Absicht dahinter zu erkennen und zu verstehen. Die Kernfrage besteht demzufolge aus dem „Wozu?“ und nicht dem „Warum?“. Was möchte das Kind durch sein Verhalten mitteilen? Was passt gerade für das Kind im Außen nicht, wodurch seine Bedürfnisse nicht berücksichtigt werden?

Mit diesem Ansatz ist das Verhalten eines Kindes immer als ein Verhalten für sich und seine Bedürfnisse zu verstehen und nicht als Verhalten gegen jemand anderes. Ein Kind, das ein anderes Kind schubst, möchte sicher nicht verletzen. Es möchte lediglich zum Ausdruck bringen, dass ihm das andere Kind gerade zu nahe gekommen ist, und mit dem Schubsen sein Bedürfnis nach Abstand verteidigen.

Es bedarf aufmerksamer und einfühlsamer Fachkräfte, die bereit sind, diese guten Gründe des Kindes zu entdecken, um so das Verhalten des Kindes besser einordnen und darauf eingehen zu können. Mit diesem verstehenden Zugang können Beschämung und Bloßstellung des Kindes vermieden werden.

Der gute Grund

Das Denkmodell des Guten Grundes basiert auf der Annahme, dass das Verhalten eines Kindes normalerweise nicht „böswillig“ gegen einen anderen gerichtet ist. Das Kind möchte niemanden verletzten oder ärgern, sondern in erster Linie die eigenen Bedürfnisse wahrgenommen und befriedigt wissen. Damit ergibt das Verhalten des Kindes aus dessen Sicht immer einen Sinn und fußt auf einer positiven Absicht für sich selbst. Der Lern- und Entwicklungsprozess für das Kind besteht darin, in Begleitung durch die Fachkräfte neue Wege kennenzulernen, um seine Absicht zu realisieren (vgl. Scherwath & Friedrich 2020, S. 67ff.).

Der gute Grund des Kindes ist ein wesentlicher Schlüssel zum Umdenken und zu veränderten Handlungsalternativen seitens der pädagogischen Fachkräfte. Gleichzeitig eröffnet diese Denkweise die Möglichkeit, dem Kind das Gefühl zu geben, es zu verstehen, ohne mit seinem Verhalten in dieser expliziten Situation einverstanden sein zu müssen (siehe Kapitel 2).

Der Unterschied zwischen Ursache und Auslöser

Bei der Suche nach dem guten Grund gilt es herauszufinden, welche Ursache das Verhalten des Kindes hat und wodurch es ausgelöst wird. In der Regel sind die Ursachen für ein Verhalten im Kind selbst zu verorten. Es handelt sich meist um Bedürfnisse, auf die das Kind mit seinem Verhalten aufmerksam macht. Bedürfnisse, die entweder von anderen Personen missachtet wurden, die das Kind sich gerade selbst nicht erfüllen kann oder die durch die äußeren Rahmenbedingungen begrenzt oder unterbunden werden. Zusätzlich gibt es einen Auslöser für das Verhalten des Kindes. Das ist ein Reiz im Außen, der entweder durch den äußeren Rahmen oder durch das Verhalten einer anderen Person auf das Kind einwirkt und so zu dem Verhalten führt, das dann als herausfordernd erlebt wird.

Abb. 1 · Auslöser und Ursachen

Das Herausfinden der einzelnen Ursachen erleichtert den verstehenden Zugang zum Verhalten des Kindes. Die Erkenntnis über einzelne Auslöser unterstützt die Fachkraft dabei, zu erkennen, welche Situationen insoweit verändert werden können, damit es gar nicht erst zu dem herausfordernden Verhalten kommen muss.

Zum wiederholten Mal kommt die zweijährige Emma nach dem Händewaschen am Mittag zurück in den Gruppenraum und beginnt zu weinen, als sie die Tür zum Schlafraum sieht. Die mittagsschlafbegleitende Fachkraft ist bereits im Raum. Petra, die zweite Fachkraft, räumt gerade auf und wischt die Tische ab.

Emma weigert sich, trotz der Aufforderung von Petra, alleine den Schlafraum zu betreten und weint weiter. Nach einer Weile unterbricht Petra ihre Tätigkeit, geht auf Emma zu und bietet ihr an, sie in den Schlafraum zu begleiten. Emma nimmt die ihr angebotene Hand, hört auf zu weinen und geht mit Petra in den Schlafraum. Dort nimmt die andere Fachkraft Emma in Empfang und Petra kann sich wieder ihrer vorherigen Tätigkeit zuwenden.

