Im Schrei des Fisches - Rainer Mauelshagen - E-Book

Im Schrei des Fisches E-Book

Rainer Mauelshagen

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Beschreibung

Ein Herzstillstand reißt Robert Lichtenberg aus seinem gewohnten Alltag. Mehr tot als lebend wird er in das Krankenhaus eingeliefert, in dem seine Frau Anja als Krankenschwester arbeitet. Nachdem sich sein Gesundheitszustand nach erfolgreicher Reanimation wieder verschlechtert, drängt Doktor Samuel Merzhadaj, der Anja nicht nur beruflich sehr nahesteht, darauf, dass Robert ein neues Herz transplantiert wird. Das Schicksal will es, dass bald darauf ein geeignetes Spenderherz zur Verfügung steht. Nach erfolgreicher Transplantation sieht es zunächst danach aus, als könnte Robert mit seiner Frau und seinem Sohn Julian wieder ein einigermaßen normales Familienleben führen, wären da nicht seine schrecklichen Visionen und Albträume, die er schon bald mit dem Spender in Verbindung bringt. Er kann sich keinen anderen Reim darauf machen, warum ihn ein ominöser Fisch mit seinem Schrei quält. Und was hat es mit der jungen Frau auf sich, die ihm in ihrem blutverschmierten Kleid verstörend real begegnet? Und so setzt Robert Lichtenberg alles daran, die Vergangenheit seines Spenders zu erforschen, was noch mehr Probleme nach sich zieht.

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Zum Buch

Ein Herzstillstand reißt Robert Lichtenberg aus seinem gewohnten Alltag. Mehr tot als lebend wird er in das Krankenhaus eingeliefert, in dem seine Frau Anja als Krankenschwester arbeitet. Nachdem sich sein Gesundheitszustand nach erfolgreicher Reanimation wieder verschlechtert, drängt Doktor Samuel Merzhadaj, der Anja nicht nur beruflich sehr nahesteht, darauf, dass Robert ein neues Herz transplantiert wird.

Das Schicksal will es, das bald darauf ein geeignetes Spenderherz zur Verfügung steht. Nach erfolgreicher Transplantation sieht es zunächst danach aus, als könnte Robert mit seiner Frau und seinem Sohn Julian wieder ein einigermaßen normales Familienleben führen, wären da nicht seine schrecklichen Visionen und Albträume, die er schon bald mit dem Spender in Verbindung bringt. Er kann sich keinen anderen Reim darauf machen, warum ihn ein ominöser Fisch mit seinem Schrei quält. Und was hat es mit der jungen Frau auf sich, die ihm in ihrem blutverschmierten Kleid verstörend real begegnet?

Und so setzt Robert Lichtenberg alles daran, die Vergangenheit seines Spenders zu erforschen, was noch mehr Probleme nach sich zieht.

Für Werner. In Erinnerung an einen Freund.

»Denn auch der Mensch weiß seine Zeit nicht; wie die Fische, die gefangen werden im Verderben bringenden Netz, und wie die Vögel, die in der Schlinge gefangen werden: Wie diese werden die Menschenkinder verstrickt zur Zeit des Unglücks, wenn dieses sie plötzlich überfällt.«

Prediger 9/12

»Jeder will ewig leben, aber manchmal ist das Schicksal ein richtiges Arschloch.«

Robert Lichtenberg

Inhaltsverzeichnis

Robert Lichtenberg ist weiß Gott kein gläubiger Mensch …

Einige Monate später …

Ein Jahr später …

Zwei Monate später …

Ich denke, in zwei Stunden …

Es ist Dezember geworden …

Robert stellt das Gebläse hoch …

Harry Brombach war in jungen Jahren …

Anja klopft an die Tür …

Robert Lichtenberg ist weiß Gott kein gläubiger Mensch …

… aber als er aus seiner tiefen Bewusstlosigkeit erwacht, spürt er sofort, dass es ihm dreckig geht, verdammt dreckig. Und folglich kann er es nicht verhindern, dass sich der Gott seiner Kindheit in sein Bewusstsein drängt. Zu ihm spricht er in Gedanken nur vier Worte: Lieber Gott, hilf mir!

Noch traut er sich nicht, die Augen zu öffnen. Seine Rippen schmerzen, als habe man ihm während seiner geistigen Abwesenheit mit schweren Stiefeln auf der Brust herumgetrampelt, und irgendetwas steckt in seiner Nase. Er hat das Gefühl, dass dieses Etwas Luft in sein Gehirn bläst. Was ist nur geschehen? Sein inneres Auge starrt in ein schwarzes Loch, in dem es momentan keine erkennbaren Anzeichen dafür gibt, warum er sich jetzt in dieser beschissenen Situation befindet. Allerdings … ganz allmählich tauchen in der Ferne lichte Bilder auf, die sich schemenhaft verdichten. Die sich in dem Maße verdichten, dass er sich plötzlich selber sieht. Auf einem Sportplatz rennt er herum. Mit seinen Füßen treibt er einen Fußball voran, direkt auf das gegnerische Tor zu. Wenn ich jetzt schieße, hat der Torwart keine Chance mehr. Kaum ist dieses Bild in ihm aufgestiegen, wird es wieder schwarz um ihn herum, und diese Schwärze ängstigt ihn. Ganz vorsichtig öffnet er schließlich die Augen. Um ihn herum ist es fast ebenso dunkel. Viel kann er nicht erkennen. Aber seine Ohren hören. Zunächst ist es nur ein leises Piepsen, das er vernimmt. Ein Piepsen, das unregelmäßig ertönt. Seine Augen bewegen sich langsam nach links. Neben ihm sind Geräte aufgebaut. In einem dieser Geräte verwandelt sich das Piepsen in Lichtzeichen. Im ungleichmäßigen Rhythmus des Tones hüpfen erleuchtete Linien auf und ab. Er will seinen Körper vorsichtig zur Seite drehen, um besser sehen zu können, doch der stechende Schmerz hinter seinen Rippen reißt ihn sofort zurück, worauf das Gerät Alarm schlägt. Er stöhnt auf. Dieses Stöhnen bewirkt, das sich rechts neben seinem Bett ein Schatten aufrichtet. Jetzt beugt sich der Schatten über ihn.

