Was bleibt, ist für die Ewigkeit - Rainer Mauelshagen - E-Book

Was bleibt, ist für die Ewigkeit E-Book

Rainer Mauelshagen

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Beschreibung

Der siebzigjährige Jakob Jakoby ahnt schon lange, dass er schwer krank ist. Als sein Verdacht bestätigt wird, sind es die Erinnerungen, die ihm in seiner Verzweiflung schonungslos vor Augen führen, welche Schuld er in der Vergangenheit auf sich geladen hat. Erst die Liebe zu seiner mütterlichen Freundin Freifrau Margot von Trautheim gibt seinem Leben eine bedeutsame Wende. Sie ist es, die ihn nach schweren Schicksalsschlägen aus der Obdachlosigkeit holt. An ihrer Seite lebt Jakob viele Jahre in Wohlstand und Sorglosigkeit. Bis eine Schiffsreise nach New York einen Schlussstrich unter das gemeinsame Glück zieht. Den nahenden Tod vor Augen, durchlebt Jakob die schrecklichen Geschehnisse, die auch im Rückblick auf die jüngste deutsche Geschichte nicht nur ihm zum Schicksal wurden, noch einmal. Ein berührender Roman vom menschlichen Scheitern und vom Hoffen auf die unsterbliche Liebe.

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»Liebe ist die Antwort auf Liebe«

R.M.

Inhaltsverzeichnis

Jakob Jakoby …

Hieronymus Jakoby beeilte sich …

Nervös eilt Maike …

Johannes schaute seinem Bruder …

Bis Hamburg wurde es …

Noch halb schlummernd …

Jakob schlägt die Augen auf …

Anfang Dezember 1977 …

»Das Jahr 1945 …»

Aus seinem Dämmerzustand heraus …

Als Jakob mit diesen Bildern …

Epilog

Über den Autor

Weitere Bücher

Jakob Jakoby …

… verlässt zögerlich die Umkleidekabine. Wegen der hübschen jungen Krankenschwester schämt er sich seiner Nacktheit, obwohl eine beinfreie Hose, in der sich hinten ein Schlitz befindet, sein Geschlechtsteil vollständig bedeckt. Aber im kalt wirkenden Neonlicht, das den gefliesten Raum mit Helligkeit flutet, wirkt sein Körper wahrhaftig skurril. Wie abgenagte Gräten eines längst verspeisten Fisches stechen seine Rippen hervor. Dennoch lässt sich die Schwester deswegen nichts anmerken. Stattdessen weist sie ihn mit einer knappen Geste an, sich auf die Untersuchungsliege zu begeben, über die sie gerade ein weißes Laken legt. Wegen seiner lädierten Hüfte, die ihm immer wieder Schmerzen bereitet, krabbelt Jakob umständlich darauf, als zwei Ärzte, ungebührlich lachend, wie er empfindet, den Raum betreten. Während einer von ihnen kurz einen Blick in Jakobs Krankenakte wirft, tritt der andere mit einer Spritze in der Hand an ihn heran und verabreicht ihm, ohne viele Worte zu machen, ein Beruhigungsmittel in die Armvene. Jakob spürt, wie sich eine Welle der Leichtigkeit in ihm ausbreitet. In völliger Gleichgültigkeit lässt er es geschehen, dass man ihn ein wenig unsanft auf die linke Seite dreht. Gleich darauf verspürt er einen unangenehmen Druck im Darm.

»Bleiben Sie ruhig liegen«, hört er wie aus weiter Ferne eine energische Stimme befehlen. Jakob versucht, den Schmerz zu unterdrücken. Obwohl vom Medikament benebelt, hat er dennoch das Gefühl, als würden augenblicklich seine Därme zerreißen. In seiner Verwirrtheit stellt er sich das lange, biegsame Teil des Endoskops wie eine pralle Schlange vor, die sich gefräßig an seinen Eingeweiden labt. Denn an eine Schlange musste er am Tag zuvor unwillkürlich denken, als man ihm den Aufklärungsbogen vorlegte, auf dem das Gerät abgebildet war.

Wie lange die Untersuchung tatsächlich dauerte, kann er nicht abschätzen, als er im Krankenstuhl sitzend wieder zu sich kommt. Er erkennt, dass man ihn in die Umkleidekabine geschoben hat. Er friert und er ist froh, als ihm die Schwester auf sein Drängen hin eine wärmende Decke um den Körper legt.

»Sie müssen erst einmal richtig wach werden«, erklärt sie ihm. Dankbar, aber gleichzeitig irritiert lächelt Jakob sie an. Er glaubt, einen besorgten Ausdruck in ihrer Miene zu erkennen.

In angespannter Erwartung, was auf ihn zukommen wird, sitzt Jakob etwa eine Stunde später wie ein Häufchen Elend in sich zusammengesunken im Arztzimmer. Noch ist er alleine. »Warten Sie hier«, hatte man ihm zuvor mitgeteilt. Den Blick gedankenverloren auf das Fenster gerichtet, hinter dessen Scheiben der Novembernebel die kahlen Äste eines gewaltigen Baumes wie Rauch umhüllt, sieht er, einem Gedankenspiel gleich, wieder die beiden Weißkittel vor seinem inneren Auge, wie sie miteinander tuscheln. Hatten sie nicht getuschelt, als sie vorhin, die Köpfe nah beieinander steckend, aus dem Untersuchungszimmer verschwanden? Auch der mitleidige Blick der Schwester, als sie ihn in die Decke hüllte, schob sich schemenhaft und beunruhigend in den Vordergrund. Dies alles besorgt ihn. Irgendetwas scheint mit ihm nicht zu stimmen. Aber das ahnte er ja schon, bevor er die Klinik betrat. Deswegen hatte er ja, um Klarheit zu bekommen, endlich seine Scheu überwunden, sich der Untersuchung auszuliefern. Die ständigen Schmerzen im Unterleib und die blutig-schleimigen Ausscheidungen in der letzten Zeit, die fahle Gesichtsfarbe und die rasante Gewichtsabnahme, all das war nicht normal. In diesem Augenblick reut es ihn bis ins Mark hinein, über viele Jahre hinweg Schindluder mit seinem Körper getrieben zu haben. Ist mein schlechtes körperliches Allgemeinbefinden denn nicht die Folge eines ausschweifenden Lebens?, fragt er sich reumütig. Diese Frage scheint fast greifbar wie ein Damoklesschwert, das nur noch an einem dünnen Faden hängt, über seinem Kopf zu baumeln. Aber anderseits … hatte er nach all den ganz persönlichen Katastrophen in seinem Leben überhaupt eine andere Wahl gehabt, als die leidvollen Ereignisse der Vergangenheit mit Alkohol und Ausschweifungen besiegen zu wollen? Der ihn quälende Alltag und all die schlaflosen Nächte hätten ihn ansonsten völlig in die Irre geführt, dessen ist er sich absolut sicher.

Selbstmitleid befällt ihn, und ihm ist danach, wie ein verletztes Tier laut loszuschreien: Was willst du von mir, Leben? Welche Verfehlungen wirfst du mir vor, dass du mich bis heute, wo ich längst ein alter Mann bin, dermaßen hart strafst? Willst du mir die Schuld am Tod der Menschen aufbürden, die ich einst geliebt habe? Ich habe nicht getötet, das weißt du genauso gut wie ich. Es waren die verdammten Verstrickungen, die du mit deinem teuflischen Wirken herbeigeführt hast! Was also weidest du dich noch an meinem Seelenschmerz?

Die schiere Angst treibt ihm dicke Schweißperlen auf die Stirn. Seine Augen füllen sich mit Tränen. Doch schon lenkt ihn ein heftiges Reißen im Bauch von seinem Kopfterror ab. Vorsichtig betastet er den immer noch aufgeblähten Leib. Es kommt ihm so vor, als wäre er wie ein Luftballon zum Bersten aufgeblasen worden. Unnötigerweise schaut er sich um, dann lässt er ungeniert und gut vernehmbar den Darmgasen freien Lauf, als sich genau in diesem Moment die Tür öffnet. Geniert zuckt er zusammen. Die Augen auf den zusammengekniffenen Mund des Arztes gerichtet, fürchtet Jakob jetzt, von dessen Lippen das unabwendbare Urteil über Leben oder Tod mitgeteilt zu bekommen. Unfähig, ein Wort zu sagen, sieht er gedanklich, wie die baumelnde Schwertspitze auf seinen Kopf niederstürzt. Wenn Angst sprachlos macht, dann macht sein Schweigen absolut Sinn.

