Schicksalsmelodie - Rainer Mauelshagen - E-Book

Schicksalsmelodie E-Book

Rainer Mauelshagen

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Beschreibung

Julia war noch ein Mädchen, als sie Kai begegnete. Er war es auch, der sie damals zur Love-Story ins Kino einlud. Von da ab wusste sie, dass er der Mann war, mit dem sie für immer und ewig zusammen leben wollte. Nach ihrer Heirat schien dem gemeinsamen Glück tatsächlich nichts mehr im Weg zu stehen, bis Kai plötzlich aus dem Leben gerissen wurde. Wegen des schrecklichen Geschehens entglitt Julia mehr und mehr der gewohnte Alltag und sie flüchtete sich in Erinnerungen und Fantasievorstellungen, in denen das Lied aus dem Film zu ihrer ganz persönlichen Schicksalsmelodie wurde. Inneren Halt suchte sie schließlich bei ihren Eltern auf Mallorca und zog mit den Kindern Jana und Lars auf deren Finca. In einer kleinen Piano-Bar traf sie zufällig Álvaro, den Klavierspieler. Die erstaunliche Ähnlichkeit mit Kai und seine jungenhafte Leichtigkeit verunsicherten sie in ihrer Trauer zutiefst, bis sie sich eingestand, ihn zu lieben, als erneut das Schicksal zuschlug. Erst die mysteriösen Begegnungen mit einem Fremden brachten nicht nur ihrem Leben eine alles entscheidende Wendung.

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Diese Geschichte hat sich in meiner Fantasie wahrhaftig so, wie ich sie aufgeschrieben habe, zugetragen. Alle handelnden Personen wollten nicht zufällig, sondern auf ihren ganz ausdrücklichen Wunsch hin erwähnt werden. Ich danke Julia, Kai, Álvaro und allen anderen an dieser Stelle, dass ich für einige Zeit an ihrem Leben teilhaben durfte.

Rainer Mauelshagen

Schicksalsmelodie

du wirst uns zwei begleiten,

doch wenn du erklingst,

kann das zu allen Zeiten

nur ein Gruß mir sein aus wunderbaren Tagen,

die heut für uns zwei so lang vorbei.

Deutsche Übersetzung von »Schicksalsmelodie«: Karel Gott

Inhaltsverzeichnis

Vorspiel

1.

Teil

Jahre vorher

Schreck in der Abendstunde

Abschiedsstunde

Am Abend danach

Irrungen und Wirrungen

Die Entscheidung

Die Begegnung

2.

Teil

Zwischen den Gefühlen

Gewissensbisse

Höhere Macht

Hoffen und Bangen

Die Überraschung

Die Wendung

Ausklang

Vorspiel

Sehen Sie den Mann da hinten? Nein, nicht den mit dem Hut, der dem Ausgang zustrebt, den anderen meine ich, der gerade durch das Tor den Friedhof betritt. Ach, Sie kennen ihn nicht? Es ist Lars Brossmann. Lars Brossmann ist der Inhaber des renommierten Autohauses Brossmann in der Schneiderstraße. Seit er vor fünf Jahren aus Mallorca zurückgekehrt ist, geht er zu jedem Totensonntag an das Grab seines Vaters.

Moment, er kommt!

»Guten Tag, Herr Brossmann.«

Hm, er hat mich nicht gehört, anscheinend war er zu sehr in seinen Gedanken versunken. Tja, er hat es auch nicht immer einfach gehabt im Leben. Wenn ich allein daran denke, wie viel Unruhe es damals nach dem Tod seines Vaters gab. Ich nehme fast an, davon haben Sie auch noch nicht gehört?

Nun, vielleicht sind Sie ja neugierig geworden, mehr von ihm und seiner Familie zu erfahren? Wenn ja, dann folgen Sie mir bitte in gebührendem Abstand zur Grabstätte seines Vaters.

Stürmisch ist der frühwinterliche Nachmittag am 22. November 2018. Der Himmel ist bedeckt und die Luft wirkt grau verschmiert.