Verflucht, ich kann mich nicht wehren, ich bin hilflos.

Schon streichelt der Schatten seine Wange. »Robbie, Robbie, Liebling, da bist du ja wieder«, flüstert die vermeintliche Bedrohung. Im selben Moment wird die Tür aufgerissen, und der Raum ist gleichzeitig taghell. Das Licht kleidet den Schatten umgehend in einen weißen Kittel. Das vertraute Gesicht seiner Frau lächelt ihn an. Anja, will er sagen, doch ihr Name wird zu einem Röcheln, und tief hinten in seinem Hals scheint jede Silbe zu verbrennen.

»Ruhig, Liebling, ruhig, du musst dich schonen.«

Der Mann, der hereineilt, trägt auch einen weißen Kittel. Jetzt erkennt Robert ihn. Es ist Samuel Merzhadaj, ein verdammt gut aussehender junger Arzt. Mit seinem blauschwarzen Haaren und dem verwegenen Schnurrbärtchen sieht er wie ein typischer Orientale aus. Kameltreiber nennt er ihn Anja gegenüber despektierlich. Robert hat sich schon mehr als einmal gefragt, ob er auf Samuel etwa eifersüchtig ist, schließlich sind er und seine Frau öfter beisammen, als ihm lieb ist. Und wie oft schon hat Anja geschwärmt, was für ein guter und freundlicher Arzt er ist und dass sie gerne mit ihm zusammenarbeitet.

Anscheinend bin ich diesem Wundertier hier ausgeliefert, denkt sich Robert, während Samuel sich an den Geräten zu schaffen macht. Obwohl er müde aussieht, zeigt er wieder sein umwerfend charmantes Lächeln, als er Anja fragt, wann der Patient zu sich gekommen ist.

»Vor wenigen Augenblicken«, antwortet Anja mit einem ebenso liebenswürdigen Lächeln, das aber ihrem Mann gilt, der sich, dabei die Hand am Hals haltend, räuspert.

»Die Halsschmerzen kommen von der Intubation, Robbie«, sagt sie und streichelt dabei wieder seine Wange.

»Na, da hätte er ja fast ein Eigentor geschossen«, witzelt Doktor Merzhadaj beifällig, während er die EKG-Aufzeichnung auswertet.

Robert versucht, in seinem Gesicht Zuversicht zu finden, aber stattdessen zeigt sich in der Mimik des Arztes routinierte Schweigepflicht.

Nachdem Samuel Merzhadaj mit professionellem Blick die Infusionsflaschen und die Perfusoren überprüft hat, schaut er auf seine Armbanduhr. »Halb vier, bald ist die Nacht rum, auf Station ist so weit alles ruhig. Ich lege mich noch ein wenig aufs Ohr, Schwester Anja. Piepsen Sie mich an, wenn was ist. Schwester Petra und Schwester Annegret schaffen das ohne Sie, bleiben Sie bei Ihrem Mann. Therapieplan wie aufgeführt, es ändert sich zur Zeit nichts!« Bevor er die Tür hinter sich schließt, dreht er sich noch einmal um. »Es wird schon wieder, Herr Lichtenberg, es wird schon wieder … bei der Betreuung.«

Da … da hat es erneut aufgeblitzt, dieses Omar-Sharif-Lächeln. Was für eine Doktor-Schiwago-Imitation, denkt sich Robert abfällig, als er im gleichen Moment die Lippen seiner Frau spürt, die sich wie kleine Liebessiegel überall auf sein Gesicht drücken.

Robert sieht sie mit großen Augen an. »Wieso sagtest du eben, da bist du wieder?«, krächzt er. »Von wo bin ich denn gekommen? Und warum hat man mich intubiert?« Wieder fasst er sich an den Hals.

Anja rückt den Stuhl näher an ihn heran und setzt sich. Sie schweigt.

Robert erschrickt, wie verändert sie aussieht. Blass ist sie, und ihre stark geröteten Augen verstecken sich hinter dunklen Rändern. Allmählich wird ihm vollends bewusst, dass sich alles hier nur um ihn dreht. Die Tränen hat sie wegen ihm vergossen. Doktor Schiwago war seinetwegen gekommen. Die Schläuche in seinem Arm, die Verkabelung über seiner Bettdecke, der blöde Schlauch, der Luft in seine Nasenlöcher pustet, all das betrifft ihn!

Anja weint wieder. Er kann sie nicht in die Arme nehmen, seine Brust schmerzt zu sehr. Nur den Kopf hält er in ihre Richtung. Er will nicht, dass sie weint. Er zwingt sich, an ihr vorbeizuschauen. Das große, breite Fenster bietet ihm ein Ziel. Finsternis klebt an den Scheiben. In der Weite blinken Lichter wie Sterne auf. Die Stadt rüstet sich dem Tag entgegen. Im Glas spiegelt sich auch sein Bett. Ihm ist, als läge ein Fremder darin. Ein Todkranker, der sich einfach zu ihm ins Bett gelegt hat. Einer, dem man ein weißes Nachthemd übergeworfen hat. Du liebe Güte, was hängt denn da für ein Beutel am Bett? Robert tastet mit den Fingern genau dahin, wo er im Spiegelbild den Beutel sieht, bis sie auch hier einen Schlauch fühlen. Als er daran zieht, schmerzt es ihm in der Harnröhre.

