Grab 47 - Rainer Mauelshagen - E-Book

Grab 47 E-Book

Rainer Mauelshagen

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Beschreibung

Ein Autounfall beendet das alte Leben von Marc Levante auf dramatische Weise, aber damit beginnt für ihn auch eine neue Existenz als Albert Mertin, der wegen seiner schrecklichen Brandnarben schon rein äußerlich keine Ähnlichkeit mehr mit dem Menschen hatte, der er vorher gewesen war. Doch damit nicht genug, Mertin hat auch keinerlei Erinnerung an den Unfall, sein neues Leben in Südfrankreich wird zu einem unlösbaren Rätsel. Aber er ahnt, dass in seiner Vergangenheit etwas Grausames geschehen sein muss. In Deutschland ist derweil Hauptkommissar Hartmut Schnapp mit einem Vermisstenfall beschäftigt. Eine gewisse Constanze Cramer rückt dabei in den Fokus der Ermittlungen, denn ein ominöser Brillantring wird dabei zu einem roten Faden, der die Schicksale mehrerer Menschen verknüpft.

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Dieses Buch widme ich meiner lieben Frau Maria, weil sie mir in unserer Gemeinsamkeit immer wieder die Zeit schenkt, damit ich mich mit dem Schreiben meiner Texte als Person und als Mensch weiter entwickeln kann.

Rainer Mauelshagen

Angst ist nur ein Schatten, mag er noch so schwarz und beunruhigend sein. Das Licht der Hoffnung nimmt ihm die Bedrohung.

Rainer Mauelshagen

Der Autor

Rainer Mauelshagen wurde am 5. März 1949 geboren. Seine Kindheit und Jugendzeit verbrachte er in Wuppertal. Seit 1984 wohnt der Autor in Vettelschoß, einer ländlichen Gemeinde im äußersten Norden von Rheinland-Pfalz. Rainer Mauelshagen ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder und vier Enkelkinder. Nach Ausübung verschiedener Berufe widmet sich der Autor seit einigen Jahren intensiv dem kreativen Schreiben. Mit Grab 47 ist nach Das Kastanienherz und Herr Jonas erwartet Besuch nun sein dritter Roman veröffentlicht worden. Der ganz eigene Schreibstil ist es, der seine Bücher in dem Sinne lesenswert macht, weil es dem Autor immer wieder gelingt, die Leser emotional in seine literarischen Erzählungen hineinzuziehen.

Inhaltsverzeichnis

Wie alles begann!

Der Fremde

Der Unfall

Von Freund zu Freund

Déjà-vu-Erlebnis

Eine unverhoffte Begegnung

Paradies auf Zeit

Ein Lichtblick

Der Störenfried

Ein verhängnisvolles Gespräch

Die Entscheidung

Hals über Kopf

Das Schicksal ist ein gemeiner Dieb

Ein Ende mit Schrecken oder ein Schrecken ohne Ende?

Wie alles begann!

K ampmann. Mein Name ist Hans Georg Kampmann, und ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen. Es ist nicht meine Geschichte, sie wurde mir von einem Mann erzählt, der mir bis zu jenem Zeitpunkt völlig fremd war. Ich muss sie einfach erzählen, da sie mir nicht mehr aus dem Kopf gehen will, obwohl ich eigentlich Stillschweigen darüber bewahren wollte, weil ich befürchtete, dass sie mir keiner glauben könnte. Wer hat schon jemals davon gehört, dass jemand zweimal stirbt? Ja, Sie lesen richtig, der Kerl, um den es geht, hat mir in jener Nacht weismachen wollen, dass er schon einmal gestorben ist, obwohl er sehr lebendig neben mir saß.

Aber vielleicht denken Sie anders darüber, wenn Sie alles erfahren.

