Wie viele Träume hat die Nacht - Rainer Mauelshagen - E-Book

Wie viele Träume hat die Nacht E-Book

Rainer Mauelshagen

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Beschreibung

»Liebe ist doch nur ein Wort.« Diesen Satz seines Sohnes will Holger Hagedorn an jenem Abend, an dem er Thomas aufsucht, nicht unkommentiert stehen lassen, auch wenn er dessen Aufregung verstehen kann, da ihn seine Frau Eva nach einem Streit verlassen hat. Aus Sorge um ihn erzählte er ihm die Erlebnisse eines Mannes, den er Lemmi nennt. Es sind die 1970er Jahre, in denen sich jener Lemmi als junger Mann in einer ähnlichen Situation wie Thomas befindet. Nach dem Scheitern seiner Ehe hat auch Lemmi den Glauben an die Liebe verloren. Völlig aus der Lebensbahn geworfen, trifft er eines Nachts eine schicksalsschwere Entscheidung. Wie viele Träume hat die Nacht erzählt in einer ungeschminkten Sprache die ewig aktuelle Geschichte von der Sehnsucht nach der unvergänglichen Liebe. In diesem Roman greift der Zufall auf dramatische Weise in die Lebenslinien dreier unterschiedlicher Menschen ein, als wolle er beweisen, dass Liebe tatsächlich nur ein Wort ist. Aber ist es wirklich der Zufall, der die Lebenswege bestimmt? Holger Hagedorn ist inzwischen der Ansicht, dass es nicht der Zufall, sondern das Schicksal ist, dem sich das Leben nach einem großen Plan fügen muss.

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In Liebe für M.

Zum Buch

»Liebe ist doch nur ein Wort.« Diesen Satz seines Sohnes will Holger Hagedorn an jenem Abend, an dem er Thomas aufsucht, nicht unkommentiert stehen lassen, auch wenn er dessen Aufregung verstehen kann, da ihn seine Frau Eva nach einem Streit verlassen hat. Aus Sorge um ihn erzählte er ihm die Erlebnisse eines Mannes, den er Lemmi nennt.

Es sind die 1970er Jahre, in denen sich jener Lemmi als junger Mann in einer ähnlichen Situation wie Thomas befindet. Nach dem Scheitern seiner Ehe hat auch Lemmi den Glauben an die Liebe verloren. Völlig aus der Lebensbahn geworfen, trifft er eines Nachts eine schicksalsschwere Entscheidung.

Wie viele Träume hat die Nacht erzählt in einer ungeschminkten Sprache die ewig aktuelle Geschichte von der Sehnsucht nach der unvergänglichen Liebe. In diesem Roman greift der Zufall auf dramatische Weise in die Lebenslinien dreier unterschiedlicher Menschen ein, als wolle er beweisen, dass Liebe tatsächlich nur ein Wort ist. Aber ist es wirklich der Zufall, der die Lebenswege bestimmt? Holger Hagedorn ist inzwischen der Ansicht, dass es nicht der Zufall, sondern das Schicksal ist, dem sich das Leben nach einem großen Plan fügen muss.

»Träume sind wie Luftballons, gefüllt mit Illusionen, wenn du erwachst, zerplatzen sie, schon fliegen sie davon.«

R.M.

Inhaltsverzeichnis

Der Anfang zuerst

I. Kapitel

II. Kapitel

III. Kapitel

IV. Kapitel

V. Kapitel

Das Ende zum Schluss

Der Anfang zuerst

»Liebe ist doch nur ein Wort«, behauptete mein Sohn, und seine gequälte Miene traf mich tief im Herzen.

Mein Name ist Holger Hagedorn, und es war an jenem Nachmittag im letzten Spätsommer, als meine Frau Julia besorgt zu mir sagte: »Du musst unbedingt Thomas aufsuchen, der Junge leidet. Evelin hat ihn verlassen. Ich glaube, ein Gespräch unter Männern wird ihm helfen.«

Wir sahen uns vielsagend an. Die unendliche Geschichte, mehr kam mir zunächst nicht über die Lippen, dann machte ich mich auf den Weg zu ihm. Im Stillen dachte ich, der Junge ist fast vierzig Jahre alt, wird er meine Hilfe überhaupt wollen oder sogar annehmen?

Eine Viertelstunde später drückte ich dann aber doch zuversichtlich den Klingelknopf an seiner Wohnungstür. Es dauerte, bis er erschien. Für gewöhnlich öffnete mir Evelin. O ja, ich hätte mich sehr darüber gefreut, ihr freundliches und offenes Gesicht mit dem stets lachenden Mund zu sehen. Evelin war eine Frau, nach der sich auf der Straße die Männer umdrehen. Aber sie kam nicht.

*

Mir fiel gleich auf, dass Thomas getrunken hatte. Seine verschwitzen Haare hingen ihm wirr in die Stirn, und seine Augen waren stark gerötet.

»Hey«, sagte er abwesend wirkend und klatschte meine Hand ab, während er durch mich hindurchsah. Irgendwie überkam mich der Eindruck, dass es ihm peinlich war, sich mir gegenüber so zu zeigen. Ich überspielte seine Unsicherheit, indem ich ihn fragte, ob er ein wenig Zeit für mich habe.

Worauf er antwortete: »Mutter schickt dich, stimmt’s?«

Ich zuckte nur mit den Schultern. Zögerlich bat er mich herein. Im ersten Moment erschrak ich, als ich ihm ins Wohnzimmer folgte.

