Im Herbst verblüht das Mädesüß - Rainer Mauelshagen - E-Book

Im Herbst verblüht das Mädesüß E-Book

Rainer Mauelshagen

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Beschreibung

Spät am Abend erhalten Rosemarie und Frederik Schönenberg einen Anruf. Robert, Rosemaries dementer Vater, ist am Telefon. Eine schlimme Vorahnung beschleicht die beiden, die sich schon bald bewahrheiten wird. Von diesem Augenblick an wird nichts mehr so sein, wie es einmal war. Ab da erzählt Frederik die Lebensgeschichte der hochbetagten Eheleute Robert und Luise Reinartz, die das große Weltenschicksal kurz nach Ende des 2. Weltkrieges zusammengeführt hat. Gegenwärtiges sowie Rückblenden in die Vergangenheit runden das Bild zweier Menschen ab, die in den Hochs und Tiefs ihrer fast siebzigjährigen Ehe treu und in Liebe zueinanderstanden. Bis dass der Tod euch scheidet.

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Liebe eint

Der Tag hat sein Licht.

Die Nacht hat ihre Finsternis.

Der Tag hat sein Lachen

und die Nacht ihre Träume.

Der Tag weckt die Sehnsucht,

die in der Nacht verstirbt.

Freude und Leid

sind wie Tag und Nacht,

die dennoch aus Liebe geboren sind.

R.M

In Erinnerung an Helga & Kurt

Zum Buch

Spät am Abend erhalten Rosemarie und Frederik Schönenberg einen Anruf. Robert, Rosemaries dementer Vater, ist am Telefon.

Eine schlimme Vorahnung beschleicht die beiden, die sich schon bald bewahrheiten wird. Von diesem Augenblick an wird nichts mehr so sein, wie es einmal war.

Ab da erzählt Frederik die Lebensgeschichte der hochbetagten Eheleute Robert und Luise Reinartz, die das große Weltenschicksal kurz nach Ende des 2. Weltkrieges zusammengeführt hat. Gegenwärtiges sowie Rückblenden in die Vergangenheit runden das Bild zweier Menschen ab, die in den Hochs und Tiefs ihrer fast siebzigjährigen Ehe treu und in Liebe zueinander-standen … bis dass der Tod euch scheidet.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Schreck in der Abendstunde

Turbulenzen

Am Ende des Tunnels brennt noch kein Licht

Das Kuckucksnest

Ein Unglück kommt selten allein

Schatten der Vergangenheit

Dem Himmel sei Dank

Vom Wandel und Handel

Lebensbund

Wo sich eine Türe schließt, öffnet sich eine andere

Erstens kommt es anders, und zweitens, als man denkt

Wer ist Lore?

Leere Räume

Die Reha

Das Wiedersehen

Zwei Jahre später

Vorwort

Wenn es heißt, eine Geschichte, die das Leben schrieb, könnte man logischerweise davon ausgehen, man brauche sich bloß hinzusetzen und all das, was geschehen ist, einfach aus dem Lebensbuch der hier handelnden Personen abschreiben. Nein, so einfach ist und war es nicht, vor allem nicht, wenn es sich dabei um Menschen handelt, die in der Welt der Fantasie geboren wurden. Sicherlich, das sei ehrlicherweise anzumerken, kommt die Fantasie nicht gänzlich ohne die Realität aus, weil Fantasie und Realität stets eine wechselseitige Symbiose eingehen. Demnach könnte es ohne Weiteres sein, das es irgendwo auf der Welt einen Robert und ein Lieschen gibt oder gab, deren Lebensweg ähnlich beschritten wurde wie bei jenem Paar, dessen Erlebnisse ich aufgeschrieben habe.

Aber warum sah ich mich überhaupt dazu veranlasst, und warum gehe ich davon aus, dass es von allgemeinem Interesse wäre, über das Schicksal fiktiver Menschen zu lesen?

Weil das Schicksal anderer, egal ob erdacht oder nicht, erfahrungsgemäß Mut und Kraft für die eigenen Sorgen und Nöte schenken kann, denn Schmerz, Kummer, Leid, Krankheit, Abschied und Tod sind ganz reale Begleiter in unser aller Leben.

Um das würdevoll zu überstehen, braucht man in der Tat Kraft und Mut, Lebensmut, vor allem auch, wenn all diese schmerzlichen Prüfungen nach einem langen, glücklichen Leben endgültig das zerstören, was man insgeheim für immer bewahren wollte, auch wenn jeder Einzelne ganz individuell damit umgeht, nein, umgehen muss.

Also möchte ich mit dieser kleinen Geschichte verdeutlichen, dass uns trotz der Schicksalsschläge, die das Leben für einen jeden von uns bereithält, ein großartiges Lebensgeschenk mitgegeben wurde, um in den Stunden der Verzweiflung Trost und Zuversicht zu finden. Und dieses Geschenk heißt Liebe und Hoffnung. In höherem Maße als die Hoffnung hat inzwischen die Liebe leider ihre tiefe Bedeutung verloren, da sie heutzutage leicht und leichtfertig mit schönen Gefühlen verwechselt wird, die sich bei Enttäuschung nicht selten in Wut und Hass wandeln.

Ja, Gefühle leiten, verleiten den Menschen, da sie schwankend sind. Und weil es so ist, zeigt sich oft kein Verlass auf all die gegenseitigen Schwüre und Liebesbekundungen in der Hochstimmung der Gefühle. Erst im Schmerz, Kummer, Leid, bei Krankheit, Abschied und Tod zeigt sich die eigentliche Bedeutung der wahrhaftigen Liebe, die zusammen mit der Hoffnung tröstet, auch dann nicht alleine zu sein, wenn man meint, keiner würde einem beistehen.

Robert und Lieschen haben den Beweis ihrer unerschütterlichen Liebe gelebt. In einer Zeit, wo Scheidungen an der Tagesordnung sind, konnten sie auf weit über sechzig Jahre Ehe zurückblicken, auch wenn über sie so mancher Sturm hinwegfegte.

Rainer Mauelshagen

Schreck in der Abendstunde

»Jetzt, um diese Zeit?« Fragend schaute ich Rosemarie an. »Es ist kurz nach zweiundzwanzig Uhr.«

»Wenn du an den Apparat gehst, weißt du, wer es ist!«

»Dieser Telefonterror geht allmählich zu weit. Da müsste doch die Politik eingreifen. Anscheinend können Betrüger in diesem Land schalten und walten, wie sie wollen, ohne dass es Folgen für sie hat.«

»Ach bitte, Frederik, nun geh schon, dieses schrille Geräusch ist wirklich nervend. Es muss ja nicht immer ein Fake-Anruf sein.« Ihr Gesichtsausdruck wurde bittend.

»Warum soll ich denn aufstehen, ich bin kaputt«, jammerte ich.

»Eine Männerstimme am Telefon zu dieser Stunde ist sicherlich wirkungsvoller«, beharrte sie, »falls es tatsächlich jemand von diesen Telefongaunern ist.«

Ich stöhnte auf. »Warum auch hast du das Mobilteil nicht mit ins Wohnzimmer genommen.« Umständlich erhob ich mich aus dem Sessel, um zur Station in den Flur zu gehen.

