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Der Autor verwendet einen neuartigen Ansatz, um das Schenken und seine Funktion in der Moderne zu interpretieren: Geschenke stellen Kommunikationsakte dar, die die Bedingung des Kommunikationserfolgs – die Erzwingung von Anschlussakten – bereits in der Materialität des Mediums in sich tragen. Trotz der "Erfolgsgarantie für die Unwägbarkeit von Kommunikation" bleibt die sozialintegrative Kraft des modernen Schenkens diffus, da sich Geschenke keinem sozialen Subsystem unterordnen. Daher lässt sich zugleich ein Schwund als auch eine Intensivierung der kulturellen Kodierung des Schenkens beobachten. Holger Schwaiger promovierte mit dieser Arbeit im Jahr 2011 am Institut für Soziologie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.
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Seitenzahl: 300
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Zugl.: Dissertation, Universität Erlangen-Nürnberg, 2011 u. d. T.: »Schenken: Entwurf einer sozialen Morphologie aus Perspektive der Kommunikationstheorie«.
Einleitung
1. 1. Übersicht über den Argumentationsaufbau
1. 2. Begriffsbestimmungen zum Schenken
Soziale Morphologie I: Empirie und Spektrum des Schenkens
2. 1. Geringe Erkenntnisse zum modernen Schenken aus der Empirie
2. 2. Interpretationen und Ursprünge des Schenkens
2. 3. Ergebnisse bisheriger Interpretationen und Schlussfolgerung
Bedeutung der Kommunikation in den Sozialwissenschaften
3. 1. Zeichen, Semiotik, Kommunikation
3. 2. Charakteristik der Kommunikation I
3. 3. Charakteristik der Kommunikation II: Luhmanns Alternative
3. 4. Die kommunikationstheoretischen Ansätze im Vergleich
Morphologeme der Gabe: der sozialwissenschaftliche Diskurs
4. 1. Das System der totalen Leistungen
4. 2. Gabe oder Tausch?
4. 3. Prinzipien der Gabe im System der totalen Leistungen
4. 4. Quell der Sozialität I: Der mystische Grund im
hau
4. 5. Soziale Implikationen der archaischen Gabe
4. 6. Soziale Verpflichtungen der Gabe
4. 7. Morphologeme der archaischen Gabe
4. 8. Stiftung von Sozialität durch die Gabe
4. 9. Archaische Gaben sind Kommunikationsmedien
4. 10. Zusammenfassung
Morphologeme der Gabe: der klassische ethnologische Diskurs
5. 1. Kula: das Gabentauschsystem auf den Trobriand-Inseln
5. 2. Quell der Sozialität II: Reziprozität
5. 3. Soziale Semantik des Kula
5. 4. Die Beziehung von Sozialität und Reziprozität
5. 5. Der Beginn einer Gabenbeziehung im Kula
5. 6. Kula als soziales Ordnungssystem
5. 7. Das »eiserne Gehäuse« der Trobriander
5. 8. Kula, Handel, Tausch
5. 9. Die Frage der reinen Gabe
5. 10. Bindungskraft des Kula
5. 11. Das Mächtespiel im Kula
5. 12. Besitzen impliziert geben
5. 13. Geben als Kommunikation
5. 14. Zusammenfassung
Soziale Morphologie II: Morphologeme des modernen Schenkens
6. 1. Quell der Sozialität III: Kommunikation, Medium und das soziale Dritte
6. 2. Modernes Schenken gegenüber archaischem Schenken
6. 3. Kulturelle Codierungen modernen Schenkens
Zusammenfassung und Schlussfolgerung
Literatur
»Es gibt sie, die gewaltfreie Kommunikation, und man kann sie als Wert verteidigen.«
Tzvetan Todorov
Diese Arbeit wäre nicht entstanden ohne die wissenschaftliche Betreuung von Prof. Dr. Ilja Srubar. Ihm danke ich daher ganz besonders für seine grenzenlose Geduld während der Entstehung, für seine unerschöpfliche Toleranz, für sein weit über das Normalmaß hinausgehendes Engagement in der akademischen Begleitung sowie für seine inhaltlichen Spurenlegungen, die zur Konturierung der Argumentation unverzichtbar waren.
Ebenso danke ich Prof. Dr. Nancy Fraser und Sonia Salas von der New School University, die beide zu einem entscheidenden Zeitpunkt des Entstehens der Arbeit eine besondere Unterstützung waren. Darüber hinaus gilt mein Dank den Teilnehmern des Gesprächszirkels »Diskursraketen«, insbesondere dem Mitbegründer Dr. Thomas Dörfler, außerdem Dr. Silviya Schwaiger sowie Humphrey vom Hohentann und schließlich ganz besonders Manfred Seibt.
Die Form ist wichtiger als der Inhalt, so urteilt Claude Lévi-Strauss in der Strukturalen Anthropologie I über die Mythen der von ihm untersuchten archaischen Kulturen.1 Dass die Form oftmals bedeutender als der Inhalt ist, lässt sich auch beim Schenken in der Moderne beobachten: Sei das Geschenk auch noch so »klein«, es wird in der Regel genauso aufwändig und schön verpackt wie ein »großes« Geschenk. Das Magische des Geschenks2 wird nicht nur durch seine Verpackung, sondern auch durch Widmungen, beigefügte Glückwunschkarten, schmückende Schleifen und sinnbildliche Etiketten zum Ausdruck gebracht.
Schon allein aus dieser Tatsache erschließt sich, dass das Schenken weit mehr ist, als das Überreichen des Geschenks: Große Denker wie Friedrich Nietzsche, Theodor W. Adorno oder Jean-Paul Sartre haben bereits den Hinweis gegeben, dass Schenken über die - prima vista wahrgenommene - ökonomische Perspektive der Güterübereignung hinausgeht: Schenken bedeutet für den Schenker weit mehr als den Verlust eines Gutes und für den Beschenkten einen unvergoltenen Besitzgewinn. Nicht ein im Alltagssinn greifbares, sondern durch Vermittlung von Symbolen und Bedeutungen zugängliches Hinterweltliches3, macht das Gegebene erst zum Geschenk und damit zu mehr als einer (unvergüteten) Besitzübereignung.