Was soll das alles?, fragt er sich. Und als er sich eine Antwort geben will, kommt es ihm so vor, als würde die ominöse Gestalt, die in seinem Bett liegt, ihm den Mund zuhalten. Er ist plötzlich unfähig, auch nur einen Laut hervorzubringen. Darüber schläft Robert Lichtenberg tief und fest ein.

»Ich leg den um, der Papa wehgetan hat!«

»Julian, Julian, so etwas sagt man doch nicht!« Anja Lichtenberg sieht ihren Sohn tadelnd an. »Nein, keiner hat deinem Papa wehgetan, er ist beim Fußballspiel …«, sie stockt, »von ganz alleine hingefallen.«

»Ist das wahr? Wann kann ich Papa denn besuchen?«

Anja schnürt es das Herz. Sie küsst ihren Sohn auf die Stirn. »Höre mal zu, Julian«, sagt sie betont ruhig, »du bist doch schon ein großer Junge. Du musst jetzt ganz vernünftig sein. Solange Papa auf der Intensivstation liegt, musst du noch mit deinem Besuch warten. Ja?«

Julian schaut nicht begeistert. Obendrein meint er bockig: »Mami, wann entscheidest du dich endlich, ob ich schon ein großer oder noch ein kleiner Junge bin? Beides geht doch wohl nicht.«

»Iss bitte dein Müsli auf, sonst kommst du zu spät zur Schule!«, entgegnet sie ihm bestimmend. »Und nach der Schule gehst du wieder umgehend zu Oma Rita, du darfst auch bei ihr schlafen.«

Obwohl Julian sehr gerne bei seiner Oma Rita ist, verzieht er verächtlich den Mund. »Hast du schon wieder Nachtdienst, Mami?«

»Ja. Papa wird sich jedenfalls darüber freuen. Nun mach schon, Maximilian wird dich jeden Moment abholen.«

Als Anja alleine ist, kommt sie nicht recht in Schwung. Elf Uhr, und der Frühstückstisch ist noch nicht abgeräumt. Ihr Haar ist nicht ordentlich gekämmt, und ihr Gesicht sieht ohne Schminke abgespannt und müde aus. Am frühen Morgen hat sie sogar ihr Spiegelbild verschmäht. Leid wird nicht nur im Herzen sichtbar, urteilte sie über sich selbst. Sie beschließt, sich einen besonders starken Kaffee aufzubrühen. Aber nicht eine dieser Kapseln will sie in den Automaten legen, nein, echten Filterkaffee will sie sich aufbrühen.

Eine viertel Stunde später hat sie es sich auf der Couch gemütlich gemacht. Was für ein herrlicher Spätfrühlingstag. Durch das großzügig geschnittene Panoramafenster präsentiert sich ihr der prächtig blühende Garten. Mein kleines Paradies nennt sie es besonders zu dieser Jahreszeit. Anja lächelt, als sie die Meisen beobachtet, die ihre Jungen in dem Nistkasten füttern. Sie lächelt, obwohl ihr Herz schwer ist. Sie trinkt einen Schluck vom heißen Kaffee. Am liebsten würde sie sich eine Zigarette anzünden, aber nachdem sie aus Rücksicht auf Julian bei jeder Witterung zum Rauchen in den Garten ging, hat sie es sich inzwischen ganz abgewöhnt. Sie will sich doch nicht zum Sklaven ihrer Süchte machen. Stattdessen genießt sie jetzt die Ruhe. Sie liebt ihren Sohn, aber seine ewige Fragerei geht ihr vor allem jetzt ein wenig auf die Nerven. Und als sie darüber nachdenkt, überfällt sie Wut. Wut auf die Umstände, die sie nicht beeinflussen kann und die ihr inzwischen die Kraft rauben. Die Umstände sind es auch, die ihre Pläne mit einem Schlag zertrümmert haben. Noch vor wenigen Tagen war ihr das Schicksal ein wohlgesonnener Freund gewesen. Sie hat einen Mann, den sie liebt. Sie hat einen gesunden, prächtigen, lebensfrohen Jungen, ein durchaus komfortables Haus, und über Geld braucht sie sich keine Sorgen zu machen. Robert hat eine gut bezahlte Anstellung in der örtlichen Sparkasse, und sie selbst geht mehr zur Freude an ihren Beruf als Krankenschwester arbeiten. Und dann das! Was will das Schicksal eigentlich von mir, fragt sie sich aufgebracht. Warum ist es mein Feind geworden?

Sie lehnt sich ins Polster zurück und schließt die Augen. Sie muss, egal wie, mit der Stunde fertig werden, als ihre kleine Welt, ihr kleines Paradies ohne Vorwarnung zerbrach. Es war ein ruhiger Nachmittag auf der Station gewesen. Sie erinnert sich nun, dass sie in Gedanken bereits mit ihren beiden Männern am Abendbrottisch saß. Julian hatte sich selbst gemachte Pizza gewünscht. Später, wenn er im Bett liegen würde, wollte sie Robert verwöhnen. Robert mochte es, wenn sie ihm nach dem Fußballmatch die »Wunden leckte«. Jeden blauen Flecken liebkoste sie dann mit Hingabe. Aber das blöde Schicksal hatte zum Telefon gegriffen und in der Klinik angerufen. Bereitet alles vor, ein Notfall ist unterwegs, sagte es mit einer frechen Gleichgültigkeit, als käme unangenehmer Besuch ins Haus.