»Ach«, rief sie mir nach, »sage keinesfalls ja und lege sofort auf, wenn dir etwas komisch vorkommt!«

Sie stellte den Fernseher leiser. Sicherlich wollte sie lauschen, mit wem ich spreche.

Ich drückte auf Gesprächsannahme.

»Hallo … hallo? Wer ist denn da? … Was ist … was? Ich komme sofort!« Als ich ins Wohnzimmer zurückkam, zuckte meine Frau zusammen. Mein erschrockenes Gesicht hatte sie wohl irritiert.

»Warum bist du denn so aufgeregt?«, fragte sie mich, nun selbst nervös geworden.

»Ich muss sofort los, Vater hat angerufen, da stimmt was nicht.«

»Bitte?« Sie sprang hoch. »Vater hat angerufen? Er kann doch nicht anrufen!« Rasch folgte sie mir, während ich bei bereits geöffneter Haustüre dabei war, mir meine Schuhe anzuziehen.

In gebückter Haltung sagte ich stöhnend: »Anscheinend weiß er doch noch, wie das Telefon zu bedienen ist.«

»Warte«, bat sie, »ich hole nur noch meine Jacke. Ich lasse dich doch nicht alleine fahren.«

Bis zum Haus meiner Schwiegereltern war es mit dem Wagen nicht weit. Bereits nach zehn Minuten drückte Rosemarie den Klingelknopf. Leider hatten wir in der Aufregung vergessen, den Zweitschlüssel mitzunehmen. Als nicht gleich geöffnet wurde, rannte ich hinter das Haus, um nachzusehen, ob am großen Wohnzimmerfenster eventuell der Rollladen noch oben war. Er war unten, also wieder schnell zurück zur Tür, die sich genau in dem Moment öffnete, als Rosemarie mit der Faust auf die Tür einschlagen wollte.

Mit wirrem Haarschopf und ebensolchem Blick stand Robert im Türrahmen. »Wo brennt es denn?«, fragte er verwundert. Ohne ihm Antwort zu geben, hastete Rosemarie an ihm vorbei.

Ich nahm meinen Schwiegervater an die Hand. »Wir sind hier, weil du uns angerufen hast. Aber nun lass uns auch reingehen, du bist ja ganz wackelig auf den Beinen. Immer marschierst du ohne Stock los«, redete ich auf ihn ein.

»Einen Stock? Quatsch, Frederik, wozu brauche ich einen Stock? Ich bin gut zu Fuß.«

Und um mir das zu beweisen, trat er mehrmals, mit weit hochgezogenen Beinen demonstrativ auf der Stelle. Ich konnte ihn gerade noch am Ärmel festhalten, ehe er umfiel.

»Frederik, wo bleibst du denn?« Rosemaries Stimme schallte ungeduldig in die Diele.

Als ich ins Wohnzimmer geeilt kam, zeigte sich mir, warum sie so aufgeregt war. Hilflos kniete sie neben ihrer Mutter am Boden.

»Sie ist wohl über den blöden Teppichläufer gestolpert.«

»Es ist schon gut, macht euch keine Sorgen. Helft mir nur auf, dann geht es schon wieder«, verlangte Luise in ruhigem Tonfall. Behutsam versuchte ich, ihr aufzuhelfen.

Nein, es ging nicht, bei der kleinsten Bewegung jammerte sie vor Schmerzen auf.

Robert stellte sich neben mich und machte mir unmissverständlich klar, dass seine Frau und er um diese Uhrzeit nicht auf Besuch eingestellt wären.

»Vater«, bat Rosemarie, »warum setzt du dich nicht in den Sessel und schaust Fernsehen?« Während sie ihren sich halbherzig sträubenden Vater zum Sessel bugsierte, griff ich zum Mobilteil des Telefons, das auf dem Tisch lag, um den Notarzt anzurufen. In der Hoffnung auf schnelles Eintreffen der professionellen Hilfe versuchte ich anschließend, mit etlichen Kissen Luises missliche Lage etwas bequemer zu gestalten. Inzwischen gab sich Rosemarie alle Mühe, Robert zu beruhigen. Trotz seiner Verwirrtheit spürte er natürlich die Hektik, die sich um ihn herum breitmachte. Einzig Luise schien die Ruhe selbst zu sein.

»Es tut mir leid, dass ich euch um diese Uhrzeit so viel Arbeit mache«, klagte sie. Dann schimpfte sie über den blöden Teppich, über dessen Kante sie tatsächlich gestolpert war, wie sie kleinlaut zugab. Die Worte, die mir dazu in den Sinn kamen, schluckte ich schnell hinunter.

Noch vor etwa vier Wochen feierte sie mit einigen Gästen den neunundachtzigsten Geburtstag in ihrem Haus. Ich sah ihr an, wie stolz sie war, als sie den Besuch durch die Räume führte. Und ebenfalls mit Stolz und auch ein wenig Eitelkeit nahm sie all die Bewunderungen für sich persönlich entgegen, die ihr gutes Aussehen und ihre Energie betrafen. Schon alleine den Haushalt in Ordnung zu halten wäre wegen der Situation ihres Mannes ja wohl auch nicht so einfach, wie zustimmend gesagt wurde.

Ganz so verhielt es sich freilich nicht. Natürlich hatte sie Hilfe für den Haushalt, auch wenn keine der Frauen lange bei ihr blieb. Denn Luise achtete mit Argusaugen darüber, wie diese ihre Arbeit verrichteten. Meist war sie schon vorab der Meinung, dass die Frauen ihre Arbeit nicht gründlich genug taten. Also kam es immer wieder vor, dass sie, ohne ihre Unzufriedenheit zu verbergen, ihnen mit Staubtuch oder Wischmopp folgte. Demnach blieben sie in der Regel nicht lange, sie verschwanden und kamen nicht mehr wieder.

Einmal beschwerte sich Luise über die korpulente Blonde, deren Namen ich vergessen habe, die wir ihr wiederum nach langem Suchen über zig Beziehungen engagierten. Wir waren so erleichtert gewesen, endlich wieder jemanden gefunden zu haben.

Über die empörte Luise sich: »Nun stellt euch bloß vor, anstatt zu putzen, hat sie mit Robert getanzt. Getanzt, hört ihr!« Dabei verzog sie abfällig das Gesicht. »Nicht zu glauben.« Jede Silbe betonte sie, als wäre sie aus Kaugummi. »Und diesem Filou hat das natürlich noch gefallen«, fügte sie kopfschüttelnd hinzu.