Lars fröstelt. Die Wärme aus seinem Wagen, die noch bis vor wenigen Minuten in seiner Kleidung hing, hat sich inzwischen verflüchtigt. Weil ihm die Kälte bis in den Rücken kriecht, schlägt er den Kragen seiner Jacke hoch, um zumindest den ausrasierten Nacken vor dem eisig-feuchten Wind zu schützen. Am Ende des Weges bleibt er bei den beiden Kastanienbäumen andächtig stehen. Die letzten braunen Blätter fallen von der Nässe beschwert aus dem Geäst der Krone. Zwischen den mächtigen Stämmen befindet sich die letzte Ruhestätte seines viel zu früh verstorbenen Vaters. Regungslos steht er davor. Das etwas klein geratene Bukett fest in der Hand haltend, starrt er eine ganze Weile auf den im Grabstein eingravierten Namen, als wäre es das erste Mal. Leise murmelt er ihn vor sich hin: »Kai Brossmann, geboren 1961, gestorben 2003.«

Noch wenige Tage vor dem Unglück hatte Lars mit ihm fröhlich seinen vierzehnten Geburtstag gefeiert, daran muss er jetzt denken. Er ruft sich die schönen Augenblicke jenes Tages in die Erinnerung, als könne er seinen Vater dadurch wieder lebendig machen. Plötzlich ist ihm danach, vor Erbitterung laut aufzuschreien, weil er nicht mehr genau weiß, wie sein Vater ausgesehen hat. Anstelle seines Gesichtes tauchen nur verschwommene Konturen vor seinem geistigen Auge auf. Noch nicht einmal an das Foto erinnert er sich, das früher in seinem Jugendzimmer hing. Eines Tages war es verschwunden. Wie gerne hätte er es heute in seinem Besitz gehabt. Mutter wollte ihm damals nicht sagen, wo dieses und weitere Bilder von Vater abgeblieben waren. »Wir brauchen sie nicht mehr«, sagte sie beinahe beiläufig, »Vater ist nicht tot.« Und er hatte nicht begriffen, wie sie es meinte.

Er atmet hörbar auf. Alles schon so lange her. Ein wenig wehmütig fragt er sich, wo die Jahre geblieben sind. In diesem Moment vermisst er seine Mutter und seine Schwester, die auf Mallorca wohnen. Seit vielen Jahren lebt Mutter dort in einer neuen Beziehung, und Jana, die Flugbegleiterin geworden ist, hat vor Kurzem auf einem ihrer Flüge einen Piloten kennengelernt. Mit ihm hat sie sich ganz in der Nähe von Mutters Domizil ein kleines Apartment eingerichtet.

Nur gut, dass sie in einem Monat alle zu Besuch kommen, denkt er sich. Auch Angelika, seine Frau, und die Kinder Mia und Leon freuen sich schon darauf, mit ihnen Weihnachten zu feiern. Die Zeiten, wo er nach Vaters Tod an manchen Tagen Hass gegenüber seiner Mutter und seiner Schwester verspürte, sind längst vergessen.

Er hasste damals überhaupt sehr viel. Er hasste seinen Vater, weil er ihn allein gelassen hatte, und seine Mutter, weil sie sich seinerzeit nicht genügend um ihn kümmerte, wie er meinte. Er hasste seine Schwester, weil sie immer vorgezogen wurde, wie er ebenfalls glaubte, er hasste einfach die ganze Welt. Aber am meisten hasste er sich selbst.

Ihm steigen Tränen in die Augen. Verschämt schaut er sich um, ob ihn jemand beobachtet. Nein, die da hinten werden nichts bemerkt haben, sagt er sich. Niemand soll seine Gefühle deuten können. Er hat doch mühsam gelernt, sie nicht nur zu unterdrücken, sondern sie auch weitgehend zu beherrschen, weil er früher auch sie gehasst hat. Vater sollte doch stolz auf ihn sein. Heute wäre er sicherlich stolz auf ihn. Sogar das Geschäft hat Lars wieder auf Vordermann gebracht. In der Zeit, wo er unmittelbar nach Vaters Tod mit Mutter und Jana auf Mallorca bei seinen Großeltern Hannelore und Adolf lebte, hätte der Geschäftsführer die Firma fast ruiniert. Eigentlich wollte Lars ja für immer auf der Insel bleiben. Er liebte das süße Leben und die wilden Nächte. Doch eines Tages war es ihm, als spräche eine innere Stimme zu ihm, das weiterzuführen, was sein Vater bereits von dessen Vater vererbt bekam. Das Autohaus Brossmann gehört schon eine lange, sehr lange Zeit zur Stadt wie ein amtlicher Stempel im Branchenbuch, und es wäre ein Jammer gewesen, das Geschäft und die Tradition leichtfertig an die Wand zu fahren. Zur Überraschung seiner Familie flog er von heute auf morgen nach Deutschland, um die Geschäftsübernahme klarzumachen.