Beim Umschauen überkam mich ein Déjà-vu Erlebnis aus einer Zeit, die ich für immer verdrängen wollte. Ich muss schon sagen, dass ich darüber sehr erschrocken war. Es roch ungelüftet, und auf dem Tisch standen etliche leere Bier- und Weinflaschen. Nachdem ich mich betont lässig auf die Couch fallen ließ, bot er mir wohl aus lauter Verlegenheit eine Zigarette an, obwohl er genau wusste, dass ich seit Jahren nicht mehr rauchte. Ihm zum Gefallen paffte ich mit.

»Du hast doch nichts dagegen, wenn ich mir ein Bier aufmache?«

»Tu, was du nicht lassen kannst«, antwortete ich ihm, indem ein wenig Mahnung in meinen Worten mitschwang. Dennoch habe ich mich darüber gefreut, dass er so rücksichtsvoll war, mich zu fragen, ob ich etwas dagegen hätte, denn er kannte meine ablehnende Einstellung zum Alkohol allgemein und hier wohl insbesondere.

»Und du, was darf ich dir anbieten?«

»Wenn du eine Cola hast, dann wäre ich damit zufrieden.«

»Willst du ein Glas, oder trinkst du gleich aus der Flasche?« Unschlüssig stand er kurz darauf mit zwei Flaschen in den Händen vor mir.

Ich ahnte, dass keine frischen Gläser mehr im Schrank waren.

»Ach, mach dir keine Mühe«, sagte ich und hielt ihm meine Hand entgegen.

Er setzte sich zögernd neben mich. Vielleicht wollte er nicht, dass ich ihm direkt in die Augen schauen konnte? Mich überkam allerdings ein unbehagliches Gefühl, so dicht neben ihm zu sitzen. Warum, wusste ich mir nicht zu beantworten.

Gleichzeitig tranken wir einen großen Schluck. Als ich die Flasche absetzen wollte, machte er eifrig Platz auf dem übervollen Tisch. Wir schwiegen eine Weile und zogen immer wieder fahrig an unseren Zigaretten. Während ich das Zimmer nach Evelins Fotos absuchte, die er scheinbar alle von der Wand abgehängt hatte, legte ich mir allerhand Floskeln in meinem Kopf zurecht, die ich ihm sagen würde, wenn er von sich aus anfangen sollte, mit mir darüber zu sprechen. Aber er schwieg weiterhin.

Aus dem Augenwinkel beobachtete ich seine Hand, mit der er die Zigarette hielt. Sie zitterte, und die Finger waren nikotingelb.

Aus lauter Unbehagen brach ich schließlich das Schweigen. »Also gut, Mutter schickt mich. Ich soll nachsehen, wie es dir geht.«

Er drehte seinen Kopf langsam in meine Richtung. »Wie es mir geht?«, fragte er in einem etwas zynischen Tonfall. »Mir ist es nie besser gegangen.« Seiner flapsigen Bemerkung schickte er ein gekünsteltes Lachen hinterher.

»Junge«, bemerkte ich unüberhörbar verärgert, »du brauchst mir nichts vorzuspielen, lass uns ehrlich zueinander sein.« Und nach kurzem Überlegen fragte ich nachdrücklich: »Wo ist Evelin jetzt?«

»Das ist mir egal!« Mehr sagte er nicht.

Ich stand auf und sah aus dem Fenster. Im Rücken spürte ich seinen Blick.

»Darf ich das Fenster öffnen, es ist stickig hier drinnen. Draußen ist so schöne, milde Spätsommerluft.« Ohne seine Antwort abzuwarten, setzte ich mein Vorhaben in die Tat um. Für einen Moment bewunderte ich die prächtige Wohngegend, deren Häuser sich in viel Grün eingebettet zeigten.

Wegen seiner offen demonstrierten Gleichgültigkeit drehte ich mich endgültig genervt um. »Warum ist sie gegangen?« In diesem Moment erschrak ich über meine Direktheit. Eigentlich wollte ich ihn mit Samthandschuhen anfassen, wie ich mir auf dem Hinweg vorgenommen hatte, weil ich nachempfinden konnte, wie er sich fühlen musste.

»Warum, warum, warum?« Er verdrehte Augen.

Ich setzte mich wieder zu ihm. Wiederum redete keiner ein Wort, bis ich kleinlaut sagte: »Ihr habt euch doch geliebt.«

Nun sprang er entrüstet auf und stellte sich direkt vor mich hin.

»Liebe, Liebe, ha! Liebe ist doch nur ein Wort!«

»Nein«, widersprach ich energisch. »Liebe ist alles, Liebe macht das ganze Leben aus!« Ich überlegte kurz. »Warum, glaubst du wohl, sind deine Mutter und ich schon so lange zusammen? Aus Liebe, mein Lieber, aus Liebe!«

Daraufhin fuchtelte er mit den Armen in der Luft herum.