Bevor der Arzt sich hinter seinen Schreibtisch setzt, streift sein abwägender Blick den leichenblassen Mann, der mit angespannt verzerrtem Gesicht auf dem Besucherstuhl hockt. Indes verfolgt Jakob geradezu paralysiert dessen Verhalten. So entgeht ihm nicht, wie der Beobachtete zum Hörer eines geradezu altertümlichen Telefons greift. Laut rattert die Wählscheibe in Jakobs Ohren, bis das nervende Geräusch von der Stimme des Arztes unterbrochen wird. »Ich bin in zehn Minuten auf Station … Nein, ich möchte jetzt nicht gestört werden.« Bedacht legt der Arzt den Hörer in die Gabel zurück. »Das Telefon ist ein Spleen von mir«, meint er, als müsse er sich dafür entschuldigen. »Aber nun zu Ihnen.« Die Augenbrauen kritisch zusammengezogen, fragt er: »Ist Ihnen übel?«

Jakob schüttelt halbherzig den Kopf. Doch am liebsten hätte er hinausgetönt: Wenn ich nicht so schnell wie möglich hier rauskomme, kotze ich auf den Tisch.

»Die Luft im Darm wird noch eine Zeit lang etwas unangenehm sein«, versucht der Arzt ihn zu beruhigen. »Aber ich rate Ihnen, beim nächsten Toilettengang auf Ihre Ausscheidung zu achten, ob Sie eventuell Nachblutungen haben. Sollte das der Fall sein, dann kommen Sie umgehend zur Notaufnahme.«

Diesmal reagiert Jakob nicht.

»Herr Jakoby, haben Sie mich verstanden?«

Jakob nickt abwesend. Er kennt sich selbst nicht mehr. Hilflosigkeit und Angst nehmen ihn gefangen und schnüren ihm die Kehle zu.

»Herr Jakoby, ich habe Sie etwas gefragt.«

Jakob richtet sich mühsam mit dem Oberkörper auf. Seine müden Augen beobachten unverwandt das erwartungsvolle Gesicht des Arztes. Die Stille hält noch eine Weile an, bis Jakob sich leise sprechen hört: »Wie lange … also … wie lange habe ich noch zu leben, Herr Doktor?«

Möglicherweise ist der Arzt froh über die Bereitschaft seines Patienten, jegliches Urteil über sich ergehen zu lassen, denn ohne zu zögern teilt er ihm ausführlich mit, dass es sich bei seinem Befund um einen inoperablen Krebs handelt, und seine Ausführungen enden mit den Worten: »Ich werde einen Bericht an Ihren Hausarzt schreiben. Er wird alles Weitere veranlassen. Kopf hoch! Aber jetzt entschuldigen Sie mich bitte.« Sein Finger tippt auf die Armbanduhr, worauf er sich elastisch aus seinem Sessel erhebt. Beinahe sieht es wie eine Flucht aus. Jakob schnappt sich seinen Krückstock und verlässt ohne Abschiedsgruß hinkend den Raum. Obwohl man ihn wegen der verabreichten Beruhigungsspritze eindringlich darauf hingewiesen hat, in den nächsten vierundzwanzig Stunden kein Auto zu fahren, weil es ihm im Straßenverkehr möglicherweise an Reaktionsfähigkeit mangeln könnte, wankt Jakob unter der Last des Gehörten zum Parkplatz hinter der Klinik, wo er seinen Wagen abgestellt hat. Gefühlsmäßig ist ihm, als habe man ihm gerade mit wenigen Worten, einfach »schnapp«, seinen Energiefaden, seine Zukunft, die Nabelschnur des Lebens durchtrennt. Wie in Trance startet er den Wagen und fährt los. Unterwegs beobachtet er aus den Augenwinkeln heraus fröhliche Menschen, die miteinander schwatzend und geschäftig durch die Straßen laufen. Ein kleines Mädchen, das direkt vor ihm über den Zebrastreifen hüpft, lacht ihn an. Wegen ihres mitleidlosen Verhaltens, wie er meint, steigen Wut und Herzweh in ihm auf. Sehen all diese Leute denn nicht, wie sich seit eben die Welt verändert hat, wie ich zum Untergang verdammt bin?, schreit die Stimme in seinem Kopf. Alles um ihn herum, die hastenden Menschen, der rastlose Verkehr, erstarrt in seiner Wahrnehmung plötzlich zu Schwarz-Weiß-Bildern, zu grotesken Fotos, die man sich nach vielen Jahren in verstaubten Alben nur ungern ansehen mag. Seinem Empfinden nach rinnen einzig die restlichen Tage seines Lebens wie Sandkörner und immer schneller werdend durch die Taille des Stundenglases, und es wird nicht mehr lange dauern, bis der Vorrat an Zeit für ihn endgültig versiegt ist.

Kurz entschlossen verlässt er die Hauptstraße und steuert den Benz auf den Parkplatz des unweit gelegenen Stadtwaldes. Bei laufendem Motor stiert er eine Zeit lang durch die verschmierte Windschutzscheibe in die sichttrübe Umgebung, in der nur die Stämme der Bäume wie dunkle Wächter seinen Wagen umstehen. Schließlich schaltet er mechanisch die Zündung aus. Entkräftet legt er seinen Kopf mit geschlossenen Augen auf das Lenkrad. Im Angesicht seines neuen Begleiters, des Todes, steigt er gedanklich die Treppe zu seinem tiefsten Inneren hinab, wo er die Tür zur Kammer der geheimsten Erinnerungen öffnet, in der sich über viele Jahre hinweg nicht nur die goldschimmernden Schätze seiner Kindheit verborgen halten. Sogleich fällt das Alter wie ein Kokon von ihm ab, und unter der Schale des verkrusteten Lebenspanzers wird er wieder zu einem Kind. Übermütig rennt er barfuß über die lehmigen Wege des elterlichen Gartens. Er spürt, wie nach einem warmen Sommerregen der Lehm zwischen seinen Zehen hervorquetscht. Der Geruch von moderndem Laub im Herbst, wenn er auf der Suche nach Kastanien war, steigt ihm ebenfalls in die Nase. Er sieht in der Ferne den lachenden Drachen am Himmel, den der Sturm an langer Leine wütend an der Fessel zieht. Er hört auch wieder das drängende Pochen des Vaters am Verschlag der Gartenlaube, in der er verbotenerweise seine erste Zigarette rauchte.

Der Gedanke an den guten Vater und die liebe Mutter rühren sein Herz an, dass er bitterlich weinen muss. Auch an ihrem grauenhaften Schicksal gibt er sich insgeheim die Schuld. Ach, wie hatte er sie enttäuscht, nachdem er seinerzeit mit Johannes in die große Welt auszog, und nichts ist wiedergutzumachen. Gerade der Gedanke an Johannes zeigt ihm seine ganze Schuld, dass er damals, getrieben von Neugierde und Leidenschaft, das einzigartige Paradies seiner Kindheit vorsätzlich befleckt hat, um jenem Geist treu zu sein, der nur zerstört und vernichtet. Jakob stellt die Rückenlehne seines Sitzes nach hinten und ergibt sich, der Welt entrückt, den Erinnerungen an sein Elternhaus und an das, was ihm einst erzählt wurde, als könne er auf diese Weise reumütig dorthin zurückkehren.

Hieronymus Jakoby beeilte sich …

… an diesem sonnigen Sonntagvormittag im Mai jenen Jahres, in dem seine über alles geliebte Frau Charlotte ein Stockwerk höher niederkommen sollte, den Abschluss seiner Predigt rasch zu Ende zu bringen, denn etwa eine halbe Stunde zuvor sah er bei einem flüchtigen Blick durch das Fenster des vollbesetzen Gemeindesaals die Hebamme von der gegenüberliegenden Straßenseite herbeieilen. Da die Eingangstür für die Gottesdienstbesucher ohnehin offenstand, rannte sie, ohne sich bemerkbar machen zu müssen, trotz ihres fortgeschrittenen Alters und ihres üppigen Körpergewichtes die Treppe zum ersten Stock hinauf, um der werdenden Mutter schnellstens Beistand zu leisten. Dabei hätte sie, oben angekommen, beinahe den Tragegriff ihrer prall gefüllten Einsatztasche am verschnörkelten Ende des Geländers abgerissen. Währenddessen unterbrach Hieronymus kurz seine Rede, weil er für einen Moment auf das Knarzen der Stufen im Treppenhaus achtete.