Na ja, dann geht die Zeit schneller um, hatte sie da noch gedacht. Nie wird sie den Augenblick vergessen, als Robert bewusstlos auf der Trage liegend ins Untersuchungszimmer hereingeschoben wurde. Zu keiner Zeit stand sie als Krankenschwester vor solch einer Herausforderung. Doch jetzt, das war sie ihrem Beruf schuldig, lag nicht ihr geliebter Mann im Krankenbett, jetzt musste sie in erster Linie einen Patienten versorgen, der offensichtlich mit dem Tode rang. Es war der Augenblick, als sie ein zweites Ich bekam. Das eine Ich war Roberts Frau, das sich in Gedanken stumm und verzweifelt und von Panik ergriffen in der hintersten Ecke des Untersuchungszimmers kauerte und nicht mehr ein noch aus wusste. Das andere Ich aber war die Krankenschwester Anja Lichtenberg, die professionell und routiniert dem behandelnden Arzt Samuel Merzhadaj zur Hand ging, um dem Tod nicht nur ein Schnippchen zu schlagen, sondern ihn mit der Kunst der Medizin in die Flucht zu jagen. Am besten dahin zu jagen, wo er niemals mehr Schaden anrichten konnte. Auf dem Sportplatz allerdings sah der Tod bereits wie der Sieger aus. Es war der Moment, als Robert gerade auf das Tor schießen wollte, da grätschte ihm der Tod in die Beine. Wie vom Blitz getroffen fiel Robert um. Herzstillstand! Nur durch das umsichtige Eingreifen eines Sportkameraden, der unverzüglich Reanimierungsmaßnahmen durchführte, begann Roberts Herz, wenn auch unregelmäßig, wieder zu schlagen.

Als Anja erneut zur Tasse greift, muss sie diese wieder abstellen. Ihre Hand zittert, und sie hat das Gefühl keine Luft zu bekommen. Die schlaflosen Nächte zeigen ihre Wirkung.

Am besten keinen Kaffee mehr trinken, der regt mich nur noch mehr auf, beschließt sie. Nur einen Augenblick die Beine hochlegen.

Obwohl die Sonnenstrahlen die Scheibe des Fensters durchdringen, fröstelt es sie. Lang gestreckt bedeckt sie sich mit ihrer Lieblingsdecke, die sie selbst genäht hat. Seit etwa zwei Jahren näht sie Patchwork Decken. Immer dann, wenn Robert seinen Hobbys nachgegangen ist. Außer, dass er mit Hingabe Fußball spielte, fuhr er sehr gerne mit dem Mountainbike durch die Gegend oder bastelte an seinem alten Borgward herum.

Anja atmet tief durch. Das Liegen tut ihr gut, auch wenn sich etwas Schwindel eingestellt hat. Abschalten und Ruhe finden, das wünscht sie sich. Lärm lässt sich schnell finden, aber Ruhe muss man oft lange suchen, bestätigt sie sich. Tatsächlich, das Zwitschern der Vögel zügelt ihre Nerven, es beruhigt sie in einer Weise, dass sie sogar einschläft.

Vom Klang der Türglocke fährt sie hoch. Er dröhnt regelrecht in ihren Ohren nach. Das Herz schlägt ihr vor Schreck bis zum Hals.

Nein, nein, nein! Ich will jetzt nicht gestört werden!

Die Gedanken wirbeln in ihrem Kopf herum. Sie hat Angst, keine Worte für denjenigen zu finden, der vor der Türe steht und anscheinend etwas von ihr will.

Oje, da hat jemand Ausdauer. Sie hält sich die Ohren zu.

Mit bleiernen Gliedern erhebt sie sich schwerfällig, aber die Neugierde schubst sie voran. Vom Flur aus erkennt sie im Mattglas der Haustür die Umrisse eines Mannes, der erneut klingelt. Anja wundert sich, noch nie hat sie die Glocke dermaßen laut wahrgenommen. Nun ist sie so nahe an die Tür herangekommen, dass der da draußen sie auch sehen muss. Es gibt kein zurück! Mit einem kurzen Blick in den Flurspiegel überprüft sie ihre Frisur. Um Himmels willen, ich bin ja total zerzaust. Rasch fährt sie mit den Fingern durch ihr dichtes, dunkles, halblanges Haar, das sie sich immer noch nach der Mode der 50er Jahre schneiden lässt. Ein hübsches Überbleibsel aus der Zeit, als sie aus Freude zum Tanzsport mit Robert in einem old school Rock’n’Roll-Club getanzt hat.

Nur einen Spaltbreit öffnet sie die Haustür. Verlegen tritt sie einen Schritt zurück.

Jetzt ist es der Mann, der die Tür weit aufdrückt. »Störe ich?«, fragt er.

»Samuel«, haucht Anja völlig verdattert. »Nein, Samuel … sag es mir nicht …« Sie beginnt zu stottern.

Der Arzt legt ihr die Hand auf die Schulter. »Ruhig, Anja, beruhige dich! Es ist nicht, wie du denkst. Dein Mann ist nicht …« Nun stockt auch er. »Ich habe heute meinen freien Tag, und da habe ich mir gedacht, ich sehe mal bei dir nach, wie es dir geht. Lässt du mich rein?«

»Ich bin … ich bin gar nicht vorbereitet«, erwidert Anja immer noch völlig überrascht. Und indem sie sich wieder mit den Fingern ihr Haar kämmt, bittet sie ihn dennoch, hereinzukommen.

Samuel lacht kurz auf. »Natürlich bist du nicht vorbereitet, wie konntest du auch?«

Anja ist dieses hinreißende Lachen nicht entgangen. Es tut ihr gut, einen lachenden Menschen zu sehen.

