Schnee - Georg Hermann - E-Book

Schnee E-Book

Georg Hermann

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Beschreibung

"Den ganzen Tag hatte es auf Berlin aus niedrig ziehenden Wolken herabgetropft wie aus einem nassen Badelaken. Es waren schwere Wolken, die dahinschleiften und stets und ständig die Gestalt änderten. Einzelne Nebelfetzen, die sich gelöst hatten oder nur durch dünne elastische Bänder mit ihnen verbunden blieben, versuchten, ob es ihnen nicht gelänge, die Dächer zu berühren, oder ob sie sich nicht wenigstens an den Wipfeln der Pappeln draußen irgendwie einen Augenblick festhalten könnten. Man wird meinen: was haben diese Wolken mit der Erzählung hier zu tun?!" Nun, ja, viel! Denn: "Stunden, Tage, Wetter, Himmel, Kälte, Wärme, Regen und Sonnenschein, Nebel und Frost sind ja nicht gleichbedeutend für unser Dasein und nicht immer in sich von gleichem Sinn für uns, so wenig wie Tag und Nacht. Es gibt Stunden und Voraussetzungen im Himmel, im Wetter, im Atmosphärischen für Einkehr in uns selbst, für Erinnerungen, für Liebe und Begehren, für Geborenwerden, für Sterben und Selbstmorde. Ich weiß nicht, ob man darüber Nachforschungen angestellt hat, wann Leute sich verlieben, sich das Leben nehmen, sterben, in welcher Stunde, unter welcher Witterung ..." In diesem Sinne verrät der Titel "Schnee" schon eine ganze Menge über den Inhalt und die Atmosphäre dieses Buches, das die Geschichte um den namengebenden Arzt aus "Die Nacht des Doktor Herzfeld" nun nicht an einem warmen Sommerabend, sondern im kalten, dunklen Berliner Winter fortsetzt. Und nicht nur das Klima ist frostiger geworden ... Die Berliner "Deutsche Allgemeine Zeitung" schrieb in ihrer zeitgenössischen Kritik zu "Schnee": "Wie das Leben eines Menschen ein einziges stückweises Hinsterben am andersgearteten Nächsten bedeutet, das wird fast in jeder Zeile mit künstlerischer Durchdringung und Sinnfälligkeit herausgestellt." Der Roman, der auch zusammen mit "Die Nacht des Doktor Herzfeld" als Doppelband erschienen ist, aber durchaus auch für sich allein stehen kann, enthält tiefe Überlegungen und Einsichten sowie Partien lyrischer Stimmung die zu dem Besten im Werk Georg Hermanns gehören.Georg Hermann, eigentlich Georg Hermann Borchardt (1871–1943), war ein deutscher Schriftsteller. Georg Hermann wurde 1871 als jüngstes von sechs Kindern einer alteingesessenen jüdisch-berlinerischen und später verarmten Kaufmannsfamilie geboren. Nach dem Besuch des Gymnasiums durchlief er eine Kaufmannslehre und arbeitete als Gehilfe in einem Krawattengeschäft. Von 1896 bis 1899 besuchte er literarische, kunstgeschichtliche und philosophische Vorlesungen an der Universität Berlin. Später war er beim Statistischen Amt Berlin beschäftigt, schrieb daneben Texte für Zeitungen und Zeitschriften und machte sich durch Feuilletons, Kunstkritiken und als Verfasser kunsthistorischer Werke nach und nach einen Namen. Obwohl er sich bereits als Schüler schriftstellerisch versucht und später unter anderem drei Bände Prosaskizzen veröffentlicht hatte, setzte er sich als Schriftsteller allerdings erst relativ spät durch: Erst der Roman "Jettchen Gebert" (1906) machte ihn mit einem Schlag berühmt. "Jettchen Gebert" und sein Fortsetzungsband "Henriette Jacoby", die ein Bild des liberalen Geistes im Berlin der 1840er Jahre in einer jüdischen Familie zeichnen, waren Bestseller mit zusammen mehr als 260 Auflagen. Hermann lebte fortan als vielgelesener Romancier in Berlin, zeitweise in Neckargemünd bei Heidelberg. Sein literarisches Vorbild war Theodor Fontane, was ihm auch die Bezeichnung "jüdischer Fontane" eintrug. Neben oft stark autobiografisch getönten jüdisch-bürgerlichen Themen griff er auch Stoffe aus den unteren sozialen Schichten ("Kubinke", 1910, der Zuhälterroman "Rosenemil", 1935) und aus der preußischen Geschichte auf. Seine Romane sind Unterhaltungsliteratur von Rang, wie sie in Deutschland selten ist.

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Georg Hermann

Schnee

Roman

Saga

Schnee

German

© 1922 Georg Hermann

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711517239

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

Mit der ersten Auflage dieses Werkes wurden zweihundert Exemplare auf Büttenpapier gedruckt und vom Verfasser numeriert und gezeichnet

Da ist’s denn wieder, wie die Sterne wollten.

Goethe.

Den ganzen Tag hatte es auf Berlin aus niedrig ziehenden Wolken herabgetropft wie aus einem nassen Badelaken. Es waren schwere Wolken, die dahinschleiften und stets und ständig die Gestalt änderten. Einzelne Nebelfetzen, die sich gelöst hatten oder nur durch dünne elastische Bänder mit ihnen verbunden blieben, versuchten, ob es ihnen nicht gelänge, die Dächer zu berühren, oder ob sie sich nicht wenigstens an den Wipfeln der Pappeln draussen — denn die ragten am höchsten — irgendwie einen Augenblick festhalten könnten.

Also: solche Wolken waren das, wie sie eine Quelle des Entzückens für den Maler bilden mit lehmgelben Lichtern inmitten von tausend Abstufungen, die von Maulwurfsfarben bis zum hauchfeinen, kaum noch lasierten Silbergrau reichen und die man auf Gemälden über alles gern sieht ... sie fordern zu hastig geistvollen Pinselhieben geradezu heraus — bei einem Ruysdael setzen sie uns in Entzücken, aber selbst bei dem jüngsten Anfänger ist ihr plumpes Widerspiel unseres Lobes sicher — also: (um es schlicht und rund zu sagen) solche Wolken waren das, die, sofern sie, tropfend und schüttend, von früh bis spät ohne Unterbrechung über die Vorstädte einer triefenden, halbdunkeln, glitschigen Grossstadt dahinjagen, uns jedes Lebenssinns zu berauben scheinen und uns noch zehnmal unmutsvoller und verzweifelter machen, als wir es ohnedies schon sind ... an solch einem trübfeuchten, von kommender Winterkälte durchschauerten Tage des späten November, ... einem Tage, dessen ihm innewohnende Hoffnungslosigkeit sich einzig dadurch noch zu steigern vermag, dass seit über zwei Jahren die ganze Welt Tränen und Blut weint.

Man wird meinen: was haben diese Wolken mit der Erzählung hier zu tun?! Gewiss soll das wieder nur solch Anfang sein, eine Einführung, ein Auftakt, ein Stimmungsmoment, über das hinwegzulesen Pflicht ist, wie man es von je liebt, und mit dem seit hundertfünfzig Jahren eben alle Schauerromane beginnen: „es war an einem stürmischen Novembertag, ... der Wind fegte die letzten welken Blätter in Wirbeln von den dürren Ästen; ... die Wolken, schwer und schwarz, wälzten sich von Osten her über den Himmel ... und trommelten mit dicken Tropfen auf die Dächer des Faubourg St. Julien ...“

Nein, weit gefehlt: würde es zum Beispiel hier heissen, „... es war ein müder, seltsam blauer Tag; spät war er hochgezogen, mit einem leise, ganz hauchleise nebelverhangenen Himmel, der doch schon am Vormittag vor der alten Sonne bald völlig und bis in den letzten Winkel klar geworden war; und nun schien er nur von den schönen Erinnerungen an den Sommer zu leben, schien uns vergessen machen zu wollen, dass schon vor vierzehn Tagen die letzten Georginen verblüht und die letzten spitzen Blättchen von den Weidenruten gestäubt waren. Die Luft, mattblau und durchwärmt, schmeichelte uns vielleicht nur deshalb, damit wir nicht die Schwalben in ihr vermissen sollten. Es war der vierte in einer Kette milder Spätherbsttage, und man fühlte, er dürfte noch eine ganze Reihe von Brüdern im Gefolge haben“ ... würde es so lauten, so müsste damit unsere ganze Geschichte hinfällig werden und auf ewig ungeschrieben bleiben.