Im Büro begegnete ihm Angelika, die junge, hübsche Sekretärin, die in der Zwischenzeit eingestellt wurde. Genau in dieser Minute des ersten Begegnens gab es noch eine andere Stimme in seinem Kopf, nämlich seine eigene, die auf ihn einsprach, diese Frau ohne Wenn und Aber zu seiner zu machen. Seit vier Jahren sind sie nun verheiratet. Unwillkürlich kommt ihm sein Sohn Leon in den Sinn, der in zehn Jahren in dem Alter sein wird, als er seinen Vater verlor. Für ihn ist es immer noch nicht begreifbar. Der plötzliche Verlust seines geliebten Dads hatte ihm sehr weh getan und ihn beinahe aus der Bahn geworfen. Zufällig am Fenster seines Zimmers stehend, hatte er an jenem Abend den Polizeiwagen im Laternenlicht ankommen sehen, kurz darauf klingelte die Haustürglocke. Von Neugierde getrieben war er ins Treppenhaus geschlichen, um von der obersten Stufe zu lauschen, was der Beamte mit seiner Mutter zu bereden hat.

Während Lars jetzt die damalige Situation gedanklich Revue passieren lässt, schnürt es ihm den Hals zu. Er will das nicht mehr. Er will sich nicht mehr von seinen Erinnerungen quälen lassen. Er will endlich frei sein. Mit dem Handrücken wischt er sich über die Augen. Spontan beschließt er, nie mehr an das Grab seines Vaters zu gehen. Er will nicht weiterhin vor einem Haufen Dreck an ihn denken. Erde und Dreck, mehr hat der Tod nicht von ihm übrig gelassen.

Das ist jetzt Vergangenheit, beschließt er. Die Zeit bleibt nicht stehen. Jetzt ist er am Zug. Er will auch nicht, dass Leons und Mias Leben vom Tod ihres Großvaters beschwert wird. Sie kennen ihn doch gar nicht. Wenn man es genau nimmt, dann hat er nie für sie existiert.

Mit dem Fuß fegt er energisch das Laub beiseite. Hastig legt er das Gebinde ab. In dem Moment fällt sein Blick auf ein Buddelloch in der Erde. Direkt in der Höhe des Grabsteins, fast versteckt unter den Zweigen einer Azalee, befindet es sich. Hier muss irgendein Tier gewühlt haben. Als er genauer hinsieht, fällt ihm etwas auf, das seiner Meinung nach nicht dorthin gehört. Er nimmt sich einen abgebrochenen Ast, der in der Nähe liegt. Neugierig geworden kratzt er damit die Erde beiseite, bis er auf einen harten Gegenstand stößt. Rasch hat er den Schmutz entfernt. Verwundert hält er einen flachen Plastikbehälter in der Hand, der wohl früher einmal für ein Pausenbrot bestimmt war. Er schüttelt ihn, und es klappert darin. Als habe er einen verbotenen Schatz gefunden, schaut er sich abermals prüfend in der Gegend um. Als er schließlich den Behälter öffnet, ist er fassungslos. Er kann gar nicht glauben, was er da zu sehen bekommt.

Dem Aussehen nach ist es eindeutig die Umhüllung einer jener Kassetten, mit denen man sich früher Tonbandaufnahmen anhören konnte. Allerdings ist das Label dieser Kassette laienhaft gestaltet worden. Vier Bilder, wie man sie damals in Passfotoautomaten machen ließ, waren als Titelblatt passend zurechtgeschnitten worden. Auch wenn das darauf abgelichtete Liebespaar kaum Ähnlichkeit mit seinen Eltern aufweist, erkennt er dennoch, dass sie es sind.

