Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
"Keinen Anspruch erhebe ich darauf, mich mit den Realitäten dieser Welt in Einklang zu bringen. Ich suche auch kein Ziel darin, diese in irgend einer Weise abzuändern. Ich erlaube mir nur, zu bemerken, daß ich mit ihnen vielfach nicht übereinstimme. Immerhin würde es mich freuen, wenn ich etwelchen von denen, die sich auch nicht mit ihnen abfinden können, die stumme Seele löse." So Georg Hermanns Vorbemerkung von 1915 zu diesem Band aus Essays, Betrachtungen, Überlegungen, Persönlichkeitsbildern und eben – "Plaudereien" über die Kunst, das Schriftstellerleben und die Welt. Neben dem Titelessay enthält das Buch die Beiträge "Der tote Naturalismus", "Weltliteratur oder Literatur für den Hausgebrauch?", "Die Frühverstorbenen", "Die Unstetheit des Schriftstellers", "Die Zeitung", "Bücher und Autor", "Im Spiegel", "Erinnerung an" und "Hille", ein Porträt des 1904 verstorbenen Berliner Dichters Peter Hille. Georg Hermanns geistreichen und alles andere als belanglosen Plaudereien sind noch heute überaus lesenswert, etwa wenn er, mitten im Ersten Weltkrieg, zu den "Künstleräußerungen über den Krieg und über den Wert oder Unwert einzelner Nationen" Stellung nimmt: "Zum Schluß nimmt man eigentlich einen Thomas Mann, der sagt, daß der Krieg überhaupt der normale Zustand wäre, und der Künstler auch in Friedenszeiten der in Permanenz erklärte Krieger – wie erst im Kriege! – ebensowenig ernst, wie einen Maupassant, der gegen Moltkes Notwendigkeit des Krieges Sturm läuft. Amüsante Phantasten!"Georg Hermann, eigentlich Georg Hermann Borchardt (1871–1943), war ein deutscher Schriftsteller. Georg Hermann wurde 1871 als jüngstes von sechs Kindern einer alteingesessenen jüdisch-berlinerischen und später verarmten Kaufmannsfamilie geboren. Nach dem Besuch des Gymnasiums durchlief er eine Kaufmannslehre und arbeitete als Gehilfe in einem Krawattengeschäft. Von 1896 bis 1899 besuchte er literarische, kunstgeschichtliche und philosophische Vorlesungen an der Universität Berlin. Später war er beim Statistischen Amt Berlin beschäftigt, schrieb daneben Texte für Zeitungen und Zeitschriften und machte sich durch Feuilletons, Kunstkritiken und als Verfasser kunsthistorischer Werke nach und nach einen Namen. Obwohl er sich bereits als Schüler schriftstellerisch versucht und später unter anderem drei Bände Prosaskizzen veröffentlicht hatte, setzte er sich als Schriftsteller allerdings erst relativ spät durch: Erst der Roman "Jettchen Gebert" (1906) machte ihn mit einem Schlag berühmt. "Jettchen Gebert" und sein Fortsetzungsband "Henriette Jacoby", die ein Bild des liberalen Geistes im Berlin der 1840er Jahre in einer jüdischen Familie zeichnen, waren Bestseller mit zusammen mehr als 260 Auflagen. Hermann lebte fortan als vielgelesener Romancier in Berlin, zeitweise in Neckargemünd bei Heidelberg. Sein literarisches Vorbild war Theodor Fontane, was ihm auch die Bezeichnung "jüdischer Fontane" eintrug. Neben oft stark autobiografisch getönten jüdisch-bürgerlichen Themen griff er auch Stoffe aus den unteren sozialen Schichten ("Kubinke", 1910, der Zuhälterroman "Rosenemil", 1935) und aus der preußischen Geschichte auf. Seine Romane sind Unterhaltungsliteratur von Rang, wie sie in Deutschland selten ist.Durch die nationalsozialistischen Machthaber ständig bedroht, entschloss sich Hermann nach dem Reichstagsbrand im Jahre 1933, Deutschland zu verlassen und ging nach Holland ins Exil. Seine Werke standen auf der "Schwarzen Liste" und wurden bei den Bücherverbrennungen im Mai 1933 den Flammen übergeben. Im Exil schrieb Hermann unter schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen weitere Romane. Nach der Besetzung durch die deutsche Wehrmacht wurde Hermann mit seiner Tochter aus zweiter Ehe Ursula und deren Sohn Michael in das Durchgangslager Westerbork und am 16. November 1943 ohne Tochter und Enkel in das KZ Auschwitz deportiert.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 288
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Georg Hermann
Ernste Plaudereien
Saga
Vom gesicherten und ungesicherten Leben
© 1915 Georg Hermann
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711517222
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com
Keinen Anspruch erhebe ich darauf, mich mit den Realitäten dieser Welt in Einklang zu bringen. Ich suche auch kein Ziel darin, diese in irgend einer Weise abzuändern. Ich erlaube mir nur, zu bemerken, dass ich mit ihnen vielfach nicht übereinstimme.
Immerhin würde es mich freuen, wenn ich etwelchen, von denen, die sich auch nicht mit ihnen abfinden können, die stumme Seele löse.
Neckargemünd, Mai 1915.
Georg Hermann
Seit Jahren habe ich den Wunsch, über das gesicherte und ungesicherte Leben zu schreiben; aber ein inneres Bangen hat mich immer wieder davon abgehalten, es zu tun. Denn ich fühlte, es stand viel dabei für mich auf dem Spiel. Mehr als viel: alles. Es war ‚meine‘ Sache, die ich hier führen wollte, meine eigenste Lebenssache, war der letzte schlummernde Grund meines Seins, den ich hiermit aufrühren wollte. Etwas war es, das einmal gesagt werden musste und von dem ich doch stets empfand, dass ich ihm nicht die gehoffte Form geben konnte — weil ich es eben nur wie einen Albdruck gefühlt und nie im reinen Licht der Erkenntnis erblickt hatte. Und trotzdem, weiss ich, würde es mich noch in letzter Stunde reuen, mit stummen Lippen geblieben zu sein, als hätte ich eine Lüge und Feigheit damit begangen.