Die Geschehnisse liegen bereits einige Jahre zurück. Wie gewöhnlich las ich an jenem Morgen während des Frühstücks meine Zeitung, als mir im Lokalteil ein Artikel ins Auge fiel. Beinahe hätte ich mir vor Schreck den heißen Kaffee über die Schlafanzughose geschüttet. Dort stand nämlich in der Spalte aus dem Polizeibericht, dass ein noch unbekannter Mann, wohl in Absicht der Selbsttötung, am vorangegangenen Tag gegen 18 Uhr von der Fußgängerbrücke am Hauptbahnhof auf einer der darunter liegenden Hochspannungsleitungen gesprungen wäre und augenblicklich bis zur Unkenntlichkeit verbrannte. Ich fragte mich natürlich sofort, ob es sich bei diesem armen Deubel um jenen Mann handeln könnte, den ich wenige Tage zuvor rein zufällig kennengelernt und der mir seine Absicht, sich das Leben zu nehmen, in einem langen intimen Gespräch angekündigt hatte. Direkt neben mir, hier an meinem Küchentisch, wo ich alles aufgeschrieben habe, saß er und berichtete von den unfassbaren Ereignissen, die ihm das Weiterleben zur Qual werden ließen, sodass er keinen anderen Ausweg mehr sah, als seinem Leben ein Ende zu bereiten.

Jetzt, im Nachhinein, tut es mir wirklich sehr leid, weil ich ihn damals nicht ernst genug genommen habe. Wie auch? Erstens waren wir beide in jener Nacht zumindest anfangs sturzbetrunken. Zwei ausgedorrte Seeleute, die in ein Fass Rum gefallen waren, hätten nicht besoffener sein können. Und zweitens: Wer zweimal stirbt, dem glaubt man nicht! Aber bitte, nicht voreilig urteilen, sagte ich mir. Und überhaupt, solange ich nicht hundertprozentig weiß, ob er es wirklich war, über den in der Zeitung geschrieben wurde, bleibt mir immerhin die Hoffnung, dass der seltsame Fremde längst wieder in Frankreich bei Pierre und dessen Tochter Julie den lieben Gott einen guten Mann sein lässt. Leider hat sich die verrückte Angelegenheit für mich bis heute nicht aufgeklärt.

Der Fremde

N ach getaner Arbeit saß ich an jenem besagten Abend noch auf ein Bier in meiner Stammkneipe. Nicht weil es dort besonders gemütlich ist, nein, ganz im Gegenteil, denn in der engen verräucherten, schäbigen Eckpinte direkt in der Nähe des Hauptbahnhofes trafen sich auch allerhand undurchsichtige Gestalten. Unter ihnen befand sich so manch gesellschaftlich Gestrandeter, der auf den einen oder anderen Schnaps noch einmal kurz in das bunte Leben der Dunkelheit eintauchen wollte, bevor er wieder, vom Alkohol betäubt, seine einsamen Nächte in irgendeinem dreckigen Winkel der Stadt verbringen würde. Aber Jochen, der Wirt, zapfte das appetitlichste Pils der Stadt und brutzelte die leckersten Frikadellen weit und breit. Allein das war der Grund, warum ich seit Jahren dieser mir lieb gewonnen Gewohnheit nachging, zum Abschluss der Tagespflichten bei ihm einzukehren.

So fiel mir der Mann, der mir am Nachbartisch direkt visà-vis saß, zunächst auch gar nicht besonders auf, obwohl sein Gesicht von hässlichen Narben entstellt war, wie ich anfangs nur flüchtig bemerkte. Wie zerknülltes Pergamentpapier, geradeso sah seine Haut aus. Jedenfalls achtete ich zunächst nicht darauf, bis mich sein starrer, nachdenklicher Blick irritierte, der mich zu durchbohren schien. Es ist ein unangenehmes Gefühl, wenn jemand einen ununterbrochen anstiert, ohne dass man wirklich wahrgenommen wird. Total abwesend wirkte der Kerl. Sogar seine filterlosen Zigaretten entzündete er tranceartig, aber mit nervös flatternden Fingern. Eine nach der anderen steckte er sich an, ohne dass sich seine Blickrichtung geändert hätte. Er machte den Eindruck, abgetaucht zu sein in eine ferne Welt, die für alle Außenstehenden unerreichbar war. Erst als Jochen ihm auf mein Geheiß hin ein großes Glas Fusel vor die Nase stellte, hatte ich das Gefühl, dass er mich schemenhaft wahrnahm. Eine Freude wollte ich ihm bereiten, und vielleicht konnte ich ihn mit dem Schnaps aus seiner Lethargie reißen, damit er endlich aufhörte, mich so blöd anzustarren. Also erhob ich lächelnd mein Glas, um ihm zuzuprosten, worauf er tatsächlich wie aus dem Schlaf geweckt hochschreckte. Meine Geste, dass der Schnaps von mir sei, verstand er augenscheinlich, obwohl er zunächst keinerlei Regung des Dankes zeigte. Umso überraschter war ich, als er mir schließlich nachlässig deutete, mich an seinen Tisch zu setzen. Ich zögerte, denn mir war es nicht ganz recht, vor aller Augen näheren Kontakt mit einem dieser Penner zu knüpfen, für den ich ihn alleine schon wegen seiner beschmutzten Kleidung hielt. Außerdem lag ein ziemlich ramponierter Rucksack zu seinen Füßen, in dem er wohl sein gesamtes Hab und Gut verstaut hatte. Schließlich hatte ich einen guten Ruf zu verlieren. Für mich war er zu diesem Zeitpunkt einer dieser Sozialschmarotzer, die nur darauf warteten, dass man ihnen einen Schnaps oder ein Bier spendierte, um danach wie eine Klette an einem hängen zu bleiben.