Als sie sich zu diesen Aufnahmen hinreißen ließen, waren sie unverkennbar noch Jugendliche. Lachend, sich küssend und alberne Grimassen schneidend. Unsere Love-Story lautet die Überschrift. Trotz der kalten Windböen ist ihm heiß geworden. Unschlüssig begutachtet er seinen Fund. Er versteht nicht, was das bedeutet. Neugierig klappt er die Umhüllung auf, und darin befindet sich tatsächlich eine Kassette mit dem Titel Love-Story.

Aber noch etwas fällt ihm in die Hände. Es ist ein beschriebener Zettel, auf dem mit wackeliger Schrift, von der Zeit arg verfärbt, aber dennoch recht gut lesbar folgende Worte stehen:

Schicksalsmelodie, du wirst uns zwei begleiten,

doch wenn du erklingst, kann das zu allen Zeiten,

nur ein Gruß mir sein aus wunderbaren Tagen,

die heut für uns zwei so lang vorbei.

PS: Liebe heißt, niemals um Verzeihung bitten zu müssen.

Adieu Geliebter, deine Juju

Ausgerechnet in diesem Augenblick fällt ihm etwas Hartes auf den Kopf, weswegen er abrupt aus seinen Gedanken gerissen wird. Sofort hat er den Verdacht, jemand habe einen Stein nach ihm geworfen. Sich die Stelle reibend, schaut er verärgert zu seinen Füßen. Doch vor seinen Schuhen liegt kein Stein, sondern eine Kastanie, die er als Übeltäter ausmacht. Im Geäst über sich entdeckt er zwischen den wenigen braunen Blättern keine einzige Kastanie mehr.

»Ausgerechnet«, schimpft er. Rasch steckt er seinen Grabfund in die Jackentasche und verlässt eilig den Friedhof.

1. Teil

Jahre vorher

November 2003. Tiefschwarz lag die Nacht über der unwegsamen Landschaft. Frostklirrender Wind jagte Schnee und Graupel vor sich her. Ein Auto, dessen matte Scheinwerfer gierig die Dunkelheit fraßen, raste durch die Finsternis. Der Fahrer, der im Rhythmus der Wischblätter angestrengt durch die schmierigen Streifen auf der Windschutzscheibe blickte, hatte alle Mühe, sein Fahrzeug unter Kontrolle zu halten.

Was soll das hier? In welche verdammte Hölle bin ich geraten?

Unruhig rutschte der Mann auf seinem Sitz hin und her. Niemals zuvor in seinem Leben war er in solch einer öden Gegend gewesen. An das Letzte, an das er sich erinnerte, war, dass er nach Büroschluss mit Geschäftspartnern auf eine Pizza bei Vito, seinem Lieblingsitaliener, eingekehrt war. Sie hatten sich am Nachmittag kurzfristig angemeldet. Die Besprechung dauerte nicht lange, man war sich schnell einig geworden. In entspannter Runde schaffte auch der Chianti eine gute Atmosphäre. Bevor er nach Hause fahren wollte, rief er seine Frau Julia an, sie solle sich keine Sorgen machen, er wäre spätestens in einer viertel Stunde zu Hause. Daran dachte er jetzt. Ihm fiel auch noch vage ein, wie er nach der Verabschiedung tatsächlich in den Wagen stieg. Ab da jedoch riss der Erinnerungsfaden. Was danach geschah, schien in seinem Schädel ausgelöscht. So sehr er sich auch anstrengte, er fand nicht die Zusammenhänge seiner augenblicklichen Situation. Hinzu kam, dass sämtliche Instrumente seines Bordcomputers nichts mehr anzeigten. Verdammt! Was nutzt einem diese scheiß Technik, wenn sie im Ernstfall nicht funktioniert? Auch das Radio blieb stumm, nur das Rauschen aus den Lautsprechern vermischte sich mit dem monotonen Geheul des Sturms, der gewaltig am Blech seines Wagens rüttelte. Außerdem wurde die Sicht immer schlechter. Vor Aufregung standen ihm Schweißperlen auf der Stirn.