Ja, Luise war trotz ihres hohen Alters eine toughe Person, die zumindest geistig noch mitten im Leben stand und der man so schnell nichts vormachen konnte. Eine resolute kleine Frau. Früher hätte man wohl »klein, aber oho« dazu gesagt. Mit ihren stets rot gefärbten Haaren, dem nicht immer dezent geschminkten Gesicht und mit dem Chic, mit dem sie sich kleidete, wirkte sie keinesfalls wie eine Greisin. Vom Aussehen her verglich ich sie mit der Schauspielerin Brigitte Mira. Doch das Alter lässt sich nicht mit Äußerlichkeiten überlisten. Dass sie sich nicht schonte und nicht loslassen konnte, war ihr, wenn man es im Nachhinein so sehen will, nun zum Schaden geworden. Denn in ihrer sogenannten Alterssturheit hörte sie auch nicht auf unsere gut gemeinten Ratschläge. So hatte ich sie schon seit einigen Jahren förmlich angefleht, alle Teppiche zu entfernen, da sie gefährliche Stolperfallen waren. Die Antwort kam prompt und immer gleichlautend: »Die liegen schon immer da, ich bin noch nie darüber gestolpert.«

Noch kurz vor ihrem Sturz hatten wir ihr, ohne lange zu fragen, einen Rollator für die Wohnräume gekauft, um damit dieses Risiko möglichst auszuschalten. Doch der stand seitdem zusammengeklappt und mit einem hübschen Tuch abgedeckt in einer Nische neben dem Schlafzimmerschrank.

All diese Gedanken rasten mir nun durch den Kopf, während Rosemarie einige Dinge für Luise in die Reisetasche packte, die sie für ihren Krankenhausaufenthalt brauchen würde. Einer inneren Eingebung nach kontrollierte sie obendrein, ob ihre Eltern ihre Tabletten für den Abend eingenommen hatten. Die Tablettenspender machte ich ihnen für jeweils eine Woche fertig. Rosemarie zog vielsagend die Augenbrauen hoch, als sie aus der Küche kam und mir beinahe vorwurfsvoll die Tagesration von Robert vorhielt.

»Da, Vater hat heute nicht eine einzige Tablette eingenommen«, sagte sie unüberhörbar verärgert.

»Ich hab gesagt, er soll sie nehmen«, mischte sich Luise ein.

»Mutter, Vater vergisst es, du musst sie ihm schon geben, das weißt du doch. Vater ist krank.« Obwohl sie augenblicklich bestimmt andere Sorgen hatte, ließ sich Luise auf einen Wortwechsel ein. »Vater ist ebenso wenig krank, wie ich nicht krank bin. Vater hat schon immer seinen Kopf durchgesetzt. Wenn du das eine Krankheit nennen willst, bitte. Außerdem nimmt er die Tabletten nicht von mir an. Was soll ich denn machen? Zwingen kann ich ihn ja wohl schlecht.«

Rosemarie und ich sahen uns schulterzuckend an. Die alte Leier, mehr fiel mir dazu nicht ein. Nach etlichen Diskussionen, die meine Frau und ich an so manchem Tag mit Luise führten, hätten wir es gerne gehabt, wenn wir sie und Robert dazu hätten überreden können, das Haus aufzugeben und ins betreute Wohnen oder in ein ordentliches Heim umzuziehen. Aber auch dazu gab es von beiden einen Standardsatz: »Dieses Haus verlassen wir nur mit den Füßen zuerst!« Und dann war da noch abfällig vom Siechenheim die Rede, in das wir sie ihrer Meinung nach abschieben wollten. Von uns aus gesehen meinten wir es doch nur gut mit ihnen. Vor allem auch, weil Luise zeitlebens ein sehr geselliger Mensch gewesen war, der Unterhaltung und Leute um sich herum brauchte, um geistig fit und agil zu bleiben. In all den vergangenen Jahren nahm sie an beinahe jeder gesellschaftlichen Aktion und Feier im Dorf teil. Zudem besuchte sie bis vor noch gar nicht langer Zeit Strickkreise und Nachmittage, in denen gemeinschaftlich geturnt oder gesungen wurde. All diese Aktivitäten waren leider nicht nur wegen Robert unmöglich geworden, denn obwohl sie versuchte, sich selbst und uns etwas vorzumachen, nahmen ihre Altersbeschwerden zu.

Wir hofften so sehr, dass sich Luise endlich ihrer schwierigen Lage bewusst wurde. Vor allem in den letzten zwei Wochen hatte sie zusehends abgebaut. Es war ihre Gesichtsblässe, die uns auffiel. Darum bedauerten wir ihre rigorose Entscheidung zum absoluten NEIN.

In Rosemaries und meiner Vorstellung wäre eine Unterbringung in einer altersgerechten Einrichtung sicher die beste Lösung, wo beide in einer Gemeinschaft mit anderen Bewohnern Spaß und Unterhaltung haben könnten. Außerdem wären sie und Robert täglich unter medizinischer Kontrolle. Ganz davon abgesehen, welche schwere Aufgabe ihr wegen Robert abgenommen würde, der zusehends seine Persönlichkeit verlor. Er, ein großer, bisher kräftiger Mann, der es zeitlebens gewohnt war, hart zu arbeiten und es in der Lebensschule auch gelernt hatte, hart gegen sich selbst zu sein, wenn es darum ging, den Malaisen des Alltags zu trotzen. Dieser Mann, den in der Vergangenheit nichts erschüttern konnte, wurde täglich mehr zu einem hilflosen Kind, und das war furchtbar mit anzusehen.

Richtig aufregend wurde es, als die Rettungssanitäter in geschäftiger Manier ins Wohnzimmer traten. Robert begriff die Welt nicht mehr. In recht forderndem Ton befahl er seinem Lieschen, wie er sie stets liebevoll nannte, nun endlich aufzustehen. Und an die Helfer gewandt meinte er in einem für mich ebenso überraschend unhöflichen Tonfall, dass seine Frau nichts habe und sie ruhig verschwinden könnten, er wäre dieses Palaver endgültig leid. Woraufhin Rosemarie den sichtlich empörten jungen Männern ein unmissverständliches Zeichen gab, warum sie den Worten ihres Vaters keine allzu große Bedeutung zumessen sollten. Sie verstanden sofort und ließen sich somit nicht beirren, die nun wieder jammernde Verletzte auf einer Trage aus dem Haus zu transportieren.

Mit gemischten Gefühlen schauten wir dem Krankenwagen nach.

Aber wie sollte es jetzt weitergehen? Wenn ich ehrlich bin, war ich, unabhängig vom Mitleid mit Luise, auch persönlich ein wenig traurig darüber, dass dieser blöde Unfall ausgerechnet am Karfreitag geschehen war. Rosemarie und ich hatten uns so sehr auf Ostern gefreut, weil für uns schon Weihnachten ausgefallen war, da Luise an den Feiertagen ebenfalls wegen eines Sturzes im Krankenhaus gelegen hatte, wobei sie sich eine, wenn auch leichte, Kopfverletzung zugezogen hatte, als sie mit »ihren Damen« ein Café verließ und unachtsam über eine Bordsteinkante stolperte. So saßen wir an Weihnachten, anstatt bei festlicher Stimmung die Weihnachtstorte unter dem geschmückten Baum zu genießen, an den Nachmittagen mit einem Kaffee im Pappbecher aus dem Klinikautomaten und Gebäck, das wir uns ebenfalls aus dem Automaten gezogen hatten, in recht bedrückter Atmosphäre an ihrem Bett beisammen. Und nun dies. Tja, da gab es jetzt ja wohl nichts mehr dran zu ändern.