»Ihr, ihr … Das kannst du doch mit heute gar nicht mehr vergleichen. Das war doch eine ganz andere Zeit damals, als ihr geheiratet habt.«

Ich beobachtete sein angestrengtes Nachdenken. Seinem Gesicht nach zu urteilen fiel ihm dann etwas Bedeutungsvolles ein, das er auch sehr emotional aussprach. »Eure Ringe … die waren doch so etwas wie die Glieder einer Kette, die euch auf Teufel komm raus aneinandergekettet haben. Nur weil die Frauen, wie es sich traditionsgemäß gehörte, von den Männern geheiratet wurden, haben sie vor ihnen gekuscht. Aber heute, heute haben wir Männer den Frauen gegenüber doch nichts mehr zu melden, weil nun sie die Hosen anhaben. Vor lauter Mainstreamgehabe haben wir uns selbst zu Memmen degradiert. Me too, me too, ich könnte nur noch kotzen. Früher waren es die Männer, die abgehauen sind, wenn es ihnen zu viel wurde. Mit süffisantem Lächeln gingen sie Zigaretten holen und kamen einfach nicht mehr wieder.« Er gestikulierte mit dem Finger vor meiner Nase herum. »Du brauchst nicht zu protestieren«, fuhr er fort, ehe ich etwas sagen konnte, »ich weiß, alles Klischee.« Aus glasigen Augen schaute er auf mich herab, als käme der Glanz von Tränen und nicht vom Alkohol. Dann fing er sich wieder.

»Aber heute sind es die Frauen, die wegen eines nichtigen Anlasses auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Auch wenn sie Nichtraucher sind«, fügte er noch betont spöttelnd an. »Ohne Grund, ohne gottverdammten Grund hauen sie einfach ab.«

»Bitte? Was redest du da von einer Kette?«, brach es aus mir heraus. Ich schaute meinen Sohn erstaunt an. »Liebe ist keine Kette. Liebe fesselt nicht, Liebe verbindet – und das für ein ganzes Leben! Meinst du wirklich, man würde nur auf Zeit lieben können? Was du vielleicht meinst, das sind Gefühle. Ja, in der Tat, die können schwanken oder sogar erkalten, aber die Liebe doch nicht. O nein, da täuschst du dich aber gewaltig. Allerdings, und da gebe ich dir recht, die Liebe verändert sich mit der Zeit. Die einen sagen, dass Liebe mit den Jahren zur Gewohnheit wird, ich aber sehe das ganz anders. Gewohnheit ist in meinen Augen nichts Abwertendes, Gewohnheit gibt der Liebe Festigkeit, und darauf kommt es an. Festigkeit und Vertrauen.«

Thomas schüttelte den Kopf. »Vertrauen, Vertrauen, das ist auch so ein Wort. Man kann seinem Gegenüber doch nur vor die Stirn gucken. Vertrauen ist in meinen Augen so etwas wie ein großzügiger Kredit, den man jemandem gibt, ohne zu wissen, ob er anschließend überhaupt zahlungsfähig ist.«

Ich überlegte mir tatsächlich, ob man einem Menschen überhaupt Ratschläge geben konnte, wenn er sich gerade bitterenttäuscht fühlte.

Um in dieser verzwickten Situation überhaupt etwas zu sagen, fragte ich ihn geradeheraus: »Habt ihr euch gestritten?«

Wieder schien er durch mich hindurchzusehen. Schließlich nickte er wie ein ertappter Schuljunge. Beinahe weinerlich sagte er: »Sie ist vorige Woche spät nach Hause gekommen. Ich hatte keine Ahnung, warum sie nach der Arbeit nicht pünktlich heimfuhr. Jedenfalls kam sie nicht. Ich habe die verfluchte Tür angeglotzt und sie kam nicht. Je länger ich auf sie wartete, desto wütender bin ich geworden.« Er kratzte sich verlegen am Kopf. »Na ja, vielleicht habe ich in der Zwischenzeit zu viel getrunken.« Fast entschuldigend meinte er: »Aber schließlich habe ich mir Sorgen um sie gemacht. Das verstehst du doch, oder?«

Er holte sich erneut eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank, und während ich heimlich auf die Uhr schaute, prostete er mir zu. Dann ließ er sich aufstöhnend auf die Couch fallen.

»Und«, sagte ich, »wo war sie gewesen?«

Sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. »Gesagt hat sie, dass sie und ihre Kollegen nach Büroschluss völlig ungeplant beschlossen hätten, noch zum Italiener zu gehen.«

»Klingt plausibel«, versuchte ich seine Bedenken herunterzuspielen.

Er lachte laut auf. »Plausibel kann alles sein. Ist es auch plausibel, dass sie sich gestylt hatte, als würde sie bei einem Topmodelwettbewerb mitmachen wollen? Ich finde es überhaupt einfach lächerlich, wenn die Frauen heute auf ihren Rührmichnichtan-Feminismus pochen und gleichzeitig wie ordinäre Schlampen herumlaufen, die mit jeder Faser auszudrücken scheinen: Hier bin ich, nimm mich – auf der Stelle!«

»Junge, gehst du jetzt nicht ein bisschen weit?«, fuhr ich dazwischen, »du sprichst schließlich auch von deiner Frau.« Erschrocken war ich über den aggressiven Ausdruck in seinem Gesicht. Ich konnte mir gut vorstellen, dass Evelin Angst bekam, wenn er sie ebenso anschaute.

Ihm schien meine Besorgnis aufgefallen zu sein, denn plötzlich lächelte er gequält. Ich legte ihm väterlich die Hand aufs Knie. »Gegenseitiges Vertrauen ist das Wichtigste in einer Ehe. Du weißt, mein Junge, an die Stelle, wo Vertrauen fehlt, rückt ganz schnell die Eifersucht oder ein anderes hässliches Gefühl.« Nach einer kurzen Pause erklärte ich ihm noch: »Und Eifersucht tötet die Liebe.«

Ich ließ ihn gewähren, als er meinen gut gemeinten Satz mit einem gedehnten »Amen« quittierte.