Es ist so weit, sagte ihm eine mahnende Stimme im Kopf. Dann besann er sich wieder auf seine Arbeit. »Der Herr segne dich und behüte dich, der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig. Der Herr hebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden.« Kaum hatte er den Segensspruch beendet, zeichnete er mit der Hand ein etwas flüchtig ausgeführtes Kreuz über die Köpfe der Versammlung und verschwand unter den Klängen des sofort einsetzenden Orgelspiels eiligen Schrittes. Seine Schäfchen kannten ihren hünenhaften und robusten Pastor, der, wie sie untereinander sagten, einem rechten Landwirt, der täglich Wind und Wetter ausgesetzt ist, alle Ehre machen würde, trüge er keinen Talar. Also musste es wahrhaft dringlich für ihn sein, denn ansonsten war er der unverrückbare Fels, auf den sie mit all ihren Schmerzen und Nöten bauen konnten. Zwar war seinem rotbäckigen, stets freundlichem Gesicht, das von einer gewaltig runden Nase geteilt wurde, äußerlich keine sichtbare Erregung anzusehen, aber dennoch ahnten sie, warum es ihn so pressierte, denn jeder und jede der Anwesenden wusste von der kurz bevorstehenden Niederkunft der Gnädigsten, wie sie seine Frau zuvorkommend nannten. Anfangs allerdings, als man von der freudigen Überraschung erfuhr, weil sie nicht mehr zu übersehen war, steckte man hier und da lästerlich die Köpfe zusammen, weil ihr Pastor nicht weit von fünfzig Lenzen entfernt war, hingegen Frau Charlotte mit etwas über dreißig im blühenden Leben stand.

Im Flur wurde Hieronymus zum Aufgang der Treppe der Weg von einem rotznäsigen Buben versperrt, der ihm fordernd seine schmutzige Hand entgegenhielt. »Fünfzig Pfennig hat mir die Frau Pastor an der Tür versprochen, wenn ich auf schnellstem Wege die Hebamme hole, Herr Pastor.«

Hieronymus stierte ihn für einen Moment entgeistert an, doch dann schubste er ihn beiseite. »Ich werfe das Geld für dich in die Kollekte, und nun mach, dass du nach Hause kommst, Bengel, deine Mutter wartet mit dem Essen auf dich. Wasch dir aber vorher Gesicht und Hände und vergiss nicht, vor der Mahlzeit zu beten!« Damit ließ er den verdatterten Jungen zurück, der sich, eine verärgerte Grimasse schneidend, maulend unter die Gottesdienstbesucher mischte, die, begleitet von einem dröhnenden Orgelpräludium, zum Ausgang strebten. Auf halber Treppe stockte Hieronymus, weil ihm der gellende Schrei seiner Frau durch Mark und Bein ging. Dann war es wieder still. Unfähig, weiter zu gehen, lauschte er angespannt mit geballten Fäusten noch eine Zeit lang dem kaum vernehmbaren Orgelspiel, welches gedämpft aus dem unteren Mauerwerk nach oben drang, als käme es aus einer anderen Welt. Und während er horchte, vernahm er wieder die altbekannte Stimme in seinem Kopf, die vor allem immer dann zu ihm sprach, wenn das Schicksal ihm eine Prüfung oder eine Zurechtweisung auferlegte. Diese Stimme schrieb er ohne Wenn und Aber seinem himmlischen Herrn zu, der auch gut hörbar mit ihm sprach, wenn er den Gekreuzigten über dem Altar um Rat bat. Jetzt aber sagte diese Stimme: »Ich will deiner Frau viel Schmerzen schaffen, wenn sie schwanger wird; sie soll mit Schmerzen Kinder gebären; und ihr Verlangen soll nach ihrem Manne sein, und er soll ihr Herr sein.« Wie oft schon hatte Hieronymus in der Vergangenheit mit der Heiligen Schrift gehadert, zum Beispiel vor noch gar nicht langer Zeit, als er und seine Kameraden im Krieg Leid, Schmerz und Tod erleben mussten. In ihrer scheinbar aussichtslosen Lage versuchte er ihnen mit Gottes Wort Trost zu spenden. Gleichzeitig haderte er aber selber mit seinem Herrn, weil die Umstände allem widersprachen, woran er von ganzem Herzen glauben wollte. Auch wenn er am Sterbebett lieber, gläubiger Menschen schweren Herzens den letzten Segen sprach, stiegen nicht selten Zweifel in ihm auf, ob Gott wirklich nur Liebe ist, so wie er es in seinen Sonntagspredigten verkündete. Nichtsdestoweniger folgte er nun gehorsam den Worten seines Herrn. Charlottes Schreie verlangten tatsächlich nach ihm. Er war sich sicher, dass Gottes Stimme ihn in seinem aufkeimenden Zweifel an 1. Mose erinnern wollte, wo steht, dass Gott – allein wegen Evas Ungehorsam gegenüber seiner Anordnung, nicht von dem Apfel der Erkenntnis zu essen – auf alle Zeit jede Gebärende mit Schmerzen bestrafen wird, wie Charlotte sie nun erleiden musste.

Tief einatmend drückte er die Türklinke herunter. In aufrechter Körperhaltung betrat er den Raum. Ungeachtet des einsetzenden Geschreis des soeben in die Welt geworfenen Lebens richtete sich sein Blick sogleich auf das zerwühlte Bett, in dem Charlotte halb abgedeckt und sichtlich erschöpft lag. Der Schreck traf ihn zutiefst, denn zunächst erkannte er sie nicht gleich. Die gewohnt strahlende Frische in ihrem pausbäckigen Gesicht, die ihm täglich aufs Neue Zuversicht und Warmherzigkeit schenkte, schienen mit einem Male erloschen. Das verschwitze, blonde Haar, das sich auf urkomische Weise in kleinste Löckchen kringelte, umrahmte ihre blassen und schweißigen Wangen, und in ihren matten Augen, die für ihn nicht nachvollziehbar nun in dunklen Augenhöhlen ruhten, war auch die stets wache, blaue Fröhlichkeit verschwunden. Gequält lächelnd zeigte sie mit schwachem Arm in Richtung Erker, wo die Hebamme eifrig damit beschäftigt war, den brüllenden Nachwuchs zu versorgen.

Hieronymus empfand es als irgendwie irreal, in wenigen Augenblicken ein Menschenkind in den Armen zu halten, das Gott ihm trotz aller Zweifel dennoch geschenkt hat, obwohl es über all die Jahre hinweg, trotz Flehen und Beten, nicht danach aussah, als ob der Herr seine Gebete erhört. Abraham kam ihm in den Sinn, der ungeachtet seines hohen Alters, alleine wegen seines unermüdlichen Hoffens, ebenfalls mit einem Sohn belohnt worden war, den Sara ihm schenkte. Hieronymus’ Herz wurde mit unaussprechlicher Freude erfüllt. Noch vor wenigen Jahren hätte sein Kind in den Kriegswirren des Zweiten Weltkrieges das Licht der Welt erblickt. Je nachdem wäre es sogar dazu gekommen, dass sein Bub oder Mädel für unbestimmte Jahre ohne Vater hätte aufwachsen müssen, da er ja bis über das Kriegsende hinaus in Gefangenschaft war. Welch ein Gottessegen war dieser Zeitpunkt, da nach dem endgültigen Ende der dunklen Naziherrschaft mit seinem Kind und der vor Kurzem gegründeten Bundesrepublik endlich wieder Licht in die Zukunft strahlte.

Zögerlich, von Charlottes müden Augen verfolgt, lenkte Hieronymus beinahe ehrfurchtsvoll seine Schritte zum Erker. Und als er vorsichtig, fast ein wenig ängstlich, über den gebeugten Rücken der Hebamme blickte, erschrak er unwillkürlich. Vor ihm auf dem Tisch lagen zwei in Tücher gewickelte Menschlein. Sprachlos starrte Hieronymus auf den weit geöffneten Mund des einen Säuglings, der proper und rotgesichtig aus Leibeskräften schrie, indes der zweite nach der anstrengenden Reise in die Welt zu schlafen schien.

»Glückwunsch, Pastor«, gackerte die Hebamme lachend, »Sie scheinen bei Ihrem Chef da oben einen Stein im Brett zu haben. Zwei prächtige Burschen sind es, vor allem der Schreihals hier wird seinen Weg im Leben gehen, der weiß jetzt schon, was er will.« Sie schüttelte den Kopf, als ringe sie mit einem Gedanken, den sie noch nicht begreifen konnte. »Ich habe so etwas in all den vielen Jahren, in denen ich Geburtshelferin bin, noch nicht erlebt.« Ohne sich dem Pastor direkt zuzuwenden, schilderte sie dem stummen, unvermindert beeindruckten Mann, wie das laute Kerlchen gewissermaßen darum gekämpft hatte, vor seinem Bruder den Schoß der Mutter zu verlassen. »Für mich sah es so aus, als halte er seinen Bruder an der Ferse fest, damit dieser nicht zuerst draußen ist.« Wieder gackerte sie belustigt.