Aber immer fragte ich mich, wie sollte ich über das gesicherte und ungesicherte Leben mich äussern können, da ich ja das eine, das gesicherte, nie kennen gelernt habe, davon reden würde, wie der Blinde von der Farbe, mit Übertreibungen, mit Unmöglichkeiten, mit Ungerechtigkeiten.
Und weiter sagte ich mir, die, alle die vom gesicherten Leben würden ja gar nicht verstehen, was ich eigentlich meinte, und die wieder vom ungesicherten Leben werden nicht begreifen, warum ich über so alltägliche Dinge spreche, die sie sich längst an den Schuhen abgelaufen haben, und die ihnen so selbstverständlich sind, dass sie es sich abgewöhnt haben, darüber nachzudenken. Denn das eine schien mir erwiesen: genau so wie die Erde in eine nördliche und in eine südliche Hälfte zerfällt, und es auf der einen Sommer ist, zur Zeit, da es auf der anderen Winter ist, so ist die Menschenwelt in zwei Hemisphären geteilt, die vom gesicherten und die vom ungesicherten Leben. Und bei der einen ist Sommer, wenn es bei der anderen Winter ist — und umgekehrt. Sie verstehen sich nicht, sie kennen sich nicht, sie leben nebeneinander her und reden verschiedene Sprachen des Gefühls. Jedes Wort hat andere Resonanz, wächst aus anderem Urgrund — und keinen Sachs-Villatte gibt es, mit dessen Hilfe man es von der einen Sprache in die andere übertragen könnte. Ein Äquator trennt beide Welten. Nicht unüberschreitbar, aber man wird getauft, wenn man ihn passiert. Gewiss, es bleibt noch eine dumpfe nebelhafte Erinnerung an die alte Ursprache des Seins zurück, so wie unsere Eichen unten im Süden noch ein paarmal die Blätter abwerfen, wenn es in ihrer alten Heimat Herbst wird, und Bananen bei uns vielleicht blühen, aber kaum Frucht ansetzen. Gewiss ... aber das wird schnell übertönt durch die neue Gegenwart.
Scharf getrennt also — so sage ich — ist das gesicherte und das ungesicherte Leben. Geschieden durch Welten und Meere sind ihre Anhänger und Bekenner. Das heisst, sie sind meist Anhänger und Bekenner, ohne es sich gewählt zu haben, hineingeboren, hineingestellt. Der Kolibri flatterte und schwirrte nicht in der ganzen Welt umher und suchte sich endlich Brasilien als Heimat aus, sondern Brasilien schuf sich den Kolibri, ebenso wie Spitzbergen sein Weidengestrüpp und seine Zwergbirken, die einen kurzen Sommermond zwischen Steinen und am Rande der Gletscher den melancholischen Kreislauf ihres Daseins erfüllen.
Ja, wird man fragen, wie kann der hier denn mit Begriffen hantieren, die ganz vage und ungeklärt sind! Was heisst denn gesichertes und ungesichertes Leben? Ist es nicht tief in der Wesenheit alles Lebens begründet, dass es ungesichert ist? Ist nicht jedes Leben ein Gehen über schwankem Sumpfboden? Einmal kommt doch die Stelle, da man durchbricht und ins Bodenlose versinkt. Selbst eine Riesenschildkröte, solch ein lebendes Panzerfort, das durch Jahrhunderte den gleichen milden Stumpfsinn seines kühlen Daseins verträumt, selbst ein Drachenbaum, der durch ein Jahrtausend die brennende Glut Teneriffas in sich eintrinkt, sind endlich genau so ungesichert wie ein Käferchen, dessen Dasein sich an einem hellen Frühlingstag vollendet. Zum Schluss sind sie alle den gleichen Mächten unterworfen, und nur Gradunterschiede sind es, die jene halben Ewigkeiten von fliehenden Sekunden trennen. Also wie kann man da von einem gesicherten Leben sprechen?!
Und ist es nicht oft der Trost der Armen, dass in dieser Welt die Ersten wie die Letzten den gleichen Lebensgesetzen unterworfen sind? Wie oft habe ich nicht von einfachen Frauen gehört: „Gott sei Dank, dass die wenigstens ihre Kinder allein kriegen muss, und es sich nicht auch noch von uns anderen abnehmen lassen kann.“ ‚Ob Hoch, ob Niedrig — das Menschliche muss jeder ausbaden.‘
Also bedeutet das gesicherte Leben wirklich nichts anderes als Reichtum, generationengehütete Wohlhabenheit, gutbürgerliche Existenz, Scheckbuch, Bankkonto, Zinsen, Landhaus, nichts: als ausserhalb des Bannkreises direkter oder indirekter Not stehen? Sind wirklich nur so grobmaterielle Dinge letzten Endes bestimmend über Wohl und Wehe? Schaffen sie die zwei Hemisphären der Menschenwelt? Läuft es nur zum Schluss auf die alte Geschichte von den hungrigen und den satten Ratten hinaus? Und dann — wo sollten die Grenzen sein? Bestimmt man die nach den Steuerstufen? Und sind nicht je nach der Lebenshaltung für den einen zehntausend Mark eine Summe, die ihn und die Seinen scheinbar für ewige Zeiten sicherstellt, während sie für den anderen als Jahreseinkommen im günstigsten Fall nicht mehr bedeutet, als eine löchrige Decke, die an allen Ecken zu kurz ist, wie er sich auch drehen und wenden mag. — Also?! —
Und fühlt sich nicht auch der Arbeiter, der Samstags in der Kneipe auf den abgehobelten Tisch mit der Faust schlägt, breitbrüstig, gewaltig, geladen mit Kraft, im Augenblick ebenso gesichert, wie jene?
Und das Bettlerkind, das auf dem Hof in einer Ecke mit ein paar Holzknebeln spielt, — hat es nicht eine Sorglosigkeit und Sicherheit, die durch keinen Besitz zu erkaufen ist?
