Hinter der Zeit, im Land ohne Wiederkehr - Rainer Mauelshagen - E-Book

Hinter der Zeit, im Land ohne Wiederkehr E-Book

Rainer Mauelshagen

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Beschreibung

Was würdet ihr denken, wenn ihr euch plötzlich in einer Welt wiederfindet, in der die Toten wieder leben? Klara ist genau das passiert. Mitten in der Nacht kommen die Zeitgeister zu ihr, um sie in die Vergangenheit zu entführen. Viel Aufregung gibt es, als sie dort nicht nur ihren geliebten Opa Edi, sondern auch ihren Bruder Max und dessen Freund Lasse antrifft. Als es wegen ihres Großvaters, der hinter der Zeit noch ein Kind ist, zu einem tragischen Ereignis kommt, verstößt Klara trotz aller Warnungen gegen die Gesetze der Vergangenheit, was zur Folge hat, dass sie und die beiden Jungs mit der Verbannung ins Land ohne Wiederkehr bestraft werden. Es beginnt eine abenteuerliche Reise. Wird es am Ende für die drei eine Rettung geben? »Hinter der Zeit, im Land ohne Wiederkehr« ist eine fantasievolle Geschichte über Freundschaft, Mut und Vertrauen.

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EINE FANTASTISCHE ERZÄHLUNG FÜR MÄDCHEN UND JUNGS AB 12 JAHREN

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Wie alles kam, so wie es kam

Die Zeitgeister

Ein freudiges Wiedersehen mit fatalen Folgen

Eine wohlgemeinte Warnung

Ein Unglück kommt selten allein

Eine schicksalhafte Begegnung

Im Schattenland

Von Vogelmenschen, Hexen und einem neuen Freund

Aufbruch zum Kreuzzug

Vom Blut und Schweiß der Flagellanten

Die Alpenüberquerung

Wilhelm das Schwein und Hugo der Eiserne

Die Santa Maria

Das Sonnenland

Das Mondreich

Die Rückkehr

Ein neuer Anfang

Schlusswort

Dieses Buch widme ich Luis, Dennis, Laurine, Jan und Dir, lieber Leser, liebe Leserin!

Einleitung

Laura vermisst ihr Einhorn!

Ich ließ die Tageszeitung auf meinen Schreibtisch sinken, und während ich einen großen Schluck Kaffee trank, besah ich mir nachdenklich die hübsch geschnitzte Holzfigur, die ich vor einigen Tagen neben meinem Laptop aufgestellt hatte. Erneut las ich die Überschrift im Lokalteil.

Laura vermisst ihr Einhorn!

Was für ein Gegensatz zu den Schlagzeilen vorher. Gleichzeitig zu den großen Weltnachrichten trauert ein kleines Mädchen um ihr Einhorn. Ich war mir sofort sicher, dass es sich bei diesem Einhorn um jene Holzfigur handelte, die ich neulich in einer Pfütze auf dem Supermarktparkplatz direkt neben dem Vorderrad meines Wagens gefunden habe. Also tippte ich die Telefonnummer in mein Handy, die in der Anzeige angegeben war. Lauras Mutter zeigte sich sehr erfreut, als ich sie über meinen Fund informierte. Kurz darauf fuhr ich zu der mir genannten Adresse hin, weil ich die Kleine so schnell wie möglich trösten wollte.

Ich hatte nicht weit zu fahren, zudem waren mir die Kaselitz’ nicht unbekannt, wie ich bei meiner Ankunft feststellte. Sie wohnten etwas außerhalb unseres Dorfes auf einem ehemaligen Aussiedlerhof. Bei meinen täglichen Spaziergängen, die mich an den Nachmittagen nicht selten in die dortige Nähe führten, sah ich Lauras Mutter hin und wieder auf ihrem schneeweißen Schimmel in wehendem Galopp über die Felder reiten. Was für ein Anblick! Hannes, ihr Mann, war Zimmermann und Möbelschreiner, der auf dem Gehöft seine Werkstatt hatte.

Nicht nur die Welt ist klein, auch unser Dorf, darum war ich nicht besonders erstaunt, dass es sich um jenen Handwerker handelte, der mir vor Jahren meine Büroregale gezimmert hatte. Die junge Frau, die mich empfing, schlug ein wenig sprachlos die Hände vor den Mund, als sie mich sah. »Ach, Sie sind es, der unser Einhorn gefunden hat? Sie sind doch der Schriftsteller, oder irre ich mich?«

Nein, Frau Kaselitz hatte sich nicht geirrt, ich bin tatsächlich Schriftsteller und somit auch ständig auf der Suche nach außergewöhnlichen Geschichten. Was das Einhorn betraf, wurde meine Neugierde in diesem Sinne wahrhaftig belohnt. Denn ich fragte mich, warum das Herz eines kleinen Mädchens derartig an einem Stück Holz hing, das zwar geschickt geschnitzt tatsächlich wie ein Einhorn aussah, aber schon auf den ersten Blick den Eindruck machte, alt und abgegriffen zu sein und so gar nicht zum Kuscheln war.

Frau Kaselitz, die sich gerade Tee aufgebrüht hatte, lud mich spontan zum Tee und Gebäck ein. Da ich mein Frühstück abgebrochen hatte, kam mir die Einladung recht gelegen. Laura, von der sie mir ein Foto zeigte, war noch in der Schule. Auf dem Bild lachte mich ein achtjähriges Mädchen mit roten Haaren und vielen Sommersprossen im Gesicht an. Während unseres Gesprächs erfuhr ich mit Erstaunen, woher das Einhorn stammte. Beim Abschied sagte ich, dass ihre außergewöhnlichen Erlebnisse ein guter Stoff für eine gedruckte Erzählung wären, weil sie nicht nur spannend waren, sondern auch Mut machten. Warum Mut? Ja, brauchte man denn nicht immer Mut, wenn man in Schwierigkeiten war? Und Frau Kaselitz war damals in großen Schwierigkeiten gewesen.

Ich denke, jeder von uns ist schon in schwierige Situationen geraten, wo einen das komische Gefühl beschleicht, irgendwie in einer ganz anderen Welt verloren zu sein. Dann ist es schön, wenn man richtig viel Mut hat und es zudem jemanden gibt, der einem in seiner Verlorenheit zur Seite steht. Denn in das Land ohne Wiederkehr will niemand, oder?

So war Frau Kaselitz schließlich damit einverstanden, mir bei weiteren Besuchen ganz ausführlich und in allen Einzelheiten über das Abenteuer aus ihrer Kindheit zu berichten.

Was ich nun folgend aufgeschrieben habe, liegt fast sechszehn Jahre zurück. Viele von euch waren in diesem Jahrhundertsommer 2003 noch gar nicht auf der Welt. Es war übrigens auch die Zeit, als Mark Zuckerberg wenige Monate später mit Facebook startete. Wundert euch also nicht, dass Frau Kaselitz, die übrigens mit Vornamen Klara heißt, in meiner Geschichte wieder ein kleines Mädchen ist und ihr Bruder Max sowie sein Freund Lasse ziemlich freche Jungs sind. Stellt euch vor, alles wäre soeben erst geschehen.

Erwähnen möchte ich noch Folgendes: Da ich das Gehörte aus der Erinnerung aufgeschrieben habe, blieb mir nichts anderes übrig, als Klaras Erlebnisse mit meiner Fantasie auszuschmücken. Aber wenn ihr deswegen sagt, es wäre alles nur ein Märchen, dann will ich euch widersprechen. Kann man denn wirklich einen Unterschied zwischen einem Märchen und der Wahrheit machen? Ist nicht das ganze Leben rätselhaft wie ein zauberhaftes Märchen? Und doch sind auch die rätselhaften Momente für uns selbstverständlich. Also, nun folgt mir gerne in eine geheimnisvolle Welt, die jenseits unserer Augen und unseres Verstandes liegt!

Wie alles kam, so wie es kam

Immer, wenn Klara auf ihrem Schulweg durch den Wald an dem unheimlichen Grundstück mit der hohen Mauer vorbei muss, an der seit vielen, vielen Jahren dichtes Efeu und allerlei Unkraut aus den Mauerritzen wuchert, beginnt sie, zumindest wenn sie alleine ist, ihre Schritte zu beschleunigen. Oft genug rennt sie los, bis sie den Wald schon weit hinter sich gelassen hat, dann erst bleibt sie atemlos stehen.

Dass sie sich an dieser Stelle im Wald ängstigt, hat auch damit zu tun, weil Max, ihr Bruder, und sein Freund Lasse ihr in einer schummrigen Stunde mit heimlicher Freude die schauerlichsten Geschichten von der alten Frau erzählten, die in der Villa wohnt.

