SchneeFall - Michael Peinkofer - E-Book

SchneeFall E-Book

Michael Peinkofer

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Beschreibung

Nichts ist, wie es zu sein scheint - der erste Fall für Krimiautor Peter Fall!

Der Schriftsteller Peter Fall befindet sich in einer Krise, sowohl privat als auch beruflich. Auf Anraten seines Verlegers nimmt er sich eine Auszeit und beschließt, in die Alpen zu fahren - obwohl er Lederhosen und Berge hasst. Hier, in einem stillen Bergdorf, soll er seinen nächsten Roman schreiben. Kaum angekommen, wird das Kaff durch einen heftigen Schneefall von der Außenwelt abgeschnitten - und ein Mord lässt auch nicht lange auf sich warten. Die recht merkwürdigen Dörfler bitten den Schriftsteller um Hilfe. Der lässt sich darauf ein und macht eine erschreckende Entdeckung: Der Mörder geht genau nach seinen Romanen vor. Selbst nach denen, die noch gar nicht geschrieben sind ...

Welche Rätsel das geheimnisvolle Dorf noch für Peter Fall bereithält, verrät MordFall - der zweite Teil des spannenden Kriminalromans.

"Peinkofer und ein Bergler-Krimi? Ja, auch das kann er, noch dazu spannend und unterhaltsam zugleich!" Frankfurter Stadtkurier

eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung.





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Inhalt

Cover

Weitere Titel des Autors bei Bastei Lübbe

Über dieses Buch

Über den Autor

Titel

Impressum

1.

2.

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4.

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6.

7.

8.

9.

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11.

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34.

35.

36.

Nachwort

Weitere Titel des Autors bei Bastei Lübbe

MordFall

Die Erben der schwarzen Flagge

Das Buch von Ascalon

Das verschollene Reich

Der Wind und die Wahrheit

Die Bruderschaft der Runen

Das Vermächtnis der Runen

Die Runen der Freiheit

Bloodcast

Sarah Kincaid Reihe:

Der Schatten von Thot

Die Flamme von Pharos

Am Ufer des Styx

Das Licht von Shambala

Über dieses Buch

Nichts ist, wie es zu sein scheint – der erste Fall für Krimiautor Peter Fall!

Der Schriftsteller Peter Fall befindet sich in einer Krise, sowohl privat als auch beruflich. Auf Anraten seines Verlegers nimmt er sich eine Auszeit und beschließt, in die Alpen zu fahren – obwohl er Lederhosen und Berge hasst. Hier, in einem stillen Bergdorf, soll er seinen nächsten Roman schreiben. Kaum angekommen, wird das Kaff durch einen heftigen Schneefall von der Außenwelt abgeschnitten – und ein Mord lässt auch nicht lange auf sich warten. Die recht merkwürdigen Dörfler bitten den Schriftsteller um Hilfe. Der lässt sich darauf ein und macht eine erschreckende Entdeckung: Der Mörder geht genau nach seinen Romanen vor. Selbst nach denen, die noch gar nicht geschrieben sind …

Welche Rätsel das geheimnisvolle Dorf noch für Peter Fall bereithält, verrät MordFall – der zweite Teil des spannenden Kriminalromans.

eBooks von beTHRILLED – mörderisch gute Unterhaltung.

Über den Autor

Michael Peinkofer, Jahrgang 1969, studierte in München Germanistik, Geschichte und Kommunikationswissenschaft. Seit 1995 arbeitet er als freier Autor, Filmjournalist und Übersetzer. Unter diversen Pseudonymen hat er bereits zahlreiche Romane verschiedener Genres verfasst. Bekannt wurde er durch den Bestseller Die Bruderschaft der Runen und der Abenteuerreihe um Sarah Kincaid, deren abschließender vierter Band mit Das Licht von Shambala vorliegt. Michael Peinkofer lebt mit seiner Familie im Allgäu.

MICHAEL PEINKOFER

SCHNEEFALL

beTHRILLED

Digitale Neuausgabe

»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Copyright © 2014 by Michael Peinkofer

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Autoren- und Verlagsagentur Peter Molden, Köln.

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2014/2021 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Stefan Bauer

Covergestaltung: Guter Punkt, München unter Verwendung von Motiven von © Maryna Patzen/istock; Patchakorn Phom-in/iStock/Getty Images Plus; bluejayphoto/iStock/Getty Images Plus; gyn9038/iStock/Getty Images Plus

eBook-Erstellung: Jilzov Digital Publishing, Düsseldorf

ISBN 978-3-7517-1756-4

be-thrilled.de

lesejury.de

1.

