Herr Jonas erwartet Besuch - Rainer Mauelshagen - E-Book

Herr Jonas erwartet Besuch E-Book

Rainer Mauelshagen

4,9

Beschreibung

Was ist Zeit? Zeit ist im Grunde lediglich die Vermischung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Doch über allem steht als Grenzwächter das Alter. Herr Jonas, ein hochbetagter Herr, muss an einem besonders herrlichen Sommertag feststellen, dass er zwar auf eine lange Vergangenheit zurückblicken kann, ihm aber die Neugier auf die Zukunft fehlt, denn schon die Gegenwart ist ihm fremd geworden. Allein gelassen mit Erinnerungen, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit lebt er zurückgezogen hoch unterm Dach in einer schäbigen Mansardenwohnung. Wäre er in der Vergangenheit nicht so ein Pedant und Querulant gewesen, niemand in seiner Umgebung hätte von der Existenz eines Friedbert Jonas gewusst. Deshalb trifft er eine wohlbedachte Entscheidung. Es gibt da jemanden, dem er alle seine Nöte aufbürden will. Er zieht den guten Anzug an und kocht ein opulentes Mahl, denn: Herr Jonas erwartet Besuch! Rainer Mauelshagen ist es gelungen, die Unaussprechlichkeit der Einsamkeit in Worte zu fassen und damit ein Mahnmal für die moderne Gesellschaft zu erschaffen.

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Dieses Buch widme ich meinen lieben Enkelkindern Luis, Dennis, Laurine und Jan. Möge der neue Zeitgeist, den sie nun beleben, in Zukunft nicht zu einem Schreckgespenst werden.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Anmerkung

Vorwort

Woran denke ich, wenn ich den prächtigen Namen höre?

Zunächst an den experimentellen Spielfilm »Jonas«, der 1957 die deutschen Kinobesucher verstört hat. Und an die Reality-Komödie gleichen Namens mit Christian Ulmen aus dem Jahr 2012. Dann an meinen liebsten Klassenkameraden, der eigentlich Johannes hieß, und prima Fußball spielen konnte, und den wir aus Begeisterung immer Jonas gerufen haben. Und natürlich an den Propheten im Alten Testament, der von einem Walfisch verschlungen wurde.

Denn auch dieser Jonas, der Titelheld des vorliegenden Buches, lebt im übertragenen Sinne im Bauch eines Walfischs, in einer dunklen Höhle der Selbstversunkenheit … nein, Stop!, dunkel ist die Höhle nicht. Sie ist vollgestopft mit der Helligkeit der Erkenntnis. Aber nicht nur mit dem Sonnenlicht, das durch die Fenster seiner Mansardenwohnung hereinfällt, sondern auch mit dem Licht vieler Erinnerungen, die der pensionierte Beamte Friedbert Jonas, der mit Schlaflosigkeit kämpft und immer noch für Recht und Ordnung kämpfen zu müssen meint, Tag für Tag sorgfältig aufeinander schichtet. Und der dabei an Gott und Welt denkt, buchstäblich gemeint.

Zudem: Der alte Herr Jonas ist ein guter Koch. Ja, sieh da! Gerade steht er am Ofen und bereitet ein üppiges Festmahl zu. Denn obwohl er einsam lebt – Frau und Kinder sind schon lange tot, und Krieg und Gefangenschaft hängen ihm noch immer in den Knochen –, erwartet er heute Besuch. Wichtigen Besuch. Überraschungsbesuch. Und da lässt er sich nicht lumpen. Erst schickt er alle weg, die ihm jetzt, da er den Gast erwartet, im Weg stehen: die aufdringliche Nachbarin, Frau Woyzeck, und sogar den Kanarienvogel Peterle, dem er die Freiheit schenkt. Dann widmet er sich dem Essen. Fertig! Wohliger Duft durchzieht die Wohnung. Auf wen wartet Herr Jonas im lichten Bauch des Walfischs? Auf einen unerwartet aus der Versenkung des Lebens aufgetauchten Freund? Auf eine heimliche Geliebte? Oder auf das letzte Abenteuer seines Lebens?