»Vor der nimm dich in Acht, die frisst kleine Mädchen«, haben sie ihr eingeredet, worauf sie lachten, wie Hexen eben lachen. Nach Ansicht der beiden Jungs haust wirklich eine Hexe darin. Das behaupten sie jedenfalls, weil sie, als sie einmal mutig auf die Mauer geklettert sind, nicht nur einen Blick auf das bereits stark verfallene Haus werfen konnten, sondern auch diese abschreckende Gestalt sahen, die vollständig in Schwarz gekleidet mit krummem Buckel zwischen verwilderten Rosenbüschen umherschlich. Lasse war sich sicher gewesen, eine Krähe auf ihrer Schulter gesehen zu haben.

Obwohl es Klara gruselt, wenn so etwas erzählt wird, hört sie gerne zu, denn sie war schon immer ein eigenwilliges Mädchen, das sehr gerne spannenden Geschichten lauscht. Zudem liest sie am liebsten Bücher, in denen Gespenster und anderer Spuk vorkommen, weil es ihr eben gefällt, sich dabei zu gruseln. Alleine deswegen ist ihre Fantasie größer als ihr Mut geworden. Somit fürchtet sie sich auch, wenn der Weg sie an das unheimliche Grundstück vorbeiführt, das nur durch ein schmiedeeisernes Tor betreten werden kann, welches hinter einem Gebüsch versteckt ist. Auch hörte sie gerne ihrem Opa Edi zu, der ihr, wann immer sie es sich wünschte, neben den alten Märchen auch die aufregendsten Abenteuer aus seiner Kindheit erzählte. So hat er ihr in den vielen gemeinsamen Stunden von einer fernen Welt berichtet, die sie alle in ihrem Kopf und vor allem in ihrem Herzen behalten hat. Sehr traurig ist sie allerdings geworden, als er ihr eines Tages von seinem Hund Molly berichtete, der in einem strengen Winter auf dünnem Eis in einen See eingebrochen war und er ihn zu retten versuchte. Nur ein Zufall war Opa Edi damals zur Hilfe gekommen, sonst wäre er beinahe selbst dabei ertrunken. War es wirklich ein Zufall?

»Wäre nicht ein seltsam aussehender junger Mann herbeigeeilt, der mich aus dem eiskalten Wasser gezogen hat, dann gäbe es dich und Max heute nicht«, erklärte er Klara damals. Leider ist ihr Opa vor Kurzem gestorben. Und wenn sie an ihn denkt, wird sie jedes Mal ganz unglücklich. Besonders schlimm ist es, wenn sie nachts nicht einschlafen kann, dann vermisst sie ihn so sehr, bis sie weinen muss. In ihren Träumen jedoch kommt er sie oft besuchen, als wäre er gar nicht tot. Deshalb geht sie auch nicht gerne auf den Friedhof, denn wenn sie an seinem Grab steht, ist er wieder ganz weit weg, und ihr kommen immer schaurige Bilder in den Sinn, wie er da unter der Erde liegt. Um auf andere Gedanken zu kommen, wenn ihr das Herz schwer wird, ärgert sie gerne ihren Bruder. Und sie weiß genau, wie sie es anstellen kann, damit er wütend wird. Vor allem bei seinem Outfit trifft sie jedes Mal seinen empfindlichen Nerv. Denn wenn man mit so einer ulkigen Frisur herumläuft wie Max, dann bleibt der Spott nicht aus. Eben wegen diesem seltsamen Haarschnitt hat er auch in der Schule einiges auszustehen. »Da kommt wieder der Möchtegern-Punker«, haben sie ihm anfangs zugerufen und unverschämt gelacht. Einer schrie: »Nun schaut euch den an, ’ne Klobürste auf zwei Beinen.« Puh, ist Max wütend geworden, da gab es aber eine ordentliche Abreibung für den Rufer, wie Klara später von Mitschülern erfuhr. Und alles nur, weil er sich vor einiger Zeit seinen Kopf an den Seiten hat kahl scheren lassen, um sich die rostroten Haare in der Mitte zu einem schmalen Streifen hochzukämmen, der mit einer ordentlichen Menge Gel zum Stehen gebracht wird. »Ich will einen Irokesen-Haarschnitt«, hatte er dem verdutzten Friseur tags zuvor regelrecht befohlen. Na, das war eine Aufregung, als er so entstellt nach Hause kam. Klara war voller Schadenfreude gewesen, als Mutter die Augen verdrehte und die Hände über dem Kopf zusammenschlug. »Max! Max, um Himmels willen, was hast du da schon wieder angestellt? Oje Max, was werden wohl die Leute dazu sagen?«

Da hat sich Klara schnell in ihr Zimmer verzogen. Tja, wenn Mutter Max sagt, ist höchste Alarmstufe angesagt. Anderseits hasst er es auch, wenn sie ihn Mäxchen nennt. Sie tut es, wenn sie mal nichts an ihm auszusetzen hat, was selten genug geschieht.

Anderseits bewundert Klara ihren Bruder für dessen Eigensinnigkeit und Mut. Denn diejenigen, die wegen solcher Frechheiten Prügel von Max bezogen haben, trauen sich das nicht mehr! Einzig Max’ Freund Lasse hat dessen geile Veränderung, wie er es nannte, bewundert, und das nicht nur, weil Max ihm oft genug aus der Klemme hilft, wenn man ihm wegen seines allzu losen Mundwerks an den Kragen will. Denn obwohl Lasse nach Max’ Aussage schon wie ein Doppel Whopper aussieht, also hoch wie breit, weil er ständiger Gast im Restaurant zur goldenen Möwe ist und man schon deswegen meinen könnte, er wäre wegen seiner suboptimalen Körperfülle genauso stark, wie er aussieht, ist Lasse ein richtiger Beckenrandschwimmer, wie Max es geradeheraus benennt. Im Gegensatz zu Klara, die gerne liest, hängen die beiden am liebsten am Computer ab. Da kann man so schön abchillen, behauptet er gegenüber seiner Schwester. Chillen, das ist auch so ein Ausdruck, den Max oft gebraucht. Denn seiner Meinung nach will immer jemand etwas von ihm, was ihn maßlos nervt. »Max tu dieses, Max tu jenes. Boah, das ätzt wirklich!«, wirft er Klara vor, wenn Mutter es nicht hören kann. »Immer ich, warum nicht mal du? Oh, wie ich die Weiber hasse«, ist auch zu einem beliebten Satz von ihm geworden. Manchmal hat Klara das Gefühl, Max könnte wirklich meinen, sie würde von den Eltern bevorzugt. Dann aber nur, weil sie folgsamer ist als er. Oder es sind nur seine Sommersprossen, die sie nicht hat. Als er noch klein war, hat er einmal versucht, diese hässlichen Punkte mit einem Radiergummi auszuradieren. Das gelang ihm nicht, leider. Erst kürzlich fragte ihn ein Junge aus der Parallelklasse, ob er zu Hause einen Ventilator in der Kloschüssel habe. Zuerst verstand Max gar nicht, was er meinte, aber dann ist es ihm eingefallen. Schade, dass der Sprücheklopfer längst weg war, dem hätte er aber eine ordentliche Tracht verabreicht. Max lässt sich nämlich nichts gefallen. Obwohl er erst dreizehn Jahre, na ja, beinahe vierzehn Jahre alt ist, geht er keiner Rauferei aus dem Weg. Max hält sich für unschlagbar. Wenn er morgens beim Waschen mit freiem Oberkörper im Badezimmer vor dem Spiegel steht, dann spannt er stolz seine Oberarmmuskeln an. Und damit sie noch dicker und fester werden, als sie ohnehin schon sind, macht er mehrmals täglich fünfundzwanzig Liegestütze.

Augenblicklich ist er immer noch in sein Counter-Strike-Spiel vertieft, während Klara, Mutter und Vater bereits draußen im Auto auf ihn warten. Vor ungefähr einer Viertelstunde hat Vater ihn schon gemahnt, endlich den Kasten auszuschalten, damit sie endlich zum Friedhof fahren können. Als Vater zornig aus dem Wagen steigt, sieht sie es direkt vor sich, wie er wütend die Treppe zu Max’ Zimmer hoch eilt und die Tür aufreißt und mit ihm schimpft. Na, nun kann es nicht mehr lange dauern, denkt sie sich. Und tatsächlich – kurz darauf kommt Max noch vor Vater angerannt. Dann braust der Wagen davon.