Stunden, Tage, Wetter, Himmel, Kälte, Wärme, Regen und Sonnenschein, Nebel und Frost sind ja nicht gleichbedeutend für unser Dasein und nicht immer in sich von gleichem Sinn für uns, so wenig wie Tag und Nacht. Es gibt Stunden und Voraussetzungen im Himmel, im Wetter, im Atmosphärischen für Einkehr in uns selbst, für Erinnerungen, für Liebe und Begehren, für Geborenwerden, für Sterben und Selbstmorde. Ich weiss nicht, ob man darüber Nachforschungen angestellt hat, wann Leute sich verlieben, sich das Leben nehmen, sterben, in welcher Stunde, unter welcher Witterung ... (Beethoven starb während eines Gewitters mit Schneesturm.) In der Ziege des Herrn Seguin heisst es: die ganze Nacht kämpfte sie, mais lorsque le jour arriva le loup la mangea. Sie durfte eben nicht eher sterben als mit dem heraufdämmernden Licht des Tages. Und könnte es in Goethes italienischer Reise gleich zu Anfang anders heissen: als „an einem schönen, stillen Nebelmorgen; die oberen Wolken streifig und wollig, die unteren schwer,“ hat nicht Goethe selbst empfunden, dass es nur so und nicht anders sein durfte, als er jene Reise antrat, die einen Knick bedeuten sollte in seinem Dasein?! „Mir schienen das gute Anzeichen,“ schreibt er.

Wir ruhen im Atmosphärischen, sind weit tiefer in ihm verankert, weit geheimnisvoller von ihm gelenkt, geschoben und beeinflusst, als wir das ahnen und glauben mögen. Es schafft uns Komplexe unseres Denkens, lässt uns das Dasein heute leicht und jubelnd oder morgen müde und quälerisch empfinden wie eine allzuschwere Last, die wir um jeden Preis von den Schultern werfen müssen. Es drückt uns zur letzten Lässigkeit nieder, und es regt uns zu Taten an, schafft plötzliche Entschlüsse, von denen wir selbst Stunden vorher nichts ahnten. Es setzt uns Zufälligkeiten aus, die eben keine Zufälligkeiten sind.

Und so ich hier von den „Wolken“ spreche, so tue ich es also nicht, um meine Geschichte gut einzuführen; nein, diese Wolken hier sind der Beginn, der Schlüssel, die Voraussetzung der ganzen Geschichte, das Wichtigste an ihr. Ohne diese tiefhängenden Wolken eines trübfeuchten Tages am späten November wäre diese Geschichte ganz anders geworden, hätte sich überhaupt nie ereignet.

Und wenn es weiter heisst, dass sich am Nachmittag die schweren Tropfen eben dieser Wolken allmählich in breite, federnde Schneeflocken wandelten, so ist auch das keine nebensächliche Arabeske am Rande unserer Geschichte, sondern gehört zu ihr, ist ihre Wurzel, eine ihrer Bedingtheiten. Erst gab es also Regen und Schnee, dann Schnee und Regen und endlich nur noch Schnee. In unregelmässigen Tanzfiguren schwebten die Flocken herab, einzeln und miteinander verklebt. Man konnte meinen, dass von oben unsichtbare Frauenhände Papierfetzen herabstreuten, mal noch in grösseren Blättchen, mal mit Sorgfalt zu ganz kleinen Stückchen zerrissen, gerade als ob sie von unwichtigen und von wichtigen Briefen herrührten, denn je wichtiger und persönlicher ein Brief ist, desto kleiner sind ja die Stücke, in die ihn Frauenhände nachher zu zerreissen pflegen.

Liegen blieben sie noch nicht, die Schneeflocken, wenigstens keineswegs überall und durchaus nicht alle; die meisten verschmolzen miteinander auf dem Boden zu einer gelbgrauen Kruste, die unter den Schritten der Menschen mit dumpfen runden Lauten wehklagte, wie wenn jeder Tritt auf einen Frosch träfe, während sich die Wagenspuren, lang, dünn und geglättet, in ihr abzeichneten, und wie mit hohen zwitschernden Fisteltönen um Hilfe riefen.

An einigen Stellen behielt der Schnee aber doch seine weisse, weiche, himmelgegebene Wesenheit. Man konnte nicht vorher bestimmen, wo er es tun würde. Er hatte dafür seine eigenen, geheimnisvollen Gesetze. Er sammelte sich zu weissen Polstern an Zaunwinkeln, um Laternenpfähle, auf der Umhüllung junger Alleebäume, auf den Teerpappendächern von Schuppen und Gartenlauben. In Vorgärten und um Türnischen machte er sich sesshaft. Um die roten Knöpfchen, neben den Weichen im schwarzen Geäst der Schienen hinten auf dem Bahnkörper zog er genau abgezirkelte Kreise. Und über die Bremserhäuschen — nur über Bremserhäuschen, nicht etwa über die Dächer der Güterwagen selbst! — hing er seine dünnen und löcherigen Wolldecken auf. Auf unmerklichen Erhöhungen der Wege und Strassen draussen im Vorort blieb er liegen: so — hier bin ich, und hier werde ich vorerst einmal bleiben, und sollte es auch nur eine kleine Unsterblichkeit von vierundzwanzig Stunden sein. Er bildete seltsame Muster und lustig gezackte Inseln da, und wenn man von oben von den Fenstern herabsah, so krochen die Strassen da draussen — in der Stadt selbst mochten sie schwarz und nass noch sein — mit ihren leichten Windungen ... grau, dunkel und weiss gescheckt ... wie riesige Schlangen dahin.

Jemand, — wir werden uns mit ihm noch näher, und vielleicht mehr zu beschäftigen haben, als uns lieb ist — jemand war also ohne ersichtlichen Grund von seinem Schreibtisch aufgestanden, unruhig und missgestimmt, seit wohl einer Stunde schon überzeugt von der tiefen Zwecklosigkeit seiner Tätigkeit. Er war eine Weile durch das Zimmer gegangen; hatte sich dann breitbeinig vor die Bücher gestellt, ohne zu entdecken, welches ihn etwa in diesem Augenblick reizen würde, es herauszunehmen (alle waren gerade alt geworden); hatte auf das Schachbrett geglotzt, diese Zufluchtsstätte der Innerlich-deracinierten — und hatte dann sich über die bronzierten Behänge der Zentralheizung geärgert, die ihn immer an Schnüre von Haifischeiern aus dem alten Aquarium erinnerten, und die stets irgendwie in Verwirrung geraten waren, sodass man lange Zeit brauchte, um sie wieder ins Lot zu bringen. Richtig, da waren wieder ein paar von den vergoldeten Haifischeiern aus der Reihe gekommen und hatten sich über die anderen geschoben; er versuchte, sie in Ordnung zu bringen, aber seine Finger waren zu ungelenk und hastig, und er zog nur die andern, die bisher glatt gesessen hatten, mit in den Wirrwarr hinein, „soll sich morgen die Roggemann ’mit ärgern — was gehts mich an ...,“ sagte er sich und liess die gelben Blechschnüre fahren, dass sie rasselnd durcheinander fielen und eine Weile mit hellen Metalltönen noch hin und her schwankten, seltsam musikalisch heute. Nein, nicht die Blechschnüre ..., da wurde ja schon wieder irgendwo im Haus Klavier gespielt. Man tat das fast stets, unter ihm oder über ihm. Er sass gerade in der Mitte. Er wusste es nie recht, von welcher Ecke er musikalisch unter Feuer genommen wurde. Es war ein durch und durch klavierverseuchtes Haus. Er hatte sich hier eingemietet, weil einem keine Nachbarn in die Fenster gucken konnten. Aber dieser Leibschaden war ihm verschwiegen worden. Er hatte sich auch ziemlich daran gewöhnt. Manchmal überhörte er es sogar — selbst beim Schreiben. Manchmal war es beinahe absoluter Genuss, ganz abgeklärt, reinste in sich schwebende Musik, die im Raum für sich lebte, ohne durch Spieler und Instrument entweiht zu sein. Unerhört beseligend konnte das oft sein, und wenn es auch das Gestümper eines Kindes war, das durchaus nicht einsah, warum man den „Fröhlichen Landmann“ nicht zwischendurch auch in C-dur spielen sollte; ja, selbst wenn es ein Schmachtfetzen war, der versicherte, dass irgend jemand im Himmel einen Freund hätte, oder dass an der Wieden ein kleines Hotel stände ... nur ein paar Töne davon, plötzlich erhascht, losgelöst und verschwebend, konnten ihn dann durchrieseln wie ein edles Adagio, als das Sinnbild aller Musik. Aber heute brachte ihn dies wilde Gehacke da oben, das mitleidlos wie ein Spielautomat sein Pensum herunterrasselte, zur Verzweiflung ... einen Spielautomaten kann man abstellen, einen Spielautomaten kann man entzweischlagen, bis die Räder und Stifte einzeln durch die Stube fliegen ... aber das war ein unsichtbarer Feind, irgendwo im All wohnend, dem er ohnmächtig gegenüber stand, und der auf seinen Nerven herumschlug wie auf einem Hackbrett; man musste es über sich weggehen lassen, einfach wie eine Welle über den Rücken, den Kopf einziehen und warten bis es vorüber war ... So, jetzt kommen schon die letzten sich kräuselnden Spritzer, bim ... bam ... bumm ... bummmm!!! Gott sei Dank! — ... Ah, sieh mal: da draussen schneit es sogar.