Seltsam, aber da gab es etwas, das mich trotzdem zu ihm trieb. Ich kann im Nachhinein nicht sagen, ob es die Bestimmtheit um seine Mundwinkel war oder die melancholischen Augen, die mich auf unheimliche Weise zu ihm zwangen. Diesen Mann umgab ein Geheimnis, irgendetwas fesselte mich an ihn. Ich stand also zögerlich auf, rückte einen Stuhl beiseite und setze mich ihm erwartungsvoll gegenüber, geradeso, wie alte Bekannte beieinanderzusitzen pflegen.

Mit finsterem Blick stellte er sich mir als Marc Levante vor.

Hey, Freundchen, willst du mich hypnotisieren? Dieser Satz ging mir spontan durch den Kopf.

Nach einer kurzen Pause beiderseitiger Sprachlosigkeit rief er mit heiserer Stimme nach Jochen, damit er uns beiden neuen Schnaps brachte.

»Das ist nicht nötig«, entgegnete ich peinlich berührt. So weit kam es noch, dass ich mich von einem armen Habenichts aushalten ließ. Aber Marc legte unmissverständlich seine vernarbte Hand auf meinen Arm. Ich spürte sofort, dass er keinen Widerspruch duldete.

»Sie sind mein Gast.« Die energischen Worte unterstrichen meine Deutung. Also ließ ich es geschehen, und es sollte nicht die letzte Runde an diesem Abend gewesen sein, die er für mich ausgab.

Es muss etwa gegen Mitternacht gewesen sein, nur noch wenige Gäste lümmelten sich im rauchgeschwängerten Raum apathisch auf ihren Stühlen herum. Müde dreinschauend spülte Jochen eine ganze Batterie schmutziger Gläser weg, die er nach mehrmaligem Anhauchen und sorgsamem Abtrocknen nochmals prüfend vor die Augen hielt, um sie schließlich gedankenverloren, aber in penibel eingehaltener Reihenfolge auf die dafür vorgesehenen Glasregale vor die matte Spiegelwand zu stellen. Trotz meines inzwischen vom Alkohol reichlich benebelten Zustandes nahm ich zum ersten Mal an diesem Abend die Gelegenheit wahr, mir den Fremden genauer anzuschauen, da dieser wieder geistig entrückt schien. Doch meine Scheu, ihn auf seine Verletzungen anzusprechen, war stärker als meine Neugierde.

»Wie kann ich mich revanchieren?«, unterbrach ich das Schweigen, das oft dann entsteht, wenn man Stunde um Stunde gemeinsam gesoffen hat und die Kondition nachzulassen beginnt. Beinahe hatte ich es bereut, ihn angesprochen zu haben, denn sein Augenausdruck ließ mich erschauern. Sollte ich besser aufstehen und gehen? Aber wie würde er reagieren?