Norbert Heinrich Holl

Das Buch

Was ist Zeit? Zeit ist ein im Grunde unbedeutendes Vakuum, ein unsichtbares Nichts, das wir Menschen in dem Maße mit Leben füllen, wodurch die Anzahl der gemessenen Augenblicke zum Schicksal dessen wird, was wir hinlänglich als Gegenwart und Vergangenheit bezeichnen. Aber in Anbetracht unseres Intellekts, unseres geistigen Fortschrittsdenkens gezollt, ist selbst die Zukunft, wenn auch vage und verständlicherweise nur einem ideellen Wunschbild unterlegen, bereits mit zeitlich messbaren Visionen angereichert. Und immer da, wo sich die vom Menschen entworfene reale Zeit – die gelebte Zeit also – mit jenen zukünftigen imaginären Momenten ablöst, da sind die Grenzen des Zeitgeistes gezogen. Unzählige Generationen haben diese Abfolge erlebt und werden sie noch erleben. Und dabei wird es für den Einzelnen nie ein heimliches Hinübergleiten von diesem in jenen Zeitgeist geben, weil es einen strengen Grenzwächter gibt: das Alter!

Herr Jonas, ein hochbetagter Herr, muss an einem besonders herrlichen Sommertag feststellen, dass er zwar auf eine lange Vergangenheit zurückblicken kann, dass es für ihn aber keinen klaren Blick mehr in die Zukunft geben wird. Er ist im tiefsten Wesen seines Innersten auch nicht mehr neugierig darauf, denn schon die Gegenwart ist ihm völlig fremd geworden. Nichts, aber auch rein gar nichts hat mehr mit seinem gewohnten, ihm vertrauten Alltag zu tun, was ihn zum Zeitpunkt seiner Erkenntnis den Zorn, die Verzweiflung, aber auch die Resignation spüren lässt. Gleichfalls erschreckend ist für ihn die Tatsache, dass ihm zum Schluss, am Ende des Tages, nichts von seinen einstigen Träumen bleiben wird, außer der Hoffnungslosigkeit. Die hat ihm Hedwig, seine Frau, bereits vor Jahren in der Stunde ihres schrecklichen Todes als eine Art Vermächtnis hinterlassen. Seitdem lebt Herr Jonas mit seinem Wellensittich Peterle zurückgezogen hoch unterm Dach in einer schäbigen Mansardenwohnung und wäre er in der Vergangenheit nicht so ein Pedant und Querulant gewesen, keiner hätte in seiner Umgebung gewusst, dass es einen Friedbert Jonas gibt. Wo soll das noch hinführen?

Das alles muss ein für alle Mal ein Ende haben! Schließlich hat er eine wohlbedachte Entscheidung getroffen. Es gibt da jemanden, dem er bei einem opulenten Mahl und erlesenen Getränken all seine Nöte aufbürden will. Die Bereinigung all seiner Sorgen und die der unerträglichen Lebensumstände erwartet er an jenem verhängnisvollen Tag vom Erscheinen seines ihm noch unbekannten Besuchers.

»Man kann es nicht mehr leugnen, Land auf, Land ab sind unruhige Zeiten angebrochen! Auf wen oder was soll man noch vertrauen? Desgleichen beklemmt mich auf erschreckende Weise der Gedanke, dieser neuen, dem Menschen und seinen natürlichen Bedürfnissen nicht mehr gerecht werdenden Welt eines Tages hilflos gegenüberzustehen, da alle wohlgemeinten Mahnungen in den Wind geschrieben sind!«

Zitat: Friedbert Jonas

»In der Gegenwart ist jede Stunde wie ein Stein, mit dem wir unsere Vergangenheit erbauen. Darum lasst uns Paläste errichten, dass auch die, die uns nachkommen werden, Zuflucht in Frieden und Freiheit darin finden mögen.«

R. M.

I

Eigentlich versprach es, ein außerordentlich schöner Tag zu werden. Die Sonne zeigte sich schon früh am Morgen in dieser angenehmen Frische, wie man sie nur empfindet, wenn auch das innere Barometer auf heiter eingestimmt ist. In dem schäbigen Viertel, von dem hier die Rede sein wird, regte sich längst emsiges Leben.