Schauen wir einmal genauer hin, können wir erkennen, dass der Auslöser für Emmas Verweigerung und Weinen die Anforderung war, den Schlafraum alleine ohne Begleitung zu betreten. Jeden Mittag war ihr diese Begleitung bis jetzt verwehrt worden, bevor die aufräumende Fachkraft ihr nun die entsprechende Unterstützung anbietet.

Betrachtet man parallel die Ursache für das Verhalten des Kindes, wird deutlich, dass Emma das Bedürfnis nach Nähe, Sicherheit und Orientierung hat. Dem kam Petra dadurch entgegen, dass sie Emma die Hand anbot und gemeinsam mit ihr in den Schlafraum ging, wo die andere Fachkraft dann die weitere Begleitung übernahm.

Bei der Ursachenforschung können die fünf psychischen Grundbedürfnisse eines Menschen herangezogen werden (vgl. Stahl 2015; Fröhlich-Gildhoff 2017):

1. Das Bedürfnis nach Nähe und Bindung → Nähe und Bindung sind grundlegend für das emotionale Wohlbefinden des Kindes. Sie bilden die Basis für ein Gefühl von Sicherheit, Vertrauenkönnen und Orientierung.

2. Das Bedürfnis nach Autonomie und Kontrolle → Hier geht es darum, dass das Kind seine Selbstwirksamkeit erfährt, indem es etwas mit seinem Willen bewirken kann. Es möchte eigene Entscheidungen treffen und sich von anderen abgrenzen dürfen.

3. Das Bedürfnis nach Exploration und Weltaneignung → Kinder möchten von Geburt an die Welt entdecken und herausfinden, wie die Menschen und die Umgebung um sie herum reagieren und funktionieren. Sie sind neugierig und wollen sich entwickeln. Durch die Auseinandersetzung mit ihrer Lebensumwelt und den Menschen in ihrer Umgebung wachsen sie in diese Welt hinein und lernen, in dieser Welt zurechtzukommen.

4. Das Bedürfnis nach Lustbefriedigung und Unlustvermeidung → Jedes Kind ist bestrebt, Lust zu gewinnen und Unlust zu vermeiden. Demzufolge sucht es seine Befriedigung in angenehmen Situationen und Beziehungen und versucht, Unangenehmes zu vermeiden. Mit der Zeit werden die Fähigkeit, die eigenen Bedürfnisse aufzuschieben, Frustrationstoleranz und Motivationsaufschub entwickelt.

5. Das Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung und Anerkennung → Jeder Mensch möchte als einzigartige Person anerkannt und gesehen werden.

Das kindliche Gehirn im Stressmodus

Oftmals entsteht bei Fachkräften der Eindruck, dass egal, was sie in der jeweiligen Situation zu dem Kind sagen und welche Handlungsalternativen sie ihm anbieten, es nicht anzukommen scheint. Die Beobachtungen und Beschreibungen laufen darauf hinaus, dass das Kind in seinem Verhaltensmuster verharrt und sich nichts ändert.

Um diese Situationen besser verstehen zu können, gilt es, sich das kindliche Gehirn und sein Funktionieren unter Stresseinwirkung einmal genauer anzuschauen. Unser Gehirn besteht, grob vereinfacht, aus drei wesentlichen Teilen, die im Wechselspiel miteinander stehen: das sensorische Gehirn (Stammhirn oder auch Reptiliengehirn), das emotionale Gehirn (limbisches System oder auch Säugetiergehirn) und das Denkhirn (Neokortex/Großhirnrinde oder auch Professorengehirn) (vgl. Helle & Flogstad 2020, S. 45; Krüger 2015a, S. 44ff.).

Abb. 2 · Schematische Darstellung des Gehirns

Das Sensorische Gehirn (Reptiliengehirn) ist der primitivste und älteste Teil unseres Gehirns. Es steuert die vitalen Funktionen wie Atmung und Herzschlag. Diese Vorgänge laufen automatisiert ab, sodass der Mensch nicht darüber nachdenken muss. Dieser Gehirnteil reagiert in Gefahrensituationen zum Beispiel automatisiert mit Flucht oder Angriff, was das Überleben der Menschheit bis heute gesichert hat und vermutlich noch lange sichern wird.