Ersetzt nicht das Gefühl von Kraft, von Gesundheit oftmals alle Empfindungen von Geborgenheit, die der Besitz zu geben weiss?
Kann nicht der Weise so gut wie der Gläubige durch die Selbsttäuschung des Denkens oder des blinden Sichhingebens sich unverlierbar-eingefügt in das Weltganze fühlen?
Oder man brauchte den Schutzmann nur anzusehen, der an der Strassenkreuzung mit erhobener Hand den Verkehr lenkt, um an ihm und in ihm den Ausdruck des gesicherten Lebens in strahlendster Blütenfülle offenbart zu finden. Nicht das Einzelleben, das doch Zufälligkeiten ausgesetzt ist, nein, den Staat, bestehend, ungebunden an menschliche Schwäche, vertritt er; nicht das simple gesicherte Leben des Villenbesitzers, — das für Jahrhunderte garantierte Leben vertritt er. Er ist zuerst Uniform, zu zweit nebensächliche Füllung dieser Uniform und zu dritt erst Mensch, Einzelner, Individuum, armseliges, zweizinkiges Wesen. Und gewiss ist, dass sein zweites und drittes für ihn im Augenblick ebensowenig bedeutet wie für uns. Ein gut Teil der Menschheit aber ist in diese Uniform gesteckt, die nicht immer buntfarbig mit Litzen und blanken Knöpfen zu prunken brauchen, aber vom Schullehrer so gut und sichtbarlich getragen werden, wie vom Kanzleirat, vom Referendar und vom Herrenhausmitglied so gut wie vom ordentlichen Professor der Nationalökonomie.
Also was ist es um das gesicherte Leben? Ist es Reichtum, gutbürgerlich, generationengehütet, Handel, Geschäft, Leitung, Selbständigkeit? Ist es der Vollbesitz von Kraft, der nach Entladung sich sehnt? Ist es die himmelblaue Sorglosigkeit des Kindes? Ist es die Erkenntnis des Denkers: mir kann nichts geschehen; nichts geht verloren; alles rollt weiter von Ewigkeit zu Ewigkeit? Ist es das gläubige Sichhingeben, das Schwimmen im All, eine Autosuggestion, der der geistig Arme unterliegen kann und gegen die der Intellekt sich sträubt? Ist es Gesundheit? Der ungehemmte Ablauf des Lebensprozesses mit Schlaf und Wachen, Essen und Ausscheiden, mit erfülltem Wunschleben, in dem alles sich ausbalanciert und immer noch ein Plus bleibt? Ist es das Eingegliedertsein in den Bienenstock des Staates, der Glaube an ihn — als reale Macht, das Sicheinsfühlen mit ihm: l’état c’est moi?
All das ist es wohl ... jedes ist es wohl ... aber es braucht es nicht zu sein. Ist im besten Fall doch nur eine Begleiterscheinung des gesicherten Lebens, eine Voraussetzung. Ist das Fundament, aus dem das gesicherte Leben sich aufbaut — nicht mehr. Das gesicherte Leben selbst ist eine Gefühlsbetonung, ein Sehwinkel, eine unbewusste Philosophie, die man bewusst nicht erwerben kann, ein Fluidum, eine Aureole, die man nicht durchbrechen kann, denn wohin man auch gehe, man trägt sie mit sich. Es ist ein Schutzwall gegen tausende von Eindrücken und ein Gradmesser für hunderte von Handlungen.
Ich kann schwer sagen, woran man die Leute vom gesicherten Leben erkennt; aber man erkennt sie. Nicht an der Gesichtsfarbe, nicht an der Kleidung, trotzdem die auch mitspricht. Ein Mann vom ungesicherten Leben zum Beispiel kann sich wohl eleganter, reicher, besser kleiden, wird oft mehr auf Kleidung geben müssen; aber der Mann vom gesicherten Leben trägt seine Sachen selbstverständlicher auf dem Leib, bezahlter, er bewegt sich gleichgültiger darin. Auch wenn er nichts auf Kleidung gibt, wird man ihn nie mit jemand verwechseln, den eben die Not zwingt, sich ärmlich oder nachlässig zu kleiden.
Also nicht an der Kleidung erkennt man den Mann vom gesicherten Leben, sondern an den Augen. Auch nicht an den Augen, sondern am Blick. Auch eigentlich nicht am Blick — den können hunderterlei Äusserlichkeiten beeinflussen ... überhaupt nicht an irgend etwas, was diese Augen haben, sondern nur an etwas, was ihnen fehlt, was bei ihnen nicht da ist und das den anderen — den Ungesicherten — auf dem Grund der Augen (und nur da) schwimmt, als ein Flackern, ein Nachinnenleuchten, als der Reflex einer Frage, einer Ungewissheit, einer Angst, eines Nichtvergessenkönnens, als ein steter (gleichsam sich selbst belauschender) Unterton leiser Nachdenksamkeit. An dem Fehlen dieses Untertons im Blick erkennt man den Mann vom gesicherten Leben. Denn die Augen sind die einzige Stelle, an der das lederne Futteral der Seele so dünn ist, dass der Inhalt durchschimmert.
Gewiss, man erkennt ihn auch an anderen Dingen. Ein Mann vom gesicherten Leben, ein Mann in einem Automobil ‚beiläufig‘ zieht sich schon anders die Handschuhe an als unsereiner. Er hat so eine wunderbar unnachahmliche Art, dabei ins Leere, an den Dingen und Menschen vorbei, durch die Dinge und Menschen hindurch zu sehen, als wäre die Welt aus Glas. Er raucht auch anders seine Zigarre, als wir. Er schmaucht nicht daran, wie der Arbeiter, der vom Bau kommt; er bläst wohlgesetzt, leicht und nachdenklich vor sich hin. (Sieht man doch sogar einem Mann in einer Wirtsstube an, ob er seine Alltagszigarre raucht, oder sich einmal eine bessere Sorte gegönnt hat — die ihn für eine halbe Stunde in das gesicherte Leben sich hinüberträumen lässt.)