Kinder rannten johlend mit ihren Tornistern auf dem Rücken zum bereits wartenden Schulbus. Ein Auto hupte warnend, weil eines der ungestüm rennenden Blagen vom Gehweg auf die Straße gestoßen wurde. Gehetzte Passanten eilten grußlos aneinander vorbei. Ganz in der Nähe knallte jemand fluchend eine Haustüre ins Schloss. Irgendwoher ertönte jaulend ein Martinshorn, und die Luft brummte eintönig vom Motorenlärm.

In einer kleinen Mansardenwohnung, hoch oben im vierten Stockwerk einer grauen Mietshäuserreihe, wurden knarrend die Läden geöffnet. Hier hauste seit fast ewigen Zeiten der alte Herr Jonas. Dieser streckte auch an diesem Morgen gewohnheitsgemäß seinen schmalen Kopf mit der markanten Hakennase aus der Fensteröffnung. Wie ein nach Beute spähender Raubvogel sah er dabei aus. Ein schriller Sonnenstrahl, in dem Staubpartikel umherwirbelten, flutete in den schummrigen Raum hinter ihm. Müde rieb er sich die Augen, um besser sehen zu können, ob unter ihm alles mit rechten Dingen zuging.

Nachdem er augenscheinlich keine Besonderheit ausmachte, entfernte er sich schlurfenden Schrittes. Das Fenster ließ er offen, damit die abgestandene Luft der Nacht hinauswehen konnte. Das war sicherlich angebracht, denn auf der Couch in der eng begrenzten Wohnküche, unter der zudem ein benutzter Nachttopf hervorlugte, lag noch sein zerwühltes Bettzeug. Und neben der Spüle stapelte sich das schmutzige Geschirr vom Vortag. Seit seine Frau vor Jahren auf so tragische Weise ums Leben gekommen war, vermied Herr Jonas es, im Schlafzimmer zu schlafen. Das kam daher, weil er sie kurz nach ihrem Tod leibhaftig am Fußende vor dem Bett stehen sah, wie sie ihm auf groteske Art und Weise zuwinkte. Danach schlug er seine Schlafstatt nur noch auf der abgewetzten, muffigen Sitzgelegenheit in der Stube auf. Nicht etwa aus Angst vor ihr, oder besser ausgedrückt: vor ihrem Geist, das sicher nicht. Er wollte endlich seine Ruhe vor ihr haben. Ja, es war über etliche Jahre hinweg anstrengend genug mit ihr gewesen, mit ihr und ihrer verfluchten, heimtückischen Krankheit. Einer Krankheit, die in ihrem Gehirn unersättlich die Erinnerung gefressen hatte, sodass er täglich mehr mit einer fremden Frau zusammenlebte, der er letztlich wegen ihrer feigen Flucht vor ihm und dem gemeinsamen Leben nur noch zürnte. Für die Ärzte war es Alzheimer, nichts weiter als eine Diagnose. Aber für ihn war es die Hölle auf Erden gewesen. Er konnte auf sie einreden, sie ermahnen, aber die Sinnlosigkeit seines Tuns blies wie ein Wirbelsturm in sein bis dahin aufgeräumtes Leben. In letzter Zeit allerdings plagte ihn ein immer wiederkehrender Gedanke. Der Gedanke an die andere Welt. Drüben, im Jenseits. Wie könnte er ihr jetzt noch mit reinem Gewissen gegenübertreten, würde er seine Reise dorthin antreten müssen? Gab es dann eine passable Entschuldigung für seine bösen Gedanken im Hier und Jetzt?

Das mit dem Schlaf war für Herrn Jonas überhaupt so ein schwieriges Thema. Obwohl er am Abend hundsmüde war, raubte ihm die Schlaflosigkeit so manche Nacht. »Sie werden Sorgen haben, mein Bester«, wusste der Hausarzt nur darauf zu sagen, wann immer Herr Jonas ihn daraufhin ansprach. Schließlich gab er ihm, ohne zu zögern und wieder und wieder, ein starkes Schlafmittel aus seinem Medikamentenschrank. Doch aus Furcht vor den vielen Nebenwirkungen nahm Herr Jonas die Tabletten nur, wenn es gar nicht anders ging. Folglich hortete er Packung für Packung in seinem ausrangierten Kühlschrank. Warum wegwerfen, dachte er sich.