Blickt man auf die abendländische Kulturgeschichte, so findet man zahlreiche Zeugnisse in Form von Sprichworten, Anekdoten, Sagen, Aphorismen, Redewendungen und anderen (literarischen) Überlieferungen über die Hinterwelt des Schenkens und Gebens sowie seine Konsequenzen für das menschliche Zusammenleben. Diese Hinterwelt scheint im alltäglichen Leben hinlänglich vertraut, denn nach Niklas Luhmann4 weiß schon jeder, dass der andere schon weiß, wie das Thema zu behandeln ist. Nicht nur die Unwägbarkeiten des Schenkens im Alltag sorgen dafür, dass das Schenken nicht den von Luhmann befürchteten Themenschwund erleidet, sondern auch aus wissenschaftlicher Perspektive gibt es unbeantwortete und strittige Fragen zum modernen Schenken.
1 Lévi-Strauss (1991), S. 224.
2 Lévi-Strauss (1993), S. 112.
3 Weber (1980), S. 248.
4 Luhmann (1994), S. 267.
Die »Kunst des Schenkens«5 zu beherrschen ist nicht leicht: Wodurch das Schenken im Alltag moderner Gesellschaften bestimmt ist – auch im Vergleich zur Gabe in archaischen Gesellschaften – und welchen Stellenwert es im sozialen Verhältnis der Menschen besitzt, kurz: eine Morphologie des modernen Schenkens ist Thema der vorliegenden Arbeit.
Zu diesem Zweck werden in Kapitel 2 verschiedene wissenschaftliche Theorieansätze zum Schenken kursorisch untersucht mit dem Ergebnis, dass zwar keine übereinstimmende Meinung über die Herkunft des Schenkens besteht, aber dass das Schenken in der Moderne ebenso wie in archaischen Gesellschaften den Charakter eines totalen Phänomens besitzt. Ein Überblick über die Ansätze zeigt außerdem, dass bislang keine Disziplin das Phänomen aus der in den Sozialwissenschaften jüngst immer prominenter gewordenen Perspektive der Kommunikation untersucht.
Vor diesem Hintergrund analysiert Kapitel 3 die Struktur sozialwissenschaftlicher Kommunikationsbegriffe und verdichtet sie zu einem »Kernkommunikationsbegriff« zur adäquaten Beschreibung des Schenkens und seiner Morphologeme6: Dabei reicht das Spektrum von der einflussreichen mathematischen Kommunikationstheorie von Claude Shannon/Warren Weaver über das behavioristische Modell von Charles Morris, über das phatische Modell des Ethnologen Bronislaw Malinowski, über das im Grenzbereich von Linguistik und Ethnologie liegende Modell von Benjamin Lee Whorf, über die intentionalistische Bedeutungstheorie von Paul Grice, über die phänomenologische Ausarbeitung bei Edmund Husserl, über das Organonmodell von Karl Bühler, über dessen Verfeinerung bei Roman Jakobson, über die Ethnographie der Kommunikation von Dell Hymes, schließlich über das Kommunikationsverständnis von George Herbert Mead und Alfred Schütz sowie die sprechaktbasierten Theorien von John Austin/John Searle und Jürgen Habermas und dem metakommunikativen Axiom von Paul Watzlawick bis hin zur systemtheoretischen Variante Luhmanns.
Diese Morphologeme werden zunächst für die Gabe im klassischen soziologischen Diskurs von Marcel Mauss (Kapitel 4) und ethnologischen Diskurs von Malinowski (Kapitel 5) herauskonturiert.
Im Anschluss wird in Kapitel 6 in einem ersten Schritt gezeigt, dass gerade der in Kapitel 3 präzisierte Kernkommunikationsbegriff geeignet ist, das Phänomen des Schenkens zu begreifen, ohne in theoretische Sackgassen und metaphysischen Erklärungsnotstand zu geraten. Um in einem zweiten Schritt eine Morphologie des modernen Schenkens zu entwickeln, werden seine spezifischen Morphologeme bestimmt, indem sie im Gegensatz zu denen archaischer Gesellschaften gesetzt werden und ihre Produktivität an ihrer (oft im Schwinden begriffenen) sozialen Normierung bzw. kulturellen Codierung illustriert wird. Das abschließende Kapitel 7 summiert für Leser mit knappem Zeitbudget die zentralen Ergebnisse der Arbeit.
Die uneinheitlichen Definitionen des Schenkens7 – das Spektrum reicht von Mauss, der Schenken als Austausch zwischen Kollektiven betrachtet, bis hin zu Georg Simmel, der aus individualisierender Perspektive Schenken als charakteristische Form sozialer Wechselwirkungen versteht – stimmen nach aktuellem Forschungsstand zumindest in einem Aspekt überein: Sie alle lassen den kommunikativen Aspekt des Schenkens außer Acht. Daher stellt die vorliegende Arbeit die kommunikativen Beziehungen zwischen Schenkern und Beschenkten in den Mittelpunkt und das durch die Schenkkommunikation erst erzeugte soziale Dritte. Schenken wird hierbei in seiner Grundstruktur verstanden als kommunikativer Akt zwischen zwei Personen (nicht Kollektiven), bei dem ein Schenker ein Geschenk an einen Beschenkten gibt: die so genannte »Handschenkung«. Insofern bleiben insbesondere der Tausch sowie Sonderformen des Schenkens aus der Analyse des Schenkens als Kommunikationsform ausgeklammert wie beispielsweise Sponsoren- und Mäzenatentum, Korruption und Bestechung ineins mit der juristischen Auseinandersetzung mit dem Schenken, intergenerationelle Transferleistungen, Kollektivgeschenke, individuelle Geschenkpostsendungen oder Care-Pakete zur Unterstützung von Notleidenden, Schenkungen zwischen Institutionen (z. B. zwischen zwei Staaten im Rahmen von Wirtschafts- oder Entwicklungshilfe), Selbstgeschenke (etwa im Sinne einer Belohnung für erreichte Ziele), Opfer, Almosen, Spenden, Organspenden, Trinkgeldgeben, Vererbung, das Stiften, das Geben immaterieller Dinge, die sich in Semantiken wie »das Schenken von Aufmerksamkeit«, »das Geschenk des Lebens (direkt oder indirekt von Gott)«8, »sein Leben geben« u. ä. wiederfinden oder auch Schenken als alternative Wirtschaftsform zum kapitalistischen Wirtschaftssystem.9
Mit dem Neologismus »Morphologem« werden alle für die soziale Morphologie konstitutiven Strukturmomente oder Elemente bezeichnet. Üblicherweise wird in der vorliegenden Arbeit von Gabe gesprochen, wenn das Schenken in archaischen Gesellschaften gemeint ist, wohingegen vom Schenken gesprochen wird, wenn das Schenken in modernen Gesellschaften (westlichen Zuschnitts) die Rede ist. Eine darüber hinausgehende Bedeutung ist mit der Begriffsdifferenzierung nicht verbunden.