Im Wohnzimmer bleibt er anerkennend stehen. »O, hier riecht es aber gut nach Kaffee.« Und während er den gesamten Raum in Augenschein nimmt, hört Anja ihn sagen: »Geschmackvoll, sehr geschmackvoll. Ihr seid wirklich sehr geschmackvoll eingerichtet.« Aufmerksam betrachtet er sich die Bilder an der Wand. Zuerst tritt er ganz nahe an eines der Gemälde heran, um es dann in einem gewissen Abstand zu begutachten. »Die Signatur kann ich nicht entziffern, wie heißt der Maler?«

»Es ist eine Malerin. Sie heißt Marie Luise Lennart-Seifert.«

Der Arzt schüttelt den Kopf. »Noch nie von ihr gehört.«

Unschlüssig steht er da, und Anja fällt ein, dass sie ihm einen Platz anbieten muss. »Setz dich doch!«, bittet sie ihn schließlich. »Wenn du möchtest, brühe ich dir frischen Kaffee auf.«

Samuel atmet tief mit der Nase ein. »Wenn er so schmeckt, wie er riecht, dann freue ich mich darauf.«

Als Anja in die Küche geht, denkt sie wiederum: Was für ein Lächeln. Anderseits fragt sie sich, was er wirklich bei ihr will. Sie weiß, wie sie auf Männer wirkt, besonders wenn es ihr gut geht, wenn ihre frische Liebenswürdigkeit und Unbefangenheit eins wird mit ihrem attraktiven Äußeren. Auch bei Samuel ist es ihr damals nicht entgangen, dass er, gleich nachdem er etwa vor einem Jahr die Station als leitender Oberarzt übernahm, sie anfangs ungeniert anbaggerte. Sehr schnell hatte sie ihm aber gezeigt, wo es für sie absolute Grenzen gibt. Außerdem braucht sich Robert keineswegs hinter ihm zu verstecken. Doch unterschwellig reizt sie auch das Spiel mit dem Feuer. Ihr gefällt es, wie wahrscheinlich jeder Frau, begehrt zu sein. Allerdings kann sie sich nicht vorstellen, dass Samuel ihre augenblickliche Situation zu seinem Vorteil auszunutzen versucht. Nein, so schätzt sie ihn nicht ein. Gerade jetzt, wo Robert schwer krank im Krankenhaus liegt.

Sie schaut stiekum durch die offene Türe ins Wohnzimmer, während der letzte Rest vom heißen Wasser im Kaffeesatz des Filters versickert. Samuel hat die Terrassentür weit aufgemacht und ist im Begriff, sich den Garten aus der Nähe anzusehen. Anja blickt zur Wanduhr, ein besonders hässliches Stück, wie sie findet. Das Zifferblatt stellt den dicken, runden Bauch eines aus Salzteig gefertigten Kochs dar, der einen Kochlöffel schwingt und bei jeder vollen Stunde lustig tuend die Augen verdreht. Leider besteht Robert darauf, dass diese Geschmacklosigkeit hängen bleibt, weil es ein Geschenk seiner Kollegen ist, die, ebenso wie seine Mannschaftskameraden, häufig Gäste im Hause Lichtenberg sind. Robert mag Geselligkeit. Und er mag es auch, wenn er seine Gäste bekocht und bewirtet. Bereits Anfang Januar hat er sich für die bevorstehende Grillsaison einen wahnwitzig teuren Grill für die kommenden Gartenpartys angeschafft.

Gleich zwölf, sagt sich Anja. Eigentlich müsste ich das Essen für Julian vorbereiten. Da fällt ihr ein, dass er ja gleich nach der Schule zu ihrer Mutter geht. Sie ist froh, dass sich Julian so gut mit ihr versteht und sie sich rührend um den Jungen kümmert. Seit seiner Geburt ist Rita, nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes, regelrecht aufgelebt. Anja hat immer noch nicht die Beklemmung verloren, wenn sie daran erinnert wird, wie ihr Vater Fred auf der Toilette den Herzinfarkt bekam. Das Wort Herzinfarkt schießt ihr nun wie ein Blitz durch den Körper. Im gleichen Moment muss sie sich an der Arbeitsplatte abstützen.

Sie erschrickt. Auf gespenstische Weise steht Robert plötzlich mit ausgestreckten Armen neben ihr.

»Kann ich dir helfen?« Zusammenfahrend dreht sie sich herum. Sie hat für den Augenblick tatsächlich Samuel vergessen. Anstatt Robert steht er mit hochgezogenen Schultern im Türrahmen. Ihm entgeht nicht, wie blass und müde sie aussieht. »Soll ich dir etwas spritzen? Wenn du möchtest, hole ich rasch meine Tasche aus dem Wagen.«

»Wie? Nein, nein, danke, es geht schon.«

Du spinnst, sagt ihre innere Stimme. Habe ich richtig gehört, was du gerade gedacht hast? Du hast gedacht, er will dich mit einem Medikament gefügig machen!

Noch bevor sie den Kaffee auf das Tablett stellen kann, kommt Samuel ihr zuvor.

»Bitte setz dich ins Wohnzimmer, ich mache das schon«, bestimmt er. »Ist das in Ordnung? Du hast nur eine Tasse hingestellt, willst du keinen Kaffee trinken?«

»Doch, doch jetzt trinke ich auch noch einen.«

»Möchtest du den Kaffee ebenfalls schwarz?«

Anja nickt.

Kurz darauf sitzen sie sich schweigsam gegenüber. Der Kaffee hat Anja ein wenig belebt. Ihre Wangen sind gerötet und ihre Augen glänzen. Sie wartet darauf, dass Samuel ihr den wirklichen Grund seines überraschenden Besuches verrät. Obwohl sie und ihr Mann regelmäßig Gäste im Haus bewirten, hat Samuel diese Gelegenheit noch nie wahrgenommen. Dein Mann scheint etwas gegen mich zu haben, hatte er erst kürzlich zu Anja gesagt. Sollte sie ihm darauf geantwortet haben, dass Robert eifersüchtig auf ihn ist? Sicherlich nicht.

