Schlaflos - Insomnia - Stephen King - E-Book

Schlaflos - Insomnia E-Book

Stephen King

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Beschreibung

Das Grauen kehrt nach Derry zurück …

Ralph schläft immer weniger. Von Tag zu Tag wacht er früher auf. Bei seinen nächtlichen Spaziergängen durch Derry sieht er unheimliche Dinge, die er zunächst für Halluzinationen hält, die ihn aber zunehmend an seinem Verstand zweifeln lassen. Bis er erkennt dass er in Ereignisse von kosmischer Bedeutung verstrickt ist und das Leben aller Einwohner Derrys allein von ihm abhängt …

Ausgezeichnet mit dem "Bram Stoker Award".

»Am Rande der Vorstellungskraft – Romanliteratur in ihrer Vollendung.« The Times

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Seitenzahl: 1253

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Die OriginalausgabeINSOMNIAerschien bei Viking, New York
Copyright © 1994 by Stephen King Copyright © 1994, 2011 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 18, 81673 München. Neubearbeitung: Corinna Wieja und Anja HeppelmannRedaktion: Momo EversUmschlaggestaltung und Konzeption: Hauptmann und Kompanie Werbeagentur, Zürich unter Verwendung einer Illustration von (c) Anja Filler Satz: C. Schaber Datentechnik, Wels ISBN 978-3-641-05393-2V007
www.heyne.de
Inhaltsverzeichnis
 
Widmung
PROLOG
 
ERSTER TEIL – Kleine kahlköpfige Ärzte
Kapitel 1
1
2
3
Kapitel 2
1
2
3
4
5
6
7
Kapitel 3
1
2
3
4
5
6
Kapitel 4
1
2
3
Kapitel 5
1
2
3
4
5
6
7
Kapitel 6
1
2
3
4
5
6
Kapitel 7
1
2
3
4
5
6
7
8
Kapitel 8
1
2
3
4
5
6
Kapitel 9
1
2
Kapitel 10
1
2
3
4
 
ZWEITER TEIL – Die geheime Stadt
Kapitel 11
1
2
3
4
5
Kapitel 12
1
2
3
4
5
Kapitel 13
1
2
3
4
5
6
Kapitel 14
1
2
3
4
5
6
7
Kapitel 15
1
2
3
4
5
Kapitel 16
1
2
3
4
5
Kapitel 17
1
2
3
4
5
Kapitel 18
1
2
3
Kapitel 19
1
2
3
4
5
6
 
DRITTER TEIL – Der Scharlachrote König
Kapitel 20
1
2
3
4
5
6
Kapitel 21
1
2
3
4
5
6
Kapitel 22
1
2
3
4
5
Kapitel 23
1
2
3
4
Kapitel 24
1
2
3
4
5
6
Kapitel 25
1
2
3
4
5
6
7
8
9
Kapitel 26
1
2
Kapitel 27
1
2
3
4
5
6
7
Kapitel 28
1
2
3
4
Kapitel 29
1
2
3
4
5
6
7
Kapitel 30
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
 
EPILOG
Copyright
DAS BUCH
Der Leser wird etliche schlaflose Nächte haben … Ralph Roberts hat sie bereits.
Zuerst fällt es ihm schwer einzuschlafen. Dann wacht er immer früher auf. Früher und früher. Aber das ist noch nicht der Punkt, an dem er anfängt, seltsame Dinge zu sehen: Farben, Formen und ein eigenartiges Schimmern um seine Freunde. Ganz zu schweigen von den kleinen kahlköpfigen Ärzten, die ständig auf der Bildfläche erscheinen, wenn es einen Toten gibt. Der eine schaut besonders böse drein, und er hält ein rostiges Skalpell umklammert. Doch all das geschieht erst später …
Ein Übel von unvorstellbaren Ausmaßen hat sich seinen Weg in die Stadt gebahnt. Ralph hat nur eine Chance, es zu überwältigen. Bei einem ganz besonderen Kartenspiel. Der Einsatz ist hoch. Wie immer, wenn man um Menschenleben spielt. Mit einem Joker im Spiel, einem kahlköpfigen mit einem rostigen Skalpell.
 
Schlaflos – Insomnia
DER AUTOR
Stephen King, 1947 in Portland, Maine, geboren, ist einer der erfolgreichsten amerikanischen Schriftsteller. Bislang haben sich seine Bücher weltweit über 400 Millionen Mal in mehr als 50 Sprachen verkauft. Für sein Werk bekam er zahlreiche Preise, darunter 2003 den Sonderpreis der National Book Foundation für sein Lebenswerk und 2015 mit dem Edgar Allan Poe Award den bedeutendsten kriminalliterarischen Preis für Mr. Mercedes. 2015 ehrte Präsident Barack Obama ihn zudem mit der National Medal of Arts. 2018 erhielt er den PEN America Literary Service Award für sein Wirken, gegen jedwede Art von Unterdrückung aufzubegehren und die hohen Werte der Humanität zu verteidigen. Seine Werke erscheinen im Heyne-Verlag, zuletzt der Spiegel-Bestseller Blutige Nachrichten.
Für Tabby … und für Al Kooper, der das Spielfeld kennt. Nicht meine Schuld.
PROLOG
Die Todesuhr wird aufgezogen (I)
Alter ist eine vom Tod umgebene Insel.
JUAN MONTALVO Über die Schönheit

1

Niemand – am allerwenigsten Dr. Litchfield – sagte Ralph Roberts frei heraus, dass seine Frau sterben würde, aber die Zeit kam, da begriff es Ralph, ohne dass sie es ihm sagen mussten. Die Monate zwischen März und Juni waren eine nervenaufreibende, hektische Zeit in seinem Kopf – eine Zeit von Besprechungen mit Ärzten, von abendlichen Krankenhausbesuchen mit Carolyn, von Reisen zu anderen Krankenhäusern in anderen Staaten, um spezielle Tests durchzuführen (Ralph verbrachte einen Großteil dieser Reisen damit, dass er Gott für Carolyns Blue Cross/ Major Medical-Krankenversicherung dankte), von persönlichen Recherchen in der öffentlichen Bücherei von Derry, wo er zuerst nach Lösungen, die von den Spezialisten vielleicht übersehen worden waren, und später nur noch nach Hoffnung suchte und sich an Strohhalme klammerte.
Diese vier Monate waren, als würde er betrunken durch einen bösen Jahrmarkt geschleppt werden, wo die Leute auf den Karussells wirklich schrien, wo sich die Leute wirklich im Spiegellabyrinth verirrten und die Einwohner der Freak Alley einen mit falschem Lächeln in den Gesichtern und Entsetzen in den Augen ansahen. All das sah Ralph Mitte Mai, und als der Juni kam, war ihm klar geworden, dass die Marktschreier entlang dem medizinischen Mittelgang nur Quacksalbereien zu verkaufen hatten, und die fröhlichen Quickstepptöne der Drehorgel konnten nicht mehr über die Tatsache hinwegtäuschen, dass die Melodie, die aus den Lautsprechern drang, der Trauermarsch war. Es war ein Jahrmarkt, durchaus; der Jahrmarkt der verlorenen Seelen.
Ralph verdrängte diese grässlichen Bilder – und die noch grässlichere Schlussfolgerung, die hinter ihnen lauerte – den ganzen Frühsommer des Jahres 1992 hindurch, aber als der Juni in den Juli überging, wurde das schließlich unmöglich. Die schlimmste Sommerhitzewelle seit 1971 rollte über das mittlere Maine hinweg, und Derry siedete in einem Bad aus Hitzeflimmern, Luftfeuchtigkeit und Tagestemperaturen um die fünfunddreißig Grad vor sich hin. Die Stadt – schon unter günstigsten Bedingungen nicht gerade eine überschäumende Metropole – verfiel in völlige Lethargie, und in dieser drückenden Stille hörte Ralph Roberts zum ersten Mal das Ticken der Todesuhr und begriff, dass beim Übergang des kühlen, tiefen Grüns des Juni in die brütende Hitze des Juli Carolyns geringe Chancen auf null gesunken waren. Sie würde sterben. Wahrscheinlich nicht diesen Sommer – die Ärzte behaupteten, dass sie noch ein paar Asse im Ärmel hätten, und Ralph war überzeugt, dass das stimmte -, aber diesen Herbst oder Winter. Seine langjährige Lebensgefährtin, die einzige Frau, die er jemals geliebt hatte, würde sterben. Er versuchte, den Gedanken zu verdrängen, und schalt sich einen morbiden alten Narren, aber im atemlosen Schweigen der heißen Tage hörte Ralph das Ticken überall – es schien sogar in den Wänden zu sein.
Am lautesten ertönte es aber aus Carolyn selbst, und wenn sie ihm das gelassene, blasse Gesicht zuwandte – vielleicht um ihn zu bitten, das Radio einzuschalten, damit sie zuhören konnte, während sie Bohnen fürs Essen schälte, oder ins Red Apple zu gehen und ihr ein Eis am Stiel zu kaufen, konnte er sehen, dass sie es auch hörte. Er sah es in ihren dunklen Augen, anfangs nur, wenn sie klar war, aber später auch, wenn ihre Augen von den Schmerzmitteln umwölkt waren, die sie bekam. Da war das Ticken schon sehr laut geworden, und wenn Ralph in den heißen Sommernächten, da selbst ein einziges Laken zehn Pfund zu wiegen schien und er glaubte, dass jeder einzelne Hund in Derry den Mond anheulte, neben ihr im Bett lag, da lauschte er ihm, dem Ticken der Todesuhr in Carolyn, und ihm schien, als müsste sein Herz vor Kummer und Angst zerspringen. Wie viel würde sie leiden müssen, bevor das Ende kam? Wie viel würde er leiden müssen? Und wie sollte er nur ohne sie leben können?
Während dieser seltsamen, kummervollen Zeit begann Ralph auch in den heißen Sommernachmittagen und langen dämmerigen Abenden zunehmend längere Spaziergänge zu machen und kam manchmal so erschöpft zurück, dass er nicht einmal mehr essen konnte. Er rechnete damit, dass Carolyn ihn wegen dieser Ausflüge beschimpfen würde, dass sie sagen würde: Warum lässt du das nicht bleiben, du dummer alter Mann? Du wirst dich umbringen, wenn du weiter bei dieser Hitze spazieren gehst! Aber sie sagte nie etwas, und allmählich erst ging ihm auf, dass sie es nicht einmal wusste. Dass er ausging – ja, das wusste sie. Aber nichts von den vielen Meilen, die er zu Fuß ging, und auch nicht, dass er häufig vor Erschöpfung zitterte und einem Hitzschlag nahe war, wenn er nach Hause kam. Früher hatte es für Ralph immer den Anschein gehabt, sie würde alles sehen, selbst wenn er seinen Scheitel einen Zentimeter versetzt trug. Jetzt nicht mehr; der Tumor in ihrem Gehirn hatte ihr die Beobachtungsgabe gestohlen, wie er bald ihr Leben stehlen würde.
Und so ging er spazieren und genoss die Hitze, obwohl ihm manchmal schwindlig dabei wurde und seine Ohren klingelten, er genoss sie, gerade weil sie seine Ohren zum Klingeln brachte; manchmal klingelten sie stundenlang so laut, und seine Kopfschmerzen pochten so heftig, dass er das Ticken von Carolyns Todesuhr nicht mehr hören konnte.
Er wanderte in diesem heißen Juli fast durch ganz Derry, ein alter Mann mit schmalen Schultern und schütterem weißen Haar und großen Händen, die immer noch aussahen, als wären sie zu harter Arbeit fähig. Er ging von der Witcham Street bis zu den Barrens, von der Kansas Street bis zur Neibolt Street, von der Main Street bis zur Kissing Bridge, aber am häufigsten trugen ihn seine Füße von der westlichen Harris Avenue, wo die immer noch wunderschöne und heiß geliebte Carolyn Roberts ihr letztes Jahr in einem Nebel von Kopfschmerzen und Morphium verbrachte, entlang zur Harris Avenue Extension und dem Derry County Airport. Er ging die Extension entlang – die baumlos und damit der unbarmherzigen Sonne völlig ausgeliefert war -, bis er spürte, wie seine Knie weich wurden, dann erst kehrte er um.
Er verweilte oft an einem schattigen Picknickplatz in der Nähe des Flughafeneingangs, um wieder zu Puste zu kommen. Nachts war dies ein Teenagertreffpunkt für Liebesspiele und zum Trinken, wo Rap aus Ghettoblastern dröhnte, aber tagsüber gehörte der Platz fast ausschließlich einer Gruppe von Ralphs Freunden, die Bill McGovern immer die »Harris Avenue Altsemester« nannte. Die Altsemester trafen sich, um Schach oder Gin-Rommé zu spielen oder einfach nur, um zu schwatzen. Ralph kannte viele seit Jahren (mit Stan Eberly war er sogar in die Grundschule gegangen) und fühlte sich wohl bei ihnen … solange sie nicht zu neugierig wurden. Die meisten wurden es nicht. Sie waren zum überwiegenden Teil Yankees von altem Schrot und Korn, die in dem Glauben aufgezogen worden waren: Worüber ein Mann nicht sprechen will, das geht nur ihn etwas an.
Bei einem dieser Spaziergänge fiel ihm zum ersten Mal auf, dass mit Ed Deepneau, einem Nachbarn aus seiner Straße, etwas nicht stimmte.