5 Nietzsche (1999), KSA 2, S. 245.
6 Vgl. dazu Abschnitt 1. 2. Begriffsbestimmungen zum Schenken.
7 Vgl. dazu Schmied (1996), Schmied (1998), Groebner (2002) oder auch Junge (1998).
8 Parsons (1978), p. 267.
9 Zu diesen »Grenzformen des Schenkens« (Schmied 1996) vgl. exemplarisch (hier in alphabetischer Reihenfolge): Alemann (2005), Armbruster (1984), Bataille (1974), Bode/Brose (1999), Emmenegger/Wittzak (2001), Frey (1999), Hénaff (2002), Hyde (1983), Jäde (1984), Junge (1998), Kaltenbrunner (1984), Lau/Voß (1988), Lingelbach (2007), Lingelbach (2009), Neumann (1984), Pankoke (1998), Perroux (1954), Philips (1984), Rost (1994), Stagl (1998), Stark/Lahusen (2010), Stoeckl (1997) sowie die jeweiligen Zweijahresberichte des Bundesministeriums des Innern über die Sponsoringleistungen an die Bundesverwaltung nach der ›Allgemeine(n) Verwaltungsvorschrift der Bundesregierung zur Förderung von Tätigkeiten des Bundes durch Leistungen Privater (Sponsoring, Spenden und sonstige Schenkungen)‹ – VV Sponsoring – und ferner die relevanten Abschnitte im BGB (§§ 516, 528, 530 und 534) sowie im ErbStG (v. a. § 7).
Wodurch das Schenken im Alltag moderner Gesellschaften bestimmt ist – auch im Vergleich zur Gabe in archaischen Gesellschaften – und welchen Stellenwert es im sozialen Verhältnis der Menschen besitzt, kurz gesagt: der Entwurf einer sozialen Morphologie des Schenkens ist ein Ziel der vorliegenden Arbeit. Eine solche Morphologie zielt darauf ab, das Phänomen des Schenkens sowohl von seiner Genese als auch von seinem inneren Aufbau und der äußeren Gestaltung her soziologisch zu beschreiben. So lassen sich Funktion und sozialer Sinn des Schenkens mitsamt seiner Hinterwelt verstehbar machen.
Der folgende Abschnitt gibt in einem kursorischen, skizzenhaften Durchlauf durch die unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen einen Überblick über das Spektrum wissenschaftlicher Annäherungsweisen an das weitläufige, »totale Phänomen« Schenken. Im Mittelpunkt steht dabei zunächst die Frage, wie viel die jeweilige Disziplin zur Klärung des Ursprungs des Schenkens beitragen kann. Quasi als Nebeneffekt werden die disziplininternen Theoriefronten zumindest markiert. Dabei zeigt sich, dass bislang keine Disziplin das Schenken als Kommunikation interpretiert hat. In der Verfolgung dieser Zielstellung erhebt der folgende Überblick über das Spektrum der Disziplinen nicht den Anspruch, detailreiche, tiefschürfende Einzelanalyse jeder Disziplin zu liefern.
Umfassende soziologische Studien zum Schenken bzw. Schenkverhalten wurden bislang nur sehr spärlich durchgeführt. Sie besitzen keinen repräsentativen Charakter, bilden eine teils schon obsolete empirische Datenlage ab.10Sie schenken zwar den soziologischen Begleitumständen des Schenkens die notwendige Beachtung, aber auch sie lassen den Aspekt der Kommunikation des Schenkens unberücksichtigt.
In unbestimmten Abständen widmen sich vor allem die Marktforschung und ihr nahestehende Fachgebiete dem Schenken aus empirischer Sicht. Im Zentrum solcher Studien stehen selten oder nie Aspekte wie Schenkanlässe oder -zeremonie, die Erwiderung der Gabe o. ä. geschweige denn der kommunikative Aspekt des Schenkens. In der Regel geht es um die Erkenntnis, welche Artikel in welcher Dimension Kunden als Geschenke zum Verschenken an Dritte kaufen und in der Folge davon, wie sich dieses Verhalten zur künftigen Profitmaximierung durch die Branche ausnutzen lässt.11 Dabei hat sich herausgestellt, dass sich die Untersuchung dieser Fragen hauptsächlich auf Bücher, Blumen, Süßwaren und Spielzeug konzentriert, also auf Artikel, die sich für die Auftraggeber der Studien in der gegenwärtigen Wirtschaftsform als typische Geschenke herausgestellt haben. Weiter zeichnet sich aus der Analyse empirischer Daten ein Trend dahingehend ab, dass Frauen quantitativ öfter Geschenke geben als Männer, allerdings die Männer üblicherweise die größeren Geschenke verschenken als Frauen.12
Mehr volkswirtschaftlich orientierte Studien13 beispielsweise versuchen einen Überblick über die wachsende fiskalische Bedeutung der Erbschaftssteuer für die Länder zu geben. Sie berücksichtigen dabei das Schenken lediglich in Form anfallender Schenkungssteuern oder untersuchen die Lebenslage und Einkommenssituation älterer Menschen in der Bundesrepublik durch empirische Auswertung des Sozio-ökonomischen Panels (SOEP). Dabei wird das Schenken bloß als ökonomische Größe intrafamilialen Transfers älterer Menschen wahrgenommen.
Der so genannte »Werbegeschenkhandel« hat keinerlei soziologisch tiefgreifende Erkenntnisse über die Kommunikation des Schenkens. Als Handel – das resultierte aus einer Reihe von Interviews – ist die Branche weniger am Schenken als an ihrer eigentlichen Bestimmung, dem ökonomischen Handel interessiert. Geschenke sind für die Branche nur relevant insofern sie Handelsware sind. »Epiphänomene« des Schenkens – wie erlaubte oder unerlaubte Geschenke, Zeremonien usw. – befinden sich außerhalb des ökonomischen Handlungsrahmens und bleiben unreflektiert; eine Ausnahme bildet der Geschenkanlass, der vom Handel ökonomisch ausgenutzt wird, um anlassspezifisch Waren (überspitzt: Schokoladennikoläuse in der Weihnachtszeit und Schokoladenosterhasen in der Osterzeit) auf den Markt bringen zu können.