Nein, so kommen wir nicht weiter, dachte ich. Der blöde Spruch ›aus der Praxis, für die Praxis‹ fiel mir ein. Vielleicht würde ihm meine Lebenserfahrung weiterhelfen, hoffte ich. Und so sagte ich dennoch skeptisch: »Wenn du möchtest, erzähle ich dir eine Geschichte.«

»Was für eine Geschichte?«, fragte er fast schon desinteressiert.

Ich schaute ihn konzentriert an. Dann sagte ich: »Es ist die Geschichte eines guten … nein, eines sehr guten Freundes, dem das Gleiche widerfahren ist wie dir. Er geriet damals in seinem Liebeskummer ganz schön in Schwierigkeiten, weil er sich von der Liebe betrogen fühlte, aber schließlich war es dann doch die Liebe, die ihn … aber das ist eine lange Geschichte.«

Thomas lächelte erneut gequält, als er aufstand. »Weißt du was«, meinte er, »für lange Geschichten braucht man eine Stärkung. Ich werde rasch zwei Pizzen in den Backofen legen. Du magst doch Pizza, oder?«

»Gute Idee, mein Junge. Natürlich esse ich gerne eine Pizza mit dir. Und in der Zeit, wo du beschäftigt bist, werde ich Mutter anrufen, damit sie sich keine Sorgen macht, wenn es spät werden sollte. Du weißt, sie macht sich schnell Sorgen.« Vielsagend kniff ich ein Auge zu.

*

Nachdem wir gegessen hatten, saßen wir gemütlich bei einem starken Kaffee zusammen. Im dreiarmigen Kerzenleuchter brannten Kerzen, und außer dem Duft des Sommers lag zudem eine eigenartige Intimität in der Luft, wie ich sie nicht mehr mit Thomas gespürt hatte, seit er kein Kind mehr war. Und ich glaube im Nachhinein, er hat es auch genossen, einträchtig und freundschaftlich mit mir zu reden und dabei von seinen augenblicklichen Sorgen abgelenkt zu werden. Und so begann ich ihm eine Geschichte zu erzählen, von der ich mir für ihn erhoffte, dass er dadurch zum Nachdenken angeregt würde.

»Also«, fing ich an, »ich hatte einen Freund, wie schon gesagt, einen sehr guten Freund, der mir sehr, sehr nahestand. Es war, glaube ich, 1972 …

I.

So, wie er seine Wohnung betreten hatte, also noch in Straßenkleidung, legte sich Lemmi im Wohnzimmer auf die Couch. Dabei musste er aufpassen, nicht über die vielen leeren Schnaps- und Bierflaschen zu stolpern. Er lächelte ein wenig hilflos, als er den Schmutz an seinen Schuhen sah. Aber wen sollte es stören? Er durfte es tun, sich mit dreckigen Schuhen auf die Couch legen! Er durfte überhaupt alles tun, was ihm gefiel. Ja, wer sollte ihn daran hindern?

Mit einem kurzen Blick schielte er zu dem Weihnachtsbaum, der wie ein irrtümlich geschmücktes Tannengerippe aussah. Die Nadeln würde er wohl nie mehr aus dem Teppich bekommen. Verächtlich verzog er seinen Mund. Bilder stiegen ihm in den Kopf. Beinahe vier Monate war es nun schon wieder her, seit er ihn geschmückt hatte. Sie stand im Unterhemd daneben und formte mit ihren prallen, roten Lippen einen Kussmund.

»Hast du auch so einen schönen Ständer wie der Weihnachtsbaum?« Hell lachte sie, und dabei tanzten ihre braunen Haarlocken. Erst am späten Nachmittag krochen sie wieder aus dem Bett heraus, schließlich wollten sie es sich am Heiligen Abend, im Lichterglanz des Baumes, gemütlich machen.

Nach reichlich Deinhard und Persico, den sie angeregt konsumierten, kam sie gegen 23 Uhr auf die verrückte Idee, die Weihnachtsente zu braten, die eigentlich am ersten Weihnachtstag auf den Tisch sollte. Sie war nicht zu bremsen gewesen. Egal.

Um drei Uhr saßen er und sie in der vom Bratendunst verräucherten Küche. Das Bild, wie sie lasziv lächelnd mit den Zähnen fast zärtlich an der krossen Haut des Entenbrüstchens nagte und mit der Zunge über ihre fettigen Lippen leckte, erregte ihn zusehends, warum er, nun Appetit auf sie bekommen, kurz darauf an ihrem Brüstchen nagte.

»Frohe Weihnachten!«

*

Vor vier Jahren waren sie gleich nach ihrer Hochzeit in diese Wohnung gezogen. Unterm Dach mit Schrägen und Blick ins Grüne. Daran dachte Lemmi jetzt ebenfalls.

»O, ist das schön hier«, freute sie sich damals, »die nehmen wir!«

Er war froh gewesen, endlich aus der elterlichen Wohnung auszuziehen. Bei der weinenden Mutter ließ er von heute auf morgen seine Kindheit und seine Jugendzeit nebst seiner schmutzigen Wäsche zurück. Auch Monique war daran gelegen, so schnell wie möglich ihr Apartment aufzugeben, das sie bis zu dem Tag, als sie und Lemmi beschlossen, zusammenzubleiben, noch mit einem anderen Mann bewohnte, von dem Lemmi zuvor nichts wusste. Er erfuhr erst davon, als sie Lemmi, kurz nachdem sie sich spät abends nach einem Kinobesuch verabschiedet hatten, anrief, er möge doch bitte sofort zu ihr kommen. Was war geschehen? Sie hatte ihren damaligen Verlobten kurz entschlossen vor vollendete Tatsachen gestellt, und er bedankte sich für die Trennung, indem er das Mobiliar kurz und klein schlug. Nur gut, dass er nicht mehr da war, als Lemmi eintraf.