Das Emotionale Gehirn bzw. das Limbische System (Säugetiergehirn) ist für die Erinnerungen des Menschen und seine Emotionen von großer Bedeutung. Hier befindet sich die Amygdala, die für die emotionalen Reaktionen in den einzelnen Situationen eine große Rolle spielt. Als Alarmsystem des Körpers reagiert sie in besonders stressigen Situationen, bei Gefahren und traumatischen Erlebnissen, kommuniziert im Bruchteil einer Sekunde mit dem Sensorischen Gehirn und leitet damit eine Überlebensreaktion ein. Solange das limbische System im Zustand des emotionalen Wohlbefindens ist, reagiert das Kind offen, neugierig und zugewandt auf seine Umgebung. In dieser Verfasstheit ist es lernbereit, und Veränderungen sind möglich. Gerät das limbische System in Stresszustand, läuft das Überlebensprogramm ab. In diesem Zustand ist keine Veränderung möglich, es geht nur noch um Angriff oder Flucht. Sind beide Strategien nicht möglich, weil das Kind in eine ausweglose Situation gerät, dann bleibt ihm nur noch die Erstarrung.

Wenn nur Erstarrung bleibt

Zu einer Erstarrung (= Dissoziation) kommt es bei Erlebnissen, die als besonders bedrohlich, angstmachend und ausweglos empfunden werden. Sämtliche Erinnerungen an das Bedrohliche werden vom Bewusstsein abgespalten, sodass ein Zugriff darauf nicht willentlich möglich ist. Auf bestimmte Situationen zu einem späteren Zeitpunkt, die erneut als bedrohlich und ausweglos erlebt werden, reagiert das Kind dann ebenfalls mit Rückzug in sich selbst und Abwesenheit. In diesem Zustand ist das Kind nur schwer ansprechbar, bedarf jedoch der Regulation von außen, um wieder in die Gegenwart zurückkommen zu können (vgl. Stangl 2022).

Zum limbischen System gehört auch der sogenannte Hippocampus. Er speichert, sortiert und archiviert sämtliche Erfahrungen in den verschiedenen Teilen des menschlichen Gehirns. Der Hippocampus ermöglicht das Erinnern an bestimmte Erlebnisse und Erfahrungen. Dauerhafter Stress kann dazu führen, dass der Hippocampus schrumpft. Das kann Auswirkungen auf die Lern- und Veränderungsfähigkeit des Kindes haben. Auch hier wird deutlich, wie wichtig das emotionale Wohlbefinden für die Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten eines Kindes ist.

Das Denkhirn (Professorengehirn) ist die äußerste Schicht unseres Gehirns. Es ist zuständig für die Entwicklung von Sprache, abstraktem Denken, Vorstellungsvermögen und Bewusstsein. Im Gegensatz zum Sensorischen Gehirn und der Amygdala entwickelt sich das Denkhirn über viele Jahre hinweg und wird immer weiter ausgebaut. Impulskontrolle und Selbstregulation werden vom Denkgehirn gesteuert. Sie entwickeln sich im Laufe der ersten Lebensjahre durch die Erfahrungen mit und das Vorleben von anderen Kindern und Erwachsenen. Die endgültige Gehirnreife erlangt ein Mensch in der Regel erst mit rund 21 Jahren.

Solange das Denkhirn nicht vollständig ausgereift ist, kommt es gerade bei jüngeren Kindern (aber auch der Erwachsene ist davor nicht gefeit) dazu, dass die Amygdala das Kind mit Gefühlen überschüttet und es buchstäblich kidnappt. Dann verliert das Kind den Kontakt zu seinem Denkhirn, und es braucht einen Erwachsenen zur Co-Regulation und Stressreduktion. In solch einem Moment muss der Erwachsene der „Frontallappen und der Hippocampus des Kindes sein“ (Helle & Flugstadt 2020, S. 79).

Die Fachkraft ist für das Kind der Leuchtturm und nicht der Sturm.

Das Verhalten eines Kindes geht in der Regel nicht spurlos an der pädagogischen Fachkraft vorbei. Je nach Grundhaltung, Persönlichkeit und Tagesverfassung wird sie mehr oder minder einfühlsam darauf reagieren. Um dem Kind in diesen Situationen Halt, Orientierung und Sicherheit geben zu können, ist es wichtig, dass der Fachkraft gute Strategien zur Selbstregulation zur Verfügung stehen. Reagiert sie auf das herausfordernde Verhalten ge