Vor einem Jahr, ausgerechnet am ersten Weihnachtsfeiertag, plötzlich und wie aus heiterem Himmel kurz vor dem Festtagsessen am Mittag, kam es zu dem bösen Zwischenfall mit Opa Edi. Ungerechterweise hatte Max ihm sogar die Schuld dafür gegeben, dass er an jenem darauffolgenden zweiten Weihnachtsfeiertag nicht mit Lasse und dessen Eltern nach Winterberg zum Snowboard fahren durfte. Bereits der erste Weihnachtsfeiertag, am Morgen der Bescherung, war ein glatter Reinfall für ihn gewesen, weil Opa ihm nicht das erhoffte Snowboard geschenkt hat. Fehlanzeige! Ein Mikroskop und einen dicken Wälzer mit dem Titel Flora und Fauna in unserer Heimat hat er ihm freudestrahlend in die Hand gedrückt. Obendrein bekam er noch von Vater eine Ohrfeige, weil er sich für diesen Schrott nicht bei Opa bedanken wollte. Mutter zeterte daraufhin los und zählte penibel auf, was der Herr Sohn in seinem Leben schon alles geschenkt bekommen hat.

»Man kann in diesem Haus ja kaum noch treten vor lauter Spielzeug, da soll er mal nicht undankbar sein und obendrein noch eine saure Miene aufsetzen, sie bekäme ja auch nicht alles, was sie sich wünschte«, hielt sie ihm vor. Worauf Vater losmeckerte und zornig sagte: »Ich kann mir auch nichts aus den Rippen schneiden.« Daraufhin war Opa gekränkt aufgestanden und hat wortlos das Haus verlassen. Klara war wieder einmal umso glücklicher gewesen, sie hatte von Opa das lang ersehnte Meerschweinchen bekommen, um das sie ihn wochenlang mit vielen Küsschen und guten Worten angebettelt hat. Insgeheim allerdings hätte sie viel lieber ein richtiges Pferd gehabt, auf dem sie dann jeden Tag geritten wäre. Um das hätte sie sich bestimmt ordentlich gekümmert, wie sie versicherte, auch wenn Mutter das bezweifelte. Was die Erwachsenen immer haben, hat sie da gedacht, ich weiß, dass ein Pferd täglich geputzt und gestriegelt werden muss. Ja, ein Pferd wünscht sie sich von ganzem Herzen. Für das Reiten wäre sie noch zu jung, bekam sie von ihren Eltern zu hören. Und ein eigenes Pferd, das ginge schon gar nicht! Wo sollte man denn damit hin? In den Garten vielleicht?

»Pah, zu jung, schließlich bin ich schon elf«, gab sie patzig zur Antwort. Und so blieb Klara nichts anderes übrig, als sich mit einem Meerschweinchen zufriedenzugeben. Schließlich konnte sie es ja auch streicheln und lieb haben. Doch der Wunsch nach einem eigenen Pferd ist geblieben, vor allem seit Großvater ihr von einem zauberhaften Einhorn erzählte, welches in einem fantastischen Garten hinter der Zeit lebt. Ja, er hatte keinen Spaß gemacht. Er sagte nachdrücklich, dass es ein Land hinter der Zeit gibt. Seitdem sehnt sie sich danach, nur einmal zu diesem fernen Ort zu gelangen. Außerdem ist sie fest davon überzeugt, dass alle Pferde von dem einen einzigen Einhorn abstammen und dass, wenn man ein Pferd besonders liebt und ihm herzliches Vertrauen entgegenbringt, diesem wieder, gerade wie dem echten Einhorn, ein Zauberhorn aus der Stirn wachsen wird.

Max war nur eines, nämlich zornig. Eigentlich mag er dieses komische Gefühl im Magen nicht, wenn er Zorn bekommt. Aber als er Klara mit dem Meerschweinchen sah, wie sie vor Freude hüpfte und zärtlich das Fell des Meerschweinchens küsste, verkrampfte sich das doofe Unwohlsein in seinem Bauch so sehr, bis ihm schwindelig im Kopf wurde. Und als Mutter ihn scharf dabei beobachtete, wie sich der Ausdruck in seinem Gesicht mehr und mehr verfinsterte, sagte sie vorwurfsvoll: »Du brauchst gar nicht neidisch zu sein, du hast schon teure Computerspiele bekommen, als deine Schwester nur eine Puppe bekam.«

Erst als Max beleidigt mit dem Fuß aufgestampfte und rief: »Ich will aber nicht so ein Scheißmikroskop und so ein blödes Buch haben«, zog Vater beschwichtigend ein bunt glänzendes, nigelnagelneues Snowboard unter dem Weihnachtsbaum hervor.

Nun ja, von diesem Zeitpunkt an konnte Max es vor lauter Vorfreude nicht abwarten, bis er endlich, wie vereinbart, am nächsten Tag von Lasse und dessen Eltern abgeholt würde. Aufgeregt lief er von einem Fenster zum anderen und fragte ständig: »Ob es noch mehr schneien wird … ob es noch mehr schneien wird?«

Zum Mittagessen kehrte Opa zurück. Den Gänsebraten mit Rotkohl und grünen Klößen wollte er sich anscheinend nicht entgehen lassen. Aber es sollte alles ganz anders kommen!

Mutter war gerade im Begriff, die Schüssel mit dem knusprig dampfenden Fleisch aufzutragen, und Vater begann, die Gläser der Erwachsenen mit Rotwein einzufüllen, da rutschte Opa sang- und klanglos vom Stuhl, glitt mit verrenkten Gliedern auf den Teppich und regte sich nicht mehr. Na, das gab ein Spektakel. Mutter schrie entsetzt auf, wobei ihr die heiße Schüssel mit dem Fleisch aus der Hand rutschte und der Gänsebraten ebenfalls auf dem Teppich landete. Vater, gleichfalls überrascht, goss mit weit offen stehendem Mund den Rotwein in ein schon übervolles Glas nach, woraufhin die blütenweiße Damast-Tischdecke, die nur an besonderen Festtagen aufgelegt wurde, den verschütteten Wein quasi wie ein Löschblatt aufsaugte, bis sich ein riesengroßer, roter Fleck zwischen den Tellern und das gute Besteck fraß. Klara rannte vor Schreck weinend zu ihrem Opa und kniete sich hilflos neben ihn.

Max feixte, weil die Klöße, die sich Opa gerade auf den Teller legen wollte, nun wie zwei Tennisbälle durch die Stube kullerten. Nein, nein, nein und abermals nein … war das ein plötzliches Durcheinander.

Es dauerte gar nicht lange, bis der Notarzt nebst Sani erschien. Und wiederum wenige Augenblicke später entfernte sich das Martinshorn jaulend aus der Straße. Danach wollte keine Weihnachtsstimmung mehr aufkommen. Mutter flitzte völlig aufgelöst hin und her und jammerte: »Das schöne Essen … das schöne Essen.«

Vater hatte, inzwischen leicht angetrunken, eine zweite Flasche Rotwein geöffnet, aus der er diesmal, ohne ein Glas zu benutzen, im Sessel sitzend trank. »Nun hör bloß auf mit deinem schönen Essen«, meckerte er nervös geworden, »was machen wir nur, wenn Vater nicht mehr auf die Beine kommt?«

Worauf Mutter geistesabwesend antwortete: »Na ja … das Fleisch kann ich ja morgen noch aufwärmen, aber die Klöße … die schönen Klöße.«

Klara hatte eine weitere Sorge, sie suchte verzweifelt ihr Meerschweinchen, das während der allgemeinen Unruhe aus seinem Käfig entwischen konnte, da sie gerade in dem Moment, als Opa vom Stuhl sackte, das Türchen offen hatte und vor Schreck vergaß, es zu schließen. Max jedoch fiel nichts Besseres ein, als mit seinem Snowboard unter dem Arm am Fenster zu stehen und zu lamentieren: »Hoffentlich schneit es bald!«

Solange lamentierte er, bis Vater schließlich der Geduldsfaden riss.