Während ich angespannt überlegte, sagte er: »Lassen Sie uns eine Wette vereinbaren!«

Sofort war ich hellwach. »Eine Wette?« Ich beobachtete unschlüssig, wie der Mann, der sich als Marc Levante vorgestellt hatte, angewidert den schaumlosen Rest seines Bieres in die Kehle rinnen ließ. Dann fiel mein Blick respektvoll auf seinen Deckel, der von Jochens Kugelschreiberstrichen einen ordentlichen Strahlenkranz aufwies, ähnlich der einer Sonne an einem wolkenlosen Sommertag.

»Marc«, drängte ich ihn mit schwerer Zunge, »was für eine Wette?«

»Pst«, machte Marc und legte verschwörerisch den Finger auf die Lippen.

»Wie soll die Wette aussehen?«, bohrte ich hartnäckig, aber flüsternd weiter. Ob mich seine Antwort in diesem Moment wirklich interessierte, ist mir nicht mehr in Erinnerung, aber vermutlich will jeder, der eine Wette angeboten bekommt, wissen, wie diese aussieht.

Marc drehte sich langsam um, wie einer, der aus jeder Ecke Gefahr befürchtete. Mit gehetzt wirkendem Blick erfasste er den gesamten Raum. Danach zeigte er sich sichtlich zufrieden, als keiner der anwesenden Gäste oder Jochen irgendein vernehmbares Interesse an unserer mit einem Male konspirativ gewordenen Unterhaltung zeigte.

»Also«, begann er, »wer die Wette verliert, bezahlt die gesamte Zeche.«

Ich zog ruckartig meine Hand zurück, die er ergreifen wollte, damit ich in seinen Vorschlag einschlug. »Halt, halt, Marc, erst muss ich wissen, um was es geht!«

Wieder suchten seine traurigen, rot geäderten Augen die Kneipe nach Lauschern ab. Leiser und heiserer als zuvor vernahm ich seine Worte. »Ich wette mit Ihnen«, begann er langsam, »ich wette mit Ihnen, dass Sie gerade mit einem Toten zechen!«

Verdammt! Wie hätte ein anderer darauf reagiert, wenn man ihm solch eine Wette anbieten würde? Die meisten würden es wahrscheinlich als Unsinn abtun, weil der, der sie geäußert hatte, schlichtweg durch den konsumierten Alkohol nicht mehr Herr seiner Sinne gewesen sein konnte. Meine umgehende Antwort war deshalb ein spannungsentladener Lachanfall, der die beschauliche Stille in der Kneipe abrupt beendete.

»Ich tue was?«, schüttelte es mich von Luftnot begleitet.

»Nun seien Sie doch endlich leise!«, zischte Marc verärgert. »Es braucht ja nicht jeder wissen.« Seine Mimik war eindeutig, und mir blieb beim Anblick seiner entrüsteten Visage tatsächlich das Lachen im Halse stecken.

Jochen sah überrascht zu uns herüber, er hatte wohl Angst, dass wir wieder munter wurden. »Ich mach gleich Schluss!«, rief er fast verzweifelt.

»Also, was ist, schlagen Sie ein?«, drängte Marc.

In der Stadt, in der ich wohne, sind etwa fünfhunderttausend Menschen beim Einwohnermeldeamt gemeldet, von denen die meisten sicher still und unauffällig vor sich hinleben, ohne dass etwas Einschneidendes ihren Alltag in Unordnung bringen würde. Vielleicht lässt sich der eine oder andere scheiden, schlägt seinen Hund oder ist als Falschparker in Verruchtheit gekommen oder, oder, oder. Aber ausgerechnet ich musste dem hirnverbranntesten Menschen dieser Stadt begegnen, der von sich behauptete, tot zu sein, während wir, keinen halben Meter voneinander entfernt, munter ein Gläschen nach dem anderen leeren. Welch ein Quatsch, auf so einen Blödsinn überhaupt einzugehen!

Schon reichte ich ihm siegessicher die Hand und besiegelte damit förmlich den Wetteinsatz. Vieldeutig grinsend zog Marc ein Handy aus der Tasche und wählte hektisch die Nummer des Taxiunternehmens, dessen Werbetafel an der Kneipenwand hing. Es dauerte nicht lange, bis ein dunkelhäutiger Mann mit einem Turban auf dem Kopf knarrend die Pendeltür öffnete. »Wer hat Taxi bestellt?«, murmelte er in die bläulich gelben Rauchschwaden hinein, aus denen ihn die mühsam aufgerissenen Augen der Anwesenden anstarrten.