Vorsichtig trat er auf die Bremse. Der Wagen rutschte aus der Spur, dann wurde er Gott sei Dank langsamer, bis die Räder schließlich zum Stehen kamen. Von all dem irritiert schaltete er ratlos den Motor ab. Nach kurzem Überlegen entschied er sich dafür, draußen nachzusehen. Vielleicht gab ihm das irgendeinen Hinweis?

Zögerlich stieg er aus. Schnee und feine Hagelkörner peitschten in sein Gesicht. Ihn überkam das Gefühl, dass das Toben des Sturmes ihm den Sauerstoff zum Atmen nahm. Kälte und Angst krochen in und an ihm hoch. Diese Gegend war der Feind jeglichen Lebens. Kein Baum noch Strauch. Ödnis weit und breit. Niemals in seinem Leben hatte er sich so verlassen gefühlt, so hilflos. Ihm kam es vor, als habe ihn eine kalte Hand wie einen Dieb am Kragen gepackt und in dieses nasse, eisige, unwirkliche Verlies geworfen. Denn so fühlte es sich wahrhaftig an, wie in ein Verlies geworfen. Darin gefangen war er scheinbar unfähig, eigenständig handeln zu können. Dabei war er es gewohnt, zu delegieren. Zum Telefon zu greifen und Anordnungen zu treffen. Das Leben hatte ihn bisher zum Sieger erklärt. Seine Art, mit den Ellenbogen zu denken, hatte ihm rückblickend nicht nur geschäftlich Respekt und Erfolg eingebracht. Seinen Widersachern begegnete er stets mit Kalkül und einem kühlen Lächeln. Die jetzige Situation allerdings verunsicherte ihn zutiefst.

Er klopfte den Schnee vom Anzug, um sich gleich darauf wärmend die Hände zu reiben. Es fiel ihm schwer, gegen das Zittern anzukämpfen. »Reiß dich zusammen, Kai«, stöhnte er. Es musste augenblicklich eine Entscheidung getroffen werden. Vorwärts oder zurück?

Er setzte sich wieder hinter das Steuer. Für ihn gab es nur ein vorwärts. Attacke! Verzweifelt schrie er seinen Frust von der Seele. Der Motor jaulte auf. Von Unruhe getrieben gab er den 240 PS die Sporen. Mit durchdrehenden Rädern schnitt sich das Fahrzeug seine Bahn durch das schwarze Einerlei, obwohl er sich rechts und links an nichts orientieren konnte. Noch nicht einmal an der Zeit, die nicht zu vergehen schien, als habe sie ihre Existenz verloren. Die Ziffern der Uhr waren auf 21.00 Uhr stehen geblieben. Es sah ganz so aus, als wären gestern, heute und morgen zu einem einzigen Augenblick verdammt worden. Darum verlor er auch das Empfinden dafür, wie lange er schon gefahren war. Frustriert drückte sein Fuß das Gaspedal bis zum Anschlag nach unten. Ein teuflisches Tempo legte er vor. Bei dieser Geschwindigkeit überkam ihn das Gefühl, in den Sog einer Röhre geraten zu sein, in der die Dunkelheit immer undurchdringlicher auf der Windschutzscheibe klebte.

Hoch konzentriert überkam ihn dennoch Müdigkeit. Der Sekundenschlaf ließ ihn hin und wieder für Augenblicke das Steuer verreißen. Irgendwie musste er sich wachhalten. Wenn er jetzt einen Unfall baute, war er verloren! Vor seinem inneren Auge malten sich schreckliche Bilder ab, wie er schreiend und mit zerfetzten Gliedmaßen blutüberströmt im rotgefärbten Schnee lag. Um sich wach zu halten, sang er irgendein dummes Lied, zu dem seine Hand kräftig den Takt auf das Lenkrad schlug.