»Das kannst du dir aus dem Kopf schlagen, dass du jetzt noch nach Winterberg fährst, wo Opa ins Krankenhaus gekommen ist und wir nicht wissen, wie es mit ihm weitergeht!«

Max begriff zunächst gar nicht, was Vater da zu ihm sagte. Dann fragte er sicherheitshalber nach. »Ich soll mir was aus dem Kopf schlagen?«

Vaters Nerven waren bis zum äußersten angespannt, und er hatte keine große Lust mit seinem Sohn über Entscheidungen zu diskutieren, die er soeben offiziell getroffen hat. »Du fährst nicht, basta!«

Da aber wurde Max sehr wütend. Mit einem lärmenden Knall ließ er das Snowboard auf den Parkettboden fallen und rannte umgehend zur Tür, wobei er um eine Haaresbreite den Weihnachtsbaum umgeschmissen hätte. Als er dann die Türe hinter sich zuschlagen wollte, entdeckten er und Klara gleichzeitig das Meerschweinchen. Klara stieß einen schrillen Schrei aus, worauf Max im letzten Moment seinen Ellenbogen in den Spalt zwischen Rahmen und Türblatt klemmte, damit das Tierchen nicht zerquetscht wird.

Dieses grausige Schicksal blieb dem Meerschwein dann Gott sei Dank erspart. Allerdings streifte die Kante der Tür das rechte Hinterbein derartig unglücklich, das es von da an humpelte. Jammernd bat Klara Vater, er möge sie mit dem armen, verletzten Tier sofort zu Doktor Rieck, dem Veterinär drei Straßen weiter, begleiten, aber er zuckte nur bedauernd mit den Schultern.

»Kind«, sagte er beschwichtigend, »da verlangst du etwas, am Weihnachtsfeiertag wird man wohl keinen Tierarzt in seiner Praxis antreffen.«

Max, der immer noch wie angewurzelt im Türrahmen stand und sich mit schmerzverzerrtem Gesicht den rechten Ellenbogen rieb, meinte nur kleinlaut: »Nenne das Viech doch einfach Käpt’n Dreibein! Mit dem schwarzen Fleck ums Auge, der wie die Augenklappe eines Piraten aussieht, und weil es jetzt humpelt, als habe es ein Holzbein, könnte man es glatt für ein Piratenmeerschwein halten.« Sein vorlautes Kichern brachte ihm dann aber endgültig für den Rest des Tages den wohlverdienten Stubenarrest ein.

Wegen des verletzten Meerschweinchens vergaß Klara in ihrer Traurigkeit sogar Opa.

Nach Silvester humpelte das Meerschweinchen immer noch, doch weil es fraß und sich munter zeigte, meinte Vater, dass es doch Blödsinn sei, jetzt noch mit ihm zu einem Tierarzt zu gehen. Und dabei blieb es.

Wegen des Zwischenfalls hat Klara jedoch eine ganze Woche lang nicht mit ihrem Bruder gesprochen. Doch das machte dem auch nichts aus. Wer jedoch meinte, Opas schwere Erkrankung hätte Max völlig kalt gelassen, der irrte gewaltig. Der Junge kann seine Gefühle eben nicht nach außen zeigen, wurde gesagt. Und damit hatten sie recht. Gefühle zeigen wäre nur was für Weicheier und Dumpfbacken, ließ Max mehr als einmal großspurig verlauten.

Nachmittags, wenn er seine Hausaufgaben mehr schlecht als recht erledigt hatte, reagierte er sich an seinem Computer ab. Da wurde er jedes Mal zum Helden. Da konnte er mit Schwert oder Gewehr bewaffnet auf dem Monitor zeigen, wie man mit Warmduschern umsprang. Und Opa konnte auch nicht murren, wenn er stundenlang am Computer saß. Immer hatte der herumgemeckert, wenn Max mit solch einem Unsinn, wie er ihm vorwarf, seine Freizeit vergeudete. Max ist aber schon klar, dass Opa zu seinem Leben gehört, genau wie Mutter oder Vater und natürlich auch Klara.

Richtig bedrückt war er, als Opa dann im Sommer starb. Aber Lasse hatte ihn schnell wieder aus seiner Niedergeschlagenheit herausgeholt, indem die beiden sich bei allerhand Unfug ablenkten. Klara jedoch litt weiter still vor sich hin. Ihre ganze Aufmerksamkeit schenkte sie ihrem Meerschweinchen, das sie tatsächlich Käpt’n Dreibein nannte. Stundenlang lag sie mit dem Käpt’n auf ihrem Bett. Und während sie mit ihm schmuste, erzählte sie ihm alles, was ihr in den Sinn kam. In ihrer blühenden Fantasie erlebte sie mit ihm die gefährlichsten und spannendsten Abenteuer. Und je mehr sie in ihre Traumwelt versank, umso näher fühlte sie sich zu ihrem Opa Edi hingezogen. Manchmal überkam sie sogar das Gefühl, als wäre er leibhaftig anwesend. Besonders wenn sie ganz konzentriert an ihn dachte, war es ihr, als stände er dann plötzlich mitten in ihrem Zimmer und schaute sie freundlich lächelnd an.

Vor lauter Kummer aß sie immer weniger, weil ihr die Traurigkeit wie ein Kloß im Hals saß. Von einem Tag auf den anderen lachte sie nicht mehr und lief nur noch mit gesenktem Kopf umher. Ganz blass war sie, und Vater und Mutter machten sich die größten Sorgen um sie. Als sie dann ab und zu über Herzstiche klagte, fuhren sie umgehend mit ihr zu Doktor Mehrlinger. Doch nach gründlicher Untersuchung beruhigte er die Eltern, weil er nichts Schlimmes feststellen konnte. »Ihre Tochter ist in einer augenblicklichen Wachstumsphase, da gerät der Körper schon einmal durcheinander. Sie braucht viel frische Luft, Bewegung, Obst und Gemüse und eine große Portion Liebe, die ich Ihnen aber nicht verschreiben kann«, hatte Doktor Mehrlinger zuversichtlich gemeint. Also gab es von da ab nicht nur für Klara täglich Gemüse zu essen, was sie und Max gar nicht mochten, weswegen Max ihr auch beim Mittagstisch die Zunge herausstreckte.

Das ist auch schon wieder vier Monate her, und der Sommer geht allmählich zu Ende. Inzwischen ist Klara zwölf und demnach kein kleines Mädchen mehr, wie sie geradezu hochnäsig meint. Und wenn sie zweimal am Tag an der besagten Villa vorbeikommt, zwingt sie sich dazu, keine Angst mehr zu haben oder zumindest keine Angst mehr zu zeigen. Deshalb schlendert sie auch extra langsam daran vorbei, obwohl ihr das Herz doch noch bis zum Hals klopft. Pfeifen will sie nicht, obwohl Opa mal zu ihr gesagt hat: »Wenn du durch einen Wald gehst und Angst hast, musst du ein Lied pfeifen, dann fühlst du die Angst nicht mehr so sehr. Leider kann sie nicht pfeifen, also summt sie ein Lied.

Als Max und Lasse sie einmal heimlich dabei beobachten, wie sie nicht davonrennt, haben sie sich nur erstaunt angesehen. »Die glaubt uns nicht mehr«, stöhnte Max verwundert und dabei hat er Lasse kräftig auf die Schulter geklopft.

An einem Morgen, der Klaras Leben in eine Weise durcheinanderbringen wird, dass danach nichts mehr so ist, wie es vorher war, bemerkt Klara auf dem Nachhauseweg ein Eichhörnchen, das direkt neben dem Eisentor der Villa im Efeu herumklettert. Neugierig bleibt sie stehen. Weit und breit ist keine Menschenseele zu sehen, und ihre ganze Aufmerksamkeit gilt dem Eichhörnchen, wie es flink und wendig im Buschwerk auf und ab springt. Eine ganze Weile sieht sie ihm gedankenverloren zu. Doch dann durchfährt sie ein Schreck, weil sie befürchtet, zu spät nach Hause zu kommen. Mutter hat es nicht gerne, wenn sie das Essen wegen irgendeiner Trödelei warmhalten muss.

Gerade will sie schnell weitergehen, da hört sie ein Schnauben. Sie stutzt. Da – wieder! Es hört sich an, als schnaube ein Pferd. Sie dreht sich suchend im Kreis herum, aber ein Pferd? Nein, ein Pferd ist nicht zu sehen. Womöglich befindet es sich hinter der Mauer, denkt sie sich. Neugierig schleicht sie sich vorsichtig über den Trampelpfad an das Tor heran, und dann verschlägt es ihr fast den Atem. Endlich sieht sie mit eigenen Augen, was sie sich seit langer Zeit in ihrer Einbildung vorstellt.

Vor ihr tut sich ein richtiges Dornröschenschloss auf, das mindestens seit hundert Jahren hinter Rosen, Dornen und Gestrüpp schläft. Vom Eingang aus führt ein verwilderter Weg zum Haus, der so aussieht, als wäre schon seit Ewigkeiten keiner mehr dort langgegangen. Leider kann sie das restliche Grundstück nur begrenzt einsehen, da zum einen Büsche und Bäume die Sicht einschränken, zum anderen kann sie den Kopf nicht weit genug durch die Gitterstäbe stecken. Hauptsache, die Hexe ist nirgends zu sehen. Die hätte ihr riesige Angst gemacht.