Hieronymus empfand ihre Äußerungen als ein wenig despektierlich, darum ging er nicht darauf ein. Dennoch beschäftigte er sich mit dem Gedanken, dass auch Isaaks Sohn Jakob seinen Bruder Esau an der Ferse festgehalten hatte, wie es in der Schrift steht. Daraufhin betrachtete sich Hieronymus eingehend das schlafende Bürschlein, von dem im Gegensatz zu seinem Bruder eine gewisse Sanftheit ausging, wie er zu erkennen glaubte. Und in seine Überlegungen hinein vernahm er erneut die Stimme in seinem Kopf, die forderte: Deine Söhne sollen Jakob und Johannes heißen!

Geistesabwesend vor sich hin nickend, war er mit der Wahl dieser Namen sofort einverstanden. »Jakob und Johannes, ja – so soll es sein! Der Fersenhalter wird auf den Namen Jakob hören und der stille Sanfte soll von dieser Stunde an als Johannes durchs Leben gehen«, flüsterte Hieronymus. Um seinen Entschluss Nachdruck zu verleihen, zeichnete er mit dem Daumen jedem seiner Söhne ein Kreuzeszeichen auf die Stirn.

Von der strengen Fürsorge des Vaters und der liebevollen Zuneigung Charlottes begleitet, wuchsen Jakob und Johannes als fröhliche und unbeschwerte Kinder heran. Die Wohnung der Jakobys nebst Gemeindesaal befand sich in einer von prachtvollen Jugendstilvillen gesäumten Straße, die allesamt dem Bombardement des Krieges unbeschadet standgehalten hatten und nun vom Toben und Lachen der Buben erfüllt wurde. Niemand nahm es ihnen übel. Die Leute freuten sich über die inzwischen achtjährigen Jungen, weil sie wahrhaftig ein sonderbares Paar abgaben. Jakob und Johannes glichen sich bis aufs rötlich gelockte Haar, das über ihren blauen Augen bei jeder Bewegung lustig anzusehen und wie tanzend auf der Stirn wippte, wobei vor allem Jakobs breiter Mund ständig zu lächeln schien. Wie bei ihrem Vater, markierte auch die beiden an gleicher Stelle unter dem linken Auge ein auffälliges Mal.

Jakob und Johannes mussten den Leuten wie Sonnenschein nach düsterer Zeit vorgekommen sein, als wären diese ungewöhnlichen Kinder einzig auf der Welt, um die Nöte und die Dunkelheit der vergangenen Jahre aus ihren geplagten Gemütern zu vertreiben. Mit zunehmendem Alter jedoch fiel mehr und mehr ein Schatten auf Jakobs Benehmen. Vor allem in der Schule deutete sich bereits eine charakterliche Trennung der Brüder an. War Johannes aufmerksam und strebsam, so verhielt sich Jakob auffällig, indem er zum Beispiel im Unterricht durch alberne Späße und allerlei Unfug Aufmerksamkeit erregte.

Bald darauf traf Hieronymus und Charlotte erneut ein Lebensschatten. Hieronymus wurde krank. Bereits kurz nach der Geburt seiner Söhne zeichnete sich sein körperlicher Verfall schleichend an. Seine Beschwerden waren nach Ansicht der Ärzte vor allem der unmenschlichen Gefangenschaft geschuldet, die ihm den Dienst als Seelsorger nun täglich schwerer machten, bis ihm sowohl vom Bischof als auch von ärztlicher Seite her angeraten wurde, sein Amt niederzulegen. Folglich entschied sich Hieronymus schweren Herzens dazu, den Talar für immer an den Nagel zu hängen. Leider hing seine Dienstniederlegung unweigerlich mit der Aufforderung zusammen, nicht mehr über die Dienstwohnung verfügen zu können. Ohne lange zu überlegen, drängte Charlotte darauf, in ihr nicht weit gelegenes Elternhaus umzuziehen, da ihre Eltern wegen des tragischen Unfalls von Vater Julius drei Monate zuvor ohnehin dringend auf Hilfe angewiesen waren. Charlotte erinnerte sich oft mit Schaudern daran, als sie die unheilvolle Nachricht von Vaters Unglück erfuhr. Direkt nach dem strengen Winter sechsundfünfzig, wo bei dreißig Grad minus sogar der Rhein zufror, machte sich Julius vor dem Beginn des Frühlings rasch daran, die Dachrinne seines Hauses vom Laub zu befreien. Unachtsam geworden rutschte er, mit Eimer und langem Besen bewaffnet, von der obersten Leitersprosse ab. Da gab es kein Halten mehr für ihn. Aus fast fünf Meter Höhe prallte er zunächst auf die Kante des Vordachs, um anschließend auf den geteerten Hof aufzuschlagen. Man konnte noch von Glück im Unglück sprechen, weil er nicht zu Tode gekommen war. Aber die Verletzungen waren dennoch so schwerwiegend gewesen, dass er noch Jahre danach, ohne Aussicht auf Besserung, nur wenige Schritte laufen konnte und ständig unter starken Kopfschmerzen litt, die sogar sein rationales Denken einschränkten. Man kann sich vorstellen, welche Belastung von da ab auf Mutter Gerlinde lag, denn Arbeit gab es im Haus und auf dem großen Grundstück der Gärtnerei immer. Also fühlte sich Charlotte ihren Eltern gegenüber verpflichtet. Nur zu eindringlich mahnten sie die zurückliegenden schlimmen Hungerjahre, als in vielen Häusern Schmalhans Küchenmeister mit am Tisch saß, ihnen alleine aus Dankbarkeit beizustehen. Denn seinerzeit hatten die Eltern statt Blumen für ihr Geschäft nun reichlich Gemüse, Kartoffeln und Kräuter angebaut, womit auch die Jakobys verköstigt werden konnten.

Somit beschlossen Hieronymus und Charlotte, so bald als möglich zu den beiden auf den Falkenberg zu ziehen, auch wenn sich die tatkräftige Unterstützung mehr auf Charlotte beschränken würde. Aber selbst für Hieronymus gäbe es noch das ein oder andere zu tun. Jakob sträubte sich zunächst. Er hatte in den seltenen Stunden, in denen er seine Großeltern sah, die sich meist auf die Gottesdienste am Sonntag oder ein anschließendes Mittagsmahl beschränkten, immer so ein komisches Gefühl im Magen. Bei der Großmutter war es eigentlich nur die Fremdheit, die ihn in Verlegenheit brachte, doch Großvater Julius war ihm wegen seines dichten, roten Bartes und der buschigen Brauen nicht ganz geheuer, wie er seinem Bruder gestand. Der guckt immer so böse, findest du nicht auch? Überhaupt hatte Jakob Schwierigkeiten, anderen gegenüber seine wahren Gefühle zu zeigen. In seiner naiven Vorstellung sah er Gefühle als eine Art Eigentum an, die verloren gingen, wenn man sie verschenkte. Also hütete er seine Sinnesempfindungen wie einen Schatz in seinem Herzen. Dort bewahrte er auch die Frage auf, wie es ihm mit den anderen Großeltern ergangen wäre, die er nur von Erzählungen her kannte, denn Selma und Heinrich Jakoby starben während eines fürchterlichen Bombenangriffes, bevor Johannes und er das Licht der Welt erblickten.