Schnell lebten sie sich in ihrer neuen Umgebung ein, und er hätte seinerzeit nie gedacht, dass die recht beengten Räume, ihr kleines Nest unterm Dach, so schmuck werden würden. Dafür hatte sie ein Händchen, wie man so sagt. Eigentlich wäre die protzige Ledercouch zu teuer gewesen, aber die hatte sie preiswert erworben, dazu reichte ihr Lächeln aus. Schließlich arbeitete sie in einem Möbelhaus. Dort sah er sie übrigens auch zum ersten Mal. Wie elektrisiert stand er auf der Straße. Durch die Schaufensterscheibe hindurch beobachtete er, wie sie Kunstgewerbe in die Regale räumte. Sie sah aus wie eine dieser atemberaubenden Frauen, die auf den Titelblättern der Modejournale Männern Fantasien schenkten. Nein, er konnte nicht weitergehen. Und vielleicht hätte er noch länger so fasziniert dagestanden, wenn ihn nicht ein Pintscher von der Seite angekläfft hätte, der an einer Leine zerrte, an deren anderem Ende eine Dame schimpfend versuchte, ihren Hund zu bändigen. Das Gekläffe war für Lemmi wie der schrille Ton des Weckers am frühen Morgen. Ins Hier und Jetzt gerissen richtete sich sein Blick erneut auf die Schöne hinter der Scheibe. Wie fremdgesteuert war er ins Geschäft gegangen. Ziemlich blöd kam er sich vor, weil er auf ihre Frage, was er denn wünsche, auf Anhieb keine passende Antwort fand. Also nannte er den erstbesten Gegenstand, der ihm ins Auge fiel. Wenn er sich recht erinnerte, war das so eine bescheuerte Lampe. Irgendein futuristisches Ding mit langen Kunstfasern, die in verschiedenen Farben leuchteten.

»Da haben Sie gut gewählt, das ist momentan der letzte Schrei«, sagte sie mit ihrer dunklen Stimme. Einer Stimme, die oft Frauen von südländischem Typ zu eigen ist. Dabei sah er in ihre gläsern braunen Augen, die leuchteten, als wäre hinter Bernstein ein Licht angezündet worden.

*

Erschöpft drehte er den Kopf nach links. Auf dem Tisch stand, neben weiteren Bierleichen, die Wermutflasche, die er am Morgen gleich nach dem Aufstehen bereits bis zur Hälfte leerte. Eine Armlänge reichte dazu aus, um jetzt nach ihr zu greifen. Gierig sogen seine Lippen den Rest heraus. Wenn es das Glück wirklich gab, dann rann es ihm in diesem Moment durch die Kehle. An die Kopfschmerzen, das Zittern und die Übelkeit, die das kurze Glücksgefühl danach bereiten würde, wollte er nicht denken, obwohl ihm der Alkohol gleich zu Kopf stieg. Außer einer Currywurst am Mittag hatte sein Magen noch nichts zu tun bekommen.

Die Wohnung war vollgestopft mit diesem beschissenen, flüssigen Glück. Doch wehe, er wurde nüchtern, dann schien es ihm, als wolle ihn das fadenscheinige Glück verhöhnen. Alles in diesem Raum verhöhnte ihn. Die sanften Strahlen der Märzsonne, die sich trotz des vorangeschrittenen Nachmittags durch das Ästeskelett des Weihnachtsbaumes brachen, um den Dekorationsengel auf der Spitze als tanzenden Schatten an die Wand zu werfen, auch sie schienen sich über ihn lustig zu machen. Ja, er war ein Narr, ein gottverdammter Narr, dem man mit flüchtig dahingeschmierten Worten auf einem Stück Papier bestätigte, dass er ein Narr war. Überdies ein blinder Narr. Nichts hatte er von ihren Betrügereien gemerkt. Ihre Küsse schmeckten wie immer. Sie gurrte wie immer, wenn ihre Brüste in seiner Hand lagen, als wären sie nur für ihn erschaffen worden. Und wenn sie sagte: »Ich liebe dich«, gab es für ihn keinen Zweifel. Er war wirklich zu blöde gewesen, die Lüge zu entlarven, die es anscheinend nur gab, um Liebe in Hass zu wandeln. O ja, er spürte den Hass, der ihm wie ein breitärschiger Teufel auf der Brust hockte.

Als er sich erneut zum Tisch drehte, um mit den Fingerspitzen nach der Packung Zigaretten zu tasten, wäre er beinahe von der Couch gefallen. Kurz darauf glomm die Kippe auf. Ein Hustenanfall schüttelte ihn heftig. Und der darauffolgende Würgereiz zwang ihn dazu, die Zigarette sofort im übervollen Aschenbecher auszudrücken. Ach, was solls. Die Arme hinter den Kopf verschränkt grübelte er über seine augenblicklich beschissene Situation nach, und er fragte sich, wie alles so kommen konnte, obwohl er inzwischen längst wusste, dass er es selbst in der Hand hatte, die Dinge zum Besseren zu ändern. Wie hatte sein Vater immer zu ihm gesagt, wenn mal wieder was gehörig schieflief? Jeder ist seines Glückes Schmied!