Sein Herzschlag raste, sein Atem ging stoßweise.

Im Laufschritt nahm Nick Stahl die Stufen der Treppe, die wie ein riesiges Gewächs aus Stahl und Rost an dem alten Lagerhaus emporwucherte und unter jedem seiner Schritte erbebte. Seine rechte Hand umklammerte den Griff der Dienstwaffe, der Finger lag am Abzug.

Eisige Kälte hielt Berlin an diesem Morgen in den Klauen. Nick fror erbärmlich, die Kälte schien bis in sein Herz zu reichen. Nicht nur, weil Harvey gestorben war und die Herta wieder verloren hatte. Nein, just an diesem Morgen war auch noch der Reißverschluss seiner Lieblingslederjacke kaputtgegangen, sodass er sie nun offen tragen musste.

Als er die oberste Stufe erreichte, übernahm der routinierte Ermittler in ihm die Kontrolle. Ein heiseres »Polizei!«, dann ein Tritt gegen die rostige Stahltür, die sofort aus den Angeln brach. Im nächsten Augenblick stand Nick bereits in der Dachkammer des Lagerhauses, und sowohl der Geruch, der ihm in die Nase stieg – eine Mischung aus Pizza und Currywurst mit Fritten –, als auch der umherliegende Unrat machten ihm klar, dass der Tipp richtig gewesen sein musste.

Bifteki war hier!

»Gonzo!«, rief Nick laut, während er jeden Quadratmeter der Kammer genau taxierte, die Pistole beidhändig im Anschlag. In schmalen Schäften fiel Tageslicht durch das verbarrikadierte Fenster. Eine alte Holzkiste und ein ramponiertes Sofa bildeten die einzige Einrichtung.

»Gonzo Bifteki!«, wiederholte Nick noch einmal. Über knarrende Dielen trat er auf die Kiste zu, die gerade groß genug war, einen erwachsenen Mann aufzunehmen. »Ich zähle bis drei, dann werde ich anfangen, Luftlöcher in die Kiste zu stanzen, verstanden? Eins«, begann er – weiter kam er nicht. Denn in diesem Moment flog der Deckel der Kiste auf, und ein kleinwüchsiger Mann platzte wie ein Schachtelteufel daraus hervor, die Hände abwehrend erhoben.

»Nicht schießen!«, rief er aufgeregt. »Wie hast du mich gefunden?«

»Tut nichts zur Sache«, beschied ihm Nick. »Wichtig ist nur, dass ich hier bin, Gonzo – oder sollte ich dich lieber ›Fragezeichen‹ nennen?«

Biftekis Augen weiteten sich vor Entsetzen. »Damit habe ich nichts zu tun!«, versicherte er.

»Nein? Warum hast du dich dann hier verkrochen?«

»Weil ich allein sein wollte.«

»Natürlich.« Nick spuckte aus. »Was ist passiert, Gonzo? Haben sie deinen Hund überfahren?«

Bifteki stand wie vom Donner gerührt. Das Entsetzen in seinem Gesicht wurde zu Trauer. »Sein Name war Rolf«, flüsterte er. »Und er war der beste Freund, den ich je hatte.«

»Wirklich?« Nick musterte den Deutschgriechen aus schmalen Augen. Bifteki war ein Ganove, keine Frage. Aber in diesem Augenblick fühlte er sich ihm verbunden. »Tut mir leid, Mann«, versicherte er und ließ die Waffe sinken.

»Schon gut.« Bifteki, der noch immer in der Kiste stand, wischte sich die Augen. »Ist nicht deine Schuld.«

»Ich weiß, wie du dich fühlst. Seinen besten Freund zu verlieren, ist die Hölle.«

»Kann man wohl sagen.«

»Mein bester Freund hieß Fred«, bekannte Nick, der plötzlich das Gefühl hatte, den Schmerz nicht länger zu ertragen. »Vor zwei Tagen habe ich ihn ins Klo gespült.«

»Deinen Hund?«, fragte Gonzo sichtlich verwirrt.