Während Herr Jonas schwerfällig zwischen zwei Sesseln hindurch zur Anrichte schlich, wobei sein schmaler, asketischer Kopf mit den grauen, strähnigen Haaren regelrecht zwischen den hageren Schultern hin und her schaukelte, fiel sein Blick verächtlich auf ein zusammengeknülltes Schreiben, das neben einem nicht mehr ganz frischen Apfel in der Obstschale lag.

»So, Peterle«, sprach er mit hoch entstellter Stimme, indem er gleichzeitig ein Tuch aus dunklem Samt von einem Vogelbauer abzog, der dort auf dem altmodischen Möbelstück neben einem mickrigen Gummibaum stand. Versonnen betrachtete er den Vogel, der gerade in diesem Augenblick schlaftrunken die Flügel streckte.

»Hast gut geschlafen, ja? Bist mein liebes Peterle?«

Der Vogel legte ebenfalls den Kopf schief, wie es der Mensch tat, der nun kindisch feixend zu ihm durch die Gitterstäbe schaute. Gleichfalls einem Vogel nicht unähnlich aussehend, ließ Herr Jonas Speichel aus seinem gespitzten Mund direkt auf den dürren Zeigefinger triefen. Diesen steckte er schließlich durch die Käfigstangen. Umgehend tippelte der Piepmatz hinzu. Mit dem Schnäbelchen begann er sofort daran zu picken, als handele es sich dabei um einen köstlichen Nektar.

»So ist’s recht, mein Peterle, lass dir’s schmecken!« Nachdem er dem Tier eine Weile versonnen zugeschaut hatte, wie dieses spaßig mit seinem bunt gefiederten Köpfchen auf und nieder nickte, als bettele es um mehr, wandte Herr Jonas sich ab, um den Nachttopf zu leeren. Umständlich bückte er sich danach. Dann balancierte er das Gefäß mit zittriger Hand in Richtung Dielentüre. Im Türrahmen verharrte er plötzlich. Bis zum Abort, der sich wie zu anno Tobaks Zeiten im Flur eine halbe Treppe tiefer befand, war es wahrlich ein beschwerliches Unterfangen, wenn man den brisanten Inhalt berücksichtigte, der inzwischen in dem Topf ordentlich hin und her schwappte.

Während Herr Jonas überraschenderweise kehrt machte, bekam seine Miene etwas listig Entschlossenes. Die beiden scharfen Nasenfalten, die sich dabei wie gemeißelte Furchen am verhärmten Mund entlang bis fast in den rotfaltigen Hals zogen, ließen darauf schließen, dass ihm ein verschwörerischer Gedanke gekommen war. In resoluter Manier trat er vor das Spülbecken und leerte seinen trüben Nachturin verschmitzt lächelnd in den Ausguss. Er vermittelte dabei den Eindruck, als habe ihn der unsittliche Akt augenblicklich von etwas Seelenschwerem befreit. Wer Herrn Jonas einigermaßen kannte, der hätte es nie für möglich gehalten, dass dieser stets korrekte, bis in die Knochen ordnungsliebende Mann zu solch einer ruchlosen Entgleisung fähig gewesen wäre. Aber was sollte das bedeuten?

Nun drohte er gar der Obstschale mit geballter Faust. »Dann erstickt doch in eurer Geldgier!«, zischte er. »Schweine verstehen eben nur Schweinereien.« Diese anstößige Tat, die eigentlich gegen alle guten Sitten verstieß, musste ihm vorgekommen sein, als würde er irgendjemandem heimlich die Zunge herausstrecken. Einmal im Leben etwas Unschickliches tun, das fühlte sich wohl recht ersprießlich an. Dass es im abgeschiedenen Kämmerlein geschah, tat der Sache offensichtlich keinen Abbruch. Achtundachtzig Jahre alt musste er werden, um sich wie ein frecher Lausbub darüber freuen zu können.

Herr Jonas ließ kurz kaltes Wasser aus der Leitung über den Nachttopf laufen, schwenkte diesen einigermaßen trocken und stellte ihn wieder aufstöhnend unter die Couch. Dann fingerte er nervös das Schreiben aus der Obstschale und faltete es mit flattriger Hand auseinander. Wohl zum soundsovielten Male tat er es, seit der Schrieb vor vier Tagen im Kasten lag. Dabei schüttelte er den Kopf. Dieser Brief schien ihn regelrecht aus der Fasson zu bringen.