Endlich fragt Anja direkt heraus: »Warum bist du eigentlich gekommen?«

Samuel, der gerade die Tasse zum Mund geführt hat, muss sich räuspern. »Verzeih«, hüstelt er, »ich habe mich verschluckt.« Er schaut sie mit seinen fast schwarzen Augen eindringlich an. »Ich wollte nicht im Krankenhaus zwischen Tür und Angel mit dir darüber reden, Anja.« Immer noch sieht er sie so an, als müsse er überprüfen, ob sie die ganze Wahrheit vertragen kann.

»Hm, über was musst du so dringend mit mir reden?«, fordert sie ihn geradewegs heraus.

Noch einmal räuspert er sich, dann sagt er klipp und klar: »Roberts Zustand hat sich im Laufe des Morgens verschlechtert.« Er macht eine Pause.

Voller Anspannung setzt sich Anja bis an den vorderen Rand der Couch. Wie auf dem Sprung sitzt sie da. In ihr Gesicht ist schlagartig die Blässe zurückgekehrt. »Was soll das heißen, Samuel. Was willst du mir damit sagen?«

»Ich will dir damit sagen, dass das Herz deines Mannes inzwischen so stark geschädigt ist, dass er, wenn er noch eine Überlebenschance haben will, transplantiert werden muss.«

Anja sackt in die Kissen.

Samuel springt auf. Mit der Rückseite seiner linken Hand fährt er ihr über die Stirn, und mit Zeige- und Mittelfinger seiner rechten Hand misst er ihr den Puls. Danach setzt er sich dicht neben sie und erfasst ihre Hände. »Du bist eine erfahrene Krankenschwester«, spricht er mit warmer Stimme. »Ich brauche dir nichts vormachen, ich muss dir auch nicht viel Erklärungen abgeben, du weißt, was eine Myokarditis bedeuten kann. Du weißt auch, dass wir alles getan haben und noch tun, aber dieser verdammte Virus …« Hier spricht Samuel nicht weiter. Er beobachtet Anjas Gesicht. Sie hat die Augen geschlossen, und zwischen ihren Wimpern zwängen sich Tränen hervor. Möglicherweise würde er ihr am liebsten die Tränen fortküssen, so sehr fühlt er ihren Schmerz, das ist ihm anzusehen. Aber er ist Arzt, er darf sich seinen Gefühlen nicht hingeben.

Sie öffnet die Augen. »Hast du schon mit Robert darüber gesprochen?«

»Nein, ich wollte zuallererst mit dir darüber reden.«

Sie löst sich aus seinen Händen. »Dein Kaffee wird kalt«, sagt sie plötzlich gefasst.

Samuel hat ihre Anmerkung verstanden. Er setzt sich wieder auf seinen Platz und trinkt einen großen Schluck. Entschlossen steht sie auf und geht zum Schreibtisch. Sie zieht die Lade auf und entnimmt ihr Roberts Brieftasche, die ihr ein Freund ihres Mannes samt seiner Kleidung und dem Fahrrad gleich nach dem Zusammenbruch auf dem Sportplatz nach Hause gebracht hat. Einen Organspendeausweis fingert sie aus dem Lederfach und legt ihn demonstrativ vor Samuel auf den Tisch.

Er sieht sie fragend an.

»Lies, was Robert angekreuzt hat!«

Ohne den Ausweis aufzunehmen, erkennt Samuel sofort, dass er an der Stelle sein Kreuz gemacht hat, wo steht, dass er im Todesfall keine Organe spenden will.

Samuel zieht die Augenbrauen hoch, und bevor er etwas sagen kann, hört er, wie Anja ihn mit den Worten darauf hinweist: »Ich bezweifele, dass Robert einer Herztransplantation zustimmt, wenn er sich selbst als Spender verweigert.«

Es ist wohl ihr jahrelanger Umgang mit Leid und Tod, der sie mit einem Male derartig nüchtern reden lässt.

Samuel hingegen lächelt hintergründig, als er in den blühenden Garten schaut. »Leben will leben«, sagt er nur. Wieder an Anja gewandt, versucht er, sie zu überzeugen. »Du weißt doch selbst am besten, wie sich die meisten Todkranken noch ans Leben klammern, und sie würden alles dafür tun, nur um ein wenig länger zu leben, wenn es in ihrer Macht stünde. Selbst dann, wenn sie in der Patientenverfügung mit ihrer Unterschrift jegliche lebensverlängernden Maßnahmen abgelehnt haben. Wie stehst du eigentlich dazu?«

Auch Anja lächelt nun, doch ihre Mundwinkel verraten Pessimismus. Und anstatt ihm direkt darauf zu antworten, ist sie es, die ihm eine Frage stellt. »Bist du Organspender?«