»Moment!«, rief ihm Marc zu und rappelte sich, ohne sich um die Zeche zu kümmern, kerzengerade auf, um dem Chauffeur zu folgen.

Ich sehe noch den dämlichen Ausdruck in Jochens Gesicht, als ich ihm lachend zurief: »Geht schon in Ordnung, der Deckel wird morgen bezahlt, von wem auch immer!«

Das Weiße in den Augen des dunkelhäutigen Turbanträgers leuchtete irritiert auf, als er sich zu uns in den finsteren Fond umdrehte, und er wiederholte vorsichtshalber noch einmal das Ziel, das Marc ihm eine Sekunde vorher mit unverschämt gruselig geschnittener Grimasse zugeraunt hatte. »Nordfriedhof.« Nun war es wirklich keine angemessene Uhrzeit mehr, zu der sich zivilisierte Menschen (eine knappe Stunde nach Mitternacht, wie die grell leuchtende Uhr neben dem Taxameter anzeigte) zum Friedhof kutschieren lassen. Vor allem nicht, wenn man ihren penetranten Alkoholfahnen entnehmen konnte, dass ihr dortiger Besuch zumindest gegen jede gute Sitte verstieß. Aber im gleichen Augenblick brauste der cremefarbene Mercedes auch schon durch die schwülwarme Augustnacht in Richtung Nordfriedhof.

Über uns stülpte sich eine märchenhafte Kulisse wie aus 1001er Nacht. Zwischen unzähligen glitzernden Lichtpunkten am tintenschwarzen Himmel leuchtete der Mond wie ein zum Bersten aufgepusteter gelber Luftballon. Ich hatte einige Mühe, dem großen, hageren Mann zu folgen, der trotz seines Alkoholkonsums schnurstracks und mit Riesenschritten über die knirschenden, von der gelben Säufersonne beschienenen Kieswege zwischen den Grabreihen dahin huschte.

»Die Toten laufen uns nicht weg, Marc«, versuchte ich zu scherzen, doch er warf mir nur einen vorwurfsvollen Blick zu. In der Hoffnung, jederzeit wieder abhauen zu können, drehte ich mich zum Eingang um, ob vielleicht dort noch der Taxifahrer wartete. Aber im matten Zwielicht erkannte ich gerade noch den hell glänzenden Turban, der über dem schokobraunen Gesicht des Inders zu schweben schien, und wie dieser in der Dunkelheit verschwand. Dem waren seine Fahrgäste sicher auch nicht ganz geheuer gewesen.

Als ich mich wieder geradeaus wandte, hatte ich Marc für einen Moment aus den Augen verloren. Erst nachdem ich angestrengt in die Nacht blinzelte, sah ich ihn an einem Grabstein stehen. Hektisch winkte er mir zu. Ehrlich gesagt, mir war es zu diesem Zeitpunkt schleierhaft, warum er mich zu dieser Stunde hierherführte.

»Was sollen wir hier?«, fragte ich ihn.

»Hier ist der Beweis für meinen Wettsieg«, antwortete er wie selbstverständlich.

Ungläubig sah ich abwechselnd zu ihm und zu dem Grabstein, auf den er deutete. »Lesen Sie, was dort steht!«

Ich beugte mich hinunter, sodass ich die Inschrift im Mondschein einigermaßen gut erkennen konnte. Dort stand:

Hier ruhen in Frieden

Jacqueline Levante *10.08.1969 – †14.12.2003

Marc Levante *24.02.1965 – †14.12.2003

Dass ich einigermaßen perplex war, kann wohl jeder verstehen, und es brauchte eine Weile, bis meine grauen Zellen trotz meines Rausches im Begriff waren, langsam ratternd logische Überlegungen anzustellen. »Das kann doch jeder behaupten, da unter der Erde zu liegen«, sagte ich schließlich trotzig, aber nicht gänzlich überzeugend. »Lassen wir es gut sein, Marc, oder wie Sie wirklich heißen. Ich übernehme freiwillig den Deckel, und jetzt lassen wir uns von dem Schlangenbeschwörer wieder zu Jochen fahren, okay? Vielleicht hat er seine Pinte noch offen, oder wir zwei Hübschen finden sonst wo ein lauschiges Plätzchen, wo wir gemütlich den Rest der angebrochenen Nacht bei einer organisierten Flasche Weingeist verbringen können.« Mir wurde die Angelegenheit zu heikel, und ich wollte so schnell wie möglich wieder unter lebende und fröhliche Menschen und weg von dem schauderhaften nächtlichen Friedhof und seiner bedrückenden Grabesstille. Wer wusste es schon, vielleicht hatte ich es mit einem unberechenbaren Irren zu tun?

Während ich grübelte, wie ich Marc von seinem angeblichen Grab und dem der Frau loseisen konnte, sank dieser, begleitet von einem gotterbärmlichen Schluchzen, völlig überraschend auf die Knie und hielt sichtlich derangiert und jammernd die Hände vor die Augen. »Ich bin nicht nur tot«, stotterte er herzerbarmend, »nein, ich bin auch ein Mörder.« Und nach einigen Seufzern klagte er noch: »Seit Kurzem weiß ich gewiss, dass ich ein toter Mörder bin.« Dann stockte er kurz, und plötzlich sagte er völlig gefasst und wie verwandelt: »Und bald bin ich ein toter Selbstmörder.«

Jetzt wurde mir das alles doch zu albern. Ich selbst habe im Rausch schon so manchen Blödsinn verzapft, aber das hier ging zu weit. Und außerdem: Tote weinen nicht!

»Wollen wir das Spiel nicht endlich beenden, Marc?«, fragte ich, bemüht, ihn nicht unnötig zu reizen. Doch er sah mich nur mitleiderregend an und ließ es geschehen, dass ich ihn hilfreich unter dem Arm fasste, um ihn wieder sicher auf die Füße zu stellen.

Nachdem er sich den Dreck von den Hosenbeinen geklopft hatte, kramte er mit der Hand in der Innentasche seines Jacketts, zog seine Brieftasche heraus und hielt mir demonstrativ einen Ausweis vor die Nase. Das Foto zeigte einen wesentlich jüngeren Mann von einer reinen, markanten Physiognomie. Kein Vergleich mit dem entstellten Gesicht, welches mich gerade herausfordernd anglotzte. Aber das dort eingetragene Geburtsdatum und der Name stimmten mit dem auf der Grabsteininschrift tatsächlich überein. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Es war einer dieser Momente im Leben, wo man sich wünscht, gekniffen zu werden, damit man sicher ist, nicht zu träumen.

»Ist das Ihre Frau?«, fragte ich ihn, vor Spannung bis in die Haarspitzen elektrisiert, und wies einigermaßen verunsichert auf den Grabstein.

»Sie war meine Frau.« Geistesabwesend steckte er seinen Ausweis in die Tasche zurück. Beinahe hyperventilierend öffnete er sein Hemd, sodass ich im fahlen Licht des Mondes seinen entblößten Brustkorb voller Narben erkennen konnte, der sich unter den hervorstehenden Rippen wie ein hastig pumpender Blasebalg rhythmisch dehnte und wieder zusammenfiel, wobei sein Atem pfiff und rasselte. Oje, das jammervolle Bild vor mir litt vor Erregung größte Atemnot.

»Sind Sie verheiratet?«, keuchte er dazwischen.

»Nein«, sagte ich.

»Hm.«

Mich überraschte, dass er schlagartig ruhiger wurde. »Haben Sie schon einmal eine Frau geliebt? Ich meine nicht so geliebt, wie man liebt, wenn man einfach so dahinsagt, dass man liebt. Ich meine wirklich geliebt, dass man alles dafür täte, den anderen für immer glücklich zu machen, dem man auch alles verzeihen würde?«

Konsterniert, aber ohne lange zu überlegen erwiderte ich: »Ja, ich liebe auch. Ich habe auch jemanden, den ich so liebe.« Und um meine Antwort zu bekräftigen, nickte ich ihm zu.