Robert hatte es sich wieder in seinem Sessel bequem gemacht. Ich setzte mich ihm gegenüber auf die Couch und blätterte in einem seiner Uhrenmagazine, die als Stapel auf dem Tisch lagen. Robert war zeitlebens nicht nur in Autos und Teppiche vernarrt gewesen, sondern ebenso in hochwertige Uhren. Bis zu seiner Demenz studierte er ständig in diesen Fachzeitschriften. Um ihn abzulenken, stellte ich ihm einige Fragen über dieses und jenes Markenfabrikat und war überrascht, wie er plötzlich interessiert und fundiert meine Fragen beantwortete.

Ich war froh, dass ich in diesem Augenblick einen Weg gefunden hatte, ihn ein wenig abzulenken.

Kurz darauf erschien Rosemarie mit einem Tablett im Wohnzimmer.

Kekse und Tee servierte sie uns. »Ich habe uns eine Stärkung aufgebrüht«, sagte sie lächelnd.

Robert drehte sich überrascht um. »Wie, du bist auch hier?«

»Ja, Vater, wir können dich doch jetzt nicht alleine lassen.«

»Warum nicht, und wieso alleine? Wo ist Lieschen denn?«

Genau in dem Moment, als Rosemarie diesen Satz sagte: »Wir können dich doch jetzt nicht alleine lassen«, wurde er mir in seiner ganzen Bedeutung bewusst. Natürlich konnten wir ihn nicht alleine lassen. Und mir wurde sofort klar, was in der nächsten Zeit an Unruhe auf uns zukommen würde.

Jeder seinen Gedanken nachgehend, nippten wir am heißen Tee, und ohne Interesse den Bildern im Fernseher folgend, hörte ich Rosemarie wie aus weiter Ferne sagen: »Ich werde heute Nacht hier schlafen, Vater, und morgen früh bereite ich uns ein leckeres Frühstück zu, ja?«

»Brauchst du nicht, Kind, Lieschen braucht keine Hilfe.«

»Mutter ist im Krankenhaus, Vater.«

»Im Krankenhaus? Warum?«

»Sie ist doch eben hier im Wohnzimmer gefallen.«

Zweifelnd schaute er sich um, als würde er sie suchen, und ich hatte den Eindruck, dass ihm Tränen in die Augen stiegen. Sicherlich war ihm eingefallen, was wirklich mit seinem Lieschen geschehen war. Er tat mir sehr leid.

»Ach«, klagte Robert, »immer dann, wenn ich nicht auf sie aufpasse, passiert ihr was, man kann sie einfach nicht alleine lassen.«

Ich schaute zu Rosemarie herüber, und trotz aller Tragik huschte ein Schmunzeln über unsere Gesichter. Schließlich beschlossen wir, dass ich wieder nach Hause fahre. Zum einen hatten wir das Haus überstürzt verlassen, ohne Türen und Fenster ordentlich zu verschließen, und außerdem wollte ich nicht im ungelüfteten Gästezimmer schlafen, das sich im Keller befand, in dem sich zudem allerhand Krimskrams stapelte. Nur gut, dass Rosemarie und ich schon Rentner waren und wir unseren Alltag so einteilen konnten, wie es die Umstände verlangten.

Als ich meine Frau zur Verabschiedung in die Arme nahm, spürte ich, wie sie zitterte.

Sie versuchte, stark zu sein, aber ihre Nerven sprachen eine andere Sprache.

Bevor ich mich ins Bett legte, telefonierten wir noch einmal miteinander.

»Soll ich die Nacht wirklich nicht zu dir kommen?«, fragte ich sie besorgt.

»Nein, nein, es wird schon gehen. Vater hat sich hingelegt und ich räume noch ein wenig auf. Vielleicht setze ich mich anschließend vor den Fernseher, um mir zur Ablenkung irgendeine Sendung anzuschauen. Ich glaube, ich kann momentan sowieso nicht einschlafen.«

Auch ich fand keinen Schlaf, zu viel ging mir durch den Kopf.

Hellwach knipste ich wieder die Nachttischlampe an. Luises Unfall hatte mir deutlich vor Augen gehalten, wie fragil das alles ist, was wir hinlänglich unser gewohntes Leben nennen. Das Bild von Marionetten kam mir in den Sinn, die, an den Fäden eines imaginären Spielers hängend, lebensfroh und unbedarft in irgendwelchen Kulissen herum hampeln, aber wehe, nur ein Faden wird abgeschnitten oder abgerissen, wie es bei Luise vor wenigen Stunden passierte. Ich ahnte sehr wohl, in welch kritischer Lage sie sich augenblicklich befand. Sollte sie sich wirklich den Oberschenkelhals gebrochen haben, wie ich vermutete, was meist die Folge bei solchen Stürzen im Alter war, dann wäre eine Operation unvermeidlich.

Ganz davon abgesehen, wie risikoreich sich eine Narkose in ihrem Alter darstellte, so waren schwerwiegende Folgeerkrankungen wie etwa eine Lungenentzündung oder eine Infektion mit Krankenhauskeimen nicht auszuschließen, davon hatte man doch schon gehört.

Meine Fantasie ging mit mir durch und versprach nichts Gutes.

»Armes Lieschen«, entfuhr es mir hörbar. Um nun doch positiv zu denken, sagte ich mir dann: »Abwarten, sie ist in guten Händen.« Aber wie sollte es mit Robert weitergehen? Der brauchte wegen seiner Demenz absolute Aufmerksamkeit, nicht nur am Tag, auch bei Nacht. Es war wirklich bewundernswert, welch schwere Aufgabe Luise bisher bewältigt hatte.

In diesem Moment erinnerte ich mich an jene Sonntagnachmittage in jüngster Zeit, an denen wir in ihrem Haus gemütlich beim Kaffeetrinken zusammensaßen und Robert plötzlich, und so gut es ihm gelang, aufsprang und zur Toilette eilte, um kurz darauf um Hilfe zu rufen, weil er sich über und über beschmutzt hatte. Weiter mochte ich mir gar nicht mehr vorstellen, wie das ablief, wenn wir nicht anwesend waren. Das Alter kann schon grausam sein, fuhr es mir durch den Kopf. Bei solchen Schicksalsschlägen wird man natürlich auch an seine eigene Endlichkeit erinnert. Rosemarie und ich, wir waren beide bereits Ende sechzig. Je mehr ich darüber nachdachte, umso mehr kam mir die Zeit wie ein ICE vor, der mit uns als Passagieren durch die Jahre raste, um nur kurz an verschiedenen Stationen anzuhalten.

Eine dieser Stationen war der Hausbau damals. Vor etwa 40 Jahren hatten wir kurz nach Robert und Luise im gleichen Ort gebaut, wo sie sich niedergelassen hatten.