Samuel ärgert sich ein wenig, er ist in erster Linie nicht als Arzt, sondern viel mehr als Freund gekommen, um das bevorstehende Schicksal der beiden erträglicher zu machen, und nun kommt er sich irgendwie angeklagt vor. »Nein«, erklärt er in einem Tonfall von Bedeutungslosigkeit. »Ich habe keinen Organspendeausweis, wie ihn die meisten meiner Kollegen auch nicht haben.« Dass er persönlich Angst vor einer Organentnahme hat, verschweigt er natürlich. Er hat, abgesehen von seinem fundierten Wissen, Angst davor, bei lebendigem Leibe ausgeweidet zu werden. Hirntod, das sagt doch schon alles! Damit man gegenüber den Angehörigen in gewissem Sinne den Namen Tod in den Mund nehmen kann, sagen er und seine Kollegen zumindest Hirntod, auch wenn der Körper des »Spenders« noch lebt. Außerdem wird solch eine menschliche Großzügigkeit überdies hoch dotiert, auch das schreckt Samuel inzwischen moralisch ab, dass die Organspende von einer großartigen ärztlichen Befähigung zu einem profitablen Wirtschaftsfaktor geworden ist. Doch auch das sagt er Anja nicht. Für ihn ist die Entscheidung, sich für oder gegen eine Transplantation auszusprechen, ein echtes Dilemma, weil es dabei diese Grauzone zwischen Leben und Tod gibt, mit der er als Arzt fertig werden könnte, aber nicht als Mensch. Nicht nur er weiß eben nichts Genaues darüber, was ein Mensch wirklich empfindet, wenn man ihn quasi lebend aufschneidet. Er darf als Arzt im Falle einer Organentnahme bei dem hirntoten Körper noch nicht einmal eine Narkose einleiten, weil man damit bestätigen würde, dass dieser Mensch noch lebt. Anderseits kann man ihn nicht physisch vollständig sterben lassen, weil dann eine Organspende hinfällig wird. Samuel hat viel und intensiv über diesen Konflikt nachgedacht, und ihn graust der Gedanke, dass es im menschlichen Gehirn womöglich unentdeckte Areale gibt, die in diesem Zustand noch wach bleiben, aber wehrlos geschehen lassen müssen. Ein schauderhafter Gedanke!

»Noch nicht«, sagt er schließlich anfügend, als müsse er sich entschuldigen. »Nein, ich habe noch keinen Organspendeausweis. Aber darum geht es jetzt auch nicht. Ich muss dir offen gestehen: Dein Mann wird sterben, wenn wir nicht so schnell wie möglich ein neues Herz für ihn bekommen. Ich habe bereits mit Doktor Großmann, dem Chirurgen vom Herzzentrum, darüber gesprochen und ihn gefragt, ob er meine Diagnose teilt. Außerdem konnte ich bereits Doktor Ahrens, unseren ärztlichen Klinikdirektor, ins Boot holen. Ein Gremium aus Kapazitäten steht hinter meiner Einschätzung, dass demzufolge Eurotrans die Dringlichkeit einer Herztransplantation für deinen Mann melden wird. Natürlich müssen wir zuerst seine Infektion in den Griff bekommen, um ihn in die Universitätsklinik zu Professor Büchner transportieren zu können. Robert ist bei Professor Büchner und seinem hervorragenden Team in guten … nein, in besten Händen!« Während er eindringlich auf Anja einspricht, beobachtet er wieder ihre Gesichtszüge, um Ablehnung oder Zustimmung herauszulesen. Doch Anjas Gesicht ist wie eine Maske, und hinter der Fassade schaut sie nach innen, und es sieht so aus, als wäre nur ihr Körper anwesend.

Diesen Moment nimmt Samuel wahr, um ihr eine ganz persönliche Frage zu stellen. »Robert hat mir im Zuge meiner Anamnese berichtet, dass er in der letzten Zeit eine ziemlich heftige Grippe hatte und recht leichtsinnig damit umgegangen ist. Du bist eine erstklassige Krankenschwester, Anja, konntest du denn nicht in dem Maße auf ihn drängen, wie es nötig gewesen wäre, solch eine schwere Infektion ordentlich auszukurieren?«

Nun zeigt Anja Regung. Ihre Mimik drückt Empörung aus. Aber noch bevor sie auf Samuels unverblümten Vorwurf reagieren kann, versucht er, seine Worte abzuschwächen. »Na ja«, sein Mund verzieht sich zu einem verzerrten Grinsen, »wenn ich verheiratet wäre, würde ich in diesem Punkt wohl auch nicht auf meine Frau hören, auch wenn wir Männer schon bei einer banalen Erkältung besonders wehleidig sind.« Er fuchtelt mit dem Arm in der Luft herum. »Aber kaum geht es uns wieder besser, müssen wir unsere Männlichkeit beweisen und muten uns dann eben zu viel zu, wie zum Beispiel viel zu früh wieder Fußball zu spielen.« Er schaut auf seine Armbanduhr. »Tja«, sagt er ratlos wirkend, »dann muss ich wohl oder übel wieder los. Ich habe einen wichtigen Termin. Aber ich bitte dich noch einmal als Arzt und vor allem als dein Freund: Sprich mit Robert, bevor du heute deinen Dienst antrittst. Ohne seine Zustimmung wird von ärztlicher Seite nichts geschehen. Und es wird noch nicht einmal reichen, dass er rein gefühlsmäßig aus der Situation heraus einer Transplantation zustimmt. Er muss dem Gremium gegenüber deutlich machen, dass er auch im Anschluss an die Operation hundertprozentig gewillt ist, am Fortschritt seiner Genesung mitzuarbeiten! Dem ungeachtet muss er sich darüber im Klaren sein, dass es keine leichte Zeit für ihn werden wird. Aber sein absoluter Wille, leben zu wollen, ist nicht nur entscheidend für die Durchführung der Transplantation, er ist auch die Triebfeder dafür, dass er danach letztendlich wieder auf die Beine kommt.«

Als Samuel sich erhebt, rinnen Anja Tränen über die Wangen. Unentschlossen steht er vor ihr. Wie ein verlegener Schuljunge fühlt er sich.

Dann ist sie es, die Initiative zeigt. Mit dem Ärmel wischt sie sich durchs Gesicht, steht ebenfalls auf, umschlingt mit ihren Armen Samuels Hals und küsst ihn auf die Wange. »Danke«, haucht sie. »Ich danke dir, mein Freund. Sehe ich dich heute Abend?«

»Leider nicht, ich bin für drei Tage in Heidelberg auf einem Symposium. Es geht um Darmkrebs.«

Anja begleitet ihn zur Tür. Kurz bevor er sie öffnet, hält sie ihn am Ärmel fest.