»Schmied, ein Scheißberuf«, frotzelte er.

Seine Gedanken führten ihn mehr oder weniger gewollt zurück in die Vergangenheit, erneut an die Stelle, wo er Monique zum ersten Mal im Schaufenster sah. Eigentlich war er ja wegen der Dekoration stehen geblieben, die ihm gefiel. Er hatte einen Blick dafür. Als er mit fünfzehn aus der Schule entlassen wurde, hatte er eine Lehre als Schaufenstergestalter begonnen. Das war sein Traumberuf, seit er als Kind an den Sonntagabenden in der Weihnachtszeit, wenn er mit den Eltern einen Stadtbummel unternahm, bei festlicher Beleuchtung die schönen Schaufenster bei Kaufhof oder Hertie bewunderte. Aber dieser Traum zerplatzte leider sehr schnell. Genaugenommen wurde dieser Traum an dem Tag zum Albtraum, als er tatsächlich eine Lehrstelle in einem renommierten Kaufhaus antrat. Damit begann eine schlimme Zeit für ihn, aber gemäß der alten Leier Lehrjahre sind keine Herrenjahre hielt er trotz der täglichen Schikanen vonseiten seines Ausbilders durch. Am Ende bestand Lemmi sogar recht ordentlich seine Prüfung, obwohl sein sadistischer Lehrherr einzig großen Wert auf absoluten Gehorsam und sauber gekehrte Räume legte.

Nein, so wird kein Glück geschmiedet. Jetzt wusste er, dass es für ihn besser gewesen wäre, viel früher mit dem Schmieden anzufangen. Schon in der Schule oder gegenüber den Eltern den Mund aufzumachen, wenn er sich ungerecht behandelt fühlte. Wer alles in sich reinfrisst, muss auch irgendwann mal kotzen, oder man wird ein ängstlicher Duckmäuser. Bloß nicht alles hinnehmen, auch wenn Prügel zur Erziehung gehören, wie damals allgemein gesagt wurde. Schließlich lernt man, was einem gelehrt wird, und wenn es Aggression und Schläge sind. Ja, Aggression hatte man ihm beigebracht, und auch darüber wollte und musste er an einem ganz bestimmten Tag so eine Art Prüfung ablegen. Und die bekam sein Lehrherr, den er schon alleine wegen seiner scheiß Theo-Lingen-Frisur insgeheim Nazisau nannte, kurz nach Beendigung seiner Lehrzeit zu spüren. An einem dunklen Novembernachmittag hatte er ihm aufgelauert und ihm mit geballter Faust und der ganzen aufgestauten Wut der vermeintlichen Sklavenjahre das Nasenbein gebrochen. Das Einzige, was die überraschte Dumpfbacke hervorbrachte, war ein erstauntes: »Lemmi … du?« Obwohl im trüben Laternenlicht nur ein streunender Köter Augenzeuge dieses Geschehens wurde, folgte trotz Einstellung einer Anzeige, da Aussage gegen Aussage stand, dennoch vonseiten des Geschädigten natürlich prompt Lemmis Entlassung. Aber trotz all des Ärgers, den er sich dadurch eingehandelt hatte, fühlte er sich befreit, richtig befreit. Nicht nur, dass er mit seiner Faust einem Arschloch das Maul gestopft hatte.

»Lemmi … du?« Was für eine blöde Frage. Lemmi musste lachen, weil ihm nun auch einfiel, wie er seinerzeit zu seinem Spitznamen kam. Den gab ihm Peter Koslowski, ein Klassenkamerad. Der war so einer, der seinen Mund aufmachte, auch wenn ihm das ebenfalls meist Ärger einhandelte. Aber war er glücklich deswegen? Na ja, das musste er ja wohl selbst wissen. Jedenfalls fragte Lehrer Schienbein damals während einer Unterrichtsstunde, in der ein Disney-Film über Lemminge vorgeführt wurde, ob jemand wüsste, wie diese Tiere heißen. »Das sind Lemmis!«, rief Lemmi mit dem Finger schnipsend in die Frage hinein. Darüber musste nicht nur Peter Koslowski so fürchterlich lachen, dass Lemmi von da ab Lemmi hieß. Lemmi schämte sich in diesem Augenblick, weil man ihn ausgelacht hatte, als habe man ihm im Schwimmunterricht vor aller Augen die Badehose heruntergezogen. Sicherlich, das wäre der richtige Augenblick für ihn gewesen, den Mund aufzumachen, aber er schwieg. Am Ende des Films fühlte er sich selbst wie ein Lemming, und er schlug sich noch den ganzen Tag mit dem Gedanken herum, sich ebenso wie die Tiere eine Klippe hinunterzustürzen. In späteren Jahren war er dann doch sehr froh, diesen Namen bekommen zu haben, da man ihn mit dem Sänger und Gründer der Rockband Motörhead, Ian Fraser »Lemmy« Kilmister in Verbindung brachte.