Plötzlich, für den Bruchteil einer Sekunde, meinte er, ein schemenhaftes Etwas vor seinem Wagen zu sehen. Vor Schreck trat er mit durchgestrecktem Bein auf die Bremse. Jäh drehte sich der Wagen mehrmals um seine eigene Achse. Wie auf Schmierseife schlitterte das Fahrzeug unkontrollierbar dahin. Seine Hände verkrampften sich am Lenkrad. Kurz darauf gab es einen gewaltigen Schlag. Heftig ruckte er nach vorne. Was zum Teufel war das? Hatten ihn seine Ohren genarrt? Es hatte sich angehört, als wäre Blech zerrissen. Schrill und schmerzend knirschte das Geräusch immer noch in seinem Kopf nach. Hinzu kam ein irrsinniger Schmerz, der seinen Leib wie ein glühendes Eisen durchfuhr. Regungslos starrte er ins Nichts.

Was war das? Hat da jemand gerufen?

Fast zum Wahnsinn getrieben ließ er die Seitenscheibe runter. Stille! Seltsam, schlagartig hatte das Unwetter aufgehört. Auch spürte er jetzt keine Schmerzen mehr. Sollte er aussteigen und nachsehen? Ja, er wollte Gewissheit. Er musste es sich beweisen, dass er nicht halluzinierte. Da war vorhin jemand aufgetaucht!

Die Neugier war größer als die Furcht. Doch irgendetwas hinderte ihn daran, den Wagen zu verlassen. Etwas steckte in seiner Brust. Es war gar nicht so einfach, sich von diesem seltsamen Ding zu lösen. Aber er schaffte es dann doch und verließ das Fahrzeug. Misstrauisch tastete er sich Schritt für Schritt vor.

»Hallo! Hallo! Ist hier jemand? Hallo!«

Er erschauderte über seine eigene Stimme. Es hörte sich an, als hallte sie aus allen Richtungen zurück. Aber eine Antwort bekam er nicht. Anscheinend gab es außer ihm keine Menschenseele weit und breit. Wie Geisterstimmen schallte sein Echo durch die Finsternis.

Mit beiden Händen verschloss er sich die Ohren. Sein Rufen wollte nicht mehr verklingen. Gerade setzte er einen weiteren Schritt, da zog er entsetzt den Fuß zurück. Beinahe wäre er ins Leere getreten. Vor ihm tat sich ein Abgrund auf. Weil er wissen wollte, wie tief er war, legte er sich dicht an dessen Rand. Aus der scheinbar nicht enden wollenden Tiefe meinte er helles Funkeln zu erkennen. Ein Funkeln, wie man es kennt, wenn man bei einer klaren Oktobernacht die Sternenpracht in der Unendlichkeit des Universums bestaunt. Bei der Feststellung, so nahe am Abgrund vorbei gefahren zu sein, überkam ihn Dankbarkeit, rechtzeitig genug stehen geblieben zu sein. Die Schlucht hätte ihn unweigerlich wie ein hungriger Moloch geschluckt.

Es drängte ihn, unverzüglich zu seinem Auto zu kommen. Die letzten Meter nahm er im Laufschritt. Abgehetzt öffnete er die Wagentür, und im gleichen Moment prallte er zurück.

»Um Gottes willen!« Auf dem Beifahrersitz saß jemand, von dem er auf Anhieb nicht sagen konnte, ob es sich dabei um einen Menschen oder einen Geist handelte. Die Gestalt sah ihn an. »Wer in aller Welt sind Sie, wie kommen Sie hierher?«

»Komm, Kai, setz dich!« Die Stimme des Fremden klang bestimmend, aber auf eine besondere Art dennoch freundlich.

»Woher kennen Sie meinen Namen?«

»Beruhige dich, Kai! Nun setz dich endlich! Du brauchst keine Angst vor mir zu haben.«

Unentschlossen nahm Kai auf dem Fahrersitz Platz. Aber ein Bein hielt er vorsichtshalber fluchtbereit aus der noch halb geöffneten Wagentür.