»Du kannst mich jederzeit besuchen. Wenn du möchtest.«

Er nickt und geht.

»Samuel!«, ruft sie ihm nach. »Ich konnte Robert nicht davon abhalten, zum Fußball zu gehen, wirklich nicht.« Doch er hat schon die Tür hinter sich zugezogen.

Samuel hat eine eigentümliche Stille hinterlassen. So empfindet sie es, als sie sich wieder auf die Couch wirft. Vielleicht kann sie erneut einschlafen. Die letzten Tage und Nächte waren aufregend genug gewesen. Die Stille, nein, die plötzliche Leere in ihrem Kopf wandelt sich in Einsamkeit. Verlassen kommt sie sich vor. Vielleicht ist gerade jetzt die passende Möglichkeit, intensiv darüber nachzudenken, was Samuel ihr vorgeschlagen hat. Sie will verstehen, was eigentlich nicht zu verstehen ist. Alles um sie herum war doch noch vor Kurzem ihr schönes und sorgenloses Leben gewesen. Ein Leben, in dem die Zukunft hoffnungsvoll war, kein angstmachendes Gespenst. Gegenwärtig ist die Hoffnung vor diesem Schreckgespenst geflohen und hat sie alleine und hilflos zurückgelassen. Sogar Robert und Julian sind in diesem Augenblick weit weg, und ihr ist, als würde sie das, was sie am meisten in der Welt liebt, nie mehr wiederfinden. Sie kommt sich bestraft vor. Aber wer will sie für was bestrafen? Robert und sie haben es zu Beginn ihrer Ehe schwer genug gehabt.

Sie starrt zur Zimmerdecke und lässt auf der weiß getünchten Fläche ihre allmählich aufkommenden Gedanken dahinziehen. Eigentlich begann damals alles wie in einem schönen Traum. Ja, vom ersten Augenblick, als sie ihm begegnet ist, hat sie sich in ihn verliebt. Er war und ist ihr Traummann. Gut aussehend, verständnisvoll, charmant und immer verlässlich.

Anja seufzt. Er hätte jede Frau abhaben können. Aber er wollte mich.

Sie schaut zu Anrichte herüber, auf der ihr Hochzeitsfoto und eine Obstschale aus Rosenholz mit aufwendigen Schnitzereien stehen. Die Hochzeitsreise war ein großzügiges Geschenk von Roberts Eltern gewesen. Nun tragen sie ihre Fiktionen wie auf einem imaginären Zeitenwind an die Hochzeitstafel zurück. Alle Blicke der vielen Gäste sind auf sie gerichtet, als sie den Umschlag öffnet, den ihr Rolf gerade überreicht hat. Ob Robert davon wusste?, fragte sie sich. Sein Gesicht strahlte jedenfalls vor Freude, als sie zwei Flugtickets aus dem Kuvert zog. Die Luft hatte sie vor Freude angehalten, als sie las, dass sie auf Hiva Oa fahren würden, um dort die Flitterwochen zu verbringen. Beinahe meint sie, jetzt wieder das Rauschen der Wellen zu hören. Was für eine Insel!

Ja, ihre Ehe hat im übertragenen Sinne tatsächlich im Paradies begonnen, im Garten der Maraquesas, im Land der freundlichen Polynesier, die ihr in diesem Garten Eden wie menschgewordene Engel vorkamen. Augenblicklich läuft sie gedanklich mit Robert Hand in Hand am weißen Sandstrand entlang direkt zu einem der Overwater Bungalows, die auf Pfählen gebaut im Wasser am Rande des Meeres stehen. Sogar nachts sahen sie von dort aus, dabei vom Mond beschienen, das kristallklare Wasser des Meeres, das unterhalb ihrer Unterkunft mit sanftem Glucksen die Pfähle umspülte. Und aus der Ferne erklangen aus den Dörfern fremdartige Gesänge, die schließlich mit dem lauen Wind irgendwo am Horizont verwehten.

Wieder schaut sie zur Obstschale hin. Sie ist eine lieb gewonnene Erinnerung an diese unvergessene Zeit. Am liebsten hätte sie damals den Koffer mit Kunstgewerbe vollgestopft, das von den Einwohnern in aufwendiger Handarbeit angefertigt wurde. Eine Figur hatte es ihr besonders angetan, aber weil diese aus Knochen geschnitzt war, konnte sie sich nicht überwinden, sie mitzunehmen. Vielleicht war es ja sogar ein Menschenknochen? Doch nicht nur schöne Erinnerungen überkommen sie. Mit dem Alltag, der sie bald darauf zuhause empfing, verlor sich auch Schlag auf Schlag ihr Paradies. Nur ein halbes Jahr nach ihrer Hochzeit starben Roberts Eltern, Rolf und Elvira Lichtenberg, unter dramatischen Umständen. Es war ein grauer, nieseliger Novemberabend gewesen. Am Mittagstisch hatte Rolf zu seiner Frau gesagt: »Was hältst du davon, wenn wir heute Abend ins Theater gehen? An der Landesbühne wird Drei Mann auf einem Pferd aufgeführt. Eine Komödie. Walter Giller spielt die Hauptrolle. Genau richtig für uns zwei Hübschen in dieser trostlosen Jahreszeit, findest du nicht auch?«

»Eigentlich wollte ich heute Abend noch an der Buchführung arbeiten«, wandte daraufhin Elvira ein.

»Nichts da!«, bestimmte Rolf. »Du hübschst dich auf, und anschießend gehen wir noch chic essen.«