2

Ralph war an diesem Tag viel weiter die Harris Avenue Extension entlanggegangen, was möglicherweise daran lag, dass Gewitterwolken die Sonne verdeckten und eine kühle, wenn auch sporadische Brise zu wehen angefangen hatte. Er war in eine Art Trance gefallen, hatte an nichts gedacht, nichts gesehen außer den staubigen Spitzen seiner Turnschuhe, als die United-Airlines-Maschine 16.45 von Boston dicht über ihm dahinflog und ihn mit dem vibrierenden, markerschütternden Heulen ihrer Düsenturbinen in die Wirklichkeit zurückholte.
Er sah der Maschine nach, wie sie über die alten Eisenbahnschienen von GS & WM und den Sturmzaun flog, der die Grenze des Flughafengeländes umgab, sah sie der Landebahn entgegensinken, sah die blauen Rauchwölkchen, als die Reifen aufsetzten. Dann schaute er auf die Uhr, stellte fest, wie spät es geworden war, und betrachtete mit großen Augen das orangefarbene Dach des Howard Johnson’s an der Straße. Er war tatsächlich in einer Trance gewesen; er hatte fünf Meilen zurückgelegt und nicht das geringste Gefühl dafür gehabt, wie die Zeit verging.
Carolyns Zeit, flüsterte eine Stimme tief in seinem Kopf.
Ja, ja; Carolyns Zeit. Sie war im Apartment und zählte wahrscheinlich die Minuten, bis sie wieder eine Darvon Complex nehmen konnte, und er befand sich auf der anderen Seite des Flughafens … fast auf halbem Weg nach Newport.
Ralph sah zum Himmel hinauf und nahm zum ersten Mal wirklich die blutergusspurpurnen Gewitterwolken wahr, die sich über dem Flughafen auftürmten. Sie brachten keinen Regen, nicht unbedingt, noch nicht, aber falls es regnete, würde er mit ziemlicher Sicherheit davon überrascht werden; es gab nirgendwo einen Unterschlupf zwischen hier und dem kleinen Picknickplatz an der Startbahn 3, und selbst dort stand nur ein schäbiger kleiner Aussichtspavillon, der immer schwach nach Bier roch.
Er warf dem orangefarbenen Dach einen letzten Blick zu, bevor er die Hand in die rechte Hosentasche streckte und nach dem kleinen Bündel Banknoten mit dem silbernen Geldclip fühlte, den Carolyn ihm zum fünfundsechzigsten geschenkt hatte. Nichts würde ihn daran hindern, zu dem HOJO zu gehen und ein Taxi zu rufen … abgesehen vielleicht der Gedanke an die Blicke, mit denen der Fahrer ihn betrachten würde. Dummer alter Mann, würden die Augen im Rückspiegel sagen. Dummer alter Mann, bist an so’nem heißen Tag viel weiter gelaufen, als du solltest. Wärst du geschwommen, wärst du ersoffen.
Paranoid, Ralph, sagte ihm die Stimme in seinem Kopf, und jetzt erinnerte ihn ihr glucksender, leicht gönnerhafter Ton an Bill McGovern.
Nun, vielleicht war es das, vielleicht auch nicht. So oder so, er beschloss, das Risiko mit dem Regen einzugehen und zu Fuß nach Hause zu laufen.
Und wenn es nicht nur regnet? Letzten Sommer hat es so sehr gehagelt, dass im August einmal sämtliche Fenster an der Westseite zertrümmert wurden.
»Dann soll es hageln«, sagte er. »So leicht bekomme ich keine blauen Flecken.«
Ralph ging auf dem Seitenstreifen der Extension langsam in Richtung Stadt zurück, wobei seine alten Schaftturnschuhe kleine, ausgetrocknete Wölkchen im Staub aufwirbelten. Er konnte das erste Donnergrollen im Westen hören, wo sich die Wolken zusammengezogen hatten. Die Sonne war zwar verdeckt, weigerte sich aber, kampflos aufzugeben; sie umrahmte die Gewitterwolken mit gleißenden goldenen Streifen und schien durch vereinzelte Risse zwischen den Wolken wie der gebrochene Lichtstrahl eines riesigen Filmprojektors. Ralph freute sich über seinen Entschluss zu laufen, obwohl er Schmerzen in den Beinen und ein konstantes, bohrendes Stechen unten im Rücken spürte.
Wenigstens eines hat es für sich, dachte er. Heute Nacht werde ich schlafen. Heute Nacht werde ich schlafen wie ein verdammter Stein.
Die Randzone des Flughafens – hektarweise trockenes braunes Gras, in das die rostigen Eisenbahnschienen eingesunken waren wie die Überreste eines alten Wracks – lag jetzt links von ihm. In weiter Ferne, jenseits des Sturmzauns, konnte er die United 747 erkennen, nun gerade noch so groß wie ein Kinderspielzeug, die auf das kleine gemeinsame Terminal von United und Delta zurollte.
Ralphs Blick fiel auf ein anderes Fahrzeug, diesmal ein Auto, welches den General Aviation Terminal verließ, der an diesem Ende des Flughafens stand. Es fuhr über den Asphalt auf den kleinen Lieferanteneingang zu, der zur Harris Avenue Extension führte. Ralph hatte in letzter Zeit eine Menge Fahrzeuge diesen Eingang passieren gesehen; er lag nur rund siebzig Schritte von dem Picknickplatz entfernt, wo sich die Harris Avenue Altsemester trafen. Als sich das Auto dem Tor näherte, erkannte Ralph, dass es der alte rostige Datsun von Ed und Helen Deepneau war … und der hatte einen Affenzahn drauf.
Ralph blieb auf dem Seitenstreifen stehen und merkte nicht, dass er die Hände ängstlich zu Fäusten geballt hatte, als das kleine braune Auto ohne zu bremsen auf das geschlossene Tor zuraste. Um das Tor von außen zu öffnen, brauchte man eine Magnetkarte; im Inneren wurde es von einer Lichtschranke erledigt. Aber die Lichtschranke befand sich dicht am Tor, sehr dicht, und bei der Geschwindigkeit, die der Datsun drauf hatte …
Im letzten Augenblick (so schien es Ralph jedenfalls) kam das kleine braune Auto knirschend zum Stillstand, kleine blaue Rauchwolken stoben von den Reifen auf, bei denen Ralph an die Landung der 747 denken musste, dann rollte das Tor langsam in seiner Schiene beiseite. Ralphs Fäuste entspannten sich.
Ein Arm wurde auf der Fahrerseite des Datsuns herausgestreckt, winkte auf und ab und drängte das Tor offenbar, sich gefälligst zu beeilen. Das hatte etwas so Absurdes, dass Ralph lächeln musste. Aber das Lächeln verschwand, bevor auch nur eine Spur der Zähne zu sehen war. Es wehte immer noch ein frischer Wind von Westen, wo die Gewitterwolken sich auftürmten, und der trug die kreischende Stimme des Fahrers im Datsun mit sich:
»Du verschissenes Miststück! Du Aas! Lutsch mir den Schwanz! Beeil dich! Beeil dich und friss Scheiße, du beschissener stinkender Fotzenlecker! Scheißding! Rattenschwänzige Dreckschleuder! Arschloch!«
»Das kann nicht Ed Deepneau sein«, murmelte Ralph. Er setzte sich ohne es zu merken wieder in Bewegung. »Das kann er nicht sein.«
Ed war Chemiker in den Hawking Forschungslabors in Fresh Harbor, einer der freundlichsten, höflichsten jungen Männer, die Ralph jemals kennengelernt hatte. Er und Carolyn mochten beide auch Eds Frau Helen und deren neugeborenes Baby Natalie sehr. Ein Besuch von Natalie gehörte zu den wenigen Dingen, die noch imstande waren, Carolyn ihre Lage vergessen zu lassen, und da Helen das spürte, kam sie häufig mit ihr vorbei. Ed beschwerte sich nie. Ralph wusste, es gab Männer, die es nicht gern gesehen hätten, wenn die Missus jedes Mal, wenn das Baby etwas Neues und Entzückendes machte, zu den alten Leuten in der Straße lief, besonders wenn die Großmama-Figur in dem Bild krank war. Ralph vermutete, dass Ed niemanden zum Teufel wünschen könnte, ohne deshalb eine schlaflose Nacht zu haben, aber …
»Du dreckiges Hurenstück! Beweg deinen verschissenen Arsch, hast du gehört? Arschficker! Fotzenhammer!«
Aber er hörte sich auf jeden Fall wie Ed an. Selbst aus zwei- bis dreihundert Schritten Entfernung hörte er sich so an.
Jetzt ließ der Fahrer des Datsuns den Motor aufheulen wie ein Halbstarker in einem hochgetunten Muscle-Car, der an der Ampel auf das grüne Licht wartet. Abgaswolken knallten wie Fürze aus dem Auspuff. Kaum war das Tor so weit aufgegangen, dass der Datsun passieren konnte, schnellte dieser nach vorn, schoss mit röhrendem Motor durch die Öffnung, und dabei konnte Ralph den Fahrer deutlich sehen. Er war jetzt so nahe, dass kein Zweifel mehr bestehen konnte; es handelte sich tatsächlich um Ed.