Wir zogen damals für die Ewigkeit in unser Haus, wie wir freudig dachten. Aber das Alter ist ein Tribut an die Ewigkeit, auf Erden zumindest. Und dann geht doch alles ganz rasch!

Wobei wir bis zu Roberts Erkrankung wunderbare Jahre mit den beiden verbrachten, in denen wir viele gemeinsame Reisen unternahmen. Bis, ja, bis Robert sich veränderte, was bereits zu Beginn seiner Erkrankung oftmals zu skurrilen Situationen in Hotels oder Gaststätten und somit nicht selten zu Peinlichkeiten führte. So beschwerte er sich einmal während des Essens lautstark und gestikulierend über den angeblichen Lärm, den die Gäste im Speisesaal machten. Kerzengerade stand er da und fuchtelte wild mit den Armen in der Luft herum. Dabei unterhielten sich alle angemessen. Ein anderes Mal entzündete er mit kindischer Freude die Dekoration auf dem Tisch mit einer brennenden Kerze. Robert solle unbedingt einen Neurologen aufsuchen, drängte ich Luise besorgt. Der Arzt werde nach einigen Tests feststellen, was mit ihm los war. Doch sie winkte nur ab.

»Was soll denn schon mit ihm los sein? Robert war schon immer ein wenig eigenartig. Da wird er nie und nimmer hingehen. Er ist sein ganzes Leben nicht krank gewesen.«

Nein, dagegen kam ich nicht an. Und es stimmte wahrhaftig, in den über vierzig Jahren, in denen ich Robert kannte, hatte ich ihn noch nie krank erlebt. Keine Erkältung oder Grippe warf ihn nieder. Das heißt, er hatte einmal eine hochgradige Allergie nach dem Hantieren mit einer Chemie, mit der er auf seiner Arbeitsstelle in Berührung gekommen war. Seine Augen zeigten sich zugeschwollen, und überall auf seinem Körper hatten sich dicke, rote Quaddeln gebildet. Der Überweisung des Hausarztes ins Krankenhaus folgte er noch brav, doch bereits nach wenigen Stunden hatte er sich wieder selbst entlassen. Zu diesem Zeitpunkt unternahmen wir, Luise, Rosemarie und ich, nichts ahnend einen Ausflug auf dem Drachenfels. Als wir heimkamen, war Robert dabei, den Eingang zum Haus zu pflastern.

Es war erst sehr früh am Morgen, als ich aus unruhigem Schlaf plötzlich im Bett hochfuhr.

Meine Hand tastete nach links an die Stelle, wo ich Rosemarie vermutete. Da fiel es mir wieder ein, dass sie die Nacht nicht neben mir geschlafen hatte. Innerlich getrieben sprang ich aus dem Bett und machte mich im Bad frisch. Danach entschied ich mich, noch rasch beim Bäcker vorbeizufahren, um frische Brötchen und Croissants einzukaufen.

Nicht lange darauf schloss ich mit dem Ersatzschlüssel die Tür vom Haus der Schwiegereltern auf. »Huhu, ich bins!«, rief ich in den Flur.

In dem Moment kam Robert mit heruntergelassenen Hosenträgern aus der Gästetoilette, die er meist benutzte. »Wie bist du denn hier reingekommen, Frederik?« Er sah mich mit großen Augen an.

»Vater, du weißt doch, dass wir einen Schlüssel fürs Haus haben.«

»Aber warum hast du Rosemarie nicht mitgebracht? Lieschen hätte sich sicher gefreut, euch beide zu sehen.« Ohne meine Antwort abzuwarten, meinte er drängend: »Nun aber komm endlich ins Esszimmer, ich habe schon den Tisch gedeckt. Lieschen hat uns eine feine Bohnensuppe gekocht. Du kennst ja ihre grandiose weiße Bohnensuppe mit viel Speck drin.« Mit der Hand rieb er sich den Bauch und lächelte mich spitzbübisch an. »Aber sei leise«, flüsterte er, »Lieschen schläft noch. Sie liegt im Wohnzimmer auf der Couch.«

Sofort warf ich die Tüte mit dem Brötchen auf die Flurkommode und eilte mit großen Schritten ins Wohnzimmer. Auf der Couch lag Rosemarie in reichlich unbequemer Haltung. Ihr ansonsten sorgfältig geflochtener Zopf hatte sich aufgelöst, und das Haar legte sich wirr um ihre geröteten Wangen. Sie schlief tief und fest. Als ich sie sanft an der Schulter berührte, zuckte sie zusammen. Erschrocken fuhr sie hoch.

Auch ihre Augen waren gerötet, und sie sah total übernächtigt aus.

»Guten Morgen, Liebling«, begrüßte ich sie.

Allmählich kam sie zu sich. »Frederik. Gut, dass du endlich da bist, ich habe eine fürchterliche Nacht hinter mir.«

Ich nahm sie tröstend in den Arm und küsste sie auf die Wange. »Schlimmer als befürchtet?«, fragte ich sie.

»Noch viel schlimmer.« Sie schaute an mir vorbei. »Wo ist Robert?«

Ihre Augen suchten das Wohnzimmer ab. Ich drehte mich um. »Eben war er noch da.«

Im gleichen Augenblick vernahmen wir aus der Küche ein Geräusch, das sich anhörte, als zerschlüge Porzellan auf den Fliesen. Jetzt war Rosemarie hellwach. Beide kamen wir gleichzeitig in der Küche an, wo Robert auf dem Boden kniete und mit blutigem Finger Scherben auflas. Bevor wir etwas sagen konnten, meinte er traurig schauend: »Die schöne Suppenterrine, die haben Lieschen und ich zur Hochzeit bekommen. Hoffentlich ist sie nicht von dem Lärm wach geworden.«

Rosemarie zog ihren Vater hoch und besah sich den blutenden Finger.

»Komm Vater, ich klebe dir ein Pflaster auf die Wunde.«

Gehorsam ging er mit ihr ins Bad.

Als sie zurückkamen, hatte ich die Scherben beseitigt. Gerade wollte ich im Küchenschrank nach dem Geschirr greifen, um im Esszimmer den Frühstückstisch zu decken, da hörte ich Rosemaries erstaunte Stimme. »Frederik, komm mal bitte und sieh dir das hier an!«

Unverzüglich ging ich zu ihr. Einigermaßen überrascht sah nun auch ich, dass der Frühstückstisch perfekt eingedeckt war. Nichts fehlte.

»Gibt es was zu gucken?«, fragte Robert irritiert.

»Vater«, stutzte Rosemarie, »hast du das hier alles vorbereitet?«

»Wenn es nicht die Heinzelmännchen waren, tja– dann war ich es wohl«, lachte er.

Aufmunternd klatschte ich in die Hände. »Ich denke, wir sollten jetzt aber endlich frühstücken!«

Rosemarie schüttelte den Kopf. »Ich glaube, ich bekomme nichts runter.«

»Auch kein frisches, knuspriges Croissant?«, gab ich augenzwinkernd zu bedenken.