»Lass den Unsinn, Kai. Schließ die Tür und fahr los, wir müssen weiter.«

»Hören Sie, wer immer Sie sind, ich lasse mir von Ihnen keine Befehle erteilen! Warum sollte ich Sie überhaupt mitnehmen? Und sagen Sie mir endlich, woher Sie meinen Namen kennen?« Während Kai sich sprechen hörte, gewann er wieder etwas an Selbstsicherheit. Schließlich machte der Kerl nicht den Eindruck, ihm gefährlich werden zu können.

Der Fremde lächelte ihn mit eisigem Blick an. »Ich kenne alle Menschen. Und alle werden mich zu gegebenen Zeit kennenlernen, wenn ich sie abhole. Du jedoch bist zu früh gekommen, Kai. Du hast das Leben und damit mich herausgefordert. Deine Zeit war noch nicht abgelaufen. Leider hat dich dein Leichtsinn zur falschen Zeit zu mir geführt.«

»Sind Sie verrückt, Mann? Was soll der Unfug! Verschwinden Sie!«

Zu allem entschlossen sprang Kai aus dem Wagen und rannte um das Auto herum. Um den Eindringling vom Sitz zu zerren, riss er die Beifahrertür auf. Als er nach ihm packte, spürt er bestürzt, wie seine Hände ins Leere griffen. Da war nichts! Er bekam ihn nicht zu fassen. Es war, als greife er in einen Schatten. Aber kann ein Schatten lachen?

Begleitet von dessen Gelächter sank Kai vor Verzweiflung auf die Knie. Nun war er sich sicher, dass er irregeworden war. Hemmungslos weinend schlug er die Hände vor das Gesicht.

Die Gestalt stand jetzt direkt vor ihm. Gegen deren Hand, die nach Kais Arm griff und ihn kraftvoll hochzog, konnte er sich nicht wehren. Für eine Weile standen sie sich schweigsam gegenüber. Dann fragte Kai sein Gegenüber, ob er tatsächlich ein Geist oder eine Illusion wäre.

»Oder bist du doch ein Mensch? Dann sag mir deinen Namen!«

Wieder lachte der Gefragte. »Was sind schon Namen? Was würde es dir nützen, ihn zu wissen? Aber wenn du mich unbedingt mit Namen ansprechen möchtest, dann nenne mich einfach Schicksal. Ich bin dein Schicksal, Kai! Ich bin der Lohn deines Lebens! Ich begleite dich schon seit deiner Geburt.«

»Hallo! Willst du mich auf den Arm nehmen … Schicksal! Aber wenn es denn so sein sollte, wieso bin ich dir dann zuvor noch nie begegnet?«

»Weil du mich nicht sehen wolltest. Zu oft schon hast du deine Ohren vor mir verschlossen, wenn ich zu dir geredet habe.«

Kai sah sich prüfend um. Etwas Absurdes geschah, daran gab es keinen Zweifel. Er fragte sich allen Ernstes, ob er noch er selbst war. Doch dann schaute er dem Schicksal mit festem Blick in die Augen. »Und warum kann ich dich jetzt sehen und hören?«

»Weil ich komme, wenn man nicht mit mir rechnet, ob du willst oder nicht. Nur ich kenne Tag und Stunde.«

»Ich verstehe dich nicht, was redest du da?« Verärgert trat Kai einen Schritt zurück. »Jetzt wird mir alles klar, jemand hat mir was in den Wein gepanscht, das hier ist ein Horrortrip!« Er machte Anstalten, wegzugehen, dem Schicksal den Rücken zu kehren.

»Bleib stehen, Kai, du kannst mir nicht entwischen. Ich meine es doch gut mit dir. Komm, ich bringe dich nach Hause.«

»Nach Hause? Ja, tu das, Schicksal, ich will nach Hause. Ich will endlich zu meinen Kindern, zu Lars und Jana und Julia, meiner geliebten Frau!«, schrie Kai in seiner Mutlosigkeit. »Wirst du mir den Weg dorthin zeigen? Willst du es wirklich tun? Für dich muss das doch eine Kleinigkeit sein. Ich meine, bei deinen geistreichen Sprüchen. Also Schicksal, steig wieder ein, wir fahren sofort los!«

»Halt, Kai! Dahin, wo du denkst, wirst du nie mehr zurückkehren.«

»Bitte?« Zornig geworden ballte Kai die Hände zu Fäusten. »Ich hör wohl nicht richtig. Wer sollte mich daran hindern, du etwa?«