Mauss’ kanonischer Essai sur le don: forme et raison de l’échange dans les sociétés archaïques wendet sich im Zusammenhang mit der Ökonomie und Moral des Geschenks in einem kurzen Exkurs der Bestimmung des Verhältnisses von Gabe und Opfer bzw. Almosen zu. Er kommt u. a. zu dem überraschenden Ergebnis, dass eine Theorie des Schenkens sowohl zur Aufklärung der Natur und Funktion des Opfers beitragen könne als auch als Ausgangspunkt für eine Theorie des Almosens dienen könne.14 Das überraschende Moment liegt in der Tatsache, dass sich – im Gegensatz zu späteren Veröffentlichungen zur Gabe, die den Ursprung des Schenkens z. B. aus der Theorie des Opfers bzw. Almosens zu rekonstruieren versuchen – die Begründungslogik bei Mauss gerade entgegengesetzt aufbaut: Weil Mauss also dazu tendiert, das Schenken als Ursache für das Opfer oder das Almosen zu begreifen, kann man im Essai auch keine Antwort auf den Ursprung der Gabe aus dem Opfer finden. Wie auch immer man die Kausalität setzen möchte, so lässt sich wenigstens aus Émile Durkheims Diskussion des Opfers sozusagen als kleinster gemeinsamer Nenner von Schenken und Opfern festhalten, dass in beiden Fällen die Regel des do ut des gilt, d. h. dass in der Tat ein Zirkel von Geben und Nehmen besteht.15 Da Mauss in seinem Essai eigentlich nach einer Antwort auf den Ursprung der Gabe sucht, sollen im Anschluss Untersuchungen16 aus verschiedensten Wissenschaftsdisziplinen analysiert werden, die mögliche Ursprünge des Schenkens zu rekonstruieren versuchen. Gleichzeitig zeigt die Analyse, welcher Virulenz sich die Gabe bzw. das Geschenk in den unterschiedlichsten wissenschaftlichen Disziplinen erfreut. Dies seinerseits ist wiederum Beleg dafür, welch umfassende Relevanz die Gabe bzw. das Geschenk in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen beanspruchen kann.
Linguistisch-anthropologische Deutungsversuche
Eine Möglichkeit, den ontogenetischen Ursprung des Phänomens Schenken zu Tage zu fördern, liegt in der Rekonstruktion der linguistischen Fundierung des Schenkens. Die Linguistik versucht sowohl anhand syntaktischer wie auch semantischer Auffälligkeiten (die Bedingungen für) die Entstehung des Schenkens zu verstehen. Z. B. versucht Jacob Grimms klassische, etymologisierende Schrift »Über schenken und geben« (sic!) das Wesen des Schenkens aus der Beziehung zwischen der sozialen Handlung selbst und seiner sprachlichen Bezeichnung im Verlauf mehrerer Jahrhunderte zu deuten. Grimm schickt sich an, den Gebrauch des Schenkens im Altertum und dessen Niederschlag in der Sprache zu erörtern.17 Dass er also nicht vom sprachlich Gegebenen auf die Natur des sozialen Aktes schlussfolgert, sondern umgekehrt verfährt, ist im vorliegenden Kontext von Vorteil, da die kulturwissenschaftliche Perspektive nicht vom linguistischen Erkenntnisinteresse überschattet wird. Die wohl bemerkenswerteste Annahme, die Grimm so zu Tage fördert, betrifft den Ursprung des Schenkens: Nach Grimm liegt der Ursprung des Schenkens in dem alten Brauch, Gästen ein Getränk zur Begrüßung und Labung nach anstrengender Reise einzuschenken. Das Prinzip des Eingießens bzw. Einschenkens hat im Lauf der Zeit18 seine Differenz zum Geben verloren, so dass Schenken und Geben als von ihrer Bedeutung her auswechselbar aufgefasst wurden.
Unterstützung erfährt diese These durch Untersuchungen zur Anthropologie des Gebens, indem die Entstehung des Schenkens ebenfalls aus der Gastsituation rekonstruiert wird.19 Denn sowohl die Theorie des Opfers als auch die hunting hypothesis wie auch ethologische Theorien über das Brutpflegeverhalten und über rituelle Nahrungsverteilung scheinen als anthropologische Erklärung für den Ursprung des Schenkens unzureichend. Allgemein scheinen Theorien, die den Ursprung des Schenkens allein aus dem Opfer abzuleiten versuchen, nicht zu einer schlüssigen, letztgültigen Antwort zu führen, sondern die Problematik lediglich in andere Bereiche wie z. B. die Religion zu verschieben. Sollte sich das Opfer als das Entstehungszentrum des Schenkens beweisen lassen, so bliebe demnach ungeklärt, warum es den Menschen Gewohnheit wurde, ihren Göttern, Götzen oder Ahnen weiterhin Opfer darzubringen. Auch die rein anthropologisch orientierte hunting hypothesis kann offensichtlich nur eine nochmalige Verschiebung des Problems, jedoch keine Lösung anbieten. Nach dieser Hypothese entwickelten sich erste Vergesellschaftungsformen bei der gemeinsamen Jagd, bei der in einer Art kollektiven Sühne ein Jagdopfer dargebracht wurde.20 Bei Helmut Berking wird die Relevanz des Schenkens für die Strukturierung moderner Gesellschaften aus der Soziologie Simmels heraus entwickelt, doch beschränkt sich diese Untersuchung im Wesentlichen auf die anthropologische Perspektive des Schenkens und stellt daher – ganz legitim entsprechend ihrer Zielsetzung – weder eine soziologische, noch eine universale Theorie (über den Ursprung) des Schenkens dar.