Gewiss, ich erwähnte schon, dass ja das Menschliche jeder ausbaden muss. Zugegeben, Herr von Goethe. Und es wäre närrisch, anzunehmen — (wie es die Ungesicherten oft in stiller Wut glauben): das gesicherte Leben kenne keine Sorgen, keine Fährnisse, lebe in eitel Lust und Unbekümmertheit dahin.
Nein, nichts macht vor seiner Türe Halt. Aber — und das scheint mir ziemlich beachtenswert! — es zieht sich draussen Filzschuhe an und geht über Teppiche. Da dem gesicherten Leben von den Realitäten der Welt ein grösseres Tortenstück gehört, so hat er auch Sorgen, die an ihnen hängen, wie das angebackene Kantenpapier am Tortenstück — mehr Sorgen als jener vom ungesicherten Leben, der nur heimlich, im Vorbeigehen, sich mal ein Bröckelchen von der Verzuckerung oder ein Blättchen vom Früchtekranz stiebizt. In schlaflosen Nächten denkt er daran, wie er sein Kapital vermehren oder vor Verminderung schützen mag, sein Geschäft heben, seine Stellung in Staat oder Gesellschaft festigen soll, wälzt Transaktionen, Aktien, Anteilscheine, Grundstücke und Hypotheken.
Aber — wenn er diese Gedanken ausschaltet, dann hört er im Hintergrund so ein leises, beruhigendes, einlullendes Rieseln, wie das Sandfliessen einer Eieruhr: Sein Kapital, sein Geschäft, seine Häuser, sein Besitz — all das, was draussen für ihn arbeitet, fern irgendwo in der Welt, ohne sein Zutun, selbsttätig ... und das ihm garantiert, dass das Morgen wie das Heute sein wird, keineswegs allzu wesentlich verschieden. Unbewusst empfindet er dann die beiden Grundworte aller Grammatik: Sein und Haben! Jedes Verb, jedes Zeitwort lässt sich damit biegen, bewegt sich nur durch sie und ist ohne sie nur Schall und Fiktion. Und dank dieser Grundempfindung bestehen eben für den Mann vom gesicherten Leben die Dinge, sind Realitäten: der Staat, das Leben, der Besitz.
Warum in aller Welt soll der Mann vom gesicherten Leben nicht an den Wert des Besitzes glauben, auf den er seine Hände legen kann? und soll nicht mit Giusti sagen:
Ich glaube an des Goldes heil’ges Wesen
Und auch an seinen Sohn, geprägt in Gulden,
Ich glaube an die Trinität der Spesen,
Der Konsols und der indirekten Schulden!?
Warum nicht an den Staat, der ängstlich über das seine wacht, wo er es nicht selbst bewachen kann, der ihn ehrt, und mit dem er sich eins fühlt? und warum nicht an das Leben, das ihm — wenn auch unter Vorbehalt — Garantieen bietet, die das Morgen nicht mehr problematisch machen, das auch für den vom ungesicherten Leben stets problematisch bleibt, selbst wenn es für diesen nicht mehr im wortwörtlichen Sinne zu nehmen ist, sondern einen Monat, ein halbes Jahr, ja sogar Jahr und Tag heisst ... Was ändert das? Immer noch wirft es als ‚Morgen‘ seine bänglichen Schatten voraus.
Gewiss — der Mann vom gesicherten Leben kann ebenso vom Dasein ausser Gefecht gesetzt werden und ist ebenso zum Schluss allen blöden Zufälligkeiten ausgesetzt, die den Gang der Maschine hemmen, in Unordnung bringen und aufheben; wenn auch — das wollen wir doch nicht vergessen: — der Kuppler auf dem Rangierbahnhof, die Spiegellegerin, der Glasschleifer, der Barchentzuschneider, der Drucker bei seinen Bleidämpfen, der Maschinist, der zwischen den schnurrenden Transmissionen auf einem Quadratmeter Beton seinen Tag und oft auch seine Nacht verbringt, von diesen blöden Zufälligkeiten ein ganz klein wenig stärker umlauert ist.
Aber — auch das wollen wir betonen! — der Mann vom gesicherten Leben kann mit ziemlicher Bestimmtheit darauf rechnen, dass alle Katastrophen seines Daseins sich in annehmbaren Formen vollziehen werden. ... So kommt zum Beispiel der Kampf zweier Menschen, die in ein Gespann sich gezwängt haben und nun sich an den Geschirren und aneinander wundreiben, bei denen vom gesicherten Leben doch nicht bis zu den letzten Tiefen seelischer Bitterkeit. Die meisten meiner Bekannten haben — sofern sie zum gesicherten Leben gehörten — den Luxus zum mindesten einer Ehescheidung sich leisten können, während die Ehe bei denen vom ungesicherten Leben naturgemäss stets eine Quälerei ohne Ende bedeutete.
Selbst der Tod wird erst bei dem Mann vom gesicherten Leben fünf Professoren und einen grossen Operateur fragen, ob er anklopfen darf, oder ob er vielleicht in einem Vierteljahr in irgend einem Sanatorium, fernab inmitten von Tannenwäldern, in der Nachbarschaft der Gletscher, in der Sonne Ägyptens oder über den zackigen Klippen der Adria noch einmal nachfragen soll ... allwo für ihn alles vorbereitet ist, damit sich seine Arbeit geräuschloser und weniger störend für die Umgebung vollziehen kann. Während er bei dem Mann vom ungesicherten Leben sich nicht erst lange mit der Vorrede aufhält, der Tod, sondern meist fest zupackt, ohne jenem Zeit zu lassen, die Sielen von den müden Schultern zu werfen. Und das ist gut so. — Denn es wäre selbst für eine Institution, wie der Tod ist, allzu grausam, wenn sie dem Manne vom ungesicherten Leben noch viel Zeit zum Rückdenken über sein Dasein liesse.
Alle äusseren Formen des Daseins also vollziehen sich anders im gesicherten Leben, als im ungesicherten. Und sie haben — darauf kommt es mehr an, ein anderes seelisches Widerspiel.