»Dann sind Sie auch so ein Egoistenschwein wie ich«, lachte Marc, und dieses Lachen hatte in der hysterischen Steigerung geradezu etwas Teuflisches. Ohne einen Einwand meinerseits abzuwarten, resümierte er japsend weiter, dass die Liebe zu einem anderen Menschen immer nur egoistische Eigenliebe wäre. Und dass sich erst in der Enttäuschung zeige, ob man bereit war, wirklich liebend zu verzeihen.

»Aber wehe dem Partner, wenn dies nicht so ist«, lallte er, »dann wird aus der großen Liebe reiner Hass. Hass, der tötet!« Wieder schluchzte er auf. Es fiel ihm schwer zu sprechen, seine Zunge klebte am Gaumen.

O Gott! Auf was hatte ich mich da eingelassen? Sollte ich zu ihm gehen und ihn trösten? Doch seine Worte hielten mich zurück. Dabei hielt er die Hände gefaltet wie jemand, der vor dem Himmel und der Welt große Abbitte zu leisten hatte.

»Ja, Hass tötet!« Seine Stimme überschlug sich. »Es reicht schon, wenn man es in Gedanken tut! Hass tötet zuerst in den Gedanken, mein Freund. In Gedanken sind wir alle Mörder! Schau mich an! Schau mich ruhig genau an! Vor dir steht einer, der es nicht nur in Gedanken getan hat. Drei Menschen habe ich auf dem Gewissen! Ich habe das, was ich liebte, aus Liebe umgebracht. Und morgen … morgen werde ich mich umbringen, weil ich mich dafür selbst nicht mehr lieben kann.«

Dass er mich plötzlich duzte, machte mir nichts aus, aber ich verstand nichts mehr. Ich verstand ihn und die Welt nicht mehr. Noch vor wenigen Stunden wollte ich mir zum wohlverdienten Feierabend in meiner Stammkneipe nur einen kleinen Absacker genehmigen, und wenig später befand ich mich mit einem mir fremden Mann auf dem Nordfriedhof mitten in der Nacht an einem x-beliebigem Grab, auf dessen Grabstein sein Name und angeblich der seiner Frau verewigt waren. Sicher ein Verrückter, der mir weismachen wollte, nicht nur der Mörder seiner Frau zu sein, sondern dass er selbst im Grab neben ihr liegt und er sich jeglichem Verstand zum Trotze noch einmal umbringen wollte. Der Kerl musste verrückt sein. Aber als ebenso verrückt empfand ich es, dass alles so klang, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt, Zufallsbekanntschaften intimste Dinge mit weitreichenden Folgen auszuplaudern.

»Warum erzählen Sie mir das alles? Wollen Sie sich mit mir einen Spaß erlauben, oder ist das Ihre Art, damit fertig zu werden, besoffen zu sein?« Ich drehte mich um, festentschlossen, ihn auf der Stelle alleinezulassen.

»Warten Sie«, rief er mir hinterher. Schon spürte ich seinen festen Griff auf meiner Schulter.

»Gehen Sie jetzt nicht«, flehte er mich wie ein ängstliches Kind an, das sich in einem finsteren Wald verirrt hat.

Ich blieb stehen und bat ihn energisch, mir auf der Stelle zu sagen, was er von mir wollte, bevor ich auch nur ein Wort mit ihm weiterreden würde.

»Was ich will? Können Sie das nicht verstehen? Wollen Sie nicht begreifen, dass ein Mensch, der so viel Schuld auf sich geladen hat wie ich, sich kurz vor seinem Tod durch eine zwischenmenschliche Aussprache von dieser Last befreien will? Ich habe gleich gesehen, dass Sie ein anständiger Kerl sind. Das sagt mir meine Menschenkenntnis. Sie können zuhören, das sieht man Ihnen an, von Ihrer Sorte gibt es nur wenige. Und Sie brauchen nichts weiter zu tun, als mir nur zuzuhören.«

Ich spürte natürlich, dass mir hier eine arme Kreatur gegenüberstand, die mit dem, was sie Schuld nannte, nicht mehr fertig wurde. Der schlaksige Mann war zu einem Häufchen Elend zusammengeschrumpft, so als sei jegliche Luft aus einer porösen Gummipuppe entwichen.