Er ging hinüber und stellte sich an das Fenster, um stumpf und zwecklos gen Himmel in die tanzenden Schleier von weissen Funken zu blicken. Es fiel ihm ein, wie er als Kind immer den Schneeflocken kommandiert hatte: lang—sam ... lang—sam ... schneller ... schneller ... schneller ... schneller! Er versuchte es zweimal, dreimal, aber sie spotteten seiner, gerade umgekehrt taten sie es. Er hatte die Macht über die Schneeflocken verloren, die er einstmals in seiner Jugend unbeschränkt besessen hatte ... (was hatte er eigentlich seitdem nicht verloren?!). Er versuchte es noch einmal, ob er sie nicht wieder an sich reissen könnte, es nützte nichts, die Flocken fielen wie sie wollten. Ja, sie hielten überhaupt kein Tempo ein, sie kamen angeschossen aus dem dicklichen Grau wie ein Steinhagel, wie weisse Fliegerpfeile und, wenn er ihnen sein „Schneller“ zurief, dann blieben sie wie angenagelt in der Luft stehen und schwebten nur gemächlich auf und ab wie die Engel in einer Kindervorstellung, die an Drähten vom Schnürboden hängen; oder sie senkten sich ganz milde, feierlich und lautlos wie mit weissen Fledermausflügeln; und sowie er sie mit einem „Langsam“ beschwor, kamen sie in Schuss, als ob sie ein Magneteisen anzöge. Er konnte es weder regieren, noch listig vorausbestimmen, damit er den Flocken gegenüber doch recht behielte ... sie waren voll barocker Einfälle und schienen sich über ihn lustig zu machen ... er verlor immer wieder in dem Spiel und wandte endlich seine Blicke von den herabstäubenden Funken ab und sah auf die Strasse, die da unten schwarz, weiss und grau in leisen Windungen zwischen entlaubten Bäumen und einzelnen villenartigen Häusern, die missmutig in kahlen Gärten froren, entlang kroch. Woran erinnerten ihn doch diese Schneeflecke im Grau und an den Ruten der Büsche? Woran nur?!

Ach, richtig, das hatte er ja schon in der letzten Nacht geträumt; er träumte ähnliche Dinge jetzt oft, ohne dass er ahnte, woher sich sein Hirn damit beschäftigen konnte. Er hatte die letzte Nacht von einem kleinen braunhaarigen Elefanten geträumt, einem kaum mannshohen, feisten, rotbraunen, zottigen Vieh, das es auf der Erde nicht mehr gab ... vielleicht ehedem einmal gegeben hatte. Mit elementarer Wucht stürmte es durch eine herbstliche moorige Wildnis, patschte durch die grossen unregelmässigen Schneeflecken unter den Büschen — genau solche wie jetzt da unten lagen — und warf sich dann plötzlich, sodass es um ihn nur so aufspritzte, in das schwarzgelbe, ziehende Wasser eines nordischen Flusses; Ob, Jenissei, Lena, wie man das in der Schule lernt (so stellt man sich es vor). Schnell und kräftig-tretend schwamm das Tier in ihm dahin, hatte dabei den Rüssel nach hinten über den Kopf geworfen, und die Wellen wühlten in den braunen Zotten seines Rückens und seiner Flanken. Dann sprang es am andern Ufer empor, schüttelte das Wasser ab wie ein grosser Hund und stürzte sich über die gleichen Schneeflecke auf grauen Boden hin, um alsbald mit knackender Wucht ins Unterholz einzubrechen und den Blicken zu entschwinden ... während das Schwanken der Büsche noch lange die Bahn wies, die da im Dickicht dieser unheimliche, gedrungene, kleinäugige Bursche entlang trabte, wild, tückisch, trotzig, ungebändigt und zerstörungswütig wie eine Naturkraft ... Da, also da, hatte er doch diese Schneeflecke im Grau schon gesehen —! schon vorgeahnt! ...

Seltsam ... wie kam er jetzt nur zu solchen Träumen?! Sie lagen weit ab von den Vorstellungsketten seiner Tage. Wenn er noch Naturwissenschaftler gewesen wäre, Geograph, irgendwie Gelehrter, aber das war er doch nicht. Er nannte sie seine Urträume: Erinnerungen von vor dreissigtausend Jahren, oder von weit über hunderttausend Jahren zurück. Blasen, die in ihm hochstiegen aus den letzten Tiefen seiner Seele, wohin nie ein Lot sich hinabsenken konnte.

Vielleicht, meinte er, kamen sie jetzt in ihm empor, weil er sich so alt fühlte; nicht körperlich etwa viel mehr als seine Jahre, — er war eben die fünfzig vorüber, und das hatte ja bis vor kurzem noch nicht als allzu alt gegolten, wenn sich auch inzwischen die Ansichten darüber geändert hatten und plötzlich ein dicker Strich gezogen war, eine klare und deutliche Trennungslinie: jenseits davon fängt das alte Eisen an ... nein, nicht körperlich ... aber seelisch fühlte er sich unvordenklich-alt jetzt, um tausend Generationen älter als seine Umgebung. Er empfand seine Vergangenheit bis zu den Pyramiden hinab.

Diese letzten zwei Jahre Krieg hatten ihn schwer aus seinem Zentrum geworfen. Er selbst war zwar nicht mehr in dieses Völkermorden hineingezogen worden. Er stand abseits mit verschränkten Armen und sah es wie eine Strassenschlägerei vom Balkonfenster aus an. Er war eigentlich jetzt damit fertig. Alles, was er darüber zu denken hatte, hatte er gedacht. Die paar jüngeren Freunde, die er verlieren konnte, hatte er verloren. Und die paar älteren Freunde auch; denn sie hatten sich mehr oder minder jubelnd mit dieser Lebens- oder richtiger: Todesnotwendigkeit für die Andern — abgefunden. Der Krieg war ihnen ja nichts neues mehr. Sie hatten sich — langsam oder schnell — an den Gedanken gewöhnt, dass, während sie Kaffee tranken, ihre Zigarette rauchten, während sie assen, schrieben, schliefen, liebten, arbeiteten, ins Theater gingen, im Kino hockten, — dass zu dieser Zeit gerade irgendwo im Osten, Norden, Süden oder Westen eine Flattermine die Gliedmassen einiger hundert Menschen, — mit Steinbalken und Erdklumpen untermischt —, unter merklichem Lärmaufwand durch die Lüfte schleuderte; oder, dass gerade ein „Nest gesäubert wurde“; oder dass eine Horde von Menschen zu eben dieser Stunde mit Bajonetten in den Eingeweiden einer anderen Horde von Menschen herumwühlte (man nannte das technisch „Nahkampf“) ... und sie hätten sich benachteiligt gefühlt, wenn sie es am nächsten Morgen nicht in der Zeitung gelesen hätten ... Ja, sie verlangten noch als Zugabe, dass man die City der „Festung London“ ausgiebig mit Bomben überirdischer Sprengwirkung, die die geniale Überlegenheit deutschen Gelehrtenfleisses dartat, belegte, und sie waren erst beruhigt, wenn man dabei stundenweit-leuchtende Brände festgestellt hatte. Dabei waren es alle seelensgute Menschen — (soweit es sich nicht um sie selbst, um ihre Dinge und um ihre Behaglichkeit drehte —) nichts weniger als mordgierig, hätten nie selbst einen Stein nach einem Spatzen geworfen, geschweige denn nach einem Kind ... aber sie nahmen den Krieg als eine Gegebenheit und technische Notwendigkeit hin, so ungefähr wie den Eisenbahnbetrieb, von dem man weiss, dass er stets vorhanden ist, Tag und Nacht seine Züge durchs Land rollen lässt, aber der einen eigentlich nur dann etwas ernstlich angeht, wenn man selbst im Zuge sitzt.