Der Mann vom gesicherten Leben kann sogar mit dem Dasein, der Zeit, dem Bestand der Dinge schmollen, ohne wie der andere seine Existenz zu gefährden. Er kann die Maschine stoppen, wenn sie drauf und dran ist, sich heiss zu laufen. Ja — er braucht nicht einmal etwas zu werden. ‚Ich bin nicht gezwungen, etwas zu werden, wenn ich etwas bin‘. Das ist eine Erkenntnis, die sich dem gesicherten Leben sehr früh einprägt.
Ein Bekannter von mir, der in einer Industriestadt die Schule besucht hat, sagte mir, er hätte gefunden, dass die Söhne reicher Fabrikanten meist frische, helle, nette Jungen gewesen wären, die es ziemlich frühzeitig erfasst hätten, dass es recht wenig darauf ankäme, was sie gerade hier in der Schule erreichten, da das Bett so und so für sie gemacht sei und schon bereit stände. Und die ferner ebenso frühzeitig auch erfasst hätten, dass solch ein Lehrer, der sich hier als Jupiter tonans aufspiele, eigentlich ein armes Luder wäre, solch eine Art von Angestellter, der nicht viel mehr verdiene als ein Werkmeister, den Papa nach Wunsch und Willen an die Luft setzen könne.
Der Mann vom gesicherten Leben kann sich sogar mit Bewusstheit abseits stellen und mit der eisernen Stirn des konsequenten Denkers philosophieren, indem er denen Recht gibt, die sowieso schon Recht haben. Ach, wie mir diese Millionärsphilosophie à la Carnegie und Rathenau zuwider ist, die glaubt wunder, was sie tut, wenn sie sich nicht als Individuum fühlt — (nichts leichter als das, wenn meine Individualität gesichert und unbezweifelbar ist!) und die nun in Gruppen, Staaten, Zusammenhängen und Entwicklungsmöglichkeiten seelenlos wie eine Rechenmaschine darauf losbaut. Das Wort Armut hat für sie eine ähnliche Gefühlsbetonung wie das Wort Krankheit für den Gesunden ... nämlich als eins Sache, von deren naturgesetzlicher Notwendigkeit sie für die anderen überzeugt sind, und an die sie im besten Fall mit einem freundlichen Schauder von Mitleid denken, wenn sie es nicht vorziehen, an ihr vorbei und um sie herumzudenken — oder mit Ruskin eine wohl begründete und vernünftige Verachtung für sie hegen. Ich hasse die Menschen, die über zerstampfte Individuen fort, in grossen Einheiten denken. Es ist so leicht, heroisch zu sein für die Kinder anderer Leute. Ich glaube fast, zum Schluss ist es für den Millionär ebenso leicht, sich den Mantel des Philosophen umzuhängen, als hunderttausend Mark im Jeu klein zu kriegen; beides ist eine angenehme Sensation und trifft ihn nicht im Kern. Aber, dass der Mann vom gesicherten Leben mit dem Dasein schmollt oder es aus der Vogelschau betrachtet, ist doch nur eine abwegige Erscheinung. Der ganze Staat, die ganze Welt wird ja doch von Leuten vom gesicherten Leben betreut. Nein, der Mann vom gesicherten Leben wird immer etwas. Er wird Arzt oder Rechtsanwalt, Fabrikant, Beamter, Offizier, Bankmensch oder Kaufmann, Professor oder Richter — und er wird in einem genau vorgeschriebenen Rhythmus alle seine Examina erledigen, mit kürzerem oder längerem Anlauf alle Hürden nehmen, um dort anzukommen, wo er zu landen vor zehn Jahren und länger schon beabsichtigte.
Wenn man so in Gedanken seine Jugendbegleiter, sofern sie in das gesicherte Leben hineingeboren waren, vorüberdefilieren lässt ... sie wollten das und jenes werden, und sie wurden das und jenes. Mit der Sicherheit einer Uhr, eines guten Glashütter Werks, von dem man genau weiss, um 12 Uhr 5 wird es 12 Uhr 5 zeigen, erreichten sie ihre Ziele, und man hörte nie wieder etwas von ihnen.
Nur in Romanen entgleisen die Leute dutzendweise, werden abgeschoben, kommen in den Strudel, gehen unter, werfen einer Liebesleidenschaft Vermögen, Karriere und sich selbst nach, suchen in wilder Abenteurerlust nach neuer Existenz in fernen Ländern — — im Leben dagegen bleiben von den Gesicherten von hundert neunundneunzig bei der Stange. Vielleicht, dass man dann mal in einem Villenvorort an irgend einer netten Besitzung ihren Namen findet, oder an der Firmentafel eines Bureauhauses der Innenstadt, und sich halb bewundernd halb mitleidig sagt: ‚Das kann kein anderer sein, als der kleine so und so. Schade — der versprach etwas.‘ — Es liegt etwas Tragisches darin — meint jemand irgendwo — dass so eine ungeheure Zahl junger Leute ihr Leben in Schönheit beginnt, um schliesslich einen nützlichen Beruf zu ergreifen.
Wenn man sie aber selbst fragt, haben sie den Mund voll Bonhommie, ein Lächeln auf dem Gesicht, Zufriedenheit im Blick, sagen, sie wären das und das und stellen ihre Frau vor, die so wundervoll zu ihnen passt, als wäre sie aus derselben Form gepresst und aus derselben Fabrik bezogen. Mit sich — (sie sagen sich logisch: ich muss doch etwas sein, da ich etwas bin) der Familie, dem Staat, dem Leben hatten sie sich in vorbildlicher Weise abgefunden. Vielleicht eröffnen sie uns in später Stunde beim Glase Wein, dass dem nicht ganz so wäre, — aber das sind zumeist doch nur akademische Erörterungen.