»Und was ist, wenn ich zur Polizei gehe, Marc?«

Er sah mich nicht sonderlich entgeistert an. Er schüttelte nur versonnen den Kopf und antwortete gelassen: »Was wollen Sie denen denn sagen? Wollen Sie allen Ernstes behaupten, dass Sie einen toten Mörder kennengelernt haben, der sich umbringen will? Nein, nein, mein Freund, wenn Sie Glück haben, lacht man Sie aus, und wenn Sie Pech haben, landen Sie in der Klappse.« Dabei kreuzte er demonstrativ seine fünf gespreizten Finger vor den Augen.

Da war was dran. Ich konnte mich wirklich nur lächerlich machen. Was war auch schon dabei, mir seine Geschichte anzuhören? Und überhaupt, konnte mir dieser Jammerlappen jetzt noch gefährlich werden? Dass ihn das Leben nicht immer freundlich behandelt hatte, war augenscheinlich. Und dass er mich einen anständigen Kerl nannte, brachte zusätzlich eine karitative Seite in mir zum Wohlerklingen. Sollte, durfte ich ihn also enttäuschen?

»Marc, hören Sie, was halten Sie davon, wenn wir zu mir gehen? In einer dreiviertel Stunde ist der Weg zu Fuß zu schaffen. Sie werden sehen, die frische Luft wird uns beiden guttun, und eine starke Tasse Kaffee wird unsere sedierten Lebensgeister mit lauten Fanfaren wecken.«

Marc war sofort einverstanden. Und kurz darauf hallten nur unsere Schritte von den grauen, stummen Hauswänden zurück, während über uns blinde Nachtfalter im trüben Schein der Straßenlaternen taumelten.

Der erfrischende Fußweg in leicht kühler Nacht hatte uns bezüglich der Promille, die wir intus hatten, wirklich gutgetan. Wir waren zwar nicht nüchtern, als ich mein Apartment, das ich zu dieser Zeit noch alleine bewohnte, aufschloss, aber rein gefühlsmäßig hätte ich persönlich, ohne mir allzu große Sorgen zu machen, jegliche Polizeikontrolle überstanden, wie ich mir selbst einredete. Dazu trug später auch der heiße Kaffee bei, einer von der schwärzesten Sorte übrigens, den wir pausenlos in uns hineinschlürften. Demgemäß präpariert konnte ich Marc bald darauf aufmerksam zuhören. Und was ich in dieser Nacht von meiner Zufallsbekanntschaft zu hören bekam, sprengte meine bisherige Vorstellungskraft.

Der Unfall

D en vier jungen Burschen in dem klapprigen VW-Bus, die bei waghalsigem Tempo und mit quietschenden Reifen die schmale Gebirgsstraße talabwärts in Richtung Küste brettern, stockt vor Schreck das Blut in den Adern. Der Fahrer hat ohnehin große Mühe, das altertümliche Vehikel spurgerecht durch die enge, rechts von scharfkantigem Fels gesäumte Kurve zu steuern, als ihnen eine lichterloh brennende Gestalt entgegenwankt. Wie von einem Riesen wild durchgeschüttelt, fliegt sämtliches Gepäck und sie selber kreuz und quer zwischen den Sitzen hin und her, als die Rostlaube, beinahe noch von den Schuhsohlen des Fahrers abgebremst, wenige Millimeter vor der im Feuerschein flackernden Erscheinung zum Stehen kommt. Die Besatzung rappelt sich hoch. Mit weit aufgerissenen Augen starren sie durch die Autoscheiben auf die menschliche Fackel. Und gleich darauf sichten sie die Umrisse eines Autos, das ebenfalls von Flammen eingehüllt ganz in der Nähe schräg an einer Felswand hoch steht. Nach dieser Schrecksekunde fliegen scheppernd die Türen des Bullys auf, und schon springen die geschockten Männer heraus. Instinktiv weiß jeder von ihnen, was zu tun ist. Einer drückt auf seinem mobilen Telefon den Notruf. Der zweite kramt aus den Campingutensilien, die in jeder freien Ritze des Wa