Der Datsun holperte die kurze, ungeteerte Strecke zwischen dem Tor und der Harris Street Extension entlang. Plötzlich ertönte eine Hupe, und Ralph sah einen blauen Ford Ranger, der auf der Extension nach Westen fuhr und seitlich ausscheren musste, um dem heranbrausenden Datsun auszuweichen. Der Fahrer des Pick-ups sah die Gefahr zu spät, und Ed sah sie offenbar überhaupt nicht (erst später überlegte sich Ralph, dass Ed den Ranger möglicherweise absichtlich gerammt haben könnte). Die Reifen quietschten kurz auf, dann folgte der hohle Knall, den die Stoßstange des Datsun verursachte, als sie die Seite des Ford rammte. Der Pick-up wurde halb über die gelbe Linie geschoben. Die Haube des Datsuns wurde zusammengedrückt, dann sprang sie auf und schnellte ein wenig hoch; Scheinwerferglas rieselte auf die Straße. Einen Augenblick später standen beide Fahrzeuge reglos mitten auf der Straße, ineinander verkeilt wie eine seltsame Skulptur.
Ralph blieb vorerst stehen, wo er war, und sah zu, wie sich ein Ölfleck unter dem vorderen Ende des Datsuns bildete. Er hatte einige Verkehrsunfälle in seinen fast siebzig Jahren gesehen – meistens Blechschäden, einer oder zwei ernst -, und es verblüffte ihn immer wieder, wie schnell sie passierten und wie wenig dramatisch sie abliefen. Es war nicht wie in einem Film, wo die Kamera alles in Zeitlupe zeigen konnte, und nicht wie eine Videokassette, wo man sich immer wieder ansehen konnte, wie das Auto über die Klippe stürzte, wenn man wollte; normalerweise sah man nur eine Reihe aufeinander zurasender Schlieren, gefolgt von der raschen und tonlosen Abfolge von Geräuschen: quietschende Reifen, der hohle Knall von Metall, das auf Metall prallt, das Klirren von Glas. Dann, voilà – tout fini.
Es gab sogar eine Art Verhaltensmaßregel für so eine Situation: wie Sie sich bei Zusammenstößen mit geringer Geschwindigkeit verhalten sollten. Selbstverständlich gab es so was, überlegte Ralph. Wahrscheinlich fanden jeden Tag ein Dutzend kleinerer Zusammenstöße in Derry statt, im Winter wahrscheinlich doppelt so viel, wenn es schneite und die Straßen glatt wurden. Man stieg aus, man traf sein Gegenüber an der Stelle, wo die beiden Fahrzeuge zusammengeprallt waren (und wo sie in den meisten Fällen noch ineinander verhakt waren), man sah sich den Schaden an, man schüttelte den Kopf. Manchmal – tatsächlich sogar ziemlich häufig – wurde diese Phase der Begegnung von wütenden Worten begleitet: Schuldzuweisungen wurden ausgesprochen (häufig unbedacht), Fahrkünste in Zweifel gezogen, rechtliche Schritte angedroht. Ralph vermutete, was die Fahrer wirklich sagen wollten, ohne es unumwunden auszusprechen, war: Hör zu, du Idiot, du hast mir einen Mordsschrecken eingejagt!
Der letzte Schritt dieses unglücklichen kleinen Tanzes war der Austausch der geheiligten Versicherungskarten, und an diesem Punkt bekamen die Fahrer normalerweise ihre mit ihnen durchgehenden Gefühle wieder unter Kontrolle … immer vorausgesetzt, dass niemand verletzt worden war, was hier der Fall zu sein schien. Manchmal schüttelten die betroffenen Fahrer sich zum Abschied sogar die Hände.
Ralph bereitete sich darauf vor, das alles von seinem keine hundertfünfzig Schritte entfernten Beobachtungsposten mit anzusehen, aber sobald die Fahrertür des Datsuns aufging, wurde ihm klar, dass es hier anders laufen würde – dass der Unfall womöglich noch nicht vorbei war, sondern immer noch andauerte. Auf jeden Fall sah es nicht danach aus, als würde man sich am Ende dieser Festivitäten die Hände schütteln.
Die Tür schwang nicht auf, sie flog auf. Ed Deepneau sprang heraus, um dann einfach stocksteif neben seinem Auto stehen zu bleiben. Seine schmalen Schultern strafften sich vor dem Hintergrund der dunkler werdenden Wolken. Er trug verblichene Jeans und ein T-Shirt, worauf Ralph feststellte, dass er Ed bis zum heutigen Tag nie in einem Hemd ohne Knopfleiste vorn gesehen hatte. Außerdem lag ihm etwas um den Hals: ein langes weißes Etwas. Ein Schal? Es sah wie ein Schal aus, aber warum sollte jemand an einem so heißen Tag einen Schal tragen?
Ed stand einen Moment neben seinem angeschlagenen Auto und schien in jede Richtung zu sehen, nur nicht in die richtige. Die ruckartigen kleinen Bewegungen seines schmalen Kopfs erinnerten Ralph an Hähne, die ihre Höfe absuchten und nach Eindringlingen und Störenfrieden Ausschau hielten. Etwas an dieser Ähnlichkeit erfüllte Ralph mit Unbehagen. Er hatte Ed noch nie so gesehen, und er schätzte, das Unbehagen hing damit zusammen, aber nicht nur. Die Wahrheit war schlicht und einfach: Er hatte überhaupt noch nie jemand auf diese Art schauen gesehen.
Der Donner grollte jetzt lauter im Westen. Und näher.
Aus dem Mann, der aus dem Ranger ausstieg, hätte man zwei Ed Deepneaus machen können, möglicherweise drei. Sein gewaltiger, feister Bauch hing über den umgerollten Bund der grünen Chinoarbeitshose; und er hatte Schweißflecken so groß wie Essteller unter den Achseln seines weißen Hemds mit dem offenen Kragen. Er drückte den Schirm seiner West Side Gardeners Truckerkappe hoch, um sich den Mann genauer anzusehen, der ihn volle Breitseite erwischt hatte. Sein hängebackiges Gesicht war totenbleich, abgesehen von ein paar knallroten Flecken oben über den Wangenknochen, die wie Rouge wirkten, und Ralph dachte: Das ist ein Spitzenkandidat für einen Herzanfall. Wenn ich näher dran wäre, könnte ich todsicher die Falten in seinen Ohrläppchen sehen.
»He!«, schrie der schwergewichtige Kerl Ed an. Die Stimme, die aus der breiten Brust und dem gewaltigen Bauch kam, klang grotesk dünn, fast schrill. »Wo hast du denn deinen Führerschein her? Vom Versandhaus Sears and Roebuck, verdammt?«
Eds kreisender, nickender Kopf zuckte sofort in die Richtung, aus der die Stimme des großen Mannes kam – schien fast darauf einzuschwenken wie ein vom Radar geleiteter Düsenjäger -, und nun konnte Ralph zum ersten Mal richtig in Eds Augen sehen. Der Schreck durchzuckte seine Brust wie ein Blitz und plötzlich rannte er zur Unfallstelle. Derweil ging Ed auf den Mann im schweißnassen weißen Hemd und der Truckerkappe zu. Er stolzierte mit steifen Beinen und gereckten Schultern, ganz anders als sein gewohntes, lässiges Schlendern.
»Ed!«, rief Ralph, aber die frische Brise – inzwischen kalt und regenschwanger – schien die Worte mit sich zu reißen, bevor sie richtig aus seinem Mund gekommen waren. Ed drehte sich auf jeden Fall nicht um. Ralph zwang sich, schneller zu laufen, und vergaß seine schmerzenden Beine und das Pochen unten im Rücken. Er hatte Mordlust in Eds aufgerissenen, starren Augen gesehen. Er besaß überhaupt keine einschlägigen Erfahrungen, mit denen er sein Urteil hätte begründen können, aber er glaubte nicht, dass man einen derart unverhohlenen Blick missverstehen konnte; es war der Blick, den Kampfhähne wohl hatten, wenn sie mit aufgerichteten, messerscharfen Sporen aufeinander losgingen. »Ed! He, Ed, warte! Ich bin es, Ralph!«
Nicht einmal ein Blick zurück, obwohl Ralph jetzt so nahe war, dass Ed ihn gehört haben musste, Wind hin oder her. Der schwergewichtige Mann drehte sich auf jeden Fall um, Ralph konnte Angst und Unsicherheit in seinen Augen sehen. Dann wandte sich der Schwergewichtige wieder an Ed und hob beschwichtigend die Hände.
»Hören Sie«, sagte er. »Wir können miteinander reden…«
Weiter kam er nicht. Ed machte noch einen raschen Schritt vorwärts, hob eine schlanke Hand – die sich im schnell dunkler werdenden Tag übertrieben weiß ausnahm – und schlug dem Schwergewichtigen damit über die mehr als beträchtlichen Hängebacken. Das Geräusch hörte sich wie der Knall aus dem Luftdruckgewehr eines Kindes an.
»Wie viele hast du umgebracht?«, fragte Ed.
Der Schwergewichtige drückte den Rücken an die Seite des Pick-ups; sein Mund stand offen, seine Augen waren geweitet. Ed hielt in seinem merkwürdig steifen, stolzierenden Gang keinen Moment inne. Er lief zu dem anderen Mann, stand Bauch an Bauch mit ihm und schien überhaupt nicht zu bemerken, dass der Fahrer des Pick-ups einen halben Kopf größer und mindestens hundert Pfund, wenn nicht mehr, schwerer war. Ed hob die Hand und schlug ihn erneut. »Komm schon! Spuck’s aus, tapferer Junge – wie viele hast du umgebracht?« Seine Stimme schwoll zu einem Kreischen an, das im ersten Ehrfurcht gebietenden Donnerschlag des Gewitters unterging.