Überhaupt spielte Musik schon bald darauf für Lemmi eine große Rolle. Musik veränderte irgendwie die Zeit, die jetzt nur noch den Jungen gehören sollte. Man spürte es ganz deutlich, dass so etwas wie eine Rebellion der Jugend in der Luft lag, die nicht mehr die eingetretenen Wege der alten Kriegstreibergeneration gehen wollte. Das Aufbegehren der Jugend zeigte sich unübersehbar und wegen der lauten und elektronischen Klänge auch unüberhörbar. Wie viele andere in seinem Alter, so eiferte auch Lemmi den Beatles, den Stones oder anderen Beatbands nach. Mit Max, seinem Spezi aus Kinderzeiten, gründete er eine Band, die mit Willi und Dieter verstärkt wurde. Doch neben dem gemeinsamen Musizieren halfen sie auch bereitwillig und ausgiebig mit, bei den Proben etliche Bierkästen zu leeren. Lemmis plötzliches exzessives Trinken führte selbstverständlich zu Auseinandersetzungen mit seinen Eltern, die inständig hofften, dass bald der Musterungsbescheid für die Bundeswehr ins Haus flatterte, damit ihrem Sprössling mal ordentlich Dampf unterm Hintern gemacht wurde. Was sollten denn bloß die Nachbarn denken? Das ging doch nun wirklich nicht, dass ihr Bub, ohne eine neue Arbeitsstelle zu haben, einigermaßen sorglos in den Tag lebte. Somit kam die erhoffte Nachricht vom Kreiswehrersatzamt für sie wie eine Erlösung von ganz oben, vom Himmel sozusagen.

Ganz anders für Lemmi. Für ihn kam der amtliche Schrieb zum unpassendsten Zeitpunkt. Zum einen schlug Max ihm einige Monate vorher mit den Worten »Hast’n Koffer schon gepackt?« verschmitzt lächelnd auf die Schulter. Worauf Lemmi nichts anderes übrig blieb, als erstaunt zu fragen: »Wat für’n Koffer?« Breitbeinig vor ihm stehend und mit ausgebreiteten Armen stellte sich Max vor ihn hin und schmetterte mitten auf der belebten Straße aus voller Brust: »Ich hab noch einen Koffer in Berlin.« Dann zog er seine Läuseharke aus der Tasche und kämmte sich die Matte über die Schultern. »Die kriegt der Barras nich’, mein Freund. Meinste, ich will mir ‘n Pisspottschnitt verpassen lassen? Da lachen sich die Russen ja gleich kaputt. Ich jedenfalls mach den Verschwindibus, ich hau ab nach Berlin, bevor die Medizinmänner mir bei der Musterung die Eier begrapschen. Meine Parole lautet: Make love, not war! Stell dir bloß mal vor, es ist Krieg und keiner geht hin! Mensch Lemmi, du Pflaume, komm mit, die Anarchen in Berlin warten auf uns. Da mischen wir mal ordentlich die Kommune auf. Du weißt doch, wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment«, prustete er vor Lachen los.

Nein, Lemmi ist nicht nach Berlin gegangen, seine Uniform war bereits genäht, und einen Leistenbruch hatte er auch nicht. Zum anderen aber hielt ihn noch ein gewichtiger Grund zurück, um nicht nach Berlin abzuhauen. Es gab da nämlich inzwischen ein Mädchen, das ihn schon seit längerer Zeit anhimmelte, wenn er Gitarre spielte und dazu beinahe wie Paul McCartney sang: »Michelle, ma belle.« Am liebsten wäre er vor Verlegenheit auf und davon gerannt, wenn sie ihn mit ihren strahlenden Augen anschaute, als wolle sie sich an ihm festsaugen. Aber von der Bühne rennen ging ja wohl schlecht. Er konnte es gar nicht verstehen, dass so ein heißes Bravogirl etwas von ihm wollte. Ihr konnte doch nicht entgangen sein, wie seine Wangen vor Aufregung glühten, wenn sie ihn mit ihrem eigentümlichen Blick gefangen nahm. Deshalb wäre er nie auf die Idee gekommen, sie zu fragen, ob sie mit ihm gehen würde. Da mussten seine Kumpels hinterlistig nachhelfen. Das heißt, Willi war die treibende Kraft gewesen, der den Deal mit dem Mädchen einfädelte.

Und das kam so: Der Übungsraum befand sich im Keller von Willis Elternhaus, die sich, wie geplant, an jenem besagten Abend in die Oper verabschiedeten. Ohne Lemmi etwas zu verraten, hatten Willi, Max und Dieter eine halbe Stunde, bevor die Probe beginnen sollte, Babette, so hieß das süße Ding, empfangen. Mit dem Versprechen, Lemmi gleich nach seiner Ankunft hochzuschicken, führte Willi sie nach oben in seine Bude. »Hier kannst du mit deinem Paul alleine sein«, flüsterte er ihr verschwörerisch ins Ohr.

Als Lemmi pünktlich und schon etwas angesäuselt mit seiner Gitarre über der Schulter erschien, standen die drei breitgrinsend vor ihm.

»Ey, was is’, habt ihr ’n Clown gefrühstückt? Oder hat Brian Epstein angerufen, weil er uns als Vorband für die Beatles-Bravo-Tour verpflichten will?«, fragte Lemmi verwundert.

»Nee«, gluckste Max vor Vergnügen, »aber in Willis Privatharem wartet deine Sulaika auf dich, du weißt doch, die mit den langen braunen Haaren und dem Daliah-Lavi-Silberblick, die sooo in dich verliebt ist.« Und schon riss ihm Max die Gitarre von der Schulter.