Auch Émile Benvenistes sprachhistorische Untersuchungen über die Kulturinstitutionen der indoeuropäischen Völker, anhand derer er hypothetisch angenommene, ontologische Gemeinsamkeiten allgemeiner Kulturmuster menschlichen Verhaltens zu rekonstruieren versucht, nehmen die Gastsituation unter die Lupe: Er vergleicht den Wortschatz verschiedener indoeuropäischer Sprachen, um auf die sozialen Gebräuche der entsprechenden Gesellschaften zu schließen. Dabei verfolgt er die Gastfreundschaft zurück zum Lateinischen und stellt fest, dass im lateinischen Vokabular zwei Worte für »Gast« zur Verfügung stehen. Das lateinische hostis bezeichnete ursprünglich denjenigen, der eine Gabe durch eine Gegengabe zurückbezahlt. Insofern trug hostis einst die Bedeutung Gast. Die Bedeutung »Feind« muss hostis im Verlauf der gesellschaftlichen Entwicklungsgeschichte angenommen haben, nachdem die reziproken Beziehungen zwischen Clans durch jene zwischen civitates ersetzt wurden. Aus diesem sozialen Transformationsprozess resultiert die Wahrnehmung des Gasts als Fremden, wodurch sich die Bedeutung »Feind« ableiten lässt. Wegen dieses Bedeutungswandels entstand im Lateinischen ein anderes Wort für Gast: hospes21, wodurch sinngemäß die Personifizierung von Gastfreundschaft (hospitalitas) ausgedrückt wird. Allerdings muss man dieser Feststellung entgegenhalten, dass sie hinsichtlich des semantischen Wertes keine befriedigende Klarstellung liefern kann,22 geschweige denn, dass sie die Verbindung zwischen Gast bzw. Gastfreundschaft und dem Schenken in hinreichender Weise rekonstruiert. Die auch schon von Mauss23 beobachtete Homophonie zwischen dem deutschen Wort Gift und dem englischen Wort gift und die doch so gegensätzliche Bedeutung beider Worte, die immer wieder Anlass zu Spekulationen über die (ambivalente) Natur der Gabe lieferte, scheinen nach Benveniste der Kontingenz sprachlicher Evolution zu entspringen.24 Der Hinweis aus dem Hethitischen, dass im Indoeuropäischen zwischen Geben und Nehmen nicht jene Unterscheidung wie im heutigen Sprachgebrauch der modernen europäischen Sprachen getroffen wurde,25 geben zwar Zeugnis von der Neuartigkeit von Benvenistes Ansatz: Denn anders als beispielsweise die Sprachhistoriker wählt er die Syntax als Ausgangspunkt der Bestimmung des Verhältnisses zwischen linguistischen Monumenten und den sozialen Fakten. Jedoch vermag auch seine Studie – bedingt durch strukturelle Grenzen – nicht wesentlich zur Aufklärung über die Genese des Schenkens beizutragen: Zum einen kann der Zeitpunkt der Entstehung des Schenkens in der kulturgeschichtlichen Entwicklung nicht festgestellt werden.26 Zum anderen reicht der Blick der historischen Linguistik nicht wesentlich weiter als ins (bereits seinerseits rekonstruierte) Indoeuropäische, d. h. bis etwa 1500 Jahre vor unserer Zeitrechnung, zurück und verliert sich spätestens dann in Spekulationen. Mit der Annahme der Gleichzeitigkeit oder gar der Ineinssetzung der Entstehung des Schenkens und des indoeuropäischen Sprachstammes in gegenseitiger Abhängigkeit würde eine vollkommen ungerechtfertigte Voraussetzung eingeführt. Wollte man darüber hinaus das Schenken allein aus seinem Niederschlag im indoeuropäischen Vokabular rekonstruieren, würde man – ganz abgesehen vom zwangsläufig erfolgenden Vorwurf des Ethnozentrismus – nicht nur die Existenz sprachlicher Kommunikation vor dem Indoeuropäischen überhaupt, sondern auch das Prinzip kulturgeschichtlicher Entwicklung und Geschichtlichkeit menschlicher Zivilisation verneinen. Es gilt das gleiche, was Norbert Elias über den Prozess der Zivilisation sagt: »Wo immer man beginnt, ist Bewegung, ist etwas, das vorausging.«27
Psychoanalytische und psychologische Deutungsversuche
Psychoanalytische Erklärungsansätze verorten die Schenkmotivation zunächst im tief in der menschlichen Seele verwurzelten Wunsch des Menschen zu geben, zu opfern, zu teilen und der Gemeinschaft etwas zu geben.28 Freuds psychoanalytische Studien über die infantile Sexualität29 bringen »das erste ›Geschenk‹« in phylogenetischer (und je nach Interpretationsweise auch ontogenetischer) Hinsicht im Zusammenhang mit der Defäkation des Säuglings zur Sprache. Mögen Freuds Ansichten in mancherlei Hinsicht nicht (mehr) dem Kenntnisstand der gegenwärtigen Forschung entsprechen, so erweckt dennoch sein Versuch Aufmerksamkeit, in dieser Schrift den Zusammenhang von Wollustempfinden des Säuglings und Defäkation aufzuzeigen.
Aufgrund seiner noch nicht durch Sozialisation verlorenen polymorph perversen Veranlagung vermag der Säugling dem Prozess der Darmentleerung Wollust abzugewinnen. Behält sich der Säugling die Wahl des Zeitpunkts für die Darmentleerung seinem eigenen Belieben vor, um daraus einen Lustnebengewinn zu erzielen, anstatt dies gemäß den (zeitlichen) Vorgaben des Pflegers zu verrichten, so gewinnt der Säugling die Möglichkeit, den Eltern sein erstes Geschenk als Gegengabe für empfangene Fürsorge zu machen: Da man ja eigentlich nur das schenken kann, was man selbst besitzt, aber der Säugling in seiner Abhängigkeit von den Eltern keinerlei eigenen materiellen Besitz vorweisen kann, bleibt ihm als einzige Möglichkeit, die empfangene Fürsorge der Eltern dadurch zu vergelten, dass er – unter Verzicht auf seinen möglichen Lustnebengewinn – den Eltern Freude bereitet, indem er der Aufforderung zur Darmentleerung durch die Eltern nachkommt. In diesem Sinne könnte sich diese Interpretation in eine austauschtheoretische Sozialbeziehung durchaus einfügen. Allerdings ist der hier bei Sigmund Freud gesuchte Ansatz kaum als (phylogenetischer) Erklärungsansatz für die Genese des Schenkens zu betrachten. Einerseits geht Freud nicht von einem Neugeborenen aus – schließlich spricht er vom Säugling, der »auf den Topf gesetzt werden kann«, was ein gewisses Alter voraussetzt. Andererseits schreibt Freud diesem Säugling scheinbar ein »voll entwickeltes« Bewusstsein zu, was gewiss zu Recht Widerspruch von Seiten entwicklungspsychologischer Ansätze hervorruft, die eher eine Entwicklung des Bewusstseins befürworten. Insofern Freud darüber hinaus sein Ziel nicht in der Aufklärung des Ursprungs des Schenkens an sich sah, eignet sich auch das aus der Psychoanalyse hervorgegangene Erklärungsmodell mitsamt den daran anknüpfenden Ansätzen30 nicht zur Erhellung des Ursprungs des Schenkens.