»Ja!« Der, der sich Schicksal nannte, kam Kai bedrohlich nahe. Gleich darauf spürte er, wie ihm fest an den Schultern gepackt wurde. »Hör mir zu, hör mir jetzt gut zu! Wie ich dir eben sagte, war, dass deine Stunde noch nicht gekommen ist. Dein Leichtsinn hat mir ins Handwerk gefuscht. Du bist bei glatter Straße zu schnell gefahren. In einer Kurve hat sich dein Fahrzeug überschlagen, dabei kam es erst an einer Leitplanke zum Stehen, wodurch diese zerbarst. Ein Teil von dem gebrochenen Metall drang genau an der Stelle ins Fahrzeuginnere, wo sich das Lenkrad befand.« Das Schicksal stockte. »Na ja, was soll ich sagen, bald wird man dich finden und den Rettungsdienst rufen. Aber … es wird für dich zu spät sein.«

Bestürzt riss sich Kai los. »Wie? Ich bin was? Ich begreife das nicht! Heißt das … heißt … das, dass ich … tot bin?«

»Dein Körper ist tot, Kai, nicht du.«

»Nein! Nein! Das darf nicht wahr sein! Du hast mich belogen, du bist nicht das Schicksal, du bist der Tod!«

»Ich habe es dir doch gesagt, was nützt dir ein Name? Schicksal oder Tod, es ändert nichts daran, dass du jetzt bei mir bist.«

»Nein, ich will nicht tot sein!«, brüllte Kai. »Ich bin zweiundvierzig Jahre alt, du hast dich geirrt. Zum Teufel mit dir, du musst dich geirrt haben. Ich bin doch noch so jung. Ich habe finanzielle Verpflichtungen. Ich habe berufliche und gesellschaftliche Verantwortung. Ich muss für meine Familie sorgen. Ich will meine Kinder aufwachsen sehen. Ich habe keine Zeit, tot zu sein. In vierzig Jahren vielleicht, aber doch nicht jetzt! Hörst du? Nicht jetzt!« Mit erhobenen Armen fiel Kai flehend vor ihm nieder und schrie: »JULIA, JANA, LARS!«

»Kai, hör auf, dein Schreien wird diesen Raum nicht verlassen. Erhebe dich! Du hast einen weiten Weg vor dir. Verlass dich nur auf mich, ich werde dich begleiten.«

Wie ein Häufchen Elend lag Kai dem Tod winselnd zu Füßen. Alles war ihm entrissen worden. Alles, wofür er all die Jahre gekämpft hatte. Alle seine Ideale, seine Ziele, sein Hab und Gut und nicht zuletzt seine Familie, in einem Augenblick verloren. Wie ein gestraftes Kind reckte er dem Tod um Hilfe bettelnd die Hände entgegen. Er hatte nur noch einen Wunsch: von seiner Frau und den Kindern Abschied zu nehmen.

Schreck in der Abendstunde

Ächzend öffnete der Streifenbeamte die Beifahrertür des Einsatzwagens. Sichtlich erregt ließ er sich in den Sitz fallen. Umständlich kramte er ein Taschentuch aus der Hosentasche, nahm die Schirmmütze vom Kopf, um den Schweiß vom Lederband seiner Kopfbedeckung trocken zu wischen.

»Fahr los ins Präsidium«, bat er, ohne seine junge Kollegin anzusehen.

»Danke, dass du gegangen bist, Jochen.« Erleichterung spiegelte sich auf ihrem Gesicht.

Der Polizist stöhnte erneut. »Ich weiß nicht, wie oft ich in meinen fünfundzwanzig Berufsjahren schon Todesnachrichten überbracht habe, aber es ist immer wie das erste Mal, man kann darin keine Routine bekommen. Hast du die Frau gesehen, die mir geöffnet hat? Sie hat gleich gewusst, warum ich vor ihr stand. Ich habe es ihrem Gesicht und ihrer plötzlich veränderten Haltung angesehen. Frauen haben ein Gespür dafür.«