Sie hatten sich eben umgestellt, seine älteren Freunde, fast alle ohne Ausnahme ..., auch der Hermann Gutzeit. Ihm war es nicht gelungen: er bekam dieses Summen nicht aus den Ohren, — er wachte damit auf, und er legte sich damit hin, — dieses Sausen von den ewig-schwirrenden Granaten da draussen in der Welt. Es war die ständige Begleitung zu allem, was er sprach, las, tat, dachte ... es verliess ihn nicht, drückte ihn nieder. Es überkam ihn manchmal, als ob er durch die Strassen laufen müsste, durch die Theater, über die Plätze, überall, wo Menschen sinnlos sich zusammenrotteten, und wie ein Lear die Fäuste schütteln und brüllen, „heult! heult! ... seid ihr denn alle von Stein?!“ bis er nicht mehr konnte, bis ihm der Schaum vorm Mund stand, bis er zusammenbrach. Was dann?! — man hätte ihn doch nur als Narren eingesperrt ... und hätte fortgemordet ... und hätte genau so schöne Worte dazu gemacht, wie man das bisher tat. Was vermochte ein Einzelner, wo man täglich Tausende zerstampfte?! Vielleicht gab’s noch andere, die wie er dachten. Sie hätte sich auch wohl zusammentun können. Aber sie waren allein. Kannten sich nicht. Waren ohne Verbindung miteinander. Lebten jeder für sich auf einer einsamen Insel, verängstet, halb irre, umgeben von einem wellenhohen Meer von Gedankenlosigkeit, Dummheit und Gemeinheit, durch dessen Brandung kein Schrei, kein Zeichen bis zu denen weit drüben drang.

Und selbst wenn er sich den Andern hätte vernehmbar machen können, — was dann?! Es lag nicht in seinem Wesen, Proselyten zu machen, für oder gegen irgend etwas in der Welt. Für Gedanken zu werben, andere zu sich herüberzuziehen, hätte ihn in tiefster Seele nicht befriedigt. Er wusste genau, es wären doch immer wieder Stunden gekommen, wo er sich vor den Kopf geschlagen hätte: was hast du eigentlich, du ... Doktor Alwin Herzfeld, Doktor philosophiae Alwin Herzfeld damit zu tun? Was geht es dich an? Und wenn all das, was du verlangst, gewährt wäre, würde dadurch auch nur um eine Haaresbreite dein Dasein weniger problematisch geworden sein? Also — wozu das alles?! Ich kenne mich doch: ich selbst, mein Ich würde nur aus mir heraustreten und sich abseits stellen mit verschränkten Armen, (so wie ich jetzt hier am Fenster stehe,) und mir zuschauen wie einem ganz fremden Wesen, wie einem Schauspieler, der eine Rolle mimt; es würde klatschen, sich begeistern, zischen, würde ergriffen sein, wenn er dahinsinkt, aber — es hätte nie selbst mitgespielt.

Gewiss, es gab ja Leute, die daran glaubten, die daran arbeiteten; man hätte sie finden, sich vereinen, sich ihnen anschliessen können. Aber all die Leute hatten — so dünkte es ihm — bei ihrem Gebäude, das sich so schön und leicht und logisch und selbstverständlich in die Zukunft zu bauen schien, eines, eine ganze Kleinigkeit nur, nicht mit in Rechnung gezogen: das Fundament, auf dem sich eben nichts bauen liess — die menschliche Seele. Sie war weder gut noch böse, die menschliche Seele, sie war seit Urgedenken so, wie sie ist, unverändert und unbelehrbar, stumpf und unzugänglich für jeden Einfluss. Wenn die menschliche Seele keine Religion vermocht hatte zu modeln, die doch seit Jahrtausenden mit Keulen immer wieder auf sie eingeschlagen hatte, — nirgends; wenn auch nicht einen Deut von der ihr innewohnenden Trägheit, Roheit, Mordgier, Zerstörungswut, Unversöhnlichkeit und Denkunfähigkeit — (aber das Denken der Seele ist ja Fühlen) — ihr ein Buddha, ein Christus oder ein Mohammed ... ja auch ein Moses nicht genommen hat, denen doch bei höchster Geistigkeit Mittel von unvergleichlicher Kraft und von stärksten, ausgeklügeltsten Methoden seit Jahrtausenden zur Verfügung standen, — Kraft, Wollen und Einsicht miteinander verbindend, wie es sich nie sonst in dieser Welt mehr vereinte ... was konnte da diese Hand voll Leute erhoffen, diese Piraten des Geistigen, diese Intellektuellen, wie er einer war, die paar Extatischen, in denen es aufschreit: „aber es darf ja nicht sein ... es muss sich ändern ... von Grund auf.“

Was haben denn all diese Religionen vermocht bisher?! Im besten Fall haben sie für eine kurze Dauer die menschliche Seele untergetaucht wie einen Korken, den man im Wasser mit der Hand niederdrückt ... und sowie sich der Druck lockert, schnellt eben der Korken wieder zur Oberfläche, schwimmt oben. Mit all ihrem Druck, mit jahrtausendlangen Mühen haben sie unter all ihrer Beeinflussung ebensowenig die Struktur der menschlichen Seele geändert, wie die Hand, die den Korken niederdrückt, ihn etwa dadurch zu einem Stück Eisen macht, oder ihm jemals sein spezifisches Gewicht nehmen wird, das nun einmal nicht schwerer als Wasser ist ... oder ihm jemals die Tendenz und die Triebkraft rauben wird, nach oben zu steigen und eben — als zu leicht befunden, — oben zu schwimmen.

Doktor Herzfeld hatte die Stirn an die Scheiben gedrückt und sah immer noch durch die Schneeschleier auf die Strasse hinab. Unten auf dem Damm im nassen Grau schob ein Junge — sicherlich ein Schuljunge noch! jämmerlich mager und klein und mit zu knappen Sachen: Hosen bis an die Waden, und Ärmel bis zum Ellbogen nur ... blaurot vor Frost und doch in einer Dampfwolke wie ein Lastpferd, — einen schwer beladenen Handwagen, der immer wieder kippte und immer wieder von ihm hochgerissen werden musste. Niemand hätte noch vor zwei Jahren solch einem Bürschchen solch eine Arbeit zugemutet. Jetzt aber war alle Welt entsetzt ... nicht darüber, dass man es tat, sondern darüber, dass man es, wie man annahm, zu hoch bezahlte ... Es ging dem Volk zu gut ... Es wurde anspruchsvoll ... Jungen, die Handwagen schoben, rauchten Zigaretten! — Ein grauer, grosser, sehr hagerer Wolfsspitz, schmalflankig und leicht schleppend die linke Hinterpfote, trottete langsam durch die offene Tür eines Vorgartens, schob sich bis zu den Alleebäumen vor und blieb ratlos auf einem weissen Schneefleck, die vier Pfoten eng zusammengeschoben, stehen, ohne den Handkarren oder den Jungen auch nur zu beachten und ihm seine Feindschaft — denn er war ein vornehmer Hund, ein Villenhund, und die hassen Jungen mit verwachsenen Beinkleidern, die Karren schieben — nachzuknurren. Er blickte sich nur melancholisch nach allen Seiten um, hob den Kopf und — heulte. Früher hätte dieser erste Schneetag solch einen Hund gewiss rasend gemacht; jetzt stand er unschlüssig, matt, traurig — und heulte. Doktor Herzfeld kannte ihn längst. Wenn man so draussen etwas abseits lebt, kennt man mit der Zeit jeden Hund, der in der Strasse wohnt. Es waren schöne grosse Hunde hier gewesen, Haus bei Haus. Stille, schwere, treue, menschenkluge Bernhardiner von anständiger Denkweise, und ein paar Ulmer Doggen, mühsam gehend und doch schnell dabei. Ein Barsoi, falsch, tückisch, mit dem Rückgrat einer Eidechse und dem Kopf eines Gardeleutnants, der wegen Spielschulden seinen Abschied nehmen musste. Auch ein paar schwarze Wolfsspitze, borstig und haarstarrend wie Rauhköpfe, wie Kaminkehrerbesen ... und einer nach dem andern war „abgeschafft“ worden. Der da drüben war eigentlich der letzte der Strasse ... bis auf ein paar kleine Bläffer, die nicht zählten ... und es war nur eine Frage der Zeit, wann auch er den andern folgen sollte.

Es war den Hunden eben gegangen wie allem hier draussen. Vor zwei Jahren waren neben dem Fahrweg hüben und drüben noch lange, breite Streifen sorgsam gepflegten grünen Grases gewesen, in denen alle zwei Monate Beete von neuen Blumen standen, von Stiefmütterchen und Vergissmeinnicht über Primeln und Geranien bis zu Fuchsien und bunten Herbstastern. Im vorigen Jahr waren nur noch grüne kleine Streifen gewesen von verwahrlosten ungeschnittenen Grasbüscheln; und dieses Jahr hatten sich noch um die Bäume der Strasse ein paar armselige, niedergetretene Rasenfleckchen hie und da hervorgewagt — aber nur um frühzeitig zu vergilben. Das war das Schicksal der Strasse gewesen, ihr Signet, ihre Lebensgeschichte im Krieg: es war für sie symbolisch.