Nach dem Ursprung des Schenkens in der Sozialpsychologie und Psychologie zu suchen, bleibt ebenso ergebnislos: es existiert keine eigenständige psychologische Theorie zum Schenken31, der sozialpsychologische Blick zeigt keine anderen Erkenntnisse als die soziologischen Ansätze32. Allerdings lohnt sich im Anschluss an den psychoanalytischen Ansatz ein kurzer Blick auf die entwicklungspsychologische Sichtweise von Susan Isaacs. Geschenke erhalten wie auch Geschenke geben ist nach ihrer Auffassung für Kinder das klarste und unzweideutigste Zeichen der Liebe. Kinder empfinden Liebe nicht so sehr aufgrund der Geschenke; für sie ist das Geschenk Lieben. Ihre Liebe gilt mehr dem Geben als der Gabe. Für sie sind sowohl der Akt des Gebens wie die Gabe selbst Liebe. Hier geht Susan Isaacs Auffassung konform mit Freuds Säugling, der seinen Eltern Liebe schenkt, indem er auf seinen Nebenlustgewinn verzichtet und Gehorsam an den Tag legt. Isaacs Auffassung führt weiter: die Fähigkeit zu geben ist ein viel größerer Segen als zu nehmen, denn so zeigt sich, dass sich das Kind nicht länger in der hilflosen Situation (des Notleidens) befindet, wo es auf Gaben (der Eltern) angewiesen ist. An dieser Stelle scheint ein Entwicklungsschritt im Identifizierungsprozess des Kindes vorzuliegen: Durch die Fähigkeit des Gebens erhält das Kind einen Schub Eigenständigkeit, die Bevormundung durch Gaben fällt weg.33 Trotz dieses Ergebnisses scheint auch der entwicklungstheoretische Ansatz keinen substantiellen Hinweis auf den Ursprung des Schenkens zu liefern.
Religiöse Deutungsversuche
Im Postulat der Komplementarität von kapitalistischer Ökonomie und bürgerlicher Schenkkultur34 wird versucht, den Ursprung des Schenkens anhand der anthropologischen Spur der Redistributionsthese35 zu rekonstruieren. Dabei wird angenommen, dass Geschenke im Sinne ausgleichender Gerechtigkeit die gesellschaftliche Funktion des Ausgleichs oder zumindest doch der Verringerung ökonomischen Ungleichgewichts übernehmen. Allerdings wird durch die fast ausschließlich ökonomische Denkweise die Definition des Begriffs Geschenk so übermäßig weit gedehnt, dass von Schenken in seinem eigentlichen Sinne kaum mehr die Rede sein kann.36 Vielmehr scheint es, dass das Redistributionsverfahren als ein mechanistisch-ökonomischer Vorgang gedeutet wird, in dem einfach dort weggegeben wird, wo zu viel ist, um dort hinzugeben, wo zu wenig ist. Vor dem Hintergrund dieser naiven Sichtweise erwies sich bereits Anfang des 20. Jahrhunderts Simmels feinsinniger Blick fürs Detail als weitblickend, zur Bestimmung des »redistributiven Geschenks« das Konzept der Unterstützung(-sleistung) einzuführen, um damit eine klare Abgrenzung zum Geschenk zu schaffen.37
Andere spekulative Thesen, das Schenken ursprünglich beispielsweise aus dem Opfer oder dem Almosen zu rekonstruieren, wurden bereits zu Anfang des Kapitels erwähnt: René Girard wirft zwar dem Essai sur la nature et la fonction du sacrifice38 vor, er ergäbe wenig Sinn. Dies wohl vor dem Hintergrund seiner Wahrnehmung der Studie, dass sie keinen Beitrag zur Erkenntnis über die Ursprünge der Opferpraxis leiste und nur sehr wenig über Wesen und Funktion des Opfers aussage. Doch trägt seine eigene Schrift nicht wesentlich zur Erklärung des Schenkursprungs und die Beziehung des Geschenks zum Opfer bei. Girard beschäftigt sich mit dem Schenken bzw. seiner genetischen Entwicklung aus dem Opfer heraus nur en passant und konzentriert sich im Wesentlichen auf die Funktion des Opfers zur Gewaltkontrolle als gesellschaftsregulierendes Prinzip westlicher Kulturgeschichte. Generell lässt sich festhalten, dass allein die Annahme, das Opfer bzw. das Almosen sei ein rudimentärer Vorläufer des Schenkens, schon allein durch Mauss’ gegenläufigen Rekonstruktionsversuch als wenig gesichert gilt. Unter diesem Aspekt entbehrt auch der Versuch39, die reine Gabe in Abhängigkeit der Entstehung der Weltreligionen als Erlösungsreligionen zu entwickeln, einer Grundlage, die es erlauben würde, im religiösen Szenario von Abbau von Daseinsschuld oder etwa der Habsucht40 Antworten zu finden. Die Kritik an Mauss, dass dieser an einem Punkt seiner Argumentation, an dem ihn herkömmliche europäische Rechtsauffassungen nicht mehr weiterbringen, auf das klassische Hindu-Recht zurückgreife, mag möglicherweise geeignet sein, das Argument des religiösen Aspekts im Geben allgemein zu untermauern. Allerdings stellt auch dieser Ansatz nichts weiter als einen weiteren möglichen Ansatzpunkt im Reigen der Spekulationen zum Ursprung des modernen Schenkens dar.
Historische und kulturhistorische Deutungsversuche des Schenkens
Historische Untersuchungen zum Schenken können mittels intensiven Quellenstudiums oft einzelne Aspekte des Schenkens in den jeweils untersuchten Zeitabschnitten bestätigen: Den Zusammenhang von Macht und Gabe, der sich aus dem Verpflichtungscharakter des Geschenks ergibt, den Verpflichtungscharakter der Gabe selbst und damit »die dunkle Seite der Gabe«41, die soziale Bedeutung des Schenkens (Etablierung und Aufrechterhaltung sozialer Beziehungen), das Entstehen bürokratischer Prinzipien der Moderne anhand exakter Buchführung über verschenkte und erhaltene Geschenke in öffentlichen und privaten Rechnungsbüchern (Geschenkbuchhaltung). Ebenso die Erkenntnis der jeweiligen Untersuchungsepoche aus der Quellenlage, die »reine Gabe« sei erst jüngst verschwunden; der Unterschied zwischen der Epoche des Mittelalters und der Moderne liegt darin, dass sich die Theoretiker der Moderne in melancholischer Manier die »unbefleckt« scheinende Utopie der Geschenke ohne die Zwänge des Marktes zurücksehnen, wohingegen die Menschen im 16. Jahrhundert sich eine Welt ohne erdrückende, unauflösliche und ambivalente Abhängigkeitsbeziehungen, wie sie durch Geschenke herbeigeführt wurden, wünschten.42
Bei Historikern relativ unstrittig ist die Herkunft des bürgerlichen Schenkens. Es geht auf die Entdeckung des Weihnachtsfestes als Schenkgelegenheit während des 18. Jahrhunderts zurück und scheint sich im Laufe des 19. Jahrhunderts in der christlichen Alltagskultur des aufstrebenden Bürgertums durchgesetzt zu haben.43 Seither macht die bürgerliche Kultur die Kinder glauben, dass sie zum Weihnachtsfest das Christkind bzw. der Weihnachtsmann mit Geschenken für artiges Verhalten seit dem letzten Weihnachtsfest belohnen wolle. Mit der Forderung zum Artigsein wird den Kindern gleichzeitig die Gelegenheit gegeben, dem stets anonym bleibenden Schenker zu danken und auf diese Weise eine Art Gegengabe zu bereiten. Die bürgerliche Welt der Erwachsenen präsentiert sich in dieser Beziehung freilich weit weniger romantisch: ist die Mär vom Christkind bzw. Weihnachtsmann einmal entzaubert, so wissen alle Beteiligten um die gewöhnliche Schenksitte des gegenseitigen Beschenkens – oder wie Pierre Bourdieu es formuliert: die Schenksitte auf Basis kollektiver Heuchelei.