Angesichts der vielen Erledigungen, die vor dem Umzug abgeschlossen werden mussten, gingen die Monate dahin. Inzwischen war es Frühsommer geworden. Nun schlugen die Temperaturen in die andere Richtung aus. Bereits etliche Tage kletterte das Quecksilber auf dreißig Grad plus. In Begleitung von Jakob und Johannes, die unentwegt um ein Eis bettelnd mit hängenden Schultern und hitzig geröteten Wangen ihre Ranzen auf dem Rücken trugen, nahm Charlotte, ein Stück vorausgehend und mit schweren Taschen bepackt, den abschüssigen Weg zum Haus ihrer Eltern, während Hieronymus noch das letzte Gepäck von der Ladefläche des zitronengelben Tempo-Goliath Lieferwagens hievte. Oma Gerlinde saß verschwitzt am Steuer und wartete ungeduldig darauf, das Gefährt endlich in die schattige Garage zu fahren. Als Johannes den Großvater entdeckte, der nur mit Hose, Unterhemd und breitem Strohhut bekleidet dösend unter der gewaltigen, dicht am Haus stehenden Buche saß, rannte er los, um ihn freudig zu begrüßen. Zita, die treue Schäferhündin, die ebenfalls unter der Schatten spendenden Krone des Baumes lag, hob nur müde blinzelnd den Kopf, schnupperte und legte die ergraute Schnauze wieder gähnend auf den Pfoten ab. Früher lief der Hund jedem, der das Grundstück betrat, bellend und gleichzeitig schwanzwedelnd entgegen, aber seit einiger Zeit brach er beim Laufen mit den Hinterpfoten ein, was ihn anscheinend dazu veranlasste, seine Wege nur noch nach Wichtigkeit wie Fressen und Notdurft einzuteilen. »Guten Tag, Großvater. Wie geht es dir? Tun dir heute wieder die Knochen weh? Freust du dich, dass wir jetzt für immer bei euch bleiben?« Johannes überfiel Julius mit Fragen. Vielleicht wollte er seinem Bruder auch zeigen, dass er keine Angst vor dem Griesgram hatte. »Lass dich ansehen, Junge«, sagte der Großvater wie immer mürrisch im Ton. Prüfend schaute er Johannes an, als müsse er herausfinden, wen von den Zwillingen er vor sich hatte. Was eigentlich nicht nötig gewesen wäre, da er es ohnehin nicht gewohnt war, von Jakob begrüßt zu werden.

Dieser beobachtete aus gebührender Entfernung, wie auch die Mutter ihren Vater herzlich mit einem Kuss begrüßte. »Heute ist es so weit, Vater, ab jetzt bist du und Mutter nicht mehr alleine. Wir werden euch schon eifrig unterstützen. Nun wird wieder Leben ins Haus einziehen.« Versonnen stand sie vor ihm, als wollte sie sich an die schönen Tage ihrer Kindheit erinnern.

Julius reagierte nicht auf die Worte seiner Tochter. Verwundert schob er sich den Strohhut in den Nacken und blickte an Charlotte vorbei in Jakobs Richtung. »Na, du Lausebengel«, rief er, »willst du deinem alten, kranken Großvater nicht Guten Tag sagen?«

»Ich will ein Eis«, maulte Jakob.

»Ach Junge, wo sollen wir denn das Eis herhaben?«, mahnte Charlotte. »Nun geh zu deinem Großvater und reich ihm die Hand, ich werde uns inzwischen einen Krug mit Essigwasser und Zucker fertigmachen, das schmeckt ebenso gut wie eine Zitronenlimonade.« Trotzig ging Jakob auf den Großvater zu. Nur wenige Schritte von ihm entfernt begann Zita zu bellen. Immer lauter drang das Gebell in seine Ohren.

Plötzlich ist ihm, als mische sich ein Klopfen unter dieses Gekläff. Es klopfte so real, dass Jakob seine Augen weit aufreißt. Wo bin ich?

Direkt an der Fahrertür steht ein älterer, besorgt wirkender Mann, der erneut mit den Knöcheln seiner geballten Faust an die Scheibe klopft. Die andere Hand hält eine Hundeleine umklammert, an deren Ende ein Mischlingshund aufgeregt kläfft. »Hallo! Sie da!«, ruft der Alte. »Geht es Ihnen nicht gut?«

Erschreckt richtet sich Jakob auf. Noch vom Tagtraum benommen, öffnet er im Sitzen die Tür, woraufhin der Köter den Schwanz einzieht und sich geduckt zwischen die Beine des Alten zurückzieht. Geistesabwesend blickt Jakob in das verunsicherte Gesicht des Mannes, als ihm einfällt, wo er sich befindet.

»Ja, ja, es ist alles in Ordnung!«

»Ich meine ja nur«, rechtfertigt sich der Alte skeptisch.

»Ich beobachte Sie schon eine Weile, dabei sah es für mich so aus, als wäre es Ihnen nicht gut. Man weiß ja nie in der heutigen Zeit. Man sieht und hört doch ständig von … ach, Sie wissen, was ich meine.«

»Nein, ich weiß nicht, was Sie meinen«, entgegnet ihm Jakob gereizt. »Also hören Sie, ich sagte Ihnen doch gerade, dass alles in Ordnung ist. Gehen Sie! Lassen Sie mich in Ruhe!« Verärgert schlägt Jakob die Tür zu.

»Es ist ja schon gut. Schon gut! War nur ’ne Frage«, brummelt der Alte.

Den Hund hinter sich herziehend, hört Jakob ihn im Weggehen schimpfen. »Mein Gott, wie empfindlich die Leute heutzutage sind, Strolch. Komm, lass uns verschwinden, wir sind hier nicht erwünscht.« Einige Meter weiter, dreht er sich noch einmal kopfschüttelnd um.

Es braucht eine Zeit lang, bis Jakob wieder völlig ins Hier und Jetzt findet. Der Nebel hat sich gelichtet. Er guckt sich um, ob er wirklich wieder alleine ist. Weit und breit keine Menschenseele. Gut so! Er startet den Wagen. Gerade will er Gas geben, da tritt sein Fuß auf die Bremse. Er hält inne. Jetzt erst wird ihm in aller Deutlichkeit klar, auf welchem Parkplatz er sich befindet. Es ist genau der Ort, wo er vor vielen Jahren Lorena zum ersten Mal näherkam. Wenn auch nicht direkt körperlich. Er hatte ihr in jener Nacht sein Herz ausgeschüttet, und das war, wie er damals empfand, intimer als Sex gewesen.

Die Erinnerung daran schnürt ihm die Brust zu. Stundenlang saßen sie in seinem Wagen, um sich gegenseitig zuzuhören. Der Gedanke an Lorena überwältigt ihn dermaßen, dass er sie jetzt wieder in ihrer ganzen Schönheit vor sich sieht. Ihren verführerischen Blick, ihre wilde Weiblichkeit, und er glaubt sogar sie zu riechen, wie nur die Liebe ihre Leidenschaftlichkeit verströmen kann. Damals ahnte er noch nicht, dass seine Göttin Lorena, wie er sie nannte, als Schicksalsgöttin in sein Leben trat, weil bereits diese eine erste gemeinsame Nacht im Auto verhängnisvolle Folgen für alle Beteiligten hatte.

»Ach, wäre ich ihr nie begegnet«, stöhnt er laut, und schon heult der Motor seines Wagens auf; rasch will er diesen Platz verlassen.

Nervös eilt Maike …

… von einem Fenster zum anderen, obwohl sie nur von einer Stelle aus die Einfahrt zur Villa gut überblicken kann. Wieder nichts. Die Vorhänge zieht sie schon gar nicht mehr vor. Unruhig geworden schaut sie ständig auf die Uhr. »Wo Jockel nur bleibt?«, fragt sie sich seit über eine Stunde. »Er hätte doch längst hier sein müssen. Wenn er nicht bald kommt, wird er mich nicht mehr antreffen. Das wäre jammerschade.«

Maike will wissen, was die Untersuchung ergeben hat. Seit etwa einem Jahr macht sie sich Sorgen um ihren Vater. Jedenfalls so lange, wie sie vor allem seine körperlichen Veränderungen beobachtet, und sie war froh, als Jakob, der von all denen, die ihm nahestehen, Jockel genannt wird, ihr von dem heutigen Untersuchungstermin erzählte. Sie seufzt. »Ein Jahr der Ungewissheit ist viel zu lang.« Und damit hat sie recht, wenn man bedenkt, dass sie ihn erst ein Jahr zuvor kennengelernt hat. Am liebsten würde sie ihre Tasche wieder auspacken und daheimbleiben. Aber was sollte sie Christian sagen? Ich werde nicht mit dir fliegen, bevor ich nicht weiß, was mit meinem Vater ist! Er würde lachen, auslachen würde er sie, dessen ist sie sich sicher. Du siehst Gespenster, hat er neulich scherzend zu ihr gesagt.