Als Doktor Herzfeld hier herausgezogen war, vor vier, fünf Jahren, was war das hier für eine schöne, stille Gepflegtheit gewesen! Ein paar Mietshäuser waren auf der einen Seite der Strasse, auf seiner Seite. Es war die unvornehme; denn man durfte sich nicht verhehlen, — wenn man auch nicht gern davon sprach und es im Sommer kaum bemerkte: eben diese Häuser sahen mit der Kehrseite, mit Küchen und Mädchenzimmern, ja selbst mit Schlafräumen auf die Eisenbahn hinaus. Und der Eisenbahnkörper war hier sehr breit; es russte auch etwas; ... ferner hatte man Kohlendepots hier angelegt, die staubten, wenn in ihnen gearbeitet wurde — eine Tatsache, die kein Hauswirt je zugab! ... und endlich rangierte man des Nachts, spät in der Nacht bis in die Morgenfrühe unter Pfeifen und Rufen und Quietschen der Puffer — dirigiert vom Zischen alter, asthmatischer, ärgerlich taktierender Lokomotiven, — rangierte man all die Güterwagen, die sich hier aus allen Himmelsrichtungen tagsüber zusammengefunden hatten, trennte sie voneinander und fügte sie zu neuen Ketten zusammen.

Aber drüben, auf der andern Seite, nach vorne heraus, gab es dafür auch nur die Aussicht auf Villen, auf Landhäuser in grossen Gärten; alleinstehend ein jegliches, und diskret wieder von einander durch Baumstücke getrennt. Auch die Mietshäuser liessen es sich beileibe nicht ansehn, dass sie nur solche waren. Von Hunderten, die vorbeigingen, ahnte kaum einer, dass hier es auch Leute gäbe, die in gemeiner Weise zur Miete wohnten. Es war schon eine angenehme und vornehme Strasse gewesen.

Aber jetzt in den zwei Jahren waren die Häuser keineswegs so blitzblank mehr wie vordem, sondern verstaubt, ja verrusst und sichtbarlich vernachlässigt. Es kam vor, dass eine zerschlagene Scheibe durch Wochen überklebt blieb, bis man sie ersetzte, dass durch Wochen ein Schild hing „Klopfen, die Klingel ist entzwei.“ Die Gärten sprengte niemand, so wenig wie die Strasse. Niemand hatte im Herbst das Laub zusammengekehrt, und niemand die Hecken beschnitten; die Beete hatte man kaum angepflanzt. Man hatte sie, — das galt als patriotisch — mit Kohl besetzt, der nie gediehen war, und dessen armselige Strünke jetzt da unten langsam und mürrisch einschneiten. Für Blumen war kein Platz mehr, sie galten als überflüssig, spielten keine Rolle mehr, sie waren abgeschafft worden. Sie waren wertlos geworden, wertlos wie all die Dinge, von denen Doktor Herzfeld bisher geglaubt hatte, dass sie den eigentlichen Sinn, die Essenz des Lebens ausmachten: — wertlos, ... abzuschaffen!!

Er und sein Beruf waren doch genau so wertlos geworden, abzuschaffen wie die grossen Hunde, die Blumen auf den Beeten, die Kunst in den Museen, wie die Bücher da drüben in den Regalen, wie alles was er liebte. Sein Beruf? was hatte er, Doktor phil. Alwin Herzfeld, eigentlich für einen Beruf — Gar keinen! Er nannte sich Privatgelehrter. Ja doch, er war Intellektueller von Beruf, — ein Beruf, der augenblicklich nicht hoch im Kurs stand, geradezu verhasst, verlacht und überflüssig war. Intellektueller, Ideologe war ein Schimpfwort geworden: es kam an Rang und Schwergewicht gleich nach Pazifist. Ein Mann, der denken konnte und fühlen musste, nicht für sich allein, der so etwas wie Verantwortungsgefühl für die Welt hatte, war jetzt verdammt wenig begehrt. Er hatte zu schweigen; es sei denn: er bejahte. Eigentlich wars für ihn nicht schade drum; denn, wenn man als Intellektueller erst über ein gewisses Alter hinaus ist, so erwartet die Welt nichts mehr von uns und wir von der Welt nichts mehr. Er war auch kein Mann des öffentlichen Wirkens, das wusste er. Immerhin: die Enttäuschung war etwas allzu heftig gewesen. Wenn ein armer Teufel hundert Mark mühselig gespart hat und sie verliert, dann ist er eben wieder ein armer Teufel. Das mag traurig sein. Aber trauriger ist es doch, als Millionär über Nacht ein Bettler werden, nichts wiederfinden, nicht mal sich selbst.

Und er war Millionär gewesen und jetzt Bettler geworden. Millionär, nicht materiell, dem Geld nach, das ihm kaum gestattete, ohne direkte Sorgen sein Dasein hinzubringen; dem Verdienst und Verbrauch nach war er ein armer Schlucker gegen alle ringsum, die hier wie Fafnir, schwer und gewichtig, von sich sagen konnten „ich lieg und besitz“ — aber mit den Augen, mit den Sinnen war er Millionär gewesen, reicher sicherlich als die andern. Er war nicht stumpf durch seine Jahre gegangen. Er hatte nicht Wissen in sich aufgehäuft — er hasste Wissen! — aber Verstehen. Offenbarung war ihm das Leben gewesen, und mit allen Sinnen hatte er sich an dessen geheimnisreiches Widerspiel, an die Kunst geklammert. In seinem Hirn gab es schöne und kluge Worte, die irgendwer einmal gesprochen, aus Jahrhunderten und Jahrtausenden waren sie ihm vererbt. — Der Klang von Versen, ... Blumen, Gärten und Treibhäusern, ... das Bild der Welt mit jedem Baum und jedem Stück Rasen, der seine Rispen durcheinanderflocht; das Gebet der Kunst und der Glauben an die Kunst — sie hatten für ihn bestanden; waren vorhanden gewesen, gleichsam als die Seele des Lebens, des Seins (soweit es dem Menschen gehört). Er war reicher geworden durch das Geschenk der Frau, reicher als andere, vielleicht gerade deshalb, weil es ihm mehr Qual als Lust war.

Und alles war wertlos, nicht vorhanden, hatte sich zu ducken, wurde von dem Granatengeheul der Phrasen in Fetzen gerissen; es bedeutete nicht mehr als jener Schnee, der da oben vom Himmel kam und in den Pfützen zu Dreck wurde, und den jeder mit Füssen zu treten das Recht hatte. Und das Schlimmste war, dass es ihm selbst jetzt oft sinnlos erschien, als ob er sein ganzes Herz und sein Dasein durch ein Leben lang an ein paar Nichtigkeiten gehängt hatte, ein paar Spielereien, die nicht vorhanden waren, oder doch nicht zählten.

Immerhin war es doch nur für Tage und Stunden, dass sein Herz an den alten Göttern zweifelte und ihnen fluchte, dass er zu ihnen flehte und sie ihn leer und unbegnadet liessen, ... abtrünnig war er ihnen nie geworden. Er hatte nicht umgelernt. Nicht eine Minute war er der Massensuggestion verfallen. Nur eine namenlose Traurigkeit hatte vom ersten Augenblick an sein Herz bedrückt. Für Phrasen war seine Rasse zu alt, das fühlte er stündlich. Und, um die Hoheit und Fülle, die in den Worten und Begriffen: ‚Mensch‘ und ‚Leben‘ schlummern, zu erfassen, waren die andern Rassen um ihn anscheinend noch zu jung.

„Der Weise hat nur einen Glauben, den an sich selbst, und nur ein Vaterland: das Leben.“ Den Satz hatte Doktor Herzfeld vor einigen Tagen irgendwo gelesen, und er fiel ihm jetzt ein, als die Schlussfolgerung einer ungedachten Gedankenkette. Es war ihm wirklich ziemlich übel hier ergangen; er marschierte mit einem verdammt bittern Geschmack aus dem Leben, nach dem andern Tor hin, schwer desillusioniert.