Nun ist zwar interessant, dass all diese Einzelaspekte jeweils für den Untersuchungszeitraum als in der Schenkpraxis bekannte Elemente ihrer Epoche nachgewiesen werden konnten; noch von größerer Relevanz ist jedoch die Methode, mit dem die Studien von Valentin Groebner und stärker noch Sybille Schröder, ansetzen. Während Groebner feststellt, dass Geschenke grundsätzlich als eine potentiell täuschende Form sozialer Kommunikation aufgefasst wurden, wird bei Schröder deutlicher, dass bei ihrer Untersuchung zur »Materiellen Kultur am Hof Heinrichs II. von England« fast alles zum Zeichen wird. Hier scheinen beide Studien jedoch jeweils zu verharren. Eine notwendige Ausdeutung des Schenkens als Kommunikation an sich oder die Ausweitung vom Aspekt des Zusammenhangs von Macht und Gabe an exemplarischen Studien ausgewählter Bereiche der materiellen Kultur (Wildgattungen, Getränke, Textilien, Prachtzelte) auf den soziologischen Gesamtkomplex des Schenkens als Kommunikation allerdings bleibt Desiderat.
Ökonomische Deutungsversuche des Schenkens
Schenken und Ökonomie bilden zwei eigenständige Sphären bzw. Teilsysteme in der Terminologie der Systemtheorie. Es bedarf der dem Soziologen fern liegenden ökonomischen Perspektive, um das »Schenken als Verlieren«44 zu verstehen. Erst mittels einer ökonomistischen Ertragsrechnung lässt sich bestimmen, dass das Schenken mitsamt der aufgewendeten Zeit und Kosten ein »Verlustgeschäft« ist. Die Gabe eignet sich in keiner Weise für Profiterwirtschaftung in ökonomisch-kapitalistischem Sinne. Denn eine in ungewisser Zukunft liegende Rückerstattung durch ein gleichwertiges Gegengeschenk oder gar ein Profit durch ein im Wert gesteigertes Gegengeschenk ist in ökonomisch gültigen Termini allenfalls abstrakt fixiert. Auch die zeitliche Unsicherheit über die Rückkehr verausgabter Kosten im Gegengeschenk liegt außerhalb des ökonomischen Rationalitätshorizonts. Obendrein fehlt für die (höherwertige) Äquivalenz des Gegengeschenks jede Garantie. Schließlich wird mit dem Warten auf ein Gegengeschenk in gänzlich unökonomischer Weise ein terminlich und von der Zinsquote her unbestimmter Kredit eingeräumt. Aber seine Rückzahlung ist nicht nur hinsichtlich des Termins und der Zinsquote unsicher, sondern ist an sich ungewiss. Allein die soziale Verpflichtung zur Gegengabe stellt einen zu großen Ungewissheitsfaktor in der Profitrechnung dar, der Schenken für die reine Ökonomie zum Verlust werden lässt. Erfolgt tatsächlich ein höherwertiges Gegengeschenk, so kann der höhere Wert nicht als Profit geltend gemacht werden, da der Partner seinerseits auf ein Gegengeschenk höheren Werts wartet. Der erwünschte Profit bleibt also immer flüchtig, er kann nie zu Buche schlagen. Den Profit nicht behalten zu können und permanent mehr, als man bekommen hat, wieder zu verschenken, bedeutet eindeutig eine Verlustrechnung, die mit dem grundlegenden ökonomisch-kapitalistischen Prinzip der Profitmaximierung nicht vereinbar ist. Insgesamt stellt der gesamte Komplex des Schenkens keinen ökonomischen Austauschprozess dar, in dem Gewinn erwirtschaftet werden kann.
Somit erhärtet sich die Feststellung, dass Schenken und Ökonomie zwei eigenständige Sphären bzw. Teilsysteme bilden. Die Schwierigkeiten, die aus dem Versuch resultieren, den Güter-/Warentausch mit dem Gabentausch in Einklang zu bringen, spiegeln sich in einschlägigen Veröffentlichungen nieder: Solche erarbeiten anhand von Kriterien wie der Veräußerbarkeit, Austauschbarkeit und des Nutz- und Tauschwertes eine Abgrenzung der Sphären des Güter- oder Warentauschs und dem Gabentausch.45 Das Konzept des Tauschs nimmt dabei die Schlüsselrolle ein und wird nicht nur für den Gabentausch, sondern auch für den Austausch in der Sozialsphäre in Anspruch genommen. Zentraler Angelpunkt für tauschtheoretische Ansätze einer Sozialtheorie (z. B. bei George Homans oder Peter Blau) bildet das (Sozialität stiftende) Prinzip der Reziprozität. Reziprozität im soziologischen Sinne meint die wechselseitigen Verpflichtungen und Anrechte mit einer Entsprechung der Leistungen zwischen den tauschenden Individuen. Im Gegensatz zum Warentausch bedeutet Reziprozität nicht etwa eine Gleichgewichtigkeit der Leistungen, sondern die Gegenseitigkeit der Anrechte. Wenn soziales Verhalten in der Tauschtheorie als Austausch von materiellen und nichtmateriellen Gütern (z. B. auch Symbole der Anerkennung oder des Prestiges) verstanden wird, schwingt immer - wie Homans selbst zugeben muss46 – die Konnotation von Kosten und Belohnung, also eine ökonomische Begleitbewertung des Tauschs mit. Ein Tauschpartner, der etwas gibt, hat Kosten, profitiert aber von der Belohnung, wenn er etwas empfängt.