»Obendrein müsste man denen noch in den Siphon scheißen, damit sie vom Gestank ihrer eigenen Habsucht angewidert sind«, brabbelte er vor sich hin. »Hast gehört, Peterle, rausschmeißen will man uns.« Gleichzeitig fuchtelte er mit ausgestrecktem Arm in der Luft herum, sodass der Wisch wie eine feindliche erbeutete Standarte hin und her wedelte. »Uns einfach vor die Türe zu setzen wie nutzlosen Sperrmüll. Eigentumswohnungen wollen sie an dieser Stelle errichten, damit ihre dressierten Geldscheißer einziehen können.«

Der Alte wollte sich gar nicht beruhigen, doch der Vogel blieb stumm. Schließlich knüllte Herr Jonas das ultimative Einschreiben von der neuen Wohnungsbaugesellschaft, einem ausländischen Investor, wiederum zusammen und warf es verächtlich in die Schale zurück.

Erneut wendete er sich dem Vogelbauer zu. »Und was machst du, Peterle? Nun? Ja, du bleibst stumm, was? Bist genauso nutzlos wie ich, noch nicht mal singen tust. Sitzt in deinem gemachten Nest oben auf der Stange und reißt den Schnabel nur auf, wenn ich dir Futter gebe.« Nach einer Atempause fügte er melancholisch geworden hinzu: »Wir sind den heutigen Machtherren wertlos geworden, mein kleiner Freund, und wer nicht profitabel ist, muss verschwinden. Nur wohin, das sagen sie uns nicht. Nicht direkt sagen sie es, aber sie denken es sich. In ihren von Bilanzen und Statistiken vollgestopften Hirnen ist immer noch Platz genug, um zu fordern, dass wir verrecken sollen! Warum guckst so blöd, du nichtsnutziges Federvieh! Du kannst mir getrost glauben: Sie hoffen, dass wir verrecken. Ach was«, winkte er ab und machte sich umständlich daran, das Bettzeug in den Kasten zu stopfen. Danach schloss er das Fenster, weil sich allmählich der ätzende Schweiß der triebigen Stadt auf seine chronisch entzündeten Bronchien legte. Husten musste er davon, schrecklich husten, als müsse er gleich auf der Stelle seine Seele aus dem Leib spucken.