Schnell überzeugt nickte sie mir freudig zu.

Auch Robert bestätigte, großen Hunger zu haben. »Aber vorher will ich Lieschen wecken«, wandte er ein, »schließlich können wir nicht ohne sie frühstücken.«

»Vater …«Mit einer gewissen Ratlosigkeit versuchte Rosemarie ihm abermals zu verdeutlichen, dass sein Lieschen im Krankenhaus lag.

»Im Krankenhaus? Wollt ihr mich auf den Arm nehmen? Sie liegt im Wohnzimmer und schläft.«

Ohne darauf zu reagieren, nahm Rosemarie ihn an die Hand und führte ihn ins Wohnzimmer. Wortlos zeigte sie mit dem Finger auf die leere Couch.

Blass und zittrig geworden schlug sich Robert mit der flachen Hand vor die Stirn.

»Ich glaube, ich werde verrückt.« Und das wiederholte er so lange, bis er nur noch murmelte.

Turbulenzen

Gegen Mittag fuhren wir gemeinsam ins Krankenhaus. Robert verstand nicht sofort, wohin wir eigentlich wollten. Aber dann hatte er einen lichten Moment. Daraufhin richtete er sich für Lieschen chic her. Wie meist, wenn er das Haus verließ, trug er zur dunkelblauen Hose ein hellblaues Hemd. Er zog nur hellblaue Hemden an und darüber eine schwarze Lederjacke, feinstes Nappaleder, darauf legte er Wert. Die schwarzen Schuhe waren blank geputzt. Einige Mühe kostete es uns allerdings, ihn davon abzuhalten, selbst zufahren.

Erst vor knapp anderthalb Jahren kaufte Robert sich einen großen, schweren SUV. Natürlich war es der mit dem Stern. Ach, was gab es seinerzeit Debatten deswegen. Vor allem, weil Rosemarie und ich ihm schlichtweg die Fähigkeit absprachen, weiterhin dem Straßenverkehr gewachsen zu sein. Alleine sein Alter stellte diesbezüglich alle Vernunft infrage.

Entgegen unserem Unverständnis blieb als Fazit: Er konnte und durfte selbst entscheiden, was er zu tun und zu lassen habe. Ja, durfte, wie auch sein Hausarzt nach Rücksprache mit mir bestätigte. Jemandem die Fahrerlaubnis zu entziehen, wäre ein viel zu großer Eingriff in die persönlichen Freiheitsrechte, als dass man zu voreilig an die Sache herangehen sollte, wie er sich ausdrückte. Und was meine Vermutung wegen der Demenz beträfe, wäre es doch sinnvoller, er würde sich von einem Neurologen gründlich untersuchen lassen.

Aber dazu war Robert eben nicht zu bewegen. Bei den kleinsten Andeutungen in diese Richtung bekamen wir von ihm zu hören, dass es ihm gute gehe. Er fühle sich wohl, und ob das ein Grund wäre, zum Arzt zu gehen? Wie schwer er sich wirklich beim Autofahren tat, erfuhren Rosemarie und ich erst viel später von Luise, die wohl allmählich begriff, dass etwas nicht mit ihm stimmte. So beichtete sie uns, dass es ihm mitunter schwerfallen würde, Wege zu finden, die er eigentlich gut kannte. Da kam es zum Beispiel vor, dass er auf der Fahrt ins Dorf nicht auf Anhieb die Apotheke fand.

Oder einmal ließ er Luise ohne weitere Erklärung auf dem Supermarktparkplatz zurück. Sie wollte nach dem Einkauf nur noch den leeren Einkaufswagen wegstellen, da setzte er sich in den Wagen und fuhr los. Als er nach etwa einer dreiviertel Stunde wiederkam, in der Luise sich die größten Sorgen machte, meinte er wie selbstverständlich, er habe einfach nur Lust auf eine kleine Spazierfahrt gehabt. Ebenfalls viel später bekamen wir zu hören, dass er beim Ausfahren aus der Garage einen anderen Wagen gerammt hatte, der gegenüber seiner Ausfahrt parkte. Wohlweislich verschwiegen sie uns auch, dass er beim Reinfahren in die Garage nicht nur einmal die Einfahrt touchierte, weil er wohl die Ausmaße des Wagens nicht einschätzen konnte.

Wir fielen aus allen Wolken. So durfte es nicht weitergehen. Von da ab erfanden wir immer wieder neue Ausreden, warum er den Wagen besser stehen lassen sollte. Und er ließ ihn stehen, auch wenn wir, um ihn immer wieder neu zu überzeugen, mit Engelszungen auf ihn einredeten. Anderseits denke ich, dass er im Verlaufe der Zeit seine fahrerischen Einschränkungen selbst bemerkt hatte, da sein Widerstand gegen unsere Argumente allmählich abnahm. Obgleich es an einem ganz bestimmten Tag dann doch noch einmal zu einer heftigen Aussprache kam. Unter dem Vorwand, sein Auto zur Inspektion zu bringen, fuhr ich los, um den SUV beim Straßenverkehrsamt abzumelden. Nägel mit Köpfen wollten wir machen. Oh, was gab es für ein Theater, als er bereits am nächsten Tag die abgekratzten Plaketten auf den Nummernschildern entdeckte.

Da Robert seit 70 Jahren Autos und früher auch Motorräder gefahren hatte, er also ein richtiger Motornarr gewesen war, konnte ich sehr gut nachempfinden, welch ein Opfer wir ihm abverlangten. Von dem alten »Lappen« allerdings, von dem trennte er sich nicht, der blieb in seiner Brieftasche.

Die Fahrtstrecke zum Krankenhaus dauerte nicht mehr als zwanzig Minuten. Unterwegs stellte Robert mir mehrfach die Frage, warum ich sein Auto fahre und wohin man ihn eigentlich bringen würde. Auf dem Krankenhausparkplatz angekommen, dämmerte es ihm wohl wieder. Unbeholfener als sonst stieg er schweigsam aus. Nachdenklich besah er sich den Krankenhauskomplex. Gedankenverloren rückte er seine Krawatte zurecht. Als er wieder einsteigen wollte, drängte Rosemarie darauf, endlich loszugehen. Ebenso wie sie, war auch ich sehr gespannt darauf, was uns hinter diesen Mauern erwartete. Wie ich zuvor am Telefon erfahren hatte, wurden wegen der Notbesetzung an den Feiertagen bei Luise zunächst nur die notwendigsten Voruntersuchungen durchgeführt. »Nach Ostern können wir Ihnen mehr sagen.«

Luise war wach und den Umständen entsprechend in guter Verfassung.

Staunend besah sich Robert die Infusionsflaschen, die an einem Metallständer hingen.

Auch die Schläuche, die im Ärmel von Luises Nachthemd verschwanden, inspizierte er mit kritischem Blick. Doch dann trat er mit erfreutem Gesichtsausdruck an ihr Bett, umarmte und küsste sie, als hätten sie sich eine lange, lange Zeit nicht gesehen. Rosemarie schaute mich tief berührt an. Ich denke, es war eine Ausrede, als sie sagte, sie wolle in der Cafeteria Kuchen und Kaffee besorgen. Sicherlich war sie kurz davor, in Tränen auszubrechen.