Der Schwergewichtige stieß ihn weg – eine Geste, die nicht Aggression, sondern einfach Angst ausdrückte -, und Ed taumelte rückwärts gegen die eingedrückte Schnauze seines Datsun. Er schnellte sofort wieder mit geballten Fäusten nach vorn und nahm offensichtlich all seine Kräfte zusammen, um sich auf den Schwergewichtigen zu stürzen, der mittlerweile mit schief sitzender Schildkappe und an den Seiten und am Rücken heraushängendem Hemd an seinen Pritschenwagen gelehnt stand. Eine Erinnerung schoss Ralph durch den Kopf – ein Kurzfilm mit den drei Stooges, den er vor Jahren gesehen hatte; Larry, Curly und Moe spielten ahnungslose Anstreicher -, und unvermittelt wallte Sympathie für den Schwergewichtigen in ihm auf, der absurd und zu Tode geängstigt zugleich aussah.
Ed Deepneau sah alles andere als absurd aus. Mit den gefletschten Zähnen und dem starren Blick erinnerte Ed mehr denn je an einen Kampfhahn. »Ich weiß, was du getan hast«, flüsterte er dem Schwergewichtigen zu. »Was hast du gedacht, ist das für eine Komödie? Hast du geglaubt, du und deine Schlächterfreunde würden für immer damit durchkom…«
In diesem Augenblick traf Ralph dort ein, schnaufend und keuchend wie ein alter Karrengaul, und legte Ed einen Arm um die Schultern. Die Hitze unter dem dünnen T-Shirt war beängstigend; es war, als würde man den Arm um einen Heizofen legen, und als Ed sich umdrehte und ihn ansah, hatte Ralph den vorübergehenden (aber unvergesslichen) Eindruck, dass er auch direkt in einen Heizofen blickte. Er hatte noch nie eine derart allumfassende, vernunftlose Wut in zwei menschlichen Augen gesehen; hätte nie vermutet, dass so eine Wut überhaupt existieren könnte.
Ralph verspürte spontan den Impuls zurückzuweichen, aber er unterdrückte ihn und blieb felsenfest stehen. Er hatte den Eindruck, wenn er zurückwich, würde sich Ed wie ein bösartiger Hund auf ihn stürzen und beißen und kratzen. Das war selbstverständlich absurd; Ed war Chemiker, Ed war Mitglied des Book of the Month Club (von der Sorte, die stets die zwanzig Pfund schwere Geschichte des Krimkriegs kauften, die sie scheinbar immer als Alternative zum Hauptvorschlagsband anboten), Ed war Helens Mann und Natalies Dad. Verdammt, Ed war ein Freund.
… aber dies hier war nicht Ed, und das wusste Ralph.
Statt zurückzuweichen, beugte sich Ralph nach vorn, packte Ed an den Schultern (so heiß unter dem T-Shirt, so unvorstellbar, pulsierend heiß) und drehte sein Gesicht so, dass es den Schwergewichtigen vor Eds unheimlich starrem Blick verbarg.
»Ed, lass das!«, sagte Ralph. Er sprach mit der lauten, aber gelassenen und festen Stimme, die man seiner Vermutung nach bei Leuten mit hysterischen Anfällen benutzte. »Alles in Ordnung! Hör auf!«
Einen Augenblick veränderten sich Eds starre Augen nicht, aber dann wanderte sein Blick über Ralphs Gesicht. Das war nicht viel, aber Ralph verspürte dennoch einen Hauch der Erleichterung.
»Was ist denn mit dem los?«, fragte der Schwergewichtige hinter Ralph. »Ist er verrückt, was meinen Sie?«
»Mit ihm ist alles bestens, da bin ich mir ganz sicher«, sagte Ralph, obwohl er sich ganz und gar nicht sicher war. Er sagte es aus dem Mundwinkel heraus und ließ Ed dabei nicht aus den Augen. Er wagte nicht, ihn aus den Augen zu lassen – ihm schien, dass der Blickkontakt der einzige Einfluss war, den er auf den Mann hatte, und selbst der war mehr als dürftig. »Nur durcheinander wegen des Unfalls. Er braucht ein paar Sekunden, bis er sich beruhigt hat …«
»Frag ihn, was er da unter der Plane hat!«, schrie Ed plötzlich und deutete über Ralphs Schulter. Blitze zuckten, und einen Augenblick zeichneten sich die tiefen Narben von Eds Pubertätsakne als deutliches Relief ab wie eine seltsame organische Schatzkarte. Donner grollte. »Hey, hey, Susan Day!«, sang er mit einer hohen kindlichen Stimme, bei der Ralph Gänsehaut auf den Unterarmen bekam. »How many kids did you kill today?«
»Der ist nicht durcheinander«, sagte der Schwergewichtige. »Er ist verrückt. Und wenn die Polizei hier ist, werde ich dafür sorgen, dass er eingesperrt wird.«
Ralph sah sich um, sein Blick fiel auf die blaue Segeltuchplane, die über die Ladefläche des Pick-ups gespannt war. Sie war mit hellgelben Schnüren festgebunden. Runde Formen zeichneten sich darunter ab.
»Ralph?«, fragte eine zaghafte Stimme.
Er sah nach links und erblickte Dorrance Marstellar – mit über neunzig locker der älteste der Harris Avenue Altsemester -, der unmittelbar hinter dem Pick-up des Schwergewichtigen stand. In seinen wächsernen, leberfleckigen Händen hielt Dorrance ein Taschenbuch, das er nervös knetete und dem Buchrücken so eine Spezialmassage verpasste. Ralph vermutete, dass es sich um einen Gedichtband handelte, denn etwas anderes hatte er den alten Dorrance nie lesen sehen. Vielleicht las er auch gar nicht; vielleicht hielt er die Bücher nur gern in Händen und betrachtete die kunstvoll aneinandergereihten Worte.
»Ralph, was ist denn los? Was geht hier vor?«
Über ihnen flammten weitere Blitze auf, ein purpur-weißes Fauchen von Elektrizität. Dorrance sah auf, als wüsste er nicht genau, wo er war, wer er war oder was er sah. Ralph stöhnte innerlich.
»Dorrance …«, begann er, aber dann duckte sich Ed unter ihm durch wie ein wildes Tier, das nur stillgehalten hat, um wieder zu Kräften zu kommen. Ralph taumelte, dann stieß er Ed gegen die eingedrückte Haube seines Datsun zurück. Er verspürte Panik – wusste nicht, was er als Nächstes tun sollte oder wie er es tun sollte. Zu viel spielte sich gleichzeitig ab. Er konnte spüren, wie die Muskeln in Eds Armen unter seinem Griff heftig vibrierten; es war fast, als hätte der Mann einen der Blitze verschluckt, die gerade über den Himmel zuckten.
»Ralph?«, fragte Dorrance mit derselben ruhigen, aber besorgten Stimme. »Ich an deiner Stelle würde ihn nicht mehr anfassen. Ich kann deine Hände nicht sehen.«
Na großartig. Noch ein Irrer, um den er sich kümmern musste. Das hatte ihm gerade noch gefehlt.
Ralph betrachtete seine Hände, dann den alten Mann. »Wovon redest du, Dorrance?«
»Deine Hände«, sagte Dorrance geduldig. »Ich kann deine Hände nicht …«
»Das hier ist kein Ort für dich, Dor – warum haust du nicht ab?«
Daraufhin erhellte sich die Miene des alten Mannes etwas. »Ja!«, sagte er im Tonfall von jemand, der gerade eine große Erleuchtung gehabt hat. »Genau das sollte ich tun!« Er machte sich auf den Rückweg, und als es das nächste Mal donnerte, zuckte er zusammen und hielt sich das Buch über den Kopf. Ralph konnte die hellroten Buchstaben des Titels sehen: Buckdancer’s Choice. »Das solltest du auch tun, Ralph. Du solltest dich nicht in langfristige Angelegenheiten einmischen. Dabei kann man sich immer verletzen.«
»Was willst du …«
Aber bevor Ralph zu Ende sprechen konnte, drehte ihm Dorrance den Rücken zu und schlurfte in Richtung des Picknickplatzes davon, während sein weißer Haarkranz – spinnfadendünn wie das Haar auf dem Kopf eines neugeborenen Babys – von der Brise des aufziehenden Sturms zerzaust wurde.
Ein Problem gelöst, aber Ralphs Erleichterung war nur von kurzer Dauer. Ed hatte sich vorübergehend von Dorrance ablenken lassen, aber jetzt sah er den Schwergewichtigen wieder an, als wollte er ihn mit seinem Blick erdolchen. »Fotzenlecker!«, spie er aus. »Du hast deine Mutter gefickt und ihre Fotze geleckt!«
Der Schwergewichtige runzelte die enorme Stirn. »Was?«
Ed sah wieder zu Ralph, den er jetzt zu erkennen schien. »Frag ihn, was unter der Plane ist!«, schrie er. »Oder noch besser, lass es dir von dem mörderischen Schwanzlutscher zeigen!«
Ralph sah den schwergewichtigen Mann an. »Was haben Sie da drunter?«
»Was interessiert Sie das?«, fragte der Schwergewichtige. Wahrscheinlich versuchte er, aufsässig zu klingen. Er sah den Blick in Ed Deepneaus Augen und wich weitere zwei Schritte zur Seite aus.
»Mich nicht, ihn schon«, sagte Ralph und nickte mit dem Kinn in Eds Richtung. »Helfen Sie mir einfach, ihn zu beruhigen, okay?«