Freigebigkeit im wirtschaftlichen Prozess ist in ökonomischer Hinsicht auch nicht als Freigebigkeit im ethnologischen/soziologischen Sinne des Gabentauschs zu verstehen. Vielmehr ist hinter dem freigebigen (Werbe-)Geschenk nur der ökonomische Hintersinn (langfristiger) Kundenbindung, Bekanntmachen eines Produkts u. ä. zu vermuten, um dadurch in Zukunft eine Profitsteigerung zu erzielen. Die »reine Gabe« existiert (auch) im ökonomischen Warentausch nicht: bei der Gabe ohne Erwartung einer Gegenleistung handelt es sich um ein romantisiertes, utopisches Sozialkonstrukt, dessen soziale Funktion als das Gegenteil von Profitinteresse und Geldwirtschaft beschrieben wird. Geschenke nach diesem Modell sind Anti-Markt.47
Da Schenken ein der ökonomischen Rationalität zuwiderlaufendes Phänomen darstellt, können auch ökonomische Theorieansätze kein vollständiges Bild des Schenkens zeichnen. Aus wissenschaftlicher Sicht als eher harmlos zu betrachten sind Handreichungen wie »Schenk-Kultur in der Wirtschaft«48, die in der Manier eines interkulturellen »Schenk-Knigges« für westliche Manager den Umgang anderer Kulturen mit dem Schenken im so genannten interkulturellen Geschäftsbereich zusammenfassen. Ähnlich wurde eine Art Schenkrichtlinie für Unternehmen entwickelt, indem die in der Soziologie relevanten Aspekte des Schenkens (z. B. Schenkanlass, Reaktion des Beschenkten, Geschenkübergabe, Abgrenzung zu Korruption) schlichtweg auf die Wirtschaftsabläufe – so gut es eben geht – übertragen wurden.49 In dieser mit empirischen Daten angereicherten »Gabenkultur für Unternehmen« wird schließlich ein Planungsprozess des Schenkverhaltens in Abhängigkeit des jährlichen Schenkbudgets und der Schenkrichtlinien ausgearbeitet. Solche Studien haben erkennbar wenig mit dem kommunikativen Phänomen des Schenkens gemein und erweisen sich trotz der Betitelung »Business Geschenke: Eine Form non-verbaler und symbolischer Kommunikation« als wenig aussagefähig bei der Suche nach ökonomischen Theorien und Ursprüngen des Schenkens.
Jegliche der hier vorgestellten, ökonomisch orientierten Ansätze des Schenkens belegen, dass es sich bei der Ökonomie und dem Schenken um zwei unvereinbare Sphären bzw. Teilsysteme handelt. Es gelingt ihnen nicht, einen Beitrag zur Entstehung oder Erklärung des Phänomens Schenken in seiner kommunikativen Ausformung zu leisten.
Schenken aus juristischer Sicht
Im Unterschied zu archaischen Gesellschaften ist das Schenken in der Moderne (im Bedarfsfall) auch per Gesetz geregelt. In modernen Gesellschaften ist die Voraussetzung dafür gegeben, dass Geschenke nicht in ihrem Gesamt als kommunikative Zeichen behandelt werden können, sondern dass sie vom juristischen Diskurs als bloße Gegenstände von Eigentumsübertragung verstanden werden können, d. h. als abgetrennt von ihren anderen Bedeutungen symbolischer oder anderer nicht-materieller Natur. Deshalb vermag die Rechtsprechung regulativ in das Schenken einzugreifen50: Geschenkt ist geschenkt, wie der Volksmund sagt, nicht immer aber der juristische Diskurs. Wird ein Geschenk zurückgefordert, so wird dies – sofern eine außergerichtliche Einigung nicht erzielt werden kann – in ein juristisches Verfahren geführt, welches seinerseits mit spezieller Rechtsprechung auf Fälle der Zurückforderung von Geschenken reagiert, und dies gegebenenfalls juristisch deckt z. B. bei grobem Undank seitens des Empfängers gegenüber dem Schenkenden. Der Einfluss des Rechtssystems auf andere gesellschaftliche Teilsysteme scheint in modernen Gesellschaften von solch starker Penetranz, dass der justiziable Grundsatz Geschenke sind nicht zurückzufordern als Morphologem für das moderne Schenken gelten kann.
Bei all dem darf aber nicht vergessen werden, dass sich das Rechtssystem nur an einem kleinen Ausschnitt des Gesamtbildes abarbeiten kann, da das Übrige nur mit größten Schwierigkeiten oder gar überhaupt nicht in juristischen Semantiken handhabbar ist. Denn wie lässt sich beispielsweise ein Gefühl (wie etwa Dankbarkeit) unter der juristischen Kodierung von Recht oder Unrecht gänzlich und korrekt operationalisieren? Wird das Geschenk ausschließlich entlang juristisch verwertbarer Kriterien behandelt und somit seiner anderen Aspekte beschnitten (zu denen das Rechtssystem zwangsläufig greifen muss, da es nicht anhand anderer Kriterien entscheiden kann), so gelangt man fast zwangsweise zu der Auffassung, modernes Schenken doch wieder im ökonomischen Sinne als Verlieren zu deuten.51
Linguistische Deutungsmodelle des Schenkens scheinen zwar keine Hinweise auf das moderne Schenken geben zu können, doch vermögen sie Rückschlüsse zu liefern auf die kulturhistorische Genese und Bedeutung des Schenkens im Altertum – allerdings nur soweit der linguistische Blick reicht und durch Dokumente gesichert ist. Das Erklärungsmodell der Psychologie bildet keine eigene Theorie des Schenkens aus wie sie aus anderen Disziplinen bekannt sind. Psychologische Deutungen des Schenkens sehen den Wunsch zu schenken in prosozialem Verhalten begründet, wonach der Schenker einen psychisch wertvollen Gewinn daraus zieht, dem Geschenkempfänger unter den bekannten Prämissen der Schenkgrammatik ohne Erwartung einer Gegenleistung etwas zu schenken. Die (klassische) Psychoanalyse beschränkt sich auf den Erklärungsversuch zum Ursprung des Schenkens und überlässt die Schlussfolgerungen für die Komplexität des Phänomens Schenken an sich der von ihr begründeten Tradition der Psychoanalyse, die sich zwar redlich müht, aber keine eigenständige psychoanalytische Theorie zum Schenken entwickelt. Die religiös-theistisch geprägten Theorieansätze versuchen das Schenken aus Sicht des Gabenopfers und des Gabenaustauschs zwischen den Göttern und den Lebenden zu begründen und machen die Beziehung des Menschen zum Göttlichen und die existenzielle Verschuldung