Aber seltsam, das Schnauben hat aufgehört. Sie lauscht angestrengt. Ihr Mund ist ganz trocken geworden vor Aufregung, und in ihren Ohren beginnt das Blut zu rauschen. In dieses Rauschen hinein vernimmt sie plötzlich ein rhythmisches Geräusch, als schlagen Hufe in die Erde. Nicht schnell, ganz langsam scheint es näherzukommen. Soweit es geht, dreht sie nun den Kopf nach rechts, um noch ein wenig mehr Einblick ins Gelände zu haben. Doch dann … In dem Moment, als sie zur anderen Seite hinschauen will, dringt ihr ein lautes Wiehern in die Ohren.

Als sie vor Furcht zurückspringt, stößt sie sich ordentlich am Eisentor. Oh, wie hat sie sich erschrocken! Im ersten Moment kann sie es gar nicht fassen. Mit gesenktem Kopf und großen runden Augen, die wie braune Glaskugeln aussehen, durch die das Sonnenlicht leuchtend scheint, steht vor ihr das schönste Pferd, das sie je gesehen hat. Vollständig weiß ist es, und seine rosigen Nüstern schnuppern neugierig nach ihr.

»Das verwunschene Einhorn, das wegen eines bösen Zaubers sein Horn verloren hat«, flüstert Klara. Opa hat sie also nicht angelogen.

Sehr vorsichtig, um das wunderschöne Pferd mit der langen, weißen Mähne und ebensolchem Schweif nicht zu erschrecken, streckt sie ein wenig ängstlich ihre Hand nach dem Tier aus. Sie kichert vor Freude, als ihr die raue Zunge des Tieres über die Finger leckt. Begeistert lässt sie es geschehen. Jetzt erlebt sie, was sie sich schon immer erträumt hat: ein echtes Pferd zu streicheln.

Mutter und das Essen sind vergessen. Sachte drückt sie die Klinke vom Tor herunter. Es ist nicht abgeschlossen. Ohne schnelle Bewegungen zwängt sich Klara hindurch. Das Pferd hebt wiehernd den schönen Kopf und setzt behäbig einige Schritte zurück. Sie hat überhaupt keine Angst mehr. Sie weiß, wenn man einem Einhorn mit Liebe begegnet, hat man nichts vor ihm zu befürchten. Außerdem hofft sie, dem Pferd mit ihrer Liebe sein Horn zurückzugeben.

»Ach, wie groß du bist«, stöhnt sie. »Und was für schöne Augen du hast.« Ganz klein kommt sie sich daneben vor. Als sie sanft den Hals tätschelt, hebt und senkt das Einhorn seinen prächtigen Kopf, als stimme es ihrer Zärtlichkeit zu. Es schubst Klara behutsam mit dem Maul in die Seite, als sie voller Bewunderung für einen Moment die Arme sinken lässt.

»Ja, ist ja schon gut«, sagt sie lächelnd. Vor lauter Begeisterung springt sie in Gedanken auf den Rücken des Pferdes und reitet hinaus in das Land hinter der Zeit, aus der ein böser Zauber es vor vielen Jahren verbannt hat. Alles sieht sie genau vor sich, was sie aus Opas Erzählungen weiß. Erst ein lauter Ruf reißt sie zurück in die Wirklichkeit.

»Fantaaasia, Fantaaasia!« Es ist eine grelle Stimme. Fröstelnd läuft ihr ein Schauer über den Rücken. Das muss die Hexe sein, fährt es ihr in den Sinn. Und richtig, die Alte ist aus dem Haus getreten und hat sich ein Stück weit genähert. Erneut ruft sie nach dem Pferd. Wieder hebt und senkt es wiehernd den Kopf, und dann galoppiert es in Richtung Haus. Klara kann sich von diesem Anblick gar nicht losreißen, wie stolz und elegant das Tier mit wehender Mähne dem Ruf folgt.

»Auf Wiedersehen, Fantasia«, murmelt sie bekümmert. »Aber morgen komme ich wieder!«

Von da ab lässt Klara keine Gelegenheit mehr aus, Fantasia zu besuchen. Dabei hat sie sogar ihre Angst vor der Hexe ein ganz klein wenig verloren. Das kommt aber auch daher, weil sie ihr noch nie direkt begegnet ist und sie sich selbst immer nur in der Nähe des Tores aufhält. Aber manchmal hat sie so ein komisches Gefühl, als würde die Frau sie ein wenig abseits beobachten. Vielleicht ist sie ja gar keine Hexe. Außerdem, von Weitem sieht es so aus, als gehe sie gar nicht krumm, und einen Vogel hat sie auch noch nie auf ihrer Schulter gesehen. Max und Lasse werden sie ganz schön reingelegt haben. Da ist sie sich mittlerweile sicher. Das sieht den beiden ähnlich. Aber wenn die wüssten. Leider ist es tagsüber schon sehr kühl geworden und die Herbststürme haben in den letzten Tagen die Laubbäume längst kahlgeweht. Aber auch das hält sie nicht davon ab, ihren neuen Freund zu besuchen. Und wenn es so richtig ungemütlich ist und ihr die Feuchtigkeit klamm in die Kleider hineinzieht, schmiegt sie sich ganz eng an Fantasia, aus dessen Fell wohlig dampfende Wärme aufsteigt. Willig lässt Fantasia es geschehen. Meist beginnt es schon dunkel zu werden, wenn sie beim Abschied traurig den Heimweg antritt.

Zuhause angekommen, fragt Mutter sie stets verwundert: »Ich möchte nur wissen, wo du dich ständig herumtreibst.«

»Heute bleibst du aber im Haus!«, befiehlt Mutter. »Es regnet und stürmt kräftig. Schau nur aus dem Fenster. Bei dem Wetter jagt man ja keinen Hund vor die Tür.«

Klara ist vor Minuten mit den Hausaufgaben fertig geworden, und nun will sie sich rasch die Schuhe anziehen. Erstaunt sieht sie ihre Mutter an. »Wieso?«, fragt sie vorwurfsvoll. »Max ist doch auch unterwegs. Wieso darf er raus und ich nicht?«

Mutter droht mit dem Finger. »Weil dein Bruder bei Lasse ist und sie im Warmen am Computer spielen und nicht durch die Gegend streifen, wie du es anscheinend fast jeden Tag tust. Wo willst du eigentlich wieder hin? Sieh nur deine Schuhe an, die hast du auch noch nicht geputzt.« Mutter kommt ganz nahe an Klara heran und schnuppert an ihrer Jacke. »Ich weiß nicht, ich weiß nicht«, sagt sie kopfschüttelnd, »dein Anorak riecht irgendwie nach Pferd. Was machst du eigentlich, wenn du unterwegs bist? Hoffentlich keine Dummheiten! Ich glaube, ich muss ein ernstes Wort mit deinem Vater sprechen.«

Da hat Klara einen glänzenden Einfall. »Habe ich es dir noch nicht gesagt? Brigitte und ich gehen in den Reitstall. Sie hat ein eigenes Pferd«, bemerkt sie trotzig.

Mutter lächelt nachsichtig. »Ach sieh an, deshalb verschwinden hier Möhren und Äpfel. Also gut, dann geh! Aber wenn es dunkel wird, kommst du umgehend heim. Hast du mich verstanden?«

Klaras »Ja« war kaum noch zu hören, als sie die Haustür hinter sich zuzieht. Und genauso schnell, wie sie das Haus verlassen hat, rennt sie in Richtung Wald. Der Wind bläst ihr den Regen kalt ins Gesicht. Vor lauter Sehnsucht nach Fantasia hat sie vergessen, sich die Kapuze überzuziehen. Aber das macht ihr nichts aus, sie will auf schnellstem Weg zu ihrem Pferd, das sicherlich auch schon auf sie wartet. Sie hat es so eilig, dass sie noch nicht einmal das drängende Hupen eines Autofahrers beachtet, der sie auf dem schmalen Waldweg überholen will. Erst als das Brummen des Motors direkt hinter ihr ist, springt sie im letzten Moment zur Seite. Gleich darauf braust ein Jeep an ihr vorbei, der einen Pferdetransporter zieht. Japsend schaut sie dem Gespann nach. Eine böse Ahnung beschleicht sie. Und richtig, nicht mehr weit entfernt sieht sie auf gerader Strecke die Bremslichter genau am Tor der Villa rot aufleuchten. In kurzen Abständen springen zwei Männer aus dem Jeep. Was soll sie tun?