Nervös fährt sie sich mit den Fingern durch ihre roten, halblangen Haare. Sie ist hin und her gerissen. Auch weil sie sich darauf gefreut hat, wieder einmal mit Christian zu fliegen. Wenn sie ehrlich ist, dann ist er nicht nur ihr Lieblingspilot. Außerdem will sie ihren Job nicht leichtfertig aufs Spiel setzen, denn nachdem sie vor knapp zwei Jahren ihre Zelte in Thailand für immer abgebrochen hatte, war sie froh gewesen, als Stewardess zu der deutschen Airline wechseln zu können, die es ihr ermöglicht, zwischen den Flügen bei ihrem Vater zu wohnen. Nein, sie will nichts herausfordern. Die Konkurrenz unter den Stewardessen ist groß, und so jung ist sie nun auch nicht mehr. Die Fluggäste wollen von attraktiven Frauen bedient werden, und ihre biologische Uhr tickt nicht nur gefühlsmäßig schneller, auch wenn sie den jungen Dingern in allen Bereichen immer noch das Wasser reichen kann. Wenn sie jedoch morgens ungeschminkt in den Spiegel schaut, bleiben ihr die fast fünfzig und ausgiebig gelebten Jahre nicht verborgen. Schon früh in ihrem Leben, sie mag so um die sechzehn gewesen sein, musste sie in Joes Bar die Gäste bis tief in die Nacht dazu animieren, ihr Geld bei ihm zu lassen. Und Joe war jedes Mittel recht, wie und womit sie es schaffte, die Kerle rumzukriegen. In so manchen Nächten ist sie aufs Klo gerannt, um ihren Ekel vor ihnen auszukotzen. Sie will sich gar nicht vorstellen, was aus ihr geworden wäre, wenn Nawin sie nicht eines Tages aus dieser Lasterhöhle befreit hätte. Nawin war anders gewesen, das spürte sie gleich, als er die Bar betrat. In ihrer Sensibilität empfand sie bald, dass er sie mochte, obwohl sie in seinem asiatischen Gesicht keine derartige Regung ausmachen konnte. Trotzdem fühlte sie vom ersten Augenblick an seine Liebe zu ihr. Er war es dann auch, der sie bei der Thai- Airways als Stewardess unterbrachte.

In Gedanken an Nawin vergisst Maike für einen Moment, erneut ans Fenster zu rennen. Feucht schimmern ihre Augen, weil ihre große Liebe nicht mehr auf dieser Welt weilt. Nie wird sie ihn vergessen, ihren geheimnisvollen, mandeläugigen Geliebten, in dessen Armen sie allmählich den Ekel vor den Männern verlor. Vor allem kann sie nicht den 31. Juli 1992 vergessen. Es war der Tag, an dem sie glaubte, selbst sterben zu müssen. Beim Anflug auf Kathmandu kam Nawin ums Leben. In 3500 Metern Höhe zerschellte sein Flugzeug an einem Berg, keiner der Insassen überlebte. Sie hätte damals bis an das Ende der Welt fliehen können, ihre Trauer wäre nicht von ihr gewichen. Und vielleicht wäre sie nach seinem Tod in irgendeine anrüchige Bar zurückgekehrt, wenn ihr Mutter, kaum noch fähig zu sprechen, ihr auf dem Sterbebett nicht das Geheimnis ihres Lebens anvertraut hätte. Am liebsten hätte Maike sie in diesem Moment angeschrien, warum sie damit so lange gewartet hat, doch im Angesicht des Dahinscheidens ihrer Mutter schnürten ihr Verzweiflung und Traurigkeit die Kehle zu.

Heute ärgert sich Maike immer noch darüber, dass Mutter ihr so spät gestand, dass nicht Joe Martin, sondern Jakob Jakoby ihr wirklicher Vater ist, denn heute ahnt sie, dass ihnen nicht mehr viel gemeinsame Zeit bleiben wird. Einzig die Gewissheit, dass sie als 15-Jährige nicht von ihrem leiblichen Vater in der Vorratskammer vergewaltigt wurde, sondern von diesem Mistkerl Joe, hatte sie ein wenig darüber hinweggetröstet. Anderseits, im Wissen, das es nicht ihr Vater war, hatte sie es bitterlich bereut, Joe nicht auf der Stelle abgestochen zu haben, als er sich, nachdem er seinen Spaß mit ihr gehabt hatte, grinsend die Hose hochzog. Das Messer lag nur einen halben Meter neben ihr im Regal, aber irgendetwas blockierte ihre Hand. Sie mochte Joe nie, und das nicht nur, weil sie annahm, es wäre ihr Vater, sondern eben auch, weil er ein brutaler Gauner und rücksichtsloser Egoist war, der dachte, Thailand hätte nur darauf gewartet, von ihm ausgenommen zu werden. Er benutzte und behandelte die Frauen in seiner Bar je nachdem, wie sie ihm Geld oder Ärger einbrachten. Sogar Mutter bekam nicht selten seine Brutalität hautnah zu spüren, wenn sie nicht spurte, wie er wollte. Er war ein Hai, ein gefährlicher Menschenhai, doch das Schicksal wollte es anscheinend, dass es eines Tages, als Joe auf offener See unerklärlicherweise über Bord einer Jacht ins Wasser fiel, die Haie waren, die nur noch Knochen von ihm übrig ließen.

Das Brummen eines Motors reißt sie aus ihren Gedanken. Im Nu ist sie wieder ganz bei sich. Endlich! Nein … es ist nicht Jockel.

Den Oberkörper weit aus dem Fenster gelehnt, winkt sie Christian zu, er möge zu ihr hochkommen. Als Zeichen, das die Zeit drängt, hält er ihr demonstrativ seine Uhr entgegen. Augenblicke später wird er im Flur von Maike herzlich umarmt.

»Bist du so weit, dass wir fahren können?«, fragt er drängend.

»Eigentlich nicht!«

Christian schaut sie irritiert an. »Wieso nicht?«

»Tja«, sagt sie, »ich hätte gerne noch mit meinem Vater gesprochen.« Sie zuckt mit den Schultern. »Er war heute beim Arzt, und natürlich möchte ich wissen …« Wieder hebt sie die Schultern und ihr Gesicht drückt Enttäuschung aus. »Es ist sehr schade, dass er nicht rechtzeitig zurückgekommen ist.«

»Warum hast du ihn nicht angerufen?«

Maikes Mundwinkel verziehen sich nach unten. »Er hat kein Handy!«

»Er hat kein Handy?«, fragt Christian erstaunt.

»Nein, hat er nicht, ich konnte ihn noch nicht dazu überreden. Jockel meint, dass ein Handy der Untergang des Abendlandes wäre, und dazu will er persönlich keinen Beitrag leisten.«

Christian lacht laut auf. »Dein Vater ist schon ein sonderbarer Heiliger. Aber nun komm!« Er schnauft hörbar. »Du weißt, dass es oft Stau auf der A59 gibt, und bis zum Köln-Bonner ist es noch eine ordentliche Strecke.«

»Ja, ja, ich mach ja schon«, beschwichtigt Maike ihn. Als Christian ihr in den Mantel hilft, meint sie mit schrägem Blick: »Ohne dich kann der Flieger ohnehin nicht starten!« Sie kichert, worüber sie sich selbst wundert. Gerade will sie nach ihrem Gepäck greifen, da stutzt sie. »Ach, weißt du was? Ich werde Jockel eben noch kurz schreiben, dass ich ihn morgen von Tokio aus gegen vierzehn Uhr anrufen werde, damit er zu Hause bleibt.«

Jakob biegt von der Straße in Richtung seines Hauses ab. Den Blick auf die prächtige Villa gerichtet, die umgeben von hohen Bäumen in einer weitläufigen, parkähnlichen Anlage steht, hält er versonnen den Wagen an. Das schmiedeeiserne Schild Villa Dunkelberg hat er unmittelbar nach Margots Tod vom Eingangstor entfernen lassen. Schneidbrenner waren dazu nötig gewesen, als hätte sich das Gewesene dagegen gesträubt, für immer in Vergessenheit zu geraten. Doch es musste weg, mit diesem Schild hätte er sich auf dem Anwesen immer fremd gefühlt, seit er sein Erbe übernommen hat. Aber unabhängig davon ist er immer noch von seinem Zuhause beeindruckt, so wie jemand, der beim Betreten des Grundstücks nicht als Hausherr, sondern als Gast empfangen wird. Bis zum heutigen Tag kann er nicht begreifen, wie ihm, nach all den Tiefpunkten in seinem Leben, das Glück oder vielleicht der Zufall auf solch fantastische Weise gnädig gewesen ist, in diesen Besitz zu gelangen. Gleichzeitig zweifelt er daran, dass das, was einem im Leben begegnet, Zufall ist. Möglich wäre doch auch, dass das Leben einem Plan folgt, gibt und nimmt, und dass man in dem Augenblick mit Glück überschüttet wird, wenn der Urheber die Liebe ist. Ja, die Liebe!