»Sie kennen ihn?«
»Mörder!«, wiederholte Ed, und diesmal schnellte er so ruckartig unter Ralphs Händen durch, dass dieser einen Schritt zurückwich. Aber es tat sich was, oder nicht? Ralph fand, dass der Furcht einflößende, leere Blick aus Eds Augen allmählich verschwand. Es schien ein bisschen mehr Ed in ihnen zu sein als vorher … vielleicht war das aber auch nur Wunschdenken. »Mörder, Babymörder!«
»Herrgott, was für ein Irrenzirkus«, sagte der Schwergewichtige, aber er ging zum hinteren Ende der Ladefläche, zog eine der Schnüre heraus und klappte eine Ecke der Plane zurück. Darunter lagen vier Pressspanfässer mit der Aufschrift des Unkraut-Ex WEED-GO. »Organischer Dünger«, sagte der Schwergewichtige und sah von Ed zu Ralph und wieder zu Ed. Er berührte den Schirm seiner West-Side-Gardeners-Mütze. »Ich habe den ganzen Tag an neuen Blumenbeeten vor der Derry Psych gearbeitet … wo Sie auch mal einen Urlaub vertragen könnten, mein Freund.«
»Dünger?«, fragte Ed. Er schien zu sich selbst zu sprechen. Er griff sich mit der linken Hand langsam an die Schläfe und fing an zu reiben. »Dünger?« Er hörte sich wie ein Mann an, der eine simple, aber bahnbrechende wissenschaftliche Entdeckung infrage stellt.
»Dünger«, stimmte der Schwergewichtige zu. Er sah Ralph wieder an und sagte: »Der Typ ist krank im Kopf. Wissen Sie das?«
»Er ist verwirrt, das ist alles«, antwortete Ralph unbehaglich. Er lehnte sich über die Seite des Lasters und klopfte auf ein Fass. Dann drehte er sich zu Ed um. »Fässer mit Dünger«, sagte er. »Okay?«
Keine Antwort. Ed hob die rechte Hand und rieb sich die andere Schläfe. Er sah aus wie ein Mann, der eine schreckliche Migräne bekommt.
»Okay?«, wiederholte Ralph sanft.
Ed schloss einen Moment die Augen, und als er sie wieder aufschlug, bemerkte Ralph einen Glanz darin, den er für Tränen hielt. Ed streckte die Zunge heraus und leckte sich zaghaft zuerst den einen Mundwinkel, dann den anderen. Dann nahm er ein Ende seines Seidenschals und wischte sich damit über die Stirn. Dadurch sah Ralph, dass mehrere chinesische Schriftzeichen in Rot darin eingestickt waren, direkt am Saum.
»Ich glaube, womöglich …«, begann er, aber dann verstummte er. Seine Augen wurden wieder groß und nahmen den Ausdruck an, der Ralph nicht gefiel. »Babys!«, krächzte er. »Habt ihr mich verstanden? Babys!«
Ralph schubste ihn zum dritten oder vierten Mal gegen das Auto – er hatte den Überblick verloren. »Wovon redest du, Ed?« Plötzlich kam ihm ein Gedanke. »Ist es wegen Natalie? Machst du dir Sorgen wegen Natalie?«
Ein verhaltenes, listiges Lächeln spielte um Eds Lippen. Er sah an Ralph und dem Schwergewichtigen vorbei. »Dünger, hm? Nun, wenn es weiter nichts ist, macht es Ihnen sicher nichts aus, eins aufzumachen, oder?«
Der Schwergewichtige sah Ralph unbehaglich an. »Der Mann braucht einen Arzt«, sagte er.
»Schon möglich. Aber er hatte sich schon etwas beruhigt, dachte ich … Könnten Sie eines der Fässer öffnen? Dann würde es ihm vielleicht besser gehen.«
»Na klar, warum auch nicht. Wenn schon, denn schon.«
Wieder zuckte ein Blitz, wieder ertönte ein heftiger Donnerschlag – diesmal schien er über den ganzen Himmel zu rollen -, und ein kalter, dicker Regentropfen fiel auf Ralphs verschwitzten Nacken. Er schaute nach links und sah Dorrance Marstellar am Eingang des Picknickplatzes stehen, der sie, Buch in der Hand, alle drei besorgt beobachtete.
»Sieht so aus, als würde es gleich Bindfäden regnen«, sagte der Schwergewichtige, »und ich darf das Zeug nicht nass werden lassen. Das löst eine chemische Reaktion aus. Also sehen Sie schnell rein.« Er tastete einen Moment zwischen der Seitenwand und einem der Fässer, dann brachte er eine Brechstange zum Vorschein. »Ich muss so verrückt sein wie er, dass ich mich darauf einlasse«, sagte er zu Ralph. »Ich meine, schließlich war ich nur auf dem Weg nach Hause und hab mich um meine Angelegenheiten gekümmert. Er hat mich gerammt.«
»Machen Sie’s auf«, sagte Ralph. »Es dauert ja nur einen Augenblick.«
»Klar«, entgegnete der Schwergewichtige verdrossen, drehte sich um und schob die Brechstange unter den Deckel des ersten Fasses, »aber die Erinnerung wird mich ein Leben lang begleiten.«
Ein neuerlicher Donnerschlag ließ den Tag erbeben, daher hörte der Schwergewichtige nicht, was Ed Deepneau als Nächstes sagte. Aber Ralph hatte es gehört, und ihm lief ein eiskalter Schauer über den Rücken.
»Diese Fässer sind voller toter Babys«, sagte Ed. »Wirst schon sehen.«
Der Schwergewichtige ließ den Deckel des ersten Fasses aufschnappen, und die Überzeugung in Eds Stimme war so groß, dass Ralph halb damit rechnete, ein Durcheinander von Armen und Beinen und kahlen kleinen Köpfen zu sehen. Stattdessen sah er eine Mischung aus feinen blauen Kristallen und braunem Zeugs. Der Geruch, der von dem Fass aufstieg, war schwer und torfig, mit einer schwachen chemischen Note.
»Sehen Sie? Zufrieden?«, fragte der Schwergewichtige und wandte sich direkt an Ed. »Also bin ich doch nicht Ray Joubert oder dieser Dahmer. Was sagt man dazu!«
Eds Gesicht hatte wieder den verwirrten Ausdruck angenommen, und als wieder ein Donnerschlag ertönte, zuckte er leicht zusammen. Er beugte sich nach vorn, streckte eine Hand nach dem Fass aus und sah den Schwergewichtigen dann fragend an.
Der große Mann nickte ihm fast mitfühlend zu, fand Ralph. »Klar, fassen Sie es nur an, von mir aus. Aber wenn es regnet, während Sie’s in der Hand halten, tanzen Sie wie John Travolta. Es ätzt.«
Ed streckte die Hand in das Fass, nahm etwas von der Mischung und ließ sie zwischen den Fingern durchrieseln. Er warf Ralph einen verwirrten Blick zu (der auch eine Spur Verlegenheit enthielt, fand Ralph), dann bohrte er den Arm bis zum Ellbogen in das Fass.
»He!«, rief der Schwergewichtige, erschrocken. »Das ist keine Packung Cracker Jack! Kein Karamellpopcorn mit Erdnüssen und Gratisspielzeug!«
Einen Augenblick breitete sich das listige Grinsen wieder in Eds Gesicht aus – ein Ausdruck, der sagte: Ich kenne bessere Tricks als den -, aber dann gewann wieder Verwirrung die Oberhand, da er weiter unten auch nichts anderes als Dünger fand. Als er den Arm aus dem Fass herauszog, war dieser staubig und roch nach der Mischung. Ein weiterer Blitz explodierte über dem Flughafen. Der darauffolgende Donner war beinahe ohrenbetäubend.
»Ich warne Sie, entfernen Sie das von Ihrer Haut, bevor es regnet«, sagte der Schwergewichtige. Er griff zum offenen Beifahrerfenster des Rangers hinein und holte eine McDonalds-Tüte heraus. Darin kramte er und brachte ein paar Papierservietten zum Vorschein, die er Ed reichte, worauf dieser anfing, den Düngerstaub von seinem Unterarm zu reiben wie ein Mann in einem Traum. Derweil setzte der Schwergewichtige den Deckel wieder auf das Fass, hieb ihn mit einer großen, sommersprossigen Faust fest und warf dabei rasche Blicke zum dunklen Himmel. Als Ed die Schulter seines weißen Hemds berührte, erstarrte der Mann, wich zurück und sah Ed argwöhnisch an.
»Ich glaube, ich muss mich bei Ihnen entschuldigen«, sagte Ed, und Ralph fand, dass sich seine Stimme zum ersten Mal völlig klar und normal anhörte.
»Sie sind ja ein Herzblatt«, sagte der Schwergewichtige, aber er hörte sich erleichtert an. Er spannte die Plastikplane wieder und zurrte sie mit einer Reihe rascher, zielstrebiger Griffe fest. Als er ihm zusah, wurde Ralph schlagartig bewusst, was für ein verschlagener Dieb die Zeit doch war. Einst hätte er einen solchen Schotstek-Knoten mit demselben Geschick binden können. Zwar wusste er auch heute noch, wie der Knoten zu binden war, aber er hätte mindestens zwei Minuten und vielleicht drei seiner besten Flüche dafür gebraucht.
Der Schwergewichtige schlug auf die Plane, dann drehte er sich zu ihnen um und verschränkte die Arme vor seinem gewaltigen Brustkorb. »Haben Sie den Unfall gesehen?«, fragte er Ralph.
»Nein«, sagte Ralph sofort. Er hatte keine Ahnung, warum er log, aber die Entscheidung dazu kam ohne Zögern. »Ich habe gerade zugesehen, wie das Flugzeug gelandet ist. Die United.«