Sie muss wissen, was da vor sich geht. Angespannt beobachtet sie, wie einer der Männer die Hintertür des Anhängers öffnet und gleich darauf dem zweiten folgt, der bereits in Richtung Villa verschwunden ist. Wie ein begossener Pudel steht sie da. Dann beschließt sie, sich alles genau aus der Nähe anzusehen, schließlich kann sie auf diesem Weg gehen, wohin sie will! Fast auf Höhe des Hängers versteckt sie sich hinter einem Baum. Vom Grundstück vernimmt sie ein wildes Schnauben und Wiehern. Es mögen fünf Minuten vergangen sein, da sieht sie, wie Fantasia gewaltsam zum Hänger gezogen wird, wobei einer der Männer, der sich hinter dem Pferd aufhält, mit der Gerte zuschlägt. Die Männer schimpfen und fluchen, weil sich das Pferd nicht verladen lassen will. Es trampelt auf der hölzernen Ladefläche herum, dass es unter seinen Hufen knallt.

Am liebsten würde Klara eingreifen, aber was soll sie gegen die Männer ausrichten? Erst als die Frau auch erscheint und auf das Pferd einspricht, beruhigt es sich zusehends. Die wirrsten Gedanken gehen Klara durch den Kopf. Warum wird Fantasia weggebracht? Was wird mit ihm geschehen? Wird sie ihren neuen Freund nie mehr wiedersehen? Fantasia braucht viel Liebe von ihr, damit ihm wieder das Horn nachwachsen kann.

Ihr Herz zieht sich vor Kummer schmerzhaft zusammen. Schreien möchte sie, doch sie bringt keinen Laut hervor, so aufgeregt ist sie. Vor Kälte, Zorn und Traurigkeit zittert sie am ganzen Körper. Weg will sie! Sie will nicht länger zusehen, wie man ihr in der Seele wehtut.

Ohne sich noch einmal umzudrehen, läuft sie los. Nein, sie will noch nicht nach Hause, wo man sie ausfragen wird, warum sie traurig ist. Ach, wäre Opa jetzt da, der würde sie trösten. Der wüsste genau, wie ihr ums Herz herum ist.

Fast hat sie den Wald hinter sich gelassen, da hört sie erneut das Brummen des Transporters. In der Hoffnung, einen letzten Blick auf Fantasia zu werfen, bleibt sie stehen. Als das Gespann gemächlich an ihr vorüberfährt, sieht sie durch das Seitenfenster den Kopf des Pferdes. Sie ist sich sicher, dass dessen aufmerksamer Blick ihr gilt, denn sie hört deutlich Fantasias Wiehern.

Es ist schon stockfinster, als sie durchgefroren und völlig durchnässt heimkommt. Vater öffnet ihr die Tür, und sie sieht sofort, wie aufgeregt er ist. Wortlos zieht er sie an der Hand hinter sich her in die Küche, wo Max, ohne hochzusehen, stumm in seinem Essen herumstochert. Sicherlich weiß er, dass es gleich ein Donnerwetter geben wird.

Mutter steht am Herd und rührt mit dem Kochlöffel in der Pfanne mit den Bratkartoffeln herum. Als Vater Klara mitten im Raum präsentiert, so als habe er einen Dieb auf frischer Tat erwischt, wendet sie sich vom Herd ab. Auch sie hat sich augenscheinlich eine Strafpredigt zurechtgelegt. Doch als sie sieht, welches Jammerbild ihre Tochter abgibt, legt sie schnell den Löffel bei Seite und ist mit zwei, drei Schritten bei ihr.

»Kind, um Gottes willen! Wie siehst du denn aus? Wo warst du so lange? Wir sind umgekommen vor Sorge! Du bist völlig durchnässt. Zieh dich sofort aus, du zitterst wie Espenlaub. Ich lasse dir ein heißes Bad einlaufen. Wollen wir hoffen, dass du dich nicht erkältet hast. Du liebe Güte, da kann man reden und reden, aber es ist, als rede man vor eine Wand.«

»Ich war pünktlich zuhause«, gibt Max vorlaut zu bedenken.

»Du sei still und kümmere dich um dein Essen!«, mischt Vater sich ein, dem beim herrlichen Duft der Bratkartoffeln wohl die Lust aufs Schimpfen vergangen ist. Demonstrativ schmatzend setzt er sich an den Tisch und winkt Mutter augenzwinkernd mit der Gabel zu.

Am Morgen fühlt Klara sich zu schwach und elend, um in die Schule gehen zu können. Während Mutter das Fieberthermometer abliest, sagt sie mit sorgenvoller Miene: »Hab ich es mir doch gedacht. 38,5 Grad – und das am frühen Morgen. Da wird das Fieber bis zum Abend noch um einiges ansteigen. Ich werde dir erst einmal Wadenwickel machen. Ach, was hat man auch für Sorgen mit euch. Wenn ihr doch hören würdet, wenn man euch was sagt.«

Diesmal schweigt Max dazu. Aber er ist richtig neidisch auf seine Schwester. Er würde bei dem Mistwetter auch gerne zuhause bleiben. Als Mutter ihn unnachgiebig zur Schule losschickt, obwohl er behauptet, ihm täte auch der Hals beim Schlucken weh, mault er trotz seiner Lüge vor sich hin. Und als er sich noch einmal am Gartentor umdreht, streckt er in Richtung Haus wieder einmal frech die Zunge heraus.

Bereits am Nachmittag ist das Fieber bei Klara so hoch angestiegen, dass ihr sogar im Liegen schwindelig wird. Doch nachdem Mutter ihr ein Zäpfchen gegeben hat, ist sie kurz darauf fest eingeschlafen.

Gegen neunzehn Uhr bringt Mutter ihr einen Teller, auf dem eine kleine Portion Milchreis mit Zimt und Zucker angerichtet ist. Davon wacht Klara auf. Sie fühlt sich etwas besser nach dem Schlaf und isst auch brav ein paar Löffel davon. Zuversichtlich verabschiedet sich Mutter von ihr. Bevor sie endgültig die Tür hinter sich schließt, steckt sie noch einmal den Kopf durch den Türschlitz und sagt lächelnd: »Heute brauchst du dir ausnahmsweise mal nicht die Zähne putzen. Du wirst sehen, morgen sieht die Welt wieder ganz anders aus. Schlaf schön mein Schatz!«

Die Zeitgeister

Nachdem Mutter gegangen ist, gelingt es Klara nicht mehr, einzuschlafen. Zum einen ist es ihr furchtbar heiß und zum andern eigenartig komisch zumute. Ohne dass sie es will, laufen ihr die Tränen die Wangen herunter, weil ihre Gedanken bei Fantasia und bei ihrem Opa sind. Fast ist es ein Gebet, als sie ihn inständig darum bittet, ihr dabei zu helfen, Fantasia wiederzufinden. Weil sie sich ein wenig abkühlen will, steht sie schwankend auf, um die Luke in der Dachschräge zu öffnen, die sich direkt neben ihrem Bett befindet. Jetzt lächelt sie, weil es aussieht, als schaue der dicke, runde Mond direkt in ihr Zimmer auf sie herab. Sein Anblick tut ihr gut.

Dann wendet sie sich ihrem Meerschweinchen zu. »Du darfst heute Nacht bei mir schlafen«, sagt sie, als sie den Käpt’n aus dem Käfig nimmt. Danach kuschelt sie sich mit ihm in die Kissen. Im Haus ist es mucksmäuschenstill. Bedrückt schaut sie wieder in den Sternenhimmel, bis das trübe Licht vor ihren Augen zu flackern beginnt. Es kommt ihr vor, als schwebten vor dem Fenster Geister hin und her, was ihr ein wenig Angst macht. Sicher kommt das vom Fieber, will sie sich beruhigen. Doch es funktioniert nicht. Vor lauter innerer Unruhe wird ihr unwohl. Und wieso sticht es auf einmal so heftig in ihrer Brust, dass es ihr beinahe den Atem nimmt? Sie versucht, sich aufzurichten, doch sie kippt zur Seite weg. Sie will noch nach Mutter rufen … und bringt keinen Laut hervor. Nein, es gelingt ihr auch nicht, aufzustehen. Obwohl sie spürt, dass in diesem Augenblick etwas furchtbar Schlimmes mit ihr passiert, wird es ihr gleichzeitig angenehm leicht ums Herz, und ihr Körper fühlt sich wie schwebend an.