Überhaupt wirkte sie nach den letzten Stunden der Anspannung sehr zerbrechlich. Ich schlug ihr vor, beim Tragen zu helfen. Doch sie bat mich, zu bleiben, falls der Arzt käme, schließlich gab es noch einiges zu fragen und zu besprechen.

Tatsächlich vernahm ich kurz nach ihrer Abwesenheit Stimmen hinter der Tür, die ich als ein Gespräch zwischen der Stationsschwester und dem Arzt deutete. Mit den Worten »Ich komm gleich wieder« ließ ich Robert und Luise alleine.

Ja, ich hatte richtig vermutet. Dennoch war ich überrascht. Vor mir stand ein kräftiger, dunkelhäutiger Mann mit gewaltigem Bauch, dem man, so sah es jedenfalls für mich aus, einen viel zu knappen Arztkittel ausgehändigt hatte. Zuerst wirkte er sichtlich genervt, als ich ihn von der Seite ansprach. Er ließ das Krankenblatt, in dem er gerade las, sinken. Prüfend schaute er mich über seine goldumrandete Brille hinweg an, um sich gleich darauf wieder dem Krankenblatt zu widmen. Zufällig handelte es sich dabei um Luises Aufzeichnungen. Ich ließ ihn gewähren und hielt mich vorerst zurück. Schließlich gab er mir dann doch gefällig Auskunft. Und so erfuhr ich von ihm, dass sich Luise, wie ich schon vermutet hatte, bei ihrem Sturz eine Oberschenkelhalsfraktur zugezogen hat.

»Das muss natürlich operiert werden. Zunächst haben wir das Bein mechanisch stabilisiert«, klärte er mich auf. Für mich klang es, als würde er so etwas quasi nebenbei machen.

Was folgte, waren hauptsächlich Anweisungen für die Schwester. Wie sagte er noch: »Vorrangig steht eine Magenspiegelung an, da die Blutwerte bei der Patientin Hinweise auf einen innerlichen Blutverlust geben. Eventuell folgt nach einem negativen Befund des Magens noch eine Darmspiegelung.«

Bevor ich wegen dieser unvorhergesehenen Nachricht erschrocken nachhaken konnte, wandte er ein: »Wir werden Ihre Schwiegermutter ordentlich auf den Kopf stellen. Machen Sie sich mal keine Sorgen.«

Beiläufig nickte er der Schwester zu, die ihm aufmerksam und zuvorkommend die Tür ins Krankenzimmer öffnete.

Wenn ich ehrlich bin, fürchtete ich mich in diesem Moment ein wenig über Roberts und Luises Reaktion, wenn sie sahen, dass der behandelnde Arzt auf dieser Station anders aussah als die Ärzte, mit denen sie bisher in ihrem Leben zu tun hatten. Ich kannte doch ihre nicht immer spruchreifen Bemerkungen beim Fernsehen, wenn etwas gezeigt wurde, das nicht ihrem Weltbild entsprach. Auf mich machte er durchaus einen vertrauenserweckenden Eindruck. Irgendwie fand ich sogar seine ein wenig flapsige Bemerkung sie auf den Kopf stellen zu wollen, beruhigend. Trotzdem war ich froh, dass Rosemarie bei dem Gespräch nicht anwesend war, denn die Nachricht, das Luise möglicherweise wieder das Gleiche durchzumachen hatte wie vor zwei Jahren, als sie auch wegen einer Magenblutung auf der Intensivstation lag, hätte sie nur noch mehr beunruhigt. Mehrere Tage und Nächte hatte Luise auf der Intensivstation um ihr Leben gerungen. Es stand damals wirklich schlimm um sie. Sie nahm es mit der Einnahme ihres Blutverdünners nie so genau und deshalb war es wohl zu dieser inneren Blutung gekommen. Aber zur Verwunderung des gesamten Teams, aber auch zu unserer, erholte sie sich dann nach umfangreicher Therapie wieder rasch. Ihr starker Lebenswille hatte, wie schon so oft in ihrem Leben, sie wieder einmal nicht im Stich gelassen. Als Kind einer Generation, die einen Krieg überstanden hat, war dieser Lebenswille wohl nicht abzusprechen, wie ich aus ihrer Vergangenheit wusste.

Gab sich Luises Kindheit in Landsberg an der Warthe noch rosig, dann sah es schon bald ganz danach aus, als wolle ihr der Krieg unter Schmerzen, Entbehrung und Krankheit sogar die schönen Erinnerungen an diese unbeschwerte Zeit mit dem guten Vater, der lieben Mutter und den Geschwistern Gudrun, Elli und Erwin rauben und restlos vernichten. Denn bereits mit dem Beginn des Krieges kündigte sich allgemeine Endzeitstimmung an. Vorbei die unbeschwerten, vor Hitze flirrenden, nach Jugend und Zukunft duftenden Sommertage, in denen sie und die Geschwister unbekümmert und ausgelassen in der Warthe schwammen oder sie mit ihren Schwestern in luftigen Kleidern lachend und kichernd die Straßen an den Schaufenstern entlangflanierten, die offenen Blicke stets auf die jungen Herren gerichtet, die ihrerseits freundlich lachend die Strohhüte zogen. Vorbei! Von da ab ließ man sie und viele andere für etwas büßen, was sie persönlich nicht zu verantworten hatten. Ihre Schuld bestand alleine darin, zur falschen Zeit am falschen Ort geboren worden zu sein. Erwin, gerade mal neunzehn Jahre alt, wurde gezwungenermaßen in eine Uniform gesteckt. Und an einem düsteren, nebeligen Morgen, im November 1944, an dem wegen seines Abschieds alle sehr bedrückt waren, verließ er für den Krieg gerüstet das Haus. Im Torweg stehend drehte er sich noch einmal um. Ein halbes Jahr später kam die Nachricht, das Erwin in Russland gefallen war.

Gudrun war, wie Luise mir erzählte, ein Menschenkind, das überall gerne half und jedem gut sein wollte. In ihrem jugendlichen Überschwang war sie überzeugt davon, dass die, die Hilfe brauchten und denen sie uneigennützig Hilfe gab, wieder an eine bessere Welt glauben würden. Als die Rote-Kreuz-Helferin Gudrun am 30. Januar 1945 in Gotenhafen an Bord der Wilhelm Gustloff ging, ertrank sie schon bald darauf mit vielen Tausenden Menschen – vor allem Frauen, Kinder und Alte, die unter unglaublichen Strapazen, aber hoffnungsvoll, vor der schlechten Welt geflüchtet waren – in der kalten Ostsee. Denn gegen 13:10 Uhr wurde das Schiff vom Torpedo eines sowjetischen U-Bootes getroffen. Der Krieg war ganz nahe gerückt.