Zu seiner völligen Überraschung wurden die roten Flecken auf den Wangen des Schwergewichtigen größer. Du hast auch zugesehen!, dachte Ralph plötzlich. Und du hast nicht nur zugesehen, wie sie gelandet ist, sonst würdest du nicht so erröten … du hast ihr nachgesehen, wie sie zum Terminal gerollt ist!
Diesem Gedanken folgte eine vollkommene Offenbarung: Der Schwergewichtige glaubte, dass der Unfall seine Schuld gewesen war, oder dass der oder die ermittelnden Cops, die kommen würden, um die Sache zu protokollieren, es so interpretieren könnten. Er hatte das Flugzeug beobachtet und Eds tollkühne Fahrt zum Lieferantentor heraus und die Extension entlang gar nicht mitbekommen.
»Hören Sie, es tut mir wirklich leid«, sagte Ed aufrichtig, aber in Wirklichkeit sah er mehr als zerknirscht, er sah betroffen aus. Plötzlich fragte sich Ralph, wie weit er diesem Ausdruck trauen konnte, und ob er wirklich die geringste Ahnung hatte
(Hey, hey, Susan Day)
was hier gerade vorgefallen war … und wer, zum Teufel, war überhaupt Susan Day?
»Ich habe mir den Kopf am Lenkrad gestoßen«, sagte Ed, »und ich schätze, das hat mir die Birne wirklich durchgeschüttelt.«
»Ja, das glaube ich auch«, sagte der Schwergewichtige. Er kratzte sich am Kopf, sah zum dunklen, verhangenen Himmel hinauf und dann wieder zu Ed. »Sollen wir uns einigen, Freund?«
»Ja? Und was wäre das für eine Einigung?«
»Tauschen wir einfach Namen und Telefonnummern aus, statt die ganze Scheiße mit der Versicherung abzuziehen. Dann gehen Sie Ihrer Wege und ich meiner.«
Ed sah Ralph unsicher an, der zuckte die Achseln, und dann wieder den Mann mit der West-Side-Gardeners-Kappe.
»Wenn wir die Cops einschalten«, fuhr der Schwergewichtige fort, »sitze ich in der Scheiße. Wenn sie nachfragen, werden sie als Erstes erfahren, dass ich letzten Winter ein Verfahren wegen Trunkenheit am Steuer hatte und mit einem provisorischen Führerschein fahre. Sie werden mir wahrscheinlich Ärger machen, obwohl ich auf der Hauptstraße war und Vorfahrt hatte. Verstehen Sie, was ich meine?«
»Ja«, sagte Ed, »ich denke schon, aber der Unfall war allein meine Schuld. Ich bin viel zu schnell gefahren …«
»Der Unfall selbst ist wahrscheinlich gar nicht so wichtig«, sagte der Schwergewichtige, ehe er misstrauisch zu einem näher kommenden Lieferwagen sah, der auf dem Seitenstreifen hielt. Er sah Ed wieder an und fuhr hektisch fort. »Sie haben etwas Öl verloren, aber es hat inzwischen aufgehört zu tropfen. Ich wette, Sie könnten damit nach Hause fahren … wenn Sie hier in der Stadt wohnen. Sie wohnen doch hier in der Stadt?«
»Ja«, sagte Ed.
»Und ich würde mich an der Reparatur beteiligen; bis fünfzig Piepen oder so.«
Ralph hatte wieder eine Offenbarung; nur damit ließ sich der plötzliche Sinneswandel des Mannes erklären, der von Aufsässigkeit zu etwas wie Einschmeichelei ging. Ein Verfahren wegen Trunkenheit am Steuer? Ja, wahrscheinlich. Aber Ralph hatte noch nie von einem provisorischen Führerschein gehört und fand, dass das mit ziemlicher Sicherheit Quatsch war. Der alte Mr. West Side Gardeners war ohne Führerschein gefahren. Was die Situation noch komplizierter machte: Ed sagte die Wahrheit – der Unfall war einzig und allein seine Schuld gewesen.
»Wenn wir einfach weiterfahren und es dabei bewenden lassen«, fuhr der Schwergewichtige fort, »müsste ich die Sache mit meinem Verfahren wegen Trunkenheit am Steuer nicht noch mal erklären, und Sie müssen nicht erklären, warum Sie aus Ihrem Auto gesprungen sind, mich geschlagen und etwas von einer Wagenladung toter Babys gefaselt haben.«
»Habe ich das wirklich gesagt?«, fragte Ed bestürzt.
»Das wissen Sie doch ganz genau«, antwortete der Schwergewichtige grimmig.
Eine Stimme mit weichem frankokanadischen Akzent fragte: »Alles in Ordnung hier, Leute? Niemand verletzt? … Eyyy, Ralph! Bist du das?«
Auf dem Lieferwagen, der an den Straßenrand gefahren war, stand der Name der Trockenreinigung DERRY DRY CLEANERS, und Ralph erkannte den Fahrer als einen der Brüder Vachon aus Old Cape. Wahrscheinlich Trigger, der jüngste.
»Ja«, sagte Ralph. Ohne zu wissen, warum, oder sich nach dem Grund zu fragen – er handelte zu diesem Zeitpunkt nur noch nach Bauchgefühl -, ging er zu Trigger, legte ihm einen Arm um die Schultern und führte ihn in Richtung des Wäschereiwagens zurück.
»Die Jungs okay?«
»Bestens, bestens«, sagte Ralph. Er drehte sich um und sah, dass Ed und der Schwergewichtige neben der Ladefläche standen und die Köpfe zusammensteckten. Ein weiterer kalter Regenguss fiel hernieder und trommelte wie ungeduldige Finger auf die blaue Plane. »Blechschaden, mehr nicht. Sie einigen sich gerade.«
»Schön, schön«, sagte Trigger Vachon beruhigt. »Wie geht’s der hübschen kleinen Frau von dir, Ralph?«
Ralph zuckte zusammen und fühlte sich plötzlich wie ein Mann, dem in der Mittagspause einfällt, dass er vergessen hat, den Herd abzuschalten, bevor er zur Arbeit gegangen ist. »Mein Gott!«, sagte er, sah auf die Uhr und hoffte auf 17.15 Uhr, höchstens 17.30. Aber er sah, dass es zehn Minuten vor sechs war. Vor zwanzig Minuten hätte er Carolyn schon wie gewohnt eine Tasse Suppe und ein halbes Sandwich bringen sollen. Sie würde sich Sorgen machen. Bei den Blitzen und dem Donner, der durch das leere Apartment hallte, würde sie wahrscheinlich regelrecht verängstigt sein. Und wenn es tatsächlich regnete, würde sie die Fenster nicht schließen können; sie hatte fast keine Kraft mehr in den Händen.
»Ralph?«, fragte Trigger. »Was ist denn los?«
»Nichts«, sagte er. »Ich bin nur spazieren gegangen und habe jedes Zeitgefühl verloren. Dann ist dieser Unfall passiert, und … könntest du mich nach Hause fahren, Trig? Ich bezahle es dir.«
»Musst mir nix zahlen«, sagte Trigger. »Liegt auf meinem Weg. Hüpf rein, Ralph. Glaubst du, die Jungs kommen zurecht? Gehn nicht aufeinander los oder so?«
»Nein«, sagte Ralph. »Glaube ich nicht. Einen Moment noch.«
»Klar.«
Ralph ging zu Ed. »Alles in Ordnung? Könnt ihr euch einigen?«
»Ja«, antwortete Ed. »Wir werden uns privat einigen. Warum auch nicht? Letztlich läuft es nur auf ein paar Glasscherben hinaus.«
Er hörte sich an, als wäre er wieder ganz der Alte, und der große Mann im weißen Hemd betrachtete ihn fast mit so etwas wie Respekt. Ralph fühlte sich immer noch perplex und unbehaglich angesichts des Vorfalls hier, aber er beschloss, es dabei bewenden zu lassen. Er mochte Ed Deepneau sehr, aber um Ed musste er sich diesen Sommer keine Sorgen machen, sondern um Carolyn. Carolyn und das Ding, das angefangen hatte, spätnachts in den Wänden ihres Schlafzimmers zu ticken – und in ihrem Inneren.
»Prima«, sagte er zu Ed. »Ich muss nach Hause. Ich mache Carolyn neuerdings das Essen, und ich bin viel zu spät dran.«
Er drehte sich um. Der schwergewichtige Mann hielt ihn mit der ausgestreckten Hand auf. »John Tandy«, sagte er.
Er schüttelte die Hand. »Ralph Roberts. Freut mich, Sie kennenzulernen.«
Tandy lächelte. »Unter den Umständen bezweifle ich das irgendwie … aber ich bin echt froh, dass Sie dazugekommen sind. Einen Moment dachte ich wirklich, wir würden Tango tanzen.«
Ich auch, dachte Ralph, sagte es aber nicht. Er sah Ed an und betrachtete mit besorgtem Blick das ungewohnte T-Shirt, das an Eds spindeldürrer Taille klebte, und den weißen Seidenschal mit den roten chinesischen Schriftzeichen darauf. Der Ausdruck in Eds Augen gefiel ihm nicht ganz, als sie einander ansahen; möglicherweise war Ed doch noch nicht ganz der Alte.
»Sicher, dass alles okay ist?«, fragte Ralph ihn. Er wollte gehen, wollte nach Hause zu Carolyn, und doch zögerte er irgendwie. Das Gefühl, dass diese Situation etwa neun Meilen weit entfernt davon war, geklärt zu sein, blieb hartnäckig bestehen.
»Ja, bestens«, sagte Ed hastig und schenkte ihm ein breites Lächeln, das seine dunkelgrünen Augen nicht erreichte. Sie studierten Ralph eindringlich, als wollten sie erkunden, wie viel er gesehen hatte … und an wie viel
(Hey, hey, Susan Day)
er sich später erinnern würde.