Doktor Herzfeld erinnerte sich plötzlich, dass er auf einer Reise, ... es war in Mainz, er hatte Backofens wehklagende, ernste Apostel im Dom gesehn, ... ja in Mainz war es, dass er da müde und hungrig in ein Café gegangen war, so von der Strasse ganz passabel ausgesehn hatte. Und zuerst schien es ihm auch ein leidlicher, recht wohlgepflegter und kultivierter Aufenthalt zu sein. Er hatte sein Schälchen Kaffee genommen, ein paar Blätter angenehm durchblättert, alles fesselte ihn, er erinnerte sich deutlich: das Bildnis des wirklichen geheimen Regierungsrat Obertreter, Dezernent des königlich preussischen Kultusministeriums, der die Schwerter zum Roten Adlerorden zweiter Klasse am Bande erhalten hatte, ... Deutschlands älteste Linde, ... Die Teilnehmer am Gepäckmarsch ... dann der erste Sieger nochmal allein mit einem riesigen Eichenkranz behangen, abgehetzt wie ein Hund, der von Köln nach Königsberg gelaufen war, ... die Gräfin von Hohenhausen mit ihren beiden Lieblingshunden Senta und Emir auf der Terrasse ihres Schlosses Klein-Hohenheim ... Bierkarussell im Hofbräuhaus ... die Wunder der Tiefsee ... lebende Kristalle! Und nach einer Weile hatte er die Blätter befriedigt beiseite getan und sich dafür die Gesichter der Gäste angesehn: „Himmel — in was für eine Spelunke und unter was für ein Gesindel bist du denn hier eigentlich geraten?! Wenn du nur hier erst wieder heraus bist.“ Und wirklich machten sich schon ein paar Bauernfänger an ihn heran, und es kam zu einer üblen Schlägerei, in der Messer gezogen wurden.

Das hatte er jetzt wieder erlebt: Neunzehntes, zwanzigstes Säculum, hübsch und lustig mit Kulturfirniss gestrichen die Fassade; nervenpeitschende Musik; äusserlich ein ganz reputables Caféhaus; etwas kitschig zwar, — aber welches Café wäre das nicht?! — Man schlürft angenehm sein Schälchen Mokka, sieht die Blätter durch, raucht seine Zigarette, ohne sich viel um den Bettler zu kümmern, der von Tisch zu Tisch geht; und man freut sich daran, was die Welt doch so alles erreicht hat: Da fliegen zum Beispiel Menschen in der Luft, auf klugen Maschinen reitend; das wollte man seit Ikarus schon, konnte es nie ... Irgendwo, an einem Erdpol steht eine Stange, in der schnurrt es ein wenig; und am andern Erdpol steht auch eine Stange; und im gleichen Augenblick beinah hört die andere Stange das, was die erste ihr schnurrend erzählt, und alle Welt kann es mit ihr hören, ... eine Angelegenheit von beinah kosmischer Seltsamkeit, so als ob man dem Wind oder einer Sternschnuppe einen Auftrag gäbe: bitte sei so gut — sags ihm, aber sags bescheiden ... Die Kunst, die veredelnde: ... nie ist die Kunst so populär gewesen wie heute, beinah so wie Bismarck: die Kunst dem Volke! die Kunst dem Kinde! in jedes auch das ärmste und abseitigste Dasein soll ein Abglanz von ihr fallen!! Nun ja, man schafft sie nicht gerade neu, aber es scheint doch, als ob man sie liebt und von ihren Resten mit Hochachtung, ja mit Verzückung spricht; sie ist langsam daran, für viele Menschen in allen Ländern die Stelle der Religion zu ersetzen. Man erschauert ordentlich, wenn man ihren Namen nennt. Sie ist das einzige für sie, um dessenwillen sich eigentlich ihr Leben erst lohnt: sagt nicht Heine schon von irgend jemand, er wäre ein Heide und persönlicher Feind Jehovas, der nur an den Hintern der Venus von Canova glaubt, („Jehova“ und „Canova“ reimen sich so gut) ... Nicht gerade so, aber so ähnlich sagt er es. Und Elend und Armut! Kümmern wir uns nicht darum: der Statistiker wird ihnen schon beikommen, sie zwischen seine unerbittlichen Zangen nehmen; er ist das Gewissen der Welt. Und wenn wir sie erst mal in ihrer ganzen Ausdehnung kennen, dann brauchen wir sie ja eigentlich nur noch zu beseitigen. Und wie wir das machen werden, das wird uns nachher der Herr Nationalökonom schon sagen. Und die Krankheit?! Wozu hätten wir denn den Arzt, diesen Freund des Menschen: er zielt jetzt chemisch. Eine Maladie nach der andern wird er abtun, — Volksgesundheit!! Wir sind alle Brüder auf dieser Erde!! Euer Schmerz ist unser Schmerz!! Arme Neger nur, die auf Martinique ums Leben kommen, — aber welch ein tausendfältiger Jammer! Menschenleben und Menschenfleiss zerschellen an tückischen Eisbergen, und ein einziges Schluchzen geht über den ganzen zivilisierten Erdkreis.

... Nun ja, nun ja ... die Probleme dieses Seins sind zwar nicht sehr geklärt, und man lebt in ziemlicher Finsternis über sich selbst, seine Wesenheit, Sinn des Lebens, Weltenaufbau im Kleinsten wie im Grössten dahin; irgendwann mal herabgeschneit wie diese Flocke da, und ebenso erkenntnislos vergehend, wie eben diese; — aber, wenn man das und alles Persönliche sonst ausschaltet, an dem ja äussere Dinge: Reichtum, Armut, Gesundheit, Krankheit, Fron oder Freiheit nichts ändern können, so hat man es gerade zu der Stunde, da man in diesem etwas kitschigen Grossstadtcafé des zwanzigsten Säculums auftauchte oder verkehrte, nicht allzu übel getroffen ... Also noch ein Schale Haut, strecken wir die Beine von uns, ziehen wir die Bügelfalten zurecht und rammen wir uns noch eine Zigarre ein ... Piccolo, Streichhölzer!

Aber plötzlich, — gerade als wenn man ein zu torpedierendes Handelsschiff wäre, — ohne Warnung, dass man sich noch schnell vorher hätte aus dem Lokal stehlen können, reisst man die Masken vom Gesicht. Himmel — unter was für ein Gesindel und in was für eine Spelunke waren wir doch eigentlich hier auf dieser Erde geraten! — Dieses Ding, das da oben herumschnurrt, ist nur dazu ersonnen, dieser uralte, wolkenstürmende Menschheitstraum ist nur dazu verwirklicht worden, um Tod und Vernichtung auch dorthin zu tragen, wo die alten Mittel noch nicht hinreichten, zu nichts sonst, ... es besteht seine Blutprobe vorzüglich ... Ikarus, Ikarus ... Jammers genug! ... Man spricht von Pol zu Pol einzig und allein deshalb, um den Lügen noch längere Beine zu machen, und sie hatten doch schon vordem die Stiefel Peter Schlemihls an. Fündundzwanzigtausend Tons, zwei Militärtransporte versenkt, — hurra! hurra! hurra! Fahnen raus!!! Der ‚Freund der Menschen‘ erklärt, dass für Tuberkulose Schützengraben das beste Heilmittel wäre, und, dass Fleischessen, ja dass Essen überhaupt eine schädliche und üble Angewohnheit sei. Der Statistiker beweist, dass Einbeinige länger leben als solche mit zwei Beinen; und der Herr Nationalökonom löst alle Fragen, indem er den Leuten Papierscheine in die Hand drückt, für die sie nichts kaufen können, was sie zum Dasein brauchen; und er begreift nicht, warum sie immer noch klagen, nun hätten sie doch was sie benötigen: ... unzufriedenes und undankbares Gesindel ... sind glücklich ... es geht ihnen gut ... und wollens aus reinem Übermut nicht einsehen. Die Heeresberichte führen eine neue starke Ära unseres Schrifttums herauf. Kriegsgedichte! ... das schöne Instrument der deutschen Sprache ist nie mit grösserem Ungeschmack zu Reimereien missbraucht worden. Aber selbst die Philosophie denkt Maschinengewehre, — von der Wissenschaft zu schweigen — (Züchten von Dummköpfen auf Universitäten) — denn man kann ein grosser Gelehrter und doch ein Riesenrindsvieh sein! von der Wissenschaft zu schweigen, aber Scheler, „Genius des Krieges und der deutsche Krieg“, tu etiam Scheler, ... Vernunft ist Freiwild, ist ein toller Hund, den man hetzt und mit Keulen totschlägt ... Wer lässt vielleicht auf gotische Dome etwas kommen, sie sind allein schon für die Artillerie zum Entfernungsschätzen und zum Sich-Einschiessen unersetzlich. Theater ... wird als Volksunterhaltung nur noch durch das Kino übertroffen, ist zu protegieren, weil es die Massen am Denken hindert. Seit Sophokles sah es nicht so gute Tage. Bücher — notwendig; seitdem die Zigarren rar werden für Lazarette, Wachtstuben und Schützengräben. Die Kunst ist ein Dreck, den jeder mit Füssen tritt, wie der auf dem zerstampften matschigen Weg da unten, ein belangloses Nichts ist sie, das man zur Seite gestossen hat: ... geh hin und krepiere, die Welt hat deiner nie bedurft, und bedarf deiner jetzt erst recht nicht. Man sollte dich abschaffen wie einen Hund, für den man keine Knochen mehr beim Schlächter bekommt. Wozu die Blumen!! ... Kohlstrünke! ... die Welt braucht Kohlstrünke!!