Es hat lange Zeit gebraucht, bis er sich eingestand, Margot, diese unnahbar erscheinende Frau, die mit ihrer schwarzen Augenklappe aus der Zeit gefallen schien, mit ganzem Herzen und ganzer Seele auf eine ganz besondere und einzigartige Art zu lieben, schon allein, weil sie so viel älter war als er. Obwohl sie sich bis auf eine einzige Ausnahme ihm gegenüber immer reserviert verhielt, wie sie wohl glaubte, sich als eine Margot von Trautheim standesgemäß verhalten zu müssen, wird auch sie ihn auf ihre Weise geliebt haben, wie er sich die ganze Zeit über eingeredet hat, um sich nicht als eine Art Parasit in ihrem Besitz zu fühlen.

Als der Sprecher im Radio die Uhrzeit nennt, zuckt Jakob zusammen. »16 Uhr? Hat er tatsächlich 16 Uhr gesagt? Du liebe Güte, ich habe Maike ganz vergessen!«

Der weiße Kies knirscht unter den Rädern seines Wagens, als er neben dem Haus unter dem Carport auf die Bremse tritt. In die Garage will er den SUV später fahren. Laut schlägt die Wagentür hinter ihm zu. Den Krückstock schwingend stolpert er so schnell, wie es seine lädierte Hüfte zulässt, zum Haus.

»Maike, ich bin zurück!« Auf Antwort wartend bleibt er schwer atmend im Flur stehen. »Maike, hast du mich gehört? Ich bin wieder da!« Keine Antwort. Hektisch macht er sich daran, in verschiedene Räume zu schauen. Türen klappen lärmend auf und zu. Niemand da. Schnaufend zieht er sich am Geländer die halbe Treppe hoch. »Maike, bist du oben?« Auch von dort keine Antwort.

»Mist, ich habe sie verpasst!« Enttäuscht geht er in die Küche. Ohne Umschweife trinkt er gleich aus dem Wasserkran über der Spüle. »Ah … das tut gut.« Er atmet tief durch. Wie gerne hätte er Maike jetzt an seiner Seite. Denn gefühlsmäßig ist ihm, als wäre er von aller Welt verlassen, als wäre er bereits tot. Nur das kalte Wasser im Bauch zeigt ihm schmerzvoll, dass er noch lebt. Er krümmt sich gegen die Krämpfe an. Umgehend entscheidet er sich dazu, aus dem Keller eine Flasche Wein zu holen. Seit er vor rund dreißig Jahren Margot kennenlernte, hat er vor allem ihr zuliebe nur noch äußerst selten Alkohol getrunken. Aber er kann sich noch gut daran erinnern, wie ihm in den Zeiten zuvor der Alkohol bei allen Beschwerden zumindest für eine gewisse Weile geholfen hat, jeglichen Kummer und Schmerz zu ertragen. Ab jetzt und sofort will er keine Schmerzen mehr ertragen. Nichts mehr erdulden müssen. Er merkt es, wie sich sein Körper gegen das Leben wehrt, soll er etwa jetzt noch dagegen ankämpfen? Welchen Sinn hat das? Der Spruch Perlen vor die Säue werfen fällt ihm ein.

Aus dem Keller zurückgekehrt stellt er die bereits geöffnete Rotweinflasche auf den Tisch ab. Er macht sich gar nicht erst die Mühe, ein Glas aus dem Schrank zu holen. Ächzend lässt er sich auf die Couch in die Kissen fallen. Seine Augen schweifen in jeden Winkel des Raums. Alles kommt ihm so fremd, so irreal vor, als wäre er tatsächlich ein fremder Besucher. Er wundert sich, dass die Schublade vom Sekretär halb offensteht. Habe ich sie offengelassen? Aber was habe ich darin gesucht?

Weil in diesem Moment ein Sonnenstrahl durch das große Jugendstilfenster direkt auf den arg abgewetzten Ohrensessel fällt, der mit dicken Wolldecken über den Lehnen einladend dort steht, denkt er nicht weiter über die Lade nach. In diesem Sessel würde er jetzt gerne sitzen. Von da hat man einen herrlichen Blick in die gepflegte Parkanlage. Jedoch würde es ihm nie und nimmer einfallen, sich dort niederzulassen. Der Ohrensessel war Margots Lieblingsplatz gewesen. Dieser Sessel ist und bleibt für mich tabu! Das entschied Jakob nach ihrem Tod. Die Ecke am Fenster ist so etwas wie eine heilige Stätte für ihn. Man wird sich vielleicht über die Bezeichnung heilige Stätte wundern, aber für Jakob war Margot Freifrau von Trautheim tatsächlich so etwas wie ein Engel auf Erden gewesen, und dieser Platz gebührte nur ihr. Manchmal, vor allen in den Abendstunden, wenn die Dunkelheit den Tag vertreibt und der Raum in schwelendes Schummerlicht gehüllt ist, dann sieht er sie heute noch für wenige Augenblicke dort sitzen, obwohl sie schon viele Jahre tot ist. Wenn sie ihn anstarrt, dann weiß er, dass dieses Haus für immer ihr Refugium bleiben wird und er es nur als Leihgabe auf Zeit bewohnt. Darum wäre es ihm auch nie eingefallen, eine andere Frau ins Haus zu holen. »Es waren schöne Jahre mit ihr, und sie wird wegen der Anwesenheit meiner Tochter sicherlich keinen Einwand haben«, sinniert Jakob seufzend, als er zur Flasche greift und hofft, dass sie ihm nun nicht erscheint. Sie soll nicht sehen, dass er sein Gelübde bricht, keinen Alkohol mehr zu trinken.

In diesem Moment fällt ihm der Korken von der Flasche und rollt unter den Tisch. Er bückt sich danach. Verwundert entdeckt er zu seinen Füßen einen beschriebenen Zettel. Wie kommt der dahin? Wer ihn beschrieben hat, stellt sich rasch heraus. »Von Maike!«, murmelt er vor sich hin. »Er muss eben, als ich auf der Suche nach ihr die Türe auf und zu schlug, vom Tisch geweht worden sein.« Es fällt ihm schwer, die flüchtig dahingeschriebenen Worte zu entziffern.

Hallo Jockel, es ist sehr schade, dass du es nicht eher geschafft hast, zurück zu sein, bevor ich losmusste. Ich hoffe von ganzem Herzen, das unsere Sorge unbegründet war und die Befunde negativ ausgefallen sind. Aber nun muss ich los, Christian wartet auf mich. Ach so, ich bin auf dem Weg nach Tokio und ich werde dich morgen gegen 14 Uhr anrufen. Bitte bleib zu Hause, damit wir uns nicht verpassen, bitte! Ich umarme und grüße dich in Liebe, Maike.

Jakob ist von Maikes Nachricht gerührt. Er starrt die Rotweinflasche an. Gleich darauf setzt er sie an den Mund. Er muss sich zwingen, die Flasche abzusetzen, so gierig trinkt er. Doch was ist das? Unangenehm fühlt es sich an, wie der Alkohol sich in seinem Körper ausbreitet, als hätte er Gift getrunken. Nichts von Beruhigung und Wohligkeit empfindet er. Jetzt erst wird im klar, dass er den ganzen Tag noch nichts gegessen hat. Wie lodernde Flammen steigt ihm die Hitze vom Magen in den Kopf. In seinem Schädel beginnen sich die Gedanken zu drehen, immer schneller zu drehen, und er hat Angst im Sitzen zu stürzen. Kurz darauf folgt dann eine warme Welle der Leichtigkeit, die ihn einigermaßen beruhigt. Seine Brust wird frei und er lässt seinen Empfindungen freien Lauf. »Lorena«, mehr kommt ihm nicht über die Lippen. Nochmals nimmt er Maikes Nachricht zur Hand. Das Blatt Papier zittert zwischen seinen Fingern. Ihren Abschiedsgruß – in Liebe – liest er wieder und wieder. Es ist noch gar nicht lange her, da wusste er nicht einmal, dass er eine Tochter hat, und er fragt sich, ob er ihr ein guter Vater gewesen wäre, wenn …

»Ich habe mir nichts vorzuwerfen«, bricht es aus ihm heraus. »Lorena war es, die von heute auf morgen verschwunden ist. Ich wusste doch nicht, wo sie hingegangen ist, und vor allem nicht, dass sie schwanger war, verdammt noch mal!« Als wolle er die ganze Welt anklagen, brüllt er die Worte heraus, worüber er erschrickt, weil seine Stimme schrill in seinem Kopf nachhallt. Erregt schüttelt er den Kopf, als er erneut zur Flasche greift. Ich kann doch nichts dafür! Wieder trinkt er in großen Schlucken. Dabei stiert er auf den Sessel.