II

An jedem Tagesanbruch, den der liebe Gott der Welt, und hier vor allem dem alten Mann, gnädigerweise gestattete, gab es für Herrn Jonas eine festgelegte Reihenfolge seiner Tätigkeiten, die er nach dem Aufstehen bis dato strikt eingehalten hatte. Noch im weichen Polster sitzend, gähnte er herzhaft, wobei er sich am ganzen Körper kratzte, weil seine Haut so furchtbar trocken war. Seit Wochen brannte und juckte es vor allem zwischen den Zehen gleichzeitig. Danach tastete er sich verschlafen durch das Halbdunkel zum Fenster. Blinzelnd öffnete er die Läden, um, wie bereits bekannt, mit seinem geübten Kontrollblick die ihm fremd gewordene Welt in Augenschein zu nehmen. Bei offenem Fenster begann er mit der morgendlichen Gymnastik, damit die vom Schlaf verspannten Glieder und Muskeln gelöst wurden. Dafür hatte er sich eine gut durchdachte Übung angeeignet, die mit dem sorgfältigen Bewegen der Zehen anfing. Es folgte das Beugen, Strecken und Dehnen jedes einzelnen Körperteils und jedes Gelenkes. Beenden tat er seine Gymnastik mit einem abstrusen Grimassenschneiden, was die Gesichtszüge nach stundenlangem Erschlaffen wieder aufs rechte Gleis bringen sollte. Mit dem Gefühl, so für den neuen Tag gerüstet zu sein, machte er sich daran, das Schlaftuch von dem Vogelbauer zu entfernen. Das legte er ebenso gewohnheitsgemäß am Abend vorher, pünktlich drei Minuten vor zwanzig Uhr, über den Käfig, damit er rechtzeitig zum Beginn der Nachrichten im Sessel beim Radio saß. Vorsichtig nahm er dann das Tuch auf. Schließlich sollte sein gefiederter Freund nach langem Schlaf, ebenso wie er selbst, in den Genuss der frühen ungetrübten Morgenstunde kommen, was jedes Mal mit einer kurzen Ansprache seinerseits einherging, die das Vögelchen in gewohnter Gleichgültigkeit über sich ergehen ließ. Danach musste, wie wir bereits ebenfalls wissen, der Nachttopf geleert werden. Vor Jahren, als Frau Woyzeck in die Wohnung unter ihm eingezogen war und noch zeitig zur Arbeit ging, gab es zwischen ihm und ihr nicht nur einmal unschöne Szenen vor der Aborttüre. Alleine aus dem Grund, weil sie das stille Örtchen laut Mietvertrag mitbenutzen musste. Folglich trafen sie sich nicht nur einmal vor der Pforte der Erlösung. Er mit seinem mehr oder weniger vollen Pinkelpott in der Hand, sie mit entstelltem Mienenspiel in höchster menschlicher Bedrängnis. Natürlich wäre er gerne Kavalier gewesen und hätte ihr den Vortritt gelassen, aber was sollte er denn tun? Sollte er etwa mit seiner Notdurft wieder zurück in die Wohnung laufen? Nein, das kam für ihn nicht ohne Weiteres infrage, obwohl es schon vorgekommen war. Dennoch, Sieg oder Niederlage entschieden hier über sein eigenes Wohlbefinden, und das lag ihm naturgemäß näher. Später, als Frau Woyzeck von heute auf morgen von ihrem Arbeitgeber entlassen wurde und sie folglich morgens gern noch einmal ein Ohr aufs Kissen legte, lösten sich diese Streitigkeiten in Wohlgefallen auf. Richtiggehend besorgt erwies sie sich von da ab dem alten Mann gegenüber. Regelmäßig wischte sie ihm sogar kostenfrei die Wohnung. Ein weiterer Beweis ihrer Freundlichkeit war, dass sie ihm jeden Tag so gegen Nachmittag die gelesene Tageszeitung auf die Fußmatte legte. Um sich wiederum ihr gegenüber auf irgendeine Art und Weise erkenntlich zu zeigen, ging er gelegentlich sonnabends, kurz bevor die Verkaufsstände schlossen, auf den Markt zum Blumenhändler und kaufte ihr zum halben Preis einen Strauß Blumen. Diese Praktik des Kurzvorfeierabendeinkaufs war für ihn zum eigennützigen Standard geworden, denn es stellte sich bald heraus, dass er diese Strategie des halben Preises auch für sich, rein privat, zum Beispiel beim Bäcker erfolgreich anwenden konnte.

Zum weiteren morgendlichen Ritual gehörte unter anderem, dass er die recht hübsch verschnörkelte Kaminuhr mit einem Schlüssel aufzog, der an einem extra dafür vorgesehenen Häkchen an der Wand hing. Am rechten Vierkant drei Umdrehungen für die Mechanik und am linken Vierkant drei Umdrehungen für das wunderbar erklingende Schlagwerk. Danach stellte er in aller Regel sein altertümliches Radiogerät an, um sich die Nachrichten anzuhören und natürlich um die genaue Zeit der Ansage mit der seiner Kaminuhr zu vergleichen. Die Kaminuhr sowie die einst luxuriöse Musiktruhe, in der das Radio integriert war, hatten sich seine Frau Hedwig und er kurz nach ihrer Hochzeit angeschafft. Beides hatten sie sich seinerzeit vom Munde abgespart, als sie in diese, für die damaligen Verhältnisse halbwegs komfortable Wohnung eingezogen waren. Das musste so um Ende 1956 gewesen sein. Eigentlich war das meiste, was sich an Mobiliar und Hausrat in der Wohnung befand, noch aus dieser Zeit. Der Fernseher allerdings, den sie sich erst Anfang 1970 leisteten, der landete gleich nach dem Tod seiner Frau im hohen Bogen auf dem Sperrmüll. Schließlich hatte der in beinahe achtzehn langen Jahren genug Unfug gesendet. Nein, Herr Jonas konnte gut und gerne ohne die Flimmerkiste leben, ohne die seine Frau leider nicht ausgekommen war. Er verabscheute von Anfang an diese geisttötenden Kästen, die in der Aufschwungzeit mehr und mehr in den Wohnstuben Einzug hielten und gute alte Familiengewohnheiten zerstörten. Die hässlichen Antennenwälder auf den Dächern waren ihm ebenso ein Gräuel wie die alles verschandelnden Schüsseln, die nun ihre terrestrischen Finger gierig zu den Satelliten im Weltall ausstreckten, um ja kein noch so belangloses Signal zu verpassen. Und das nannte man nun die aufgeklärte Zeit. Hat das denn etwas mit Aufklärung zu tun, wenn einem das Hirn 24 Stunden lang – tagein tagaus – mit geistigem Schrott vollgestopft wird?, fragte er sich oft. Allein der abgedroschene Satz, welchen er allerorts zu hören bekam: »Wir in unserer aufgeklärten Zeit …« Solch ein Unfug ließ ihn nun wirklich ärgerlich werden. »Wir in unserer manipulierten Zeit …« – daraus wurde ein passender Schuh für ihn!