»Los, los, beeil dich! Ach nee, halt, warte noch!«, rief Willi und verschwand nach nebenan. Kurz darauf kam er mit einer Flasche Jägermeister zurück, die er augenzwinkernd und mit weit ausgestrecktem Arm Lemmi vor die Nase hielt. »Hier, nimm erst mal ’n guten Schluck.« Und bevor er weitersprach, guckte er, ein Lachen unterdrückend, in die Runde, worauf er losprustete: »Bevor du das Wild erlegst, musste erst mal die Flinte laden.«

Max und Dieter schlugen sich vor Vergnügen auf die Schenkel. Nur Lemmi guckte ziemlich blöd aus der Wäsche. Doch dann, erst zögerlich, dann gierig, saugte er am Flaschenhals der Likörflasche, während Willi ihn aufmerksam beobachtete. Sich den Mund abwischend fragte Lemmi: »Meint ihr wirklich? Soll ich da hoch?«

»Na klar«, ergriff Willi das Wort. »Der steile Zahn is parat, der kann jetzt gebohrt werden.

Als Lemmi immer noch keine Anstalten machte zu gehen, schubste ihn Willi mit den Worten aus der Tür: »Und jetzt Weidmannsheil.« Und Dieter schlug einmal kräftig mit den Drumsticks auf die Snare, dass es sich wie ein Schuss anhörte.

Seit dieser Stunde wurde Babette für Lemmi so etwas wie eine Liebesgöttin, die er von nun an nicht nur anbetete. Dafür zeigte sie ihm, was lustvoller Sex und Leidenschaft wirklich bedeuteten, obwohl sie gerade erst siebzehn war. Berauscht von ihrer Zärtlichkeit verzichtete er eine Zeit lang sogar auf sein ebenfalls geliebtes Bier. Vielleicht hätte dieses Glück noch sehr lange für ihn angehalten, aber Amors Köcher begann sich allmählich zu leeren, als Babette ihn tränenreich auf dem Bahnhof verabschiedete, wo Lemmi mit all den jungen Burschen in den Zug stieg, der sie für anderthalb Jahre in die verschiedensten Kasernen brachte, hinter deren finsteren Mauern lebenslustige Bürger zu gehorsamen Soldaten gedrillt wurden.

Kam er, was selten genug geschah, an den dienstfreien Wochenenden zu Babette, spürte er eine zunehmende Veränderung bei ihr, oder er bildete es sich nur ein, weil ihr Foto in seinem Spind, auf dem sie lediglich einen recht knappen Bikini trug, wegen seiner fantasievollen Träume inzwischen viel realer für ihn geworden waren.

Sei es, wie es sei, mit jedem Zentimeter, den er von seinem Maßband abschnitt, der in seiner Bedeutung jeweils für einen Tag stand und mit dem hundertsten Abschnitt seine Wehrpflicht beendete, sehnte er sich der Entlassung entgegen. Er war fest davon überzeugt gewesen, dass für Babette und ihn wieder alles so werden würde wie früher. Jeder Brief, der von ihr eintraf, bestätige seine Hoffnung.

Jeder? Jeder … bis auf den letzten. Alleine in der Stube lag er erwartungsvoll auf seiner Pritsche. Aufgeregt roch er, wie er es immer tat, am Briefpapier, auf dass sie für gewöhnlich ihr Lieblingsparfüm sprühte und am Ende des Grußes einen roten Lippenabdruck hinterließ. Er stutzte, beides fehlte diesmal. Von einer Vorahnung angestachelt, überflogen seine Augen hektisch ihre Worte, bis an die Stelle, wo sich das Wort Schwangerschaft stechend in seinen Schädel bohrte. Die Hand, die den Brief hielt, fiel ermattet auf die Matratze, und sein Blick heftete sich gedankenverloren an den abgeblätterten Putz an der Decke über ihn, während seine innere Stimme in den Ohren unaufhörlich Schwangerschaft wisperte. Panik ergriff ihn, weil er vieles in seinem jungen Leben wollte, aber keinesfalls zu diesem Zeitpunkt Vater werden.

Erst etliche Minuten später war er dazu in der Lage, den Brief weiterzulesen. Ungläubig begann er wieder und wieder von vorne zu entziffern, was sein Verstand nicht verstehen wollte oder konnte.

Dort stand wörtlich:

Lieber Lemmi, schweren Herzens schreibe ich dir diesen Brief, und damit mir schnell leichter wird, muss ich dir gleich zu Anfang gestehen, dass ich schwanger bin. Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie weh dir meine Zeilen tun werden. Ich habe es nicht gewollt, das musst du mir glauben, weil ich dich so sehr geliebt habe. Aber ich war viel alleine. Ich musste einfach raus, ich konnte doch nicht immer in der Stube hocken und auf dich warten. Wie konnte ich denn ahnen, dass mir im »Blue Note« Christian über den Weg läuft? Wir haben getanzt und ich habe mir wirklich nichts dabei gedacht. Danach hat er mich mit seinem Wagen nach Hause gefahren. Ich wollte ihn danach nie, nie mehr wiedersehen, das musst du mir glauben, aber er ging mir nicht mehr aus dem Sinn. Immer wieder hat er angerufen und gesagt, dass er mich liebt. Er war da und du nicht, kannst du das verstehen, Lemmi? In seinem schicken Cabrio ist es dann passiert. Er hatte mir fest versprochen, aufzupassen. Aber vorige Woche hat mir der Arzt gesagt, dass ich schwanger bin. Lemmi, sei mir bitte, bitte nicht böse, aber es ist besser, wenn wir uns nicht mehr sehen. Ich will bei Christian bleiben. Es hat auch keinen Zweck, wenn du bei mir klingelst. Mach es gut und pass auf dich auf!

Deine (ehemalige) »Michelle« Babette.

PS: Ich werde dich nie vergessen!