3

In Trigger Vachons Lieferwagen roch es nach sauberer, frisch gebügelter Kleidung, ein Geruch, der Ralph aus unerfindlichen Gründen immer an frisch gebackenes Brot erinnerte. Es gab keinen Beifahrersitz, daher blieb er mit einer Hand am Türgriff und der anderen am Rand eines Dandux-Wäschekorbs stehen.
»Mann, das sah vielleicht merkwürdig aus da hinten«, sagte Trigger, während er in den Außenspiegel sah.
»Dabei weißt du nicht mal die Hälfte«, antwortete Ralph.
»Ich kenne den Mann, der den Reiskocher gefahren ist – Deepneau ist sein Name, hat eine hübsche kleine Frau, bringt manchmal Sachen vorbei. Normalerweise scheint er ein netter Kerl zu sein.«
»Heute war er auf jeden Fall nicht er selbst«, sagte Ralph.
»Hatte Hummeln im Arsch, was?«
»Ich glaube eher, das war ein ganzer Ameisenhaufen.«
Darüber musste Trigger laut lachen und schlug auf das abgegriffene Plastik des großen Lenkrads. »Ganzer Ameisenhaufen! Schön! Schön! Das muss ich mir merken!« Trigger wischte sich die tränenden Augen mit einem Taschentuch, das fast so groß wie eine Tischdecke war. »Hat ausgesehn, als wäre Mr. Deepneau aus der Lieferantenzufahrt des Flughafens gekommen.«
»Das stimmt.«
»Man braucht einen Pass dafür«, sagte Trigger. »Was meinst du, wie hat Mr. Deepneau einen Pass bekommen?«
Ralph dachte stirnrunzelnd darüber nach, dann schüttelte er den Kopf. »Ich weiß nicht. Darüber habe ich gar nicht nachgedacht. Ich muss ihn fragen, wenn ich ihn das nächste Mal sehe.«
»Mach das«, sagte Trigger. »Und frag ihn, wie es den Ameisen geht.« Das löste eine erneute Lachsalve aus, die wiederum das Komische-Oper-Taschentuch in Aktion treten ließ.
Als sie von der Extension auf die Harris Avenue abbogen, brach das Unwetter schließlich los. Es fiel kein Hagel, aber der Regen ergoss sich in solch sintflutartigen, anfangs so heftigen Sturzbächen, dass Trigger den Wagen fast bis auf Schritttempo bremsen musste. »Mann!«, sagte er ehrfürchtig. »Das erinnert mich an den großen Sturm von 85, als die halbe Innenstadt in den Kanal gestürzt ist! Erinnerst du dich, Ralph?«
»Ja«, sagte Ralph. »Hoffentlich passiert das Ganze nicht wieder.«
»Nee«, sagte Trigger grinsend und sah an den hektisch rudernden Scheibenwischern vorbei, »sie haben das Abwassersystem inzwischen völlig renoviert. Schön!«
Die Kombination von kaltem Regen und warmem Innenraum ließ die Windschutzscheibe beschlagen. Ohne nachzudenken, streckte Ralph einen Finger aus und malte Zeichen in den Dampf:
»Was ist das?«, fragte Trigger.
»Weiß ich wirklich nicht. Sieht chinesisch aus, nicht? Das war auf dem Schal, den Ed Deepneau getragen hat.«
»Kommt mir irgendwie bekannt vor«, sagte Trigger und sah es wieder an. Dann schnaubte er und fuchtelte mit einer Hand. »Hör mir zu, ja? Das Einzige, was ich auf Chinesisch sagen kann, ist Moo-goo-gai-pan!«
Ralph lächelte, schien aber kein Lachen mehr in sich zu haben. Es war wegen Carolyn. Nachdem sie ihm wieder eingefallen war, musste er immerzu an sie denken – konnte nicht aufhören, daran zu denken, dass die Fenster offen standen und die Vorhänge wie Geisterarme von Edward Gorey wehten, während der Regen ins Zimmer strömte.
»Wohnst du immer noch in dem zweistöckigen Haus gegenüber vom Red Apple?«
»Ja.«
Trigger fuhr an den Bordstein, wo die Reifen des Lieferwagens gewaltige Wasserschleier aufspritzten. Es regnete immer noch in Strömen. Donner grollte, Blitze zuckten über den Himmel.
»Solltest besser noch ein, zwei Minuten hier bei mir bleiben«, sagte Trigger. »Das wird in ein oder zwei Minuten weniger.«
»Schon gut.« Ralph glaubte, dass nichts und niemand ihn noch eine Sekunde länger in dem Kleinbus halten konnte, nicht einmal Handschellen. »Danke, Trig.«
»Moment mal! Ich geb dir’n Stück Plastik – das kannst du über’n Kopf ziehen wie eine Regenhaube!«
»Nein, schon gut, kein Problem, danke, ich will nur …«
Er schien unmöglich beenden zu können, was immer er auch versucht hatte zu sagen, und jetzt verspürte er beinah so etwas wie Panik. Er schob die Beifahrertür des Kleinbusses zurück, sprang hinaus und stand bis zu den Knöcheln im kalten Wasser, das in den Gully strömte. Er winkte Trigger noch einmal zu, ohne sich umzudrehen, dann eilte er den Weg entlang zu dem Haus, in dem er und Carolyn mit Bill McGovern wohnten, und tastete unterwegs schon nach dem Schlüssel in der Tasche. Als er die Stufen zur Veranda erreichte, sah er, dass er ihn nicht brauchen würde – die Tür war nur angelehnt. Bill, der unten wohnte, vergaß oft, sie abzuschließen, und Ralph wiegte sich lieber in dem Glauben, dass er es gewesen war, und nicht Carolyn, die hinausgegangen war, um ihn zu suchen, und vom Sturm überrascht worden war. Das war eine Möglichkeit, an die Ralph nicht einmal denken wollte.
Er eilte ins halbdunkle Foyer, zuckte zusammen, als Donner ohrenbetäubend über ihm dröhnte, und ging zur ersten Treppenstufe. Dort verweilte er einen Moment, die Hand auf dem Pfosten des Geländers, und hörte zu, wie das Regenwasser aus seiner durchnässten Hose und dem Hemd auf den Hartholzboden tropfte. Dann ging er hinauf, aber obwohl er laufen wollte, konnte er einfach nur schnell gehen. Das Herz schlug ihm rasch und heftig in der Brust, seine durchnässten Turnschuhe waren klamme Anker, die an seinen Füßen zogen, und aus einem unerfindlichen Grund sah er vor sich, wie Ed Deepneau den Kopf bewegt hatte, als er aus dem Datsun ausgestiegen war – die steifen, ruckartigen Stöße, die ihn aussehen ließen wie einen Kampfhahn, der Streit sucht.
Die dritte Stufe quietschte laut, wie immer, und dem Geräusch folgten oben hastige Schritte. Sie brachten keine Erleichterung, denn er wusste sofort, dass es nicht Carolyns Schritte waren, und als sich Bill McGovern mit blassem, sorgenvollem Gesicht unter seinem Panamahut über das Geländer beugte, überraschte es Ralph im Grunde genommen nicht. Er hatte den ganzen Weg von der Extension gespürt, dass etwas nicht stimmte, oder? Ja. Aber unter den gegebenen Umständen hatte das kaum etwas mit Hellseherei zu tun. Wenn einmal etwas bis zu einem gewissen Grad auf eine verkehrte Bahn geraten war, hatte er festgestellt, dann gab es keine Möglichkeit mehr, etwas daran zu ändern oder umzukehren, dann lief es einfach immer weiter verkehrt und schief. Er vermutete, dass er das in gewisser Weise schon immer gewusst hatte. Er hätte nur nie vermutet, wie lang diese verkehrte Bahn sein konnte.
»Ralph!«, rief Bill herunter. »Gott sei Dank! Carolyn hat … nun, ich schätze, es ist eine Art Anfall. Ich habe gerade 911 gerufen und sie gebeten, einen Krankenwagen zu schicken.«
Ralph stellte fest, dass er den Rest der Stufen doch hinaufrennen konnte.