Auf den Straßen sah er sie doch mit eigenen Augen, all die manipulierten und dressierten, modisch uniformierten Konsumroboter, die allesamt auf Knopfdruck funktionierten, gleich dachten und gleich argumentierten, geradeso wie die Medien es ihnen vorgaukelten. Überall sah er sie, wenn er täglich auf seinem Kontrollgang durch die Straßen lief. Oder wenn er geduldig an der Kasse im Supermarkt wartete und sie ihm, von einprogrammierter Konsumierlust getrieben, mit ihren stereotyp gefüllten Einkaufswägen rücksichtslos in die Hacken fuhren.

Ha, auf diesen ganzen Konsumterror fiel er nicht mehr herein. Raffinierte Verführer gab es schon immer und würde es auch in kommenden Zeiten geben, nur in einem neuen Gewand verkleidet. Davor schützte auch die ach so hochgepriesene Freiheit nicht. Im Gegenteil, die Freiheit versklavte unter dem Deckmäntelchen der Demokratie, das war seine Meinung. Davon ließ er sich auch nicht abbringen. Und es hatte viel zu lange gebraucht, bis er dahintergekommen war. Wie viel Hoffnung hatte er 1949 in die Demokratie gesetzt. Aber für ihn erwies sie sich zunehmend als gesellschaftsschädigende Mogelpackung. Außen hübsche Versprechungen und innen heiße Luft. Aber nur von Luft konnte der Mensch nicht existieren. Herr Jonas hatte sich gerade noch rechtzeitig dazu entschlossen, diesen Irrsinn mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zu boykottieren. O ja, er war von Herzen froh, dass ihm sein Verstand früh genug die Augen geöffnet hatte, bevor wieder die Taten der Verführer auf tragische Weise für jedermann sichtbar und spürbar werden. Das, was geschehen war, sollte ihm nicht noch einmal widerfahren. Das hatte er sich schon damals in russischer Gefangenschaft geschworen. Damals war er auch einem einzigartig raffinierten Verführer aufgesessen, als er von ihm, gutgläubig ob der gerechten, hehren Sache, nach Russland in die große Weltenschlacht geschickt wurde. Danach war er, Friedbert Jonas, ein für alle Mal immun gegen süße Versprechungen gewesen. Ihm konnte man nichts mehr vormachen, o nein. Da mochte man heute ruhig über ihn lachen. Und er wusste, dass man über ihn lachte. Er beobachtete seine Mitmenschen genau. Die, die nicht teilnahmslos an ihm vorbeischauten, lächelten ihn jedes Mal milde, nachsichtig oder mitleidig an, wenn er in seinen abgewetzten Kleidern wie ein Relikt aus der Vergangenheit daher kam. Oh, wenn sie nur wüssten! Für ihn war es auch ein steiniger, schmerzvoller Weg bis zur Erkenntnis der Verführbarkeit gewesen. Er hatte es nicht immer einfach gehabt im Leben. Freilich, die Vergangenheit, auf die er wegen eines langen Lebens zurückblicken musste und die mit jeglicher Art von Erlebnissen angefüllt war, kam ihm aus heutiger Sicht wie eine vollgestopfte und bereits verstaubte Rumpelkammer vor. Ein Blick in diese gelebten Räume wäre für die heutige Jugend sicherlich so andersartig, als entdeckten sie einen neuen Planeten. Denn für sie begann die Welt rein gefühlsmäßig erst mit ihrer persönlichen Geburt. Was vorher war, betraf sie nicht, ließ sie kalt. Friedbert Jonas hingegen war für sie ein schon ausgestorbenes Fossil, unter dessen brüchiger Haut man nur noch einen Hauch gewesenen Lebens erahnen konnte. Selbst er blickte in manch nachdenklichen Augenblicken aufsteigender Resignation auf sein Leben zurück wie einer, der sich als unbeteiligter Zuschauer einen im Zeitraffer abgespulten Stummfilm anschaute, in dem andere agierten und die Fäden in der Hand behielten. Wo das Gute von dem Bösen immer wieder eins auf die Schnauze bekam. Und ganz zum Schluss verschwand der geschundene Tränenbajazzo zur Überraschung und Belustigung aller, winkend und gequält lachend, auf Nimmerwiedersehen in einem schwarzen Kreis, der auf der weißen Leinwand rasend schnell kleiner wurde. So klein, bis schließlich auch der winzige Punkt verschwunden war.