Aber was ist das nun wieder? Sie vernimmt ein eigenartiges Geraschel. Ein Geräusch, als würde über ihrem Kopf etwas umherflattern und schwirren. Ob ein Schwarm Vögel durch die offene Dachluke hereingeflogen ist?, fragt sie sich erschrocken. Oder sogar Fledermäuse? Das wäre schlimm, denn davor fürchtet sie sich. Aber sie kann nichts entdecken, obwohl es weiterhin unaufhörlich raschelt, wispert, fächelt, schwirrt und zwischendrin auch … kichert? Als sie schon glaubt, sie würde sich das alles nur einbilden, schwebt plötzlich etwas Rundes von der Zimmerdecke herab, das wie eine riesige, bunt schillernde Seifenblase aussieht, die in allerhand Formen und allen erdenklichen Farben hin und her wabert. Doch damit nicht genug, innerhalb dieser Blase befinden sich viele Münder, die andauernd schwatzen und allerlei Unverständliches brabbeln.

Klara fasst all ihren Mut zusammen und ruft mit schwacher Stimme: »Wer seid ihr?«

Da antworten ihr die Münder auf wundervolle Weise mit nur einer einzigen hohen, singenden Stimme: »Wir sind die Zeitgeister. Und jeder Mund kann von einer vergangenen oder einer zukünftigen Zeit verkünden.«

»Aber … aber …«, stottert Klara verwundert, »warum kommt ihr gerade zu mir?«

Die Münder wollen vor lauter Aufregung wieder alle auf einmal losplappern, doch der größte Mund bietet streng um Einhalt, um dann schließlich alleine zu antworten: »Weil wir dir die Traurigkeit des Augenblicks nehmen wollen.«

»Die Traurigkeit des Augenblicks?«, fragt Klara erstaunt zurück. »Woher wisst ihr denn, dass ich traurig bin?«

Der Mund druckst ein wenig herum. »Dein Opa hat es uns gesagt«, entfährt es ihm schließlich.

Klara schaut mit großen Augen. »Mein Opa? Habt ihr ihn denn gesehen?«

»Ja, kleines Mädchen, wir haben ihn gesehen und sogar mit ihm gesprochen. Denn wir sind die Geister der Zeit, für uns gibt es keine Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft, wir können auch mit denen reden, die nicht mehr auf der Erde sind.«

»Das glaube ich nicht«, platzt es Klara heraus. Eigentlich ist ihr ein wenig zu unheimlich, um vorlaut Widerworte zu geben.

Die Münder zischen tadelnd.

»Du musst wissen«, beginnt der große Mund erneut, »dass die Zeiträume, in denen die Menschen leben, nie vergehen. Wir kennen deinen Opa schon seit seiner Geburt und natürlich auch, als er noch ein Kind war. Und jetzt, wo er die Erde verlassen musste, hat er sich entschieden, wieder ein Kind zu sein. Aber nun ist er nicht mehr fröhlich, weil du krank geworden bist.«

O je, Klara kommt aus dem Staunen nicht heraus. »Mein Opa ist wieder ein Kind? Aber wie soll das denn gehen?«

»Ach, mit euch Menschenkindern ist es immer dasselbe«, ärgert sich der Mund. »Nur weil ihr nicht alles versteht, glaubt ihr, es gäbe nur das, was ihr seht. Aber es gibt viel mehr zwischen Himmel und Erde, wovon ihr keine Ahnung habt. Ihr denkt immer nur an euren Körper und vergesst dabei die Seele. Aber die Seele ist es, die mehr sieht als die Augen in euren Köpfen. Einzig die Seele vermag es, sich die Zeit wie ein Kleid überzustreifen, in der sie dann ihrem Wunsch nach für immer leben möchte. Und dabei helfen ihr die Erinnerungen an die gelebte Zeit auf Erden. Denn keine Sekunde im Leben verschwindet im Nichts. Wenn man als Mensch seinen Lebensweg durchwandert und dabei vom Kind zum Erwachsenen heranreift, so geht das Kind, das man einmal war, nie verloren. Es verlässt zwar den veränderten Körper, aber es bleibt als ein Geistwesen in seiner Zeit zurück.«

Klara hört fassungslos zu. »Heißt das etwa, dass auch ich immer Kind bleiben darf, wenn ich es will?«, fragt sie begeistert.

Jetzt reden die Münder wieder aufgeregt durcheinander, so als wolle jede Zeit ihre eigenen Freuden anpreisen. Bis schließlich erneut der größte Mund mit der lautesten Stimme, vermutlich die aus der Gegenwart, die anderen zur Ordnung mahnt. »Im Prinzip ja«, beginnt er. »Jedoch musst du zuerst ein Leben lang Erfahrungen aus allen Lebensabschnitten sammeln, bis …«, er verstummt einen Augenblick, »bis … ja, bis du stirbst.«

Da ist es raus. Weil er vermutlich ein großes, universelles Geheimnis gelüftet hat, verzieht sich der Mund verlegen, als hätte man ihn mit einer dünnen Schnur zusammengeknotet.

Doch Klara hat auf einmal überhaupt keine Furcht wegen dem, was sie gerade zu hören bekam. Sie wundert sich nur, dass sie all das, was man ihr gesagt hat, sinngemäß versteht. »Ach so«, seufzt sie, »erst wenn ich tot bin, so wie mein Opa, kann ich ein Geisteskind sein.«

»Ja, so ist es«, bestätigt der Mund immer noch kleinlaut. »Wenn man tot ist, dann kann man in jede Zeit schlüpfen, die einem gefällt.«

Klara klatscht freudig in die Hände, so laut, dass sie befürchtet, der Käpt’n würde davon wach werden. Doch dann hält sie plötzlich inne, und ihre Frage kommt zögerlich: »Und von da, wo mein Opa jetzt ist, kann er sehen, dass ich krank und traurig bin?«

»So ist es«, kommt die einstimmige Antwort aller Münder.

»Deinem Opa geht es gut, lässt er ausrichten, und du sollst wieder fröhlich sein! Schließlich will man sich gerne an seine Kinderzeit zurückerinnern, nicht wahr?«, fügt der große Mund noch hinzu.

Jetzt muss Klara weinen, weil Opa ihr so nah und so fern ist, worauf die Münder auf der Stelle mitleidig verstummen. Vor den vollen Mond schiebt sich eine dicke schwarze Wolke, als würde er sich dahinter verstecken wollen, um nicht mit ansehen zu müssen, wie dem kleinen Menschenkind da unten in seinem Bett, die heißen Tränen auf die nackten Arme tropfen.

Nach einer Weile fragt sie schluchzend: »Werdet ihr ihn wiedersehen?«

Hinter dem großen Mund drängt sich scheu ein kleineres Mündchen hervor und antwortet piepsig: »Hier … ich … ich werde ihn sehen.«

Klara wischt sich entschlossen über die Augen. »Dann habe ich eine große Bitte an dich, liebes Mündchen … würdest du sie mir erfüllen?«

»Sprich, was für eine Bitte hast du? Wenn es in meiner Macht steht, werde ich dir gerne helfen!«

Klara muss erst schlucken. Umso bestimmter ruft sie: »Dann bitte ich dich … dann bitte ich dich, dass du mich auf der Stelle zu meinem Opa mitnimmst!«

»Oh, oh, oh«, stöhnen alle Münder gleichzeitig auf. Vor lauter Ohs geht fast der leise Einwand des Mündchens unter. »Hallo! Du da … das wird nicht gehen! Du weißt, warum es nicht geht. Man hat es dir gerade eben erst gesagt. Sei bloß nicht störrisch! Es ist keinem Menschen, der lebt, gestattet, hinter die Zeit zu gehen, dorthin, wo die Geisteswelt ist!«

Nein, das will Klara keineswegs gelten lassen. Richtig aufsässig und widerborstig wird sie. »Dann will ich«, befiehlt sie lauthals, »auf der Stelle tot sein, wenn du keine Ausnahme machen kannst!«

Diesmal jammern die Münder im Chor.

»Ruhe, Herrschaften, immer mit der Ruhe!«, mischt sich der große Mund ein. Aber stattdessen erhebt sich Gemurre, Gezeter und Palaver.

Doch Klara gibt nicht nach. »Was macht ihr denn für ein Geschrei?«, schnauft sie erbost. »Ich denke, ihr seid gekommen, um mir die Traurigkeit zu nehmen. Was soll das? Nun bin ich noch trauriger als vorher und wütend dazu!«

Der große Mund hat nun alle Mühe, sich gegen seine Begleiter durchzusetzen. Schließlich gelingt es ihm trotzdem. Sein lautstarkes »Halt!« und sein drängendes »Ruhe, sag ich!« klingt noch nach, als alle anderen schon schweigen.