Aus Angst vor den sowjetischen Truppen machten sich bald darauf auch Luise, Elli und ihre nicht mehr ganz gesunden Eltern Friedrich und Erna auf die Flucht. Bereits ab da begann Luises Kampf gegen den größten Feind des Lebens: den Tod.

Wie grausam die Erlebnisse nicht nur für sie waren, kann ich mir heute nur vage vorstellen, aber nie in dieser Intensität fühlen, wie es all denen widerfuhr, die es dann doch geschafft hatten, dem Tod ein »Schnippchen« zu schlagen, obwohl er mit seinen grausamen Waffenarsenal, Krankheit, Dreck, Ungeziefer, Hunger, Vergewaltigung, Kälte, Nässe und Schlägen ein harter und unerbittlicher Gegner war. Ich habe von Gräueltaten gehört, die mir in meiner Fantasie bis zur Stunde nachgehen und ich habe mich gleichzeitig auch gefragt, warum der Wunsch weiterzuleben, dennoch so groß gewesen war.

In dem Moment, als ich mit dem Doktor und der Schwester ins Krankenzimmer kam, stand Robert am Kopfteil von Luises Bett. In der erhobenen Hand hielt er ein Wasserglas und sang dabei vergnügt: »Komm mein Schatz, wir trinken ein Likörchen, und dann flüstere ich dir was ins Öhrchen.« Luise lächelte verständnisvoll.

Der Arzt schaute mich fragend an.

»Mein Schwiegervater hat Demenz«, flüsterte ich ihm zu. »Es ist ein Lied, das er immer wieder und bei jeder Gelegenheit singt. Soweit ich weiß, verbindet er damit schöne Erinnerungen an eine lang zurückliegende Zeit.«

Mit einem knappen »Ach so« wendeten sich der Arzt und die Schwester Luise zu, die sich sogleich über das Essen beschwerte.

»Das trifft sich gut«, meinte der Arzt. Er teilte ihr mit, dass sie wegen der anstehenden Magenspiegelung ab morgen sowieso nüchtern bleiben müsse. Woraufhin Luise sehr bestimmend eine Magenspiegelung ablehnte, da sie wegen ihres Beines im Krankenhaus läge, an dem, wie sie sich ausdrückte, seltsamerweise nichts gemacht würde. Und der Magen sei übrigens vollkommen in Ordnung.

Der Arzt schien für derartig unqualifizierte Argumente taub zu sein, denn ohne darauf einzugehen gab er der Schwester eine Medikamentenanordnung, und mit einem kaum vernehmbaren »Auf Wiedersehen« verschwand er aus dem Kranken-zimmer.

Die hübsche Schwester mit den niedlichen Grübchen am Kinn und den drallen Formen unter dem ebenfalls zu engen Kittel, auf deren Namensschildchen Babette zu lesen war, tätschelte flüchtig Luises Hand und eilte dem Arzt mit dem Ruf »Ich komme schon« hinterher.

»Hat die vielleicht einen dicken Hintern«, kommentierte Robert ihren Rückzug, woraufhin ich ein »Pst« verlauten ließ. Aber so war Robert, er nahm in seinem Zustand kein Blatt vor den Mund. Scham oder Scheu waren seiner Krankheit fremd. Deshalb war ich auch erstaunt, dass er sich während der Visite nicht über den farbigen Arzt geäußert hatte.

Ich war es dann, der zu Luise sagte: »Der Doktor kann aber gut deutsch sprechen.«

Luise fuhr sich mit den Fingern durch ihr rot gefärbtes Haar.

»Ach Frederik, reich mir doch den Taschenspiegel aus dem Nachtschrank!«, bat sie.

Ich gab ihn ihr. Aufmerksam betrachtete sie ihr Gesicht.

»Du bist hübsch genug«, scherzte ich. War da etwa eine Spur von Verlegenheit bei ihr zu entdecken gewesen? Sie legte den Spiegel beiseite und kam auf den Arzt zu sprechen.

»Doktor Awolowo ist übrigens in Berlin geboren. Er ist sehr nett. Wir haben uns schon einige Male unterhalten. Ich habe ihm erzählt, dass ich 1946 auch eine Zeit lang in Berlin gewohnt habe.«

»Ich habe als Kind den ersten Neger im Zirkus gesehen«, mischte sich Robert ein. »Den hatte man in einen Käfig gesperrt, und der Neger hat zähnefletschend an den Gitterstäben gerüttelt.«

Puh, war ich froh, dass das nicht zur Sprache gekommen war.

Bevor wir uns von Luise verabschiedeten, zog Rosemarie ihr Handy aus der Tasche und machte ein Bild von ihr, wie sie da im Krankenbett lag. »Wink doch mal!«

Nach dem Krankenhausbesuch hielten wir an einer nahe gelegenen Imbissbude, schließlich meldete sich trotz aller Aufregung der Hunger bei uns, und nach Kochen stand Rosemarie nun wirklich nicht der Sinn. Robert wünschte sich Currywurst mit Fritten, das mochte er für gewöhnlich. Wir wählten das Gleiche.

Zu Hause angekommen, richtete Rosemarie alles rasch auf den guten Tellern zurecht. Robert legte großen Wert auf einen ordentlich gedeckten Tisch. Und schon kurz darauf saßen wir zusammen am Esstisch. Die Frage, ob es ihm schmecke, beantwortete er mit den Worten: »Wie Knüppel aufm Kopp.« Diesen abfälligen Kommentar äußerte er in letzter Zeit zu allem, was nicht von seinem Lieschen zubereitet wurde. Egal, ob es sich dabei um Essen auf Rädern oder um Fertiggerichte namhafter Tiefkühllieferanten handelte, zu unserem Leidwesen bezeichnete er alles durch die Bank, als ungenießbar.

Rosemarie stöhnte hörbar auf. Und ich wollte gerade sagen: »Dir schmeckt die Currywurst doch sonst immer gut«, da schlug sich Robert mit der Faust auf den Brustkorb. Schmerzverzerrt war sein Gesicht. Wir kannten dieses sich auf die Brust schlagen von ihm, doch diesmal lief es alleine schon wegen seiner augenscheinlichen Schmerzen anders ab. Sonst sagte er verschmitzt guckend: »Mein Herz schnattert!« Nun sagte er nichts. Scheinbar war er nicht mehr dazu fähig, etwas zu sagen, denn mehr als ein Röcheln kam nicht aus seinem Mund. Erschrocken sprang ich auf. Dabei riss ich an der Tischdecke. Die Cola-Flasche fiel um, und das Getränk ergoss sich quer über den Tisch.

»Vater!«, schrie Rosemarie. Jetzt sprang auch sie auf. Polternd fiel der Stuhl um.

Sie rüttelte Robert heftig an der Schulter.

Der war inzwischen mit verdrehten Augen seitlich auf der Eckbank weggeknickt.

»Ich ruf den Notarzt!« Schon rannte ich zum Telefon. »Nun geh bloß einer ran!«, rief ich verzweifelt. »Wie lange dauert das denn?«