Das gesicherte Leben ist das, was am meisten gedacht wird. Die Gedanken aller Welt pendeln ständig um das gesicherte Leben. Es wird sogar noch mehr gedacht als Frauen, von denen doch gleichsam jedem Manne das ganze Geschlecht als Gedankenreservat zugeteilt ist. Der Mann vom ungesicherten Leben ist fast zwangsläufig dazu verdammt, an das gesicherte Leben zu denken. „Der Arme kann nichts denken als Geld,“ sagt Wilde — und er macht für seine Person dem gesicherten Leben die allertiefste Verbeugung, wenn er sich zu der Äusserung bekennt: „Besser ein ständiges Einkommen haben, als zu faszinieren.“ Der Mann vom gesicherten Leben aber vergisst nie, dass er das gesicherte Leben besitzt, und nur die eine Aufgabe kennt, es zu bewahren. Und der Mann vom ungesicherten Leben vergisst noch weniger, dass er es nicht besitzt und dass es — wenn irgendwie angängig — seine einzige Aufgabe ist, es zu erringen, ganz gleich, mit welchen Mitteln.
So ist das gesicherte Leben das Ideal aller, die Sehnsucht, der Kampf, der Traum. Der Arbeiter, der Kaufmannsgehilfe — meist übler bestallt als jener — der arme Student, der Bohême, der Künstler, das Laufmädchen, die Ladnerin — alle kennen nur ein Ziel: das gesicherte Leben. Jeder will es anderer Zwecke wegen. Der möchte sich satt essen, gut wohnen, sich ausschlafen, den wahnwitzigen Tagesfron mit anderer Beschäftigung vertauschen, die ihm sinnvoller erscheint. Dem anderen soll es nur Mittel zum Zweck sein, um frei zu atmen, zu reisen, Kunst zu sehen, um nach Wunsch und Willen an den Schönheitsgütern und dem Geisteserbe Anteil zu haben ... gar nicht, um sie zu besitzen, nur um sie sich zu eröffnen. (Spanien! Velazquez! die Volksfluten der Neuen Welt!) Nein, die Automobilwünsche des Lebens, nach denen andere jampeln und jagen, um die lässt er gern Schieber, Spekulanten und Kokotten sich prügeln!
Selbst die Ehe, die doch eigentlich nach anderen Motiven geregelt werden sollte, ist — und hierin stimmen alle Kulturstufen vom Buschmann bis zu den Mayflowerleuten überein — in der Idee zum mindesten eine Spekulation auf das gesicherte Leben. Man braucht nicht einmal die Heiratsannoncen unserer Tageszeitungen heranzuziehen, in denen ganz unumwunden immer wieder mit fettem Druck das Wort ‚Sicher‘, ‚Gesichert‘, ‚Lebensstellung‘ hervorgehoben werden, und Zahlenangaben fast nie fehlen, um das bestätigt zu finden. Alle Mädchenträume von Grafen und reichen Liebhabern, die dann die Geliebte ‚ehrlich machen‘, gipfeln ebenso darin, wie die Heiratsideen der Junggesellen und die landesübliche Goldfischjagd der Adelskreise. Alle pendeln, wenn sie es auch nicht wahr haben wollen, um den einen Punkt der Lebenssicherheit, wie die Motte ums Licht. So weiss ich zum Beispiel einen nicht allzu begüterten, schon ein wenig angejahrten Junggesellen, bei dem ich wohl schon Zeuge von einem Dutzend Heiratsprojekten war, die sich alle in von ihm blutig ernst gemeinten Verliebtheiten austobten, ohne dass es ihm je gelungen wäre, seine Neigung an ein Mädchen von unter einer halben Million mutmasslicher Mitgift zu verschwenden.
Die meisten unserer schönen, sentimentalen oberbayrischen Stücke beruhen, um es prosaisch zu umschreiben, auf dem dort landesüblichen Herkommen, dass der Dienstknecht zuerst einmal mit allen — auch den am wenigsten einwandsfreien — Mitteln versucht, die Tochter seines Dienstherrn zu schwängern. Und was ist das anderes, als eine etwas rigorose Art, um in das gesicherte Leben hinüberzuvoltigieren?
Man spricht ja ganz offen davon: die oder der haben ihr ‚Glück‘ gemacht. Das heisst, sie haben sich durch die Ehe in das gesicherte Leben hinübergeflüchtet. Kein Mensch wird unter dieser Redewendung etwas anderes verstehen, als eitel materielle Dinge. Und wenn zum Schluss doch nicht alle Ehen — weder die der Gesicherten noch die der Ungesicherten — unter dem Gesichtswinkel zustande kommen, so liegt das daran, dass die unerklärlichen Mächte der Anziehung vielfach noch stärker als die Hemmungen bewusster oder unbewusster Überlegungen sind; und dass die Zahl derer vom gesicherten Leben auf beiden Seiten so klein ist, dass notgedrungen, selbst bei niedriger Summe der zu schliessenden Ehen, in dieser auf so ungünstiger Grundlage sich aufbauenden Lotterie die Mengen der Nieten ganz ungeheuerlich überwiegen muss.
Und da diese Zahl der Lebensnieten so überwiegt, so ist man daran gegangen, irreale Ausgleiche zu schaffen. Die landläufige Romanliteratur, die Erzählungen aller Länder, wie sie Leihbibliotheken, Tageszeitungen, Zeitschriften mit grosser Verbreitung beherrschen, trägt diesen Wünschen nach dem gesicherten Leben Rechnung. Von Leuten, die auf der Nordhälfte des Daseins stehen, wollen auch die Ungesicherten nichts hören — es sei denn, sie machen sich als Aussenseiter des Lebens selbstherrlich und verbrecherisch beachtenswert! — Warum lesen die vom ungesicherten Leben denn? Doch nur, um eine irreale Wunscherfüllung zu erfahren, sich zu illusionieren, gesichert zu fühlen. Ergänzungsphilosophie! Sie wollen reich, edel, begabt, kleinlichen Sorgen enthoben, mit Inbrunst geliebt in ihren Buchträumen sein. Deshalb ziehen jährlich mehr Fürsten, Grafen, Barone, Prinzen durch die Blätter unserer Romane, als der Gotha sich in einem Jahrzehnt leistet. Und nebenher wimmelt es noch von berühmten Künstlern, die in Frauengunst, Ruhm, Erfolg, Geld nur so plantschen, aber es (man merke!) auch einmal anders gekannt haben.