4

Sie lag halb in der Küche und halb draußen, und das Haar hing ihr ins Gesicht. Das, fand Ralph, hatte etwas besonders Grässliches; es sah schlampig aus, und wenn Carolyn eines verhasst war, dann Schlampigkeit. Er kniete sich neben sie und strich ihr das Haar aus Augen und Stirn. Die Haut unter seinen Fingern fühlte sich so kalt an wie seine Füße in den durchnässten Turnschuhen.
»Ich wollte sie auf die Couch legen, aber sie ist zu schwer für mich«, sagte Bill nervös. Er hatte seinen Panama abgenommen und fingerte nervös am Hutband herum. »Mein Rücken, du weißt ja …«
»Ich weiß, Bill, ist schon gut«, sagte Ralph. Er schob die Arme unter Carolyn und hob sie hoch. Sie kam ihm überhaupt nicht schwer vor, sondern leicht – fast so leicht wie die Samenkapsel einer Seidenpflanze, die kurz vor dem Öffnen steht, bereit, ihre Fäden dem Wind anzuvertrauen. »Gott sei Dank, dass du hier warst.«
»Um ein Haar wäre ich weg gewesen«, entgegnete Bill, folgte Ralph ins Wohnzimmer und machte sich dabei unentwegt an seinem Hut zu schaffen. Ralph musste an den alten Dorrance Marstellar mit seinem Gedichtband denken. Ich an deiner Stelle würde ihn nicht mehr anfassen, hatte der alte Dorrance gesagt. Ich kann deine Hände nicht sehen. »Ich war auf dem Weg nach draußen, als ich ein höllisch lautes Plumpsen hörte … das muss sie gewesen sein, wie sie gestürzt ist …« Bill sah sich in dem durch den Sturm verdunkelten Wohnzimmer um, sein Gesicht wirkte abgelenkt und aufmerksam zugleich, seine Augen schienen nach etwas zu suchen, das nicht da war. Dann strahlten sie auf. »Die Tür!«, sagte er. »Ich wette, sie steht noch offen! Es wird reinregnen! Bin gleich wieder da, Ralph!«
Er eilte hinaus. Ralph bemerkte es kaum; der Tag hatte die unwirklichen Aspekte eines Albtraums angenommen. Das Ticken war das Schlimmste. Er konnte es jetzt so laut in den Wänden hören, dass nicht einmal der Donner es übertönen konnte.
Er legte Carolyn auf die Couch und kniete sich neben sie. Ihre Atmung war flach und schnell, der Atem roch fürchterlich. Aber Ralph wandte sich nicht davon ab. »Bleib da, Liebes«, sagte er. Er nahm eine ihrer Hände – die fast so feucht und kalt war wie ihre Stirn – und küsste sie sanft. »Bleib einfach da. Es ist gut, alles ist gut.«
Aber es war nicht gut, das tickende Geräusch bedeutete, dass nichts gut war. Und es war auch nicht in den Wänden – es war nie in den Wänden gewesen, sondern nur in seiner Frau. In Carolyn. Es war in seiner Liebsten, sie ging von ihm fort, und was sollte er nur ohne sie anfangen?
»Bleib einfach da«, sagte er. »Bleib da, hörst du mich?« Er küsste ihre Hand wieder und drückte sie an die Wange, und als er die Sirene des näher kommenden Krankenwagens hörte, fing er an zu weinen.

5

Während der Krankenwagen durch Derry raste, kam sie zu sich (die Sonne schien schon wieder, die nassen Straßen dampften), und zuerst redete sie solches Kauderwelsch, dass sich Ralph sicher war, sie hätte einen Schlaganfall gehabt. Als sie gerade anfing, deutlich und zusammenhängend zu sprechen, überkam sie ein zweiter Anfall, und es brauchte Ralph und dazu einen der Sanitäter, um sie festzuhalten.
Es war nicht Dr. Litchfield, der am frühen Abend zu Ralph ins Wartezimmer im dritten Stock kam, sondern Dr. Jamal, der Neurologe. Jamal unterhielt sich mit leiser, besänftigender Stimme mit ihm und sagte, Carolyns Zustand hätte sich stabilisiert, sie würden sie über Nacht hierbehalten, für alle Fälle, aber am Morgen könnte sie nach Hause. Sie würde neue Medizin bekommen – Tabletten, die teuer waren, ja, aber gleichzeitig wunderbar.
»Wir dürfen die Hoffnung nicht verlieren, Mr. Roberts«, sagte Dr. Jamal.
»Nein«, sagte Ralph. »Das dürfen wir nicht. Wird so etwas noch einmal vorkommen, Dr. Jamal?«
Dr. Jamal lächelte. Er sprach mit einer leisen Stimme, die durch seinen sanften indischen Akzent noch tröstlicher wirkte. Und obwohl Dr. Jamal ihm nicht frei heraus sagte, dass Carolyn sterben würde, kam er der Wahrheit näher als jeder andere in diesem langen Jahr, in dem sie um ihr Leben gekämpft hatte. Die neuen Medikamente, sagte Jamal, würden wahrscheinlich weitere Anfälle verhindern, aber ihr Zustand hätte ein Stadium erreicht, wo alle Prognosen »mit Vorsicht zu genießen« seien. Unglücklicherweise wuchs der Tumor trotz aller ergriffenen Gegenmaßnahmen weiter.
»Als Nächstes könnten sich motorische Probleme zeigen«, sagte Dr. Jamal mit seiner tröstlichen Stimme. »Und ich fürchte, das Augenlicht hat nachgelassen.«