Drüben tappte die Briefträgerin aus dem Haus, klein mit verklebten Haarsträhnen unter der Postmütze, die mit spiessender, langer Nadel schief auf dem hohen Bau von Zöpfen sass. Der übernommene Männermantel war ihr viel zu gross und schleppte fast, und die schwere Ledertasche, aus der sie mit roten Fingern einen Packen Zeitungen und Schriftzeug zerrte, zog ihre linke Schulter herunter. Die kleine Person warf die Vorgartentür ins Schloss, die nicht einschnappen wollte und noch eine Weile pendelte, ehe sie, etwas schief hängend, Ruhe fand, und dann tappte sie vorsichtig, — man sah es ihrem Schritt an, dass ihr bei jedem Auftreten Wasser durch die Löcher der Sohlen kam — und gewissenhaft nach den Schneestellen suchend (aber sie waren auch von Feuchtigkeit unterminiert) über den Damm fort auf Doktor Herzfelds Haus zu. Der Hund, der neben einem Baum am Strassenrand Posto gefasst hatte, hob den Kopf und sah ihr melancholisch nach. Noch vor zwei Jahren war diese Briefträgerin da seine geschworene Feindin gewesen, der er strassenweit nachbellte, — (er hatte diese Feindschaft von ihrem Vorgänger, dem schon längst in Russland kein Zahn mehr weh tat, einfach dem Beruf nach auf sie übertragen). — Heute, ... heute hatte er keine Feinde mehr.

Doktor Herzfeld fühlte plötzlich, dass diese Frau etwas für ihn brachte. Er bekam eigentlich im letzten Jahr wenig Briefe, sein Verkehr hatte sich sehr eingeschränkt, er hatte nicht den Sinn und den Mut, Leuten Unaufrichtigkeiten zu schreiben, und sie wussten wohl auch nicht mehr, was sie ihm sagen sollten. Geistige Gemeinschaft, die Menschen einst verband, war durch den Krieg aufgehoben. Geistigkeit hatte an Wert verloren. Viele, ja die meisten waren von ihr fahnenflüchtig geworden, und jeder war misstrauisch geworden. Und ausserdem war Doktor Herzfeld ja von je Eigenbrödler gewesen, — „man lebt am besten abgezäunt“. — Und doch hatte er manchmal die Sehnsucht nach Mitteilung, nach Hineingestellt-sein und zitierte sich gern das W. k. G. (Warenhaus für kleines Glück) dieses famosen Morgenstern, „Palmström kann nicht ohne Post — leben ... sie ist seines Tages Kost ... Selten hört er einen Brief — plumpen — in den Kasten breit und tief.“

Trotzdem — hundertmal hatte er die Frau da unten schon mit ihren stets verklebten Zotteln unter dem Mützenrand am Haus vorbeigehn oder selbst ins Haus hineinschreiten sehn, ohne dass ihn das irgendwie alteriert hätte. Er wusste all die hundertmal genau, in ihrer Schicksalstasche hatte sie kein Wort, das ihn betraf, das irgend jemand von draussen an ihn gerichtet hatte, ebenso genau wie er jetzt empfand, dass sie da etwas für ihn heranschleppte, irgend was Belangreiches, — erfreulich oder nicht, — doch was gab es Gutes in dieser elenden Welt?! —

Da schlug auch schon die Klingel an, so langweilig und geschäftsmässig-anteillos wie sie immer es tut — es tut, wenn ein Briefträger sie in Bewegung setzt, weder neugierig, wie sie sich meldet, wenn ein seltener Besuch Einlass begehrt, noch selbstverständlich-vertraulich, wenn ein Familienmitglied schellt, noch zaghaft, ja zärtlich, wie sie auch sich regen kann, ... nein, gleichsam beamtenhaft, kurz und phrasenlos, ohne Überschrift und Höflichkeitsbogen, schlug sie an, trocken und beinah-militärisch. Doktor Herzfeld wandte sich, um aufzumachen, als er auf dem Flur Schritte vernahm: er wusste garnicht, dass die Roggemann schon wieder zurück war. Sie war in die Stadt gefahren, Einkäufe machen; — eine Sache, die jetzt ganze Nachmittage dauerte, und die man früher in halben Stunden erledigen konnte, — aber heute war sie also schon eher zurückgekommen. Die brave Roggemann ... Doktor Herzfeld hing sehr an ihr, — ... sie war so wunderbar indifferent. Doktor Herzfeld musste immer an muffig gewordene birkene Kommoden aus Portierstuben denken, wenn er sie sah.

Vordem war sie ja nur Aufwartefrau bei ihm gewesen, die stundenweise kam; ... aber jetzt, seit dem Krieg, war sie, weil der Mann im Felde war, als Haushälterin ganz zu Doktor Herzfeld gezogen, da beiden das zweckmässiger erschien. Zwar hätte sie als Frau eines Kriegsteilnehmers doch keine Miete bezahlt, und also auch ruhig ihre Wohnküche weiter behalten können; aber die Verpflegung hätte ihr doch kein Hauswirt umsonst gestellt, und bei ihren Stellen ging’s nicht mehr so aus dem Vollen, dass sie körbeweise mitnehmen konnte, wie sie das früher beliebte, ... ja die Meisten hatten sich eingeschränkt und hatten damit begonnen und aufgehört, dass sie — dem Ernst der Zeit entsprechend, — die Aufwartefrau abschafften und den Dienstmädchen den halben Lohn zahlten. Und so war es der Roggemann besser erschienen, in irgend einen Stall ganz sich einzustellen; und der des Doktor Herzfeld war ihr von ihrer Klientel als der günstigste in vielen Beziehungen erschienen, weil der Inhaber Junggeselle war (ihrer Meinung nach), und fürder von einem Jahrgang, auf den zurückzugreifen der Staat, — wenn nicht Matthäi am Letzten wäre — sich seiner Reputation wegen sehr hüten würde. — Und wenn wirklich? Nun schön: wenn eben der ganze Himmel einfiele, wären alle Spatzen tot.

Der Gatte der Frau Roggemann, der Roggemann, dessen Anwesenheit und Vorhandensein Doktor Herzfeld bis zur Stunde der Kriegserklärung von Frau Roggemann völlig unterschlagen worden war, war für Doktor Herzfeld ein erstaunliches Erlebnis gewesen; denn in Frau Roggemann hatte er nie ein Wesen gesehn, das nur irgendwie auf dieser Welt mit der Geschlechtlichkeit irgendwelche Fäden verknüpft hätten; und er hätte sich auch nicht mehr gewundert, wenn er plötzlich erfahren hätte, dass die Königin Teje von Ägypterland mit einem Hauptmann beim Train im fünften Corps verheiratet sei. Doktor Herzfeld hatte nämlich — wie bei Frau Roggemann — fest angenommen, dass sie eigentlich schon seit dreitausendfünfhundert Jahren für solche Extravaganzen tot wäre.

Dabei war Er, der Roggemann, noch nicht einmal Landsturm zweiten Aufgebots und hatte gleich am dritten Mobilmachungstag fortgemusst.

Aber Doktor Herzfeld hatte sich bald noch mehr erstaunen müssen, als auch in der Woche, — ihm zu Ehren, wie sich ergab — Frau Roggemann sich herauszuputzen begann wie ein Indianer auf dem Kriegspfad, ... (es war komisch und rührend zugleich!); als sie sich für ihre zwölf Mark Kriegsunterstützung ein Frisierabonnement kaufte; und als sie ihm Augen nachwarf, wenn er durchs Zimmer ging, in dem sie aufräumte; und als sie fürder oftmals beim Abrechnen wehleidig bemerkte, dass es doch „unstatthaft“ sei, wenn ein Mann seiner Frau nur alle vier Wochen schriebe und alle zehn Monat einmal auf Urlaub käme. Aber, da Doktor Herzfeld sich nichts wissen machte, nichts bemerkte, nicht mal sagte: „Sie haben sich doch so fein gemacht, Frau Roggemann“, so schlief das alles bald von selbst ein, ja, die Hälfte der Marken des Frisierabonnements verfielen überhaupt, und die Kleidung wandelte sich schnell wieder von Rosa und Mattviolett zu dem undefinierbaren Graubraungrün, das von je das unauffällige Spezifikum der Frau Roggemann gewesen war, ihr Habitus: Reinemachefrau. Und da Frau Roggemann Doktor Herzfeld nicht mehr bestahl als nötig, so wünschte er es sich gar nicht besser; und, da sie ihn bei der Abrechnung nur um so geringe Summen übervorteilte, dass sich Doktor Herzfeld fast von ihrer Grossmut beschämt fühlte, so kamen sie vorzüglich miteinander aus, und er gedachte ihrer im Innern nur mit dankbarer Ergebenheit.