»Na endlich! Also, es gibt da noch eine Möglichkeit, wie du für eine unbestimmte Zeit in die jenseitige Geisteswelt gelangen kannst.« Und bevor die anderen wieder Einspruch erheben können, reißt der Gegenwartsmund vorsorglich seine Lippen so weit auseinander, als wolle er damit drohen, alle verflossenen und alle kommenden Zeiten mit einem Schnapp zu verschlucken. Daraufhin traut sich keiner mehr, noch ein Wörtchen zu sagen. Einzig Klara hebt den Finger wie in der Schule und fragt unbeirrt nach: »Und, wie geht das?«

Fast sieht es so aus, als würde der Mund nachsichtig lächeln. »Indem du durch die Traumwelt dorthin gelangst!«, ist seine knappe Antwort. Danach sieht er allerdings aus, als habe er in eine grüne Zitrone gebissen. »Aber, du vorlautes Ding, ich warne dich: Solltest du, in der Geisteswelt angekommen und, aus welchen Gründen auch immer, in das Geschehen der Vergangenheit eingreifen, also die Schicksale der dort Lebenden beeinflussen oder verändern, dann wirst du auf ewig hinter die Zeit ins Land ohne Wiederkehr verbannt und dann kannst du nie mehr – hörst du! – nie mehr in die Gegenwart zurückkehren!«

Kaum hat es der Mund ausgesprochen, entsteht wieder ein schrilles Wehklagen. Klara dagegen ist außer sich vor Freude. »O ja, das gefällt mir!«, freut sie sich. »Ich werde alles dafür tun, um meinen Opa wiederzusehen. Und … und … vielleicht finde ich in der Traumwelt auch Fantasia wieder. Mein geliebtes Pferd muss doch sein Horn zurückbekommen, damit aus ihm wieder ein Einhorn wird!« Dann stockt ihr Redeschwall plötzlich, und nachdenklich hält sie inne, dass alle Münder fragend offenstehen.

»Was hast du?«, fragt der größte Mund verwundert.

Klara antwortet kleinlaut. »Kann ich vielleicht Käpt’n Dreibein mitnehmen?«

»Ach so«, sagt der Mund daraufhin gnädig gestimmt, »wenn es weiter nichts ist. Natürlich kannst du deinen kleinen Freund mitnehmen. Du kannst überhaupt mitnehmen, wen du möchtest. Es liegt ganz bei dir. Aber ich muss es dir nochmals ans Herz legen: Du darfst zu keinem in der Vergangenheit sagen, dass du aus der Gegenwart kommst, und auch nichts tun, was dich verraten würde. Und, wie ich bereits sagte, nichts tun, was die Vergangenheit nachträglich verändert, weil die Vergangenheit die vorbestimmte Zukunft ist und sich damit die Gegenwart auch verändern würde. Hast du das verstanden?«

Klara schaut einigermaßen ratlos drein, aber dann nickt sie heftig. Die Münder summen zufrieden, haben sie doch noch einen Weg gefunden, ihren Auftrag zu erfüllen.

»Nun gut«, sagt die Anführerstimme, »es ist so weit! Lege dich bequem hin und berühre mit deiner linken Hand den Käpt’n und denke feste an diejenigen, die du noch mit auf die Reise nehmen möchtest.«

»Oh, das ist alles?«, staunt Klara. »Mehr brauche ich nicht zu tun?« Und sogleich gehorcht sie. Ihre Hand auf den Käpt’n gelegt, denkt sie an ein ganz bestimmtes Foto von ihrem Opa, auf dem er noch ein Kind ist und im Schnee mit seinem Hund Molly spielt. Sie mag dieses vergilbte Foto sehr, und außerdem kann sie damit Opa Edi drüben in der anderen Welt besser erkennen. Mit rasendem Herzen erscheint diese Szene vor ihrem inneren Auge. Irgendwie findet sie es witzig, gedanklich in einer Schneelandschaft zu versinken, während sie vom Fieber erhitzt in ihrem Bett liegt. Allzu lange Zeit bleibt ihr allerdings nicht, darüber nachzudenken. Ganz komisch wird ihr zumute. Vor ihren Augen verschwimmt alles. Das Bücherregal, der Tisch, die Stühle, die Bilder an der Wand, sogar ihre Puppen scheinen plötzlich wie wild zu tanzen. Dann sieht sie nur noch den großen Mund vor sich. Einschmeichelnd wispert er ihr ins Ohr. »Verlasse dich ganz auf uns!« Dreimal sagt er es, während die anderen Zeitgeister in Gelächter verfallen. Jetzt geschieht alles ganz schnell. Der Mund, der Klara eben noch beruhigend ins Ohr gesprochen hat, holt tief Luft und wird ganz rund dabei. Immer mehr zieht er die Luft ein. Wie von Geisterhand werden Klara und der Käpt’n tatsächlich in seinen runden Schlund eingesogen, wobei ihr Körper, und das ist die größte Überraschung, wie schlafend im Bett zurückbleibt.

Was für eine Zauberei geht hier vor sich? Doch sie kommt nicht mehr dazu eine Erklärung dafür zu finden, denn unvermittelt beginnt es ohrenbetäubend zu zischen. Sie kann überhaupt keinen klaren Gedanken mehr fassen. Wie durch eine endlose Tunnelrutsche gleitet sie immer weiter in ein stockfinsteres Loch hinab, in dem kein Mond und kein noch so winziges Sternlein am Himmel leuchtet.

Ein freudiges Wiedersehen mit fatalen Folgen

Umgeben von Dunkelheit, findet sich Klara vor einer schäbigen Baracke wieder, aus deren Fenster ein gelbtrüber Schein auf die verschneite Straße fällt. Wie komme ich hierher? Und wo bin ich überhaupt?

Trostlosigkeit umgibt sie. Es riecht nach beißendem Rauch, der breit und schwarz aus dem Kamin der armseligen Hütte kriecht. In dieser Gegend ist sie noch nie gewesen, da ist sie sich sicher! Aber trotzdem, das Holzhaus einige Meter weiter kommt ihr irgendwie bekannt vor. Klara schaut sich fragend um, und soweit sie erkennen kann, sieht die Landschaft mit dem schmutzigen Schnee überall öde und verlassen aus. Keine Menschenseele zeigt sich. Nein, das ist nicht die ihr vertraute Welt. Noch nicht einmal ein Auto ist weit und breit zu entdecken.

Unentschlossen steht sie da, bis es ihr im kleinen Finger zwickt. Es ist der Käpt’n, der sich auf diese Weise bemerkbar macht. Ach je, an den hat sie gar nicht mehr gedacht. Zärtlich schmiegt sie ihn an ihre Wange. »Wie schön, dich bei mir zu haben. Nun bin ich wenigstens nicht mehr alleine.« Ganz fest drückt sie ihn an sich und haucht ihm ihren warmen Atem auf das zitternde Fell, denn es ist lausig kalt. Auch sie friert. Und als sie an sich herunterschaut, stellt sie barfüßig fest, dass sie außer ihrem dünnen Nachthemdchen nichts am Leibe trägt. Aus lauter Verzweiflung will sie losrennen, wobei sie überhaupt nicht weiß wohin. Aber im gleichen Augenblick wird in der gegenüberliegenden Hütte die Tür geöffnet und ein großer, kräftiger Mann tritt im Schein einer grell strahlenden Glühbirne auf die Schwelle. Für einen Moment hält er gedankenverloren inne und blickt genau in die Richtung, in der Klara wie angewurzelt wartet. Nun hat er dich entdeckt, denkt sie erschrocken. Gerade will sie den Mann mutig ansprechen, als dieser unbekümmert zum Himmel schaut, von dem es erneut in dicken Flocken zu schneien beginnt. Belustigt schüttelt er den kahlen Kopf, um sich, dabei ein Lied pfeifend, daranzumachen, aus dem Schuppen von nebenan Holzscheite in einen dort bereitstehenden Korb zu stapeln. Dann verschwindet er ebenso schnell, wie er gekommen ist, wieder im Haus. Klaras Herz schlägt ihr bis zum Hals. Als in der näheren Umgebung alles ruhig bleibt, schleicht sie sich neugierig zu einem der Fenster. Vielleicht kann sie herausfinden, wer in dem Haus wohnt und wie die Leute aussehen, die darin leben.