Er, Friedbert Jonas, war nie der Held gewesen, da gab es wahrlich nichts zu beschönigen. Allenfalls war er ein Statist, der noch nicht einmal die Herzen der Zuschauer berührte, weil er nur mal kurz durch das Zeitenbild huschte. Helden wurden gezeugt, sagte das Sprichwort, aber damit die Helden erkannt wurden, musste es die vielen, vielen Verlierer geben, an denen sie erwachsen konnten. Helden brauchten Prügelknaben. Dazu hatte man ihn erkoren, das war seine Rolle. Wenn das stimmte, dann war sein Vater der erste »Held«, den er zu Gesicht bekommen hatte. Denn durch dessen rigoros angewandtes »Heldentum« schlichen sich bei ihm, seinem Sohn Friedbert Jonas, dem geborenen Prügelknaben, schon in frühester Kindheit die Angst und die Feigheit tief in die kindlichen Eingeweide. Dort nisteten sie sich ein, um immer dann, wenn es galt, sich als Mann der Tat beweisen zu müssen, wie ein Untier aus dem Versteck zu springen, um auf der Stelle jeglichen aufkeimenden Mut zu vertreiben. Aber dieser feige Friedhelm Jonas sagte sich auch, dass Feigheit der wehrhafte Schutz des Schwachen sei. Und er entschuldigte seine Feigheit damit, dass die Helden eines Tages im Kampf fallen würden.

1933 waren wieder einmal im großen Stil Helden im Geiste geboren worden. Da, wo ansonsten das Neugeborene einen Bauchnabel hatte, befand sich bei dieser Spezies Mensch ein Koppelschloss mit Hakenkreuz. Und in ihren Eingeweiden nisteten nicht Angst und Feigheit, nein, nein, nein, in ihrem Gekröse versteckte sich bereits der Tod.

Aus purem Überlebenswillen erkannte Herr Jonas im Laufe seines Lebens Helden zehn Meilen gegen den Wind. Waren sie es doch, die ihr Heldentum an den Verlierern maßen. Er las die vernichtende Macht aus ihren strahlend blanken Augen, aus ihren schmallippigen Mündern und dem energisch vorgestreckten Kinn. Er roch die tödliche Gefahr, die sie wie einen verräterischen Dunst ausschwitzten. Es war ein Gestank von Fäulnis, der von ihnen ausging. Herr Jonas hatte diesen Gestank, der ihm einstmals auf dem Schlachtfeld begegnete, nie mehr aus der Nase bekommen. Ganz zu Anfang seiner Mannwerdung, da glaubte er gewissermaßen, ein Sieger zu sein. Er – der stetige Verlierer. Und nur weil er es als frisch beamteter Sesselfurzer bei der Stadtverwaltung geschickt verstanden hatte, sich wegen Unentbehrlichkeit und körperlicher Untauglichkeit vor dem Militärdienst zu drücken.