»Da guckst du, was?«, brüllt er. »Du hättest mich damals besser verrecken lassen, Margot!« Er macht Anstalten aufzustehen, aber es gelingt ihm nicht beim ersten Mal. Nach mehreren Versuchen steht er. Schwankend bewegt er sich zum Sessel, um dessen Rückenteil umzudrehen, damit Margot ihn nicht sieht, wenn er darüber nachdenkt, wie Maike in sein Leben trat.

Im Hochsommer vor zwei Jahren stand sie, wie aus dem Nichts erschienen, vor der Tür. Als Jakob ihr erst nach mehrmaligem Läuten öffnete, traf ihn fast der Schlag.

»Lorena?«, stotterte er, mehr brachte er nicht hervor. In der Frau mit dem bunt geblümten Kleidchen und dem atemberaubenden Äußeren glaubte er, seine verflossene Liebe zu erkennen. Seine unvergessliche Liebe, die von heute auf morgen, ohne ein Wort des Abschieds, so viel Leid und Kummer nicht nur in seinem Leben hinterließ. In seiner Verwirrung, ihr nach all den Jahren plötzlich gegenüberzustehen, dachte er gar nicht darüber nach, dass Lorena nun fast so alt wie er sein müsste. Die Frau, die vor ihm stand, war aber um einiges jünger. »Lorena«, wiederholte Jakob gedehnt, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen.

Sie aber lächelte ihn mit einer Wärme an, dass es ihm kalt den Rücken herunterrieselte. »Lorena?«, fragte sie nun ihrerseits. Ihr Lachen klang hell. »Dann bin ich wohl richtig hier. Es war nicht einfach, dich zu finden, Jakob Jakoby.«

Jakob stutzte. Wie sie sprach, verriet ihm, dass ihr Deutsch nicht perfekt war. Aber der andersartige Klang ihrer Worte unterstrich nur ihre liebenswerte Eigenart.

Sichtlich beeindruckt schaute sie sich um. »Wohnst du zur Miete hier oder ist das dein Eigentum?«

Er war gar nicht auf die Idee gekommen, nachzufragen, woher sie seinen vollständigen Namen wusste. Stattdessen stammelte er: »Nein, nicht zur Miete.«

Sie nickte ihm anerkennend zu, woraufhin sie ihm glücklich wirkend die Hand reichte. Völlig konfus konnte sich Jakob keinen Reim darauf machen, was die Frau von ihm wollte. War sie eine dieser Betrügerinnen, von denen man in letzter Zeit so viel hörte? Erst neulich hatte er einen derartigen Anruf bekommen. Eine Frauenstimme klagte ihm weinend, sie wäre seine Tochter und brauche wegen eines schrecklichen Unfalls, an dem sie die Schuld trüge, sofort 15.000 Euro. Ich habe keine Tochter, hatte er verärgert ins Telefon gezischt. Dann war am anderen Ende Stille gewesen. Dennoch, diese Frau vor ihm, die Lorena so verdammt ähnlichsah und die ihm mit ihrer herzlichen Ausstrahlung die Hand entgegenstreckte, konnte keine Betrügerin sein, auch wenn sie respektlos nach seinen Wohnverhältnissen gefragt hatte.

Jakob versuchte Herr der Lage zu werden. »Sie haben mich also gesucht? Warum?«

»Weil Lorena mich schickt! Sie erinnern sich an sie?«

Jakob verlor seine kurz gewonnene Beherrschung. Ihn überkam der Drang, jetzt und sofort ihren Körper zu spüren. Ohne ihren ausgestreckten Gruß zu beachten, umschlang er sie mit seinen Armen und drückte sie fest an sich. Egal wer diese Frau sein mochte, sie stand ihm im Herzen nahe, das fühlte er und er hoffte immer noch, sie würde sich als die zu erkennen geben, die über all die Jahre hinweg täglich sein Denken bestimmte.

Den Kopf an seine Schulter gelehnt ließ sie es willig geschehen. »Ich bin Maike, deine Tochter«, flüsterte sie ihm nach einer Weile ins Ohr.

Jakob prallte zurück. Staunend betrachtete er sie, als sähe er ein Gespenst. Er konnte es nicht begreifen. Wie soll das gehen? Diese Frage schoss ihm in den Kopf. Mit offenem Mund fixierte er jeden Zentimeter ihres Gesichtes. Und dann entdeckte er ein Muttermal unter ihrem linken Auge, ebenso eines, wie er es seit seiner Geburt trug. Davon beeindruckt umarmte er sie erneut, diesmal aber, damit sie nicht seine Tränen sah.

Stunden später saß Jakob immer noch fassungslos auf der Couch neben Maike. In der Hand hielt er ein aufgeklapptes Herz-Medaillon aus Silber, in dessen Innenteil sein Foto geklebt war, das Maike ihm im Auftrage ihrer Mutter überreicht hatte. Immer wieder von betretenem Schweigen unterbrochen, erzählte sie unterdessen von dem, was sie von ihrer Mutter erfahren hatte. Im Angesicht ihres nahenden Todes wollte Lorena ihrer Tochter gegenüber ihr Gewissen erleichtern, warum sie nie die gute Mutter gewesen ist, die sie eigentlich von Herzen gerne gewesen wäre, und dass sie einen Vater habe, der in Deutschland in der Stadt wohnte, wo sie damals mit Joe Martin lebte, bevor Joe sie gezwungen hatte, mit ihm nach Thailand zu fliehen. In einer ihrer letzten Stunden auf dieser Welt sagte sie mit brüchiger Stimme: »Wenn du möchtest, Kind, dann suche deinen Vater, er soll ruhig wissen, was für eine hübsche, einmalige Tochter er hat. Aber sei nicht betrübt, wenn du bei ihm auf Ablehnung stößt, er weiß nichts von dir.« Nach diesen Worten kramte sie in der Schublade ihres Nachttisches herum und zog schließlich eine Kette heraus, an der ein silbernes Medaillon hing. »Hier«, sagte sie, »die hat mir dein Vater zum Andenken geschenkt. Sollte er noch leben und du findest ihn, dann grüße ihn von mir und sage ihm, dass ich nie aufgehört habe, ihn zu lieben. Gib es ihm, dann wird er Bescheid wissen, wer du bist, hörst du?«

Von der Situation hin und her gerissen fragte Jakob nach langem Zögern: »Hat sie dir eigentlich auch gesagt, warum Joe aus Deutschland fliehen musste?«

»Nein, nicht direkt, nur so viel, dass er, wenn die Polizei ihn erwischt hätte, für etliche Jahre ins Gefängnis gekommen wäre.«

Jakob winkte ab. Zornig sagte er: »Wäre er mir begegnet, bevor ihn die Polizei geschnappt hätte, dann wäre ich stattdessen in den Knast gegangen! Aber das wäre mir völlig egal gewesen.«

»Du? Wieso du, was hattest du damit zu tun?« Maike war sichtlich verwundert.

»Weil ich ihn, ohne mit der Wimper zu zucken, getötet hätte!«

Sprachlos stierte Maike ihn an, und bevor sie ihre Worte wiederfand, sagte Jakob beschwichtigend: »Lassen wir es fürs Erste gut sein. Ich möchte jetzt nicht darüber reden. Später, vielleicht später …«

»Es ist schon gut«, lenkte Maike nachsichtig ein. Es war unübersehbar, wie erregt Jakob wurde. Seine Lippen zuckten, und Schweiß stand ihm auf der Stirn.

Die Vergangenheit hat ihn wieder einmal eingeholt. Verstört verlässt Jakob sein Gedankenkarussell. Inzwischen dämmert es draußen. Ihm ist speiübel geworden. Den Rotwein zu trinken war keine gute Idee, wie er befand. Bevor ich mich erbrechen muss, werde ich eine Scheibe trocknes Brot essen. Er zwingt sich dazu, aufzustehen. Im Brotkasten liegt ein bereits hart gewordener Kanten, daran kaut er eine Weile herum. Um diesem beschissenen Tag endlich ein Ende zu bereiten, beschließt er, ins Bett zu gehen. Nicht nur die vergangenen Stunden sind ihm überdrüssig geworden, auch der ganze Mist, den man das Leben nennt, kotzt ihn nur noch an. Nichts mehr sehen und nichts mehr hören ist sein Wunsch.

Bevor er die Türen und Fenster im Haus verschließt, fährt er noch den Wagen in die Garage. Das mit den Einbrüchen nimmt langsam Überhand