Zu ihnen gesellt sich weiter in Heuschreckenschwärmen der Grubenbesitzer, der mit eiserner Energie Millionenpläne wälzt. (Früher war er selbst noch Arbeiter gewesen; jetzt begnügt man sich damit, wenigstens den Vater zum einfachen Arbeiter zu degradieren.) Ich habe noch nie einen Grubenbesitzer gesehen. Ich glaube, es gibt gar keine. Denn wie eine Wolke von unfassbaren Nebeln wallt über den Gruben eine unqualifizierbare Menge von steigenden oder sinkenden Aktien, Papieren, Obligationen, um den ganzen Erdkreis verflatternd. Aber man kann kaum einen ‚Roman‘ in die Finger kriegen, ohne dem Grubenbesitzer in die Arme zu laufen, (während man Besitzern von Leimsiedereien, Engros-Rossschlächtern, Fabrikanten von Kanalisationsröhren, die doch weit häufiger sind, und die gewiss auch zum gesicherten Leben gezählt werden müssen, in Romanen nur selten begegnet und sie auch nur ungern dort antrifft).
Ein stets wiederkehrender Vorwurf dieser Erzählungen ist es auch, dass Menschen vom ungesicherten Leben in das gesicherte sich hinein kämpfen, sich dort nicht halten können, und wieder in das ungesicherte zurückfallen. Sie finden dann dort ihr eigentliches Glück — wie im ‚Fallissement‘; — oder sie vermögen (und das ist häufiger) den Wechsel nicht mehr zu ertragen. Beides, glaube ich, soll letzten Endes bedeuten, dass die Weltordnung, so wie sie ist, gut ist, sich nichts erzwingen lässt, und dass der ‚Gotha des gesicherten Lebens‘ besser unter sich bleibt.
So die vom ungesicherten! Aber auch die vom gesicherten hören nicht gern vom ungesicherten Leben etwas. Vor zwanzig Jahren liebte man das noch, (schon weil das die anderen Rinnsteinkunst nannten), heute nicht mehr. Ich, der ich einmal ein solches Buch der Hintertreppe schrieb, keineswegs bitter, eher lachend und leichtsinnig und skrupellos — (man griff mich deswegen von sozialistischer Seite genug an!) machte hier eine seltsame Erfahrung: Frauen besserer Stände, eifrige Romanleserinnen sonst, sagten mir, sie mochten es nicht, wollten es nicht lesen. Nicht etwa, dass sie kritische Ausstände machten, — nein: sie hätten einfach keine Lust, noch in ihren Mussestunden von Dienstmädchen zu hören. Sie hätten schon so genug von ihnen. An ihren persönlichen Sorgen wollten sie nicht teilnehmen.
Das bedeutete: sie lehnten das Buch ab, einzig, weil es ihnen keine Wunscherfüllung bot. Nicht einmal eine Spiegelung; auch keine Lebenssicherheit; noch weniger Helden, auf die sie ihre Scheingefühle übertragen konnten; und erst recht keine Heldinnen, mit denen sie sich gleichsetzen wollten. Die tiefe Lebensunsicherheit des Urgrunds berührte sie doppelt peinlich, weil er doch ihrer eigenen Lebenssicherheit räumlich so unerhört nahe war, und deshalb für sie auch nichts von dem geheimen Reiz einer fernab liegenden und asiatischen Lebensunsicherheit (wie bei ‚Nachtasyl‘!) haben konnte, nach der man — schlichtweg bis ins letzte Mark durchrüttelt und erschüttert — bei Kempinski gedankenvoll und sanft schmatzend, seine Hummermayonnaise in sich einverleiben kann.
Ähnlich wie unser Schrifttum weiss der Staat genau, was er tut, wenn er, — was dieses doch nur in der Suggestion kann — das gesicherte Leben als Köder auswirft, es zur Grundlage für fast jede Anstellung, für Militär und Beamtenhierarchie macht. Er bietet wenig — der Staat; aber er bietet in dem Wenigen das gesicherte Leben; was private Unternehmungen, die oft mehr bieten, weil sie gezwungen sind, intensiveres Menschenmaterial an sich zu fesseln, nur selten tun! Er stellt aber an, der Staat, lebenslänglich, zahlt bei Alter, Invalidität, erleichtert die Ehen dadurch, garantiert noch Witwen und Waisen eine, sei es auch kümmerliche, Lebenshaltung. Und wenn man auch tausenderlei dabei in Kauf nehmen muss, bei dem man oft sein Ich, seine Meinung, die Logik seines Denkens aufzugeben genötigt ist, der schmackhafte Wurm, der so verlockend am Köder sich ringelt, macht immer wieder, dass die Fische sich um die Angel drängen. (Rückwirkend macht es sich zum Beispiel auch so bemerkbar, dass für die Ehe ein kleiner Beamter höher bewertet wird, als ein gut verdienender Agent oder Verkäufer, der als Mann des ungesicherten Lebens doch — wie günstig seine Lage auch im Augenblick sein mag, — vorerst in zweiter Linie kommt.)
Man kann den Staat, das gesicherte Leben und das Gesetz fast identifizieren. Und da der Staat wieder in Militär und Beamtentum seinen Ausdruck findet, in denen nur der Mann bisher Platz hat, so weiss eigentlich das Gesetz noch nichts von der Existenz der Frau und vergewaltigt ihre Existenz in tausend Paragraphen, ohne überhaupt sich dieser Einschränkung bewusst zu werden. Zudem sind die Gesetze vom Besitz gemacht, vom gesicherten Leben, sind von einem Tausendstel der Menschheit ersonnen und der Empfindung eines Zwanzigstels angepasst; und deshalb verstehen es auch die übrigen neunzehn Zwanzigstel — die vom ungesicherten Leben — nicht. Sie sehen im Gesetz stets nur eine ihnen feindliche, ewig unheimlich-arbeitende Sortiermaschine, die sie weder nach Zweck, noch nach Mechanismus begreifen — eine Maschine von der Art derer, die die grossen Konservenfabriken aufstellen, um die grünen Erbsen nach der Grösse zu sondern. Die kleinen Erbsen fallen eben durch die Löcher der Siebe, und die grossen Erbsen nicht. Mögen sich die kleinen Erbsen immerhin eine Weile halten, angstvoll hin und her kullern, sich in die Ecken klemmen, mal purzeln sie eben doch durch. Was können sie dafür, dass sie zu klein sind!