Und schon kam die brave Roggemann herein, legte Zeitungen und einen Brief auf den Tisch, lautlos, gedämpft, — denn sie schonte ihr Schuhwerk, und trug Tag um Tag abwechselnd im Hause ihre Filzschlurfen und die etwas eleganteren, mit gestickten Maureremblemen verzierten Pariser ihres abwesenden Gatten — und entschwand wortlos wieder, nachdem sie einen Augenblick an der Tür gezögert hatte, ob sie das elektrische Licht andrehen sollte, aber sich überzeugt hatte, dass es eigentlich noch zu hell wäre, trotzdem es der Zeit nach wohl geschehn konnte, ... (gestern hatte sie es schon um Viertel Fünf getan, aber heute war noch das ganze Zimmer bis in dem letzten Winkel von einer unfrohen, gelblichen Helligkeit erfüllt, von den vom Himmel herabwehenden Schneeschleiern und von dem Widerschein der weissen Patzen unten auf der Strasse, auf Dächern und in Gärten.) — Es war ein Licht bei dem man fror, trotzdem das Zimmer trockenwarm war. Wenn draussen richtig, ordentlich Schnee ist, dick und gepolstert, macht das Licht warm im Zimmer; aber bei solchem gelben Matschschnee, der über sich selbst weint, macht es einen schuddern.

Nein, Doktor Herzfeld wollte das nicht mehr sehn! Und er ging an die Tür und drehte den schwarzen Knipser; — und im Augenblick schien die Strasse draussen zurückzutreten, zu verdämmern, griff nur noch mit leisen Fingern zaghaft durch die breiten Eckfenster in das Zimmer hinein, das wieder ganz eine Welt für sich war, und sich rings um den rötlichen Lichtkreis, den die alte Glasampel mit ihren goldigen, kerzentragenden Armen, (sie hatten aber unvornehm einer neuen Zeit elektrische Konzessionen machen müssen) auf den Mahagonitisch legte ... ringsum um diesen Lichtkreis mit seinen behäbigen Möbeln und all seinem Kleinkram angenehm und gleichsam zwanglos gruppierte ... wie eine Gesellschaft feiner, altmodisch-ruhiger Menschen, die Doktor Herzfeld zu einer kleinen abendlichen Unterhaltungsstunde zu sich geladen hatte. Und mitten im Lichtkreis lagen hell Zeitungen, ein paar Briefe, — und der Kaffee stand, dampfte angenehm und wartete auf ihn. Es war richtiger Kaffee; das war das einzige, worin Doktor Herzfeld sich nicht eingefügt hatte, — das andere nahm er alles nicht wichtig. Einmal hatte es Frau Roggemann mit einem Kaffee ersatz versucht, von dem sie sagte, dass er vorzüglich sei, und wohlschmeckender und bekömmlicher als wirklicher Kaffee und dass sie ihn seit Jahren tränke, ... von dem aber Doktor Herzfeld bemerkt hatte, dass sie es nicht noch fürder einmal etwa wagen sollte, ihm mit diesem Suffus von Sennesblättern und Sarglack unter die Augen zu treten. Und, da das in der Epoche war, da Frau Roggemann eben die ersten Nummern des Frisierabonnements knipsen liess, so zeigte sie sich der Mahnung zugänglich, — und es unterblieb in Zukunft.

Doktor Herzfeld warf, während er schon die Zeitung umfasste und hochhob, über das Blatt hinweg schnell einen Blick auf den Briefumschlag; gewiss irgend etwas Gleichgültiges; er erinnerte sich nicht, diese Handschrift je gesehn zu haben. Und die Drucksache? — „von einer Versicherung; weiss schon: — Diebstahl ... wegen der zunehmenden Unsicherheit sollte man ... auch Schaden durch Fliegerangriffe, ... ohne ärztliches Zeugnis ... kennen wir: ... Prozesse und Dividendenschinden!“ ... und schon hatte er sich in die Zeitung verbissen. Doktor Herzfeld las deren mehrere, um sich besser zu informieren; aber die Zeitungen uniformierten nur noch, sie brachten längst alle das gleiche — (nur die Todesanzeigen waren je nach dem Leserkreis verschieden) — und eben das schrieben nicht sie. Möglich, dass noch feine Abschattierungen bestanden, unmerkliche Abstufungen wie bei einem Halblicht Leonardos; aber das Gesicht darunter grinste jedenfalls überall mit dem gleichen süsslich verlogenen Lächeln hervor.

Doktor Herzfeld hatte sich hundertmal geschworen, kein Blatt mehr anzurühren, aber er kam nicht davon los. Es hatte ihn gepackt wie eine alberne, sinnlose Krankheit, ein hässliches Nervenzucken, dessen man sich schämt, das man bekämpft, und dessen man doch nicht Herr wird. Er kaufte immer wieder, wo er ging und stand, diese Phrasen, diese Hinhaltungen, diese Vermahnungen, Verdrehungen, Entstellungen, Versüsslichungen, diese kurzbeinigen Lügen, Vertröstungen, diese für den Nichtwisser zusammengeleimten Strategien, die alles verschwiegen. Er wusste das alles, war noch misstrauischer als nötig jedem Wort gegenüber, und doch zwang ihn etwas immer wieder, nach jedem Hoffnungsschimmer auszuspähen, Tag für Tag zwei-, dreimal alle Spalten durchzupflügen, wo etwa er aufblitzen könne ... auch nur in weiter, kaum geahnter Ferne. Er war nicht mehr so wie in der ersten Zeit, da er immer dachte, dass irgend etwas Wunderbares ein plötzliches Ende innerhalb einer Stunde diesem sinnlosen Menschenmorden bereiten müsse, ein Gedanke, eine Intuition, ein Lichtstrahl, der vom Himmel fiel wie bei Visionen auf alten Bildern; und da er, so früh es ging, lief, sich Nachrichten beschaffen, weil er mit jedem Sieg hoffte, dass er das Ende beschleunigte. Aber auch heute, als fünfhundertmal Betrogener, konnte er noch immer sich nicht losreissen von dem unausgesprochenen Wunsche, seine heimliche Hoffnung über Nacht erfüllt zu sehn; und jetzt, seitdem man drüben den Mann wieder zum Präsidenten gemacht hatte, der weiter und menschlicher, zukünftiger dachte als die Petrefakten der alten Welt, die die Jugend mit sinnlos verhetzenden Phrasen zur Schlachtbank trieben, und deren Macht ständig wuchs mit dem Hass, der auf sie gehäuft wurde ... als ob jeder Fluch, der gegen sie geschleudert würde, ihnen gleichsam neue Kraft gäbe, als ob jedes Leben, das sie zerschmetterten, das ihre verstärkte ... wahnsinnig, zu denken, dass zehn Greise in Europa Millionen junger Menschen in den Tod treiben durften, auf Generationen hinaus die Menschheit vernichten durften, sie um all ihre Möglichkeiten und Hoffnungen bringen durften, zehn Greise, die das Vorrecht zu leben in frechster Weise missbrauchten, die überhaupt nach der Statistik längst nicht mehr vorhanden sein durften! ... jetzt, da man drüben den Mann, der Zukünftiges dachte, wieder zum Präsidenten gemacht, war Doktor Herzfelds so oft getäuschten Hoffnungen neue Nahrung zugeführt, und ihre Glanzlichter, die schon müde und blind geworden waren, begannen wieder ganz scharf und bestimmt aufzuleuchten und zu funkeln. Endlich brauchte man Amerika ja rechts wie links. Aber die Zeitungen wussten das noch nicht. Es war ihnen noch nicht gesagt worden beim Appell. Vielleicht morgen, vielleicht in acht Tagen werden sie es wissen dürfen.

Da stands in dicker Schrift: Wir hatten wieder mal grossartig gesiegt, wir taten das seit zweiundeinviertel