Den Ausdruck der Gesetze des gesicherten Lebens nennt man Moral oder vielleicht umgekehrt: die Gesetze sind der Ausdruck der Moral des gesicherten Lebens. Keine Haarspaltereien! Genug — Moral ist ein Luxus, den man sich erst von einer gewissen Steuerstufe an leisten kann. Man nenne nicht die Leute unter dieser Steuerstufe unmoralisch. Sie haben nur eine andere Moral, und gegen jene verstossen die Leute vom gesicherten Leben genau so, wie diese gegen die der anderen. So, wie erst bei Wohnungen von gewisser Grösse an sich Badeeinrichtungen für den täglichen Gebrauch vorfinden, grade so wird auch erst bei einem Einkommen von einer gewissen Höhe an eine Moral für den täglichen Gebrauch mitvermietet. Und es ist nicht anzunehmen, dass zum Beispiel in der rund einen Viertelmillion Wohnungen in Berlin, die nur aus einem Zimmer bestehen, aber meist von vier und mehr, ja sogar manche glatt und rund von dreizehn Personen zugleich bewohnt werden — dass sich in diesen Wohnungen allzuhäufig Badeeinrichtungen vorfinden.
Der falsche Bürgermeister von Köslin, der sich mit etwas unerlaubten Mitteln (doch ohne besondere Schädigung anderer) in das gesicherte Leben hineinschwindeln wollte, in das er nach Aussage aller vermöge seiner Leistungen und Fähigkeiten wohl gehörte, und der das nun hart genug zu büssen hat, hat vor den Richtern ein paar nette Worte zu unserm Thema gesagt, die naturgemäss wirkungslos verhallten.
Selbst die körperliche Moral, die doch bei allen nur wenig unterschieden zu sein brauchte, differiert im gesicherten und im ungesicherten Leben bedeutend. So mag es zum Beispiel in gewissen Schichtungen des ungesicherten Lebens als ein Vorzug angesehen werden, den die Frau vor dem Manne hat, dass die Frau im Falle der Not (oder auch ohne sie) fast ungestraft ihr Geschlecht verkaufen kann — eine Sache, die dem Manne doch nur unter sehr komplizierten Voraussetzungen in ehelicher Form straflos erlaubt ist — (siehe Wolzogen ‚der verkaufte Assessor‘).
Auch was wir vielleicht für die Moralbegriffe eines Kindes als Norm betrachten, mag ja — wie ich gern glaube, von der dreizehnjährigen Tochter eines wohlgestellten Arztes im Grossen erfüllt sein; während wir auf diese Erfüllung bei der dreizehnjährigen Tochter einer Schlafstellenvermieterin doch nur in sehr unvollkommenem Masse rechnen können. Und trotzdem wird niemand daran zweifeln, wer etwa numerisch in der Überzahl ist. Also auch hier gab wieder das gesicherte Leben die moralische und gesetzliche Grundlage ab.
Es muss also doch etwas gar nicht Auszudenkend-Wertvolles um das gesicherte Leben sein, da es das einzige Ziel von Millionen Ungesicherter ist. Selbst Leute von Einblick in die Vollziehungsart des Daseins kämpfen mit der ganzen Wucht ihrer Persönlichkeit darum. Balzac’s Lebenslauf ist ein Paradigma der ins Wahnsinnige gesteigerten Jagd nach dem gesicherten Leben ... mit Tagträumen und Illusionen der Erfüllung, die er nicht allein in Romanen von Finanzgenies und Finanzherrschern, von klingenden Goldwellen austönen lässt, nein, um die er wie ein Berserker mit dem ganzen Leibe und seiner ganzen mächtigen Verstandesfülle für sich, für seine Person ringt. Niemand weiss, was dieser Zyklop der Arbeit damit wollte, der, wie er selbst schreibt, nicht einmal für Frauen die Zeit fand. ‚An all dem muss ich Anteil haben, in all das mit Augen, Worten und Sinnen mich einfressen, es soll mir gehören, soll mir durch Verdienst oder Gnade in den Schoss fallen‘. Und davon träumt Balzac, während er in Wuchererhänden sich windet und immer hoffnungsloser sich verstrickt. Und um das zu erreichen, schleudert er eines seiner Werke nach dem anderen aus sich heraus — die für ihn — einzig und allein in der ganzen Welt für ihn! — nicht um ihrer selbst willen da sind.
Auch Maupassant sagte, wie man weiss, hundertmal — und es ist möglich, dass er es selbst glaubte! — er schreibe nur des Verdienens wegen. Und er war ein kaum minder guter Kaufmann als Schriftsteller.
Und mit welcher geschäftlichen Umsicht kämpfte sogar Schopenhauer, der tiefer als irgendeiner vor oder nach ihm in das ungesicherte Leben hinabgelotet hat, um sein bisschen Lebenssicherheit, (das ihm die Unabhängigkeit des freien Denkers garantieren sollte), als der Bankier, der in Zahlungsschwierigkeiten geraten ist, ihm einen Akkord auf sein Guthaben anzubieten wagt. „Sie gehen jetzt bankerott,“ schreibt er ihm, „und Ihre Enkel werden noch in der Equipage an mir vorüberfahren und mich mit Strassenschmutz bespritzen, wenn ich, als altes Männchen, zur Universität humpele.“
Man müsste also danach — und ich nehme an, mit Recht — der Meinung sein, dass alles Bedeutsame, alles Grosse, jede Bewegung, jedes Fortschreiten, jede Kunst, jede Schönheit, jede Leistung, jede Erhöhung, kurz alle schöpferischen Werte aus dem gesicherten Leben emporblühen, und dass die letzte bejahende Sehnsucht alles Daseins in Wahrheit nach dem gesicherten Leben geht. Ja — man müsste es wohl!
Und was ist es nun um das ungesicherte Leben?!