»Nein.« Nick schüttelte den Kopf, seine Züge gefroren. »Harvey war mein über alles geliebter Goldfisch …«

»Das ist ohne Frage die größte Scheiße, die ich jemals gelesen habe!«

Das Urteil war ebenso knapp wie vernichtend. Wie die Axt eines Henkers ging es nieder. Peter Fall zuckte zusammen, als hätte es nicht sein neuestes Werk, sondern ihn selbst getroffen. Dennoch beschloss er, sich ahnungslos zu geben. In Anbetracht der Lage schien ihm dies der einzig gangbare Weg.

»Wie bitte?«, fragte er deshalb und sandte dem Mann auf der anderen Seite des riesigen Schreibtischs aus poliertem Palisander einen verwirrten Blick zu.

Anton Burgstein, Mitte fünfzig und Inhaber des nach ihm benannten Verlages, antwortete nicht sofort. In einer leidend wirkenden Geste nahm er die Lesebrille ab, die er an einer dünnen Silberkette um den Nacken hängen hatte, und massierte die Nasenwurzel. Peter kannte ihn lange genug, um zu wissen, dass dies kein gutes Zeichen war.

»Warum tust du mir das an, Junge?«, begann Burgstein daraufhin zu lamentieren. Trotz der kölschen Sprachfärbung kam er Peter in diesem Moment vor wie ein sizilianischer Pate, der über einen säumigen Schützling zu Gericht saß. »Reicht es nicht, dass unsere Branche von der schwersten Krise seit der Erfindung des Buchdrucks erschüttert wird? Musst du mir jetzt auch noch in den Rücken fallen?« Er griff quer über den Schreibtisch und schenkte sich Wasser aus einer Karaffe ein, in der ein kleiner Kristall schwappte. »Himalayagestein«, erklärte er, nachdem er sein Glas bis auf den Grund geleert hatte. »Es lädt das Wasser mit positiver Energie.«

»Verstehe«, log Peter.

»Also, zurück zu unserem Problem.« Burgstein warf das Manuskript, in dem er stichprobenweise gelesen hatte, mit verletzender Achtlosigkeit von sich. Noch in der Luft löste sich der Papierstapel auf, und die Blätter verteilten sich über den Boden. »Das hier ist Driss!«

»Bitte?«, fragte Peter, der des Kölschen nicht mächtig war.

»Nippes! Stuss! Dreck!«, wurde Burgstein deutlicher.

»Aber es ist doch das, was du wolltest!«, widersprach Peter hilflos, der aus unerfindlichem Grund das Gefühl hatte, dass der Stuhl, auf dem er saß, immer niedriger wurde. »Ich sollte meine Figuren menschlicher erscheinen lassen, sollte ihre verletzliche Seite zeigen …«

»Indem du Nick Stahl, den härtesten Bullen von Berlin, um seinen Goldfisch trauern lässt?« Burgsteins Stimme überschlug sich. »Allein die Beisetzungsszene auf dem Klo zieht sich über zwei Seiten hin!« Er schien einen dramatischen Kräfteschwund zu befürchten und stürzte gleich noch ein Glas energetisch geladenen Wassers herunter. Daraufhin wirkte er tatsächlich etwas ruhiger. Seine Gesichtsfarbe, die zuletzt in besorgniserregendes Rot gewechselt hatte, normalisierte sich.

»Peter«, begann er, nachdem er tief Luft geholt hatte, »wie viele Jahre bist du nun schon bei mir?«

»Zwanzig.«

»Zwanzig.« Burgstein nickte. »Und in dieser Zeit hast du wie viele Bücher verkauft?«

»Ich weiß nicht genau.« Peter rieb sich das Kinn. »Etwas über fünf Millionen?«

Burgstein nickte wieder. »Ich weiß noch, wie du bei uns angefangen hast, als junger Student, der nicht recht wusste, wohin mit dem Talent, das ihm der liebe Gott gegeben hatte. Hier im Büro hast du deinen ersten Autorenvertrag unterzeichnet, weißt du noch? Zuerst hast du noch Krimis über diesen G-man beim New Yorker FBI geschrieben, aber dann hast du schon bald deine eigene Serie entwickelt und dir deinen eigenen Helden ausgedacht: Nick Stahl, den Berliner SoKo-Ermittler, der so knorrig ist wie seine Lederjacke und so hart wie sein Name. Die Leser liebten ihn, und er hat die Bestsellerlisten gestürmt. Der Autor Peter Fall und der Verlag Burgstein, das Haus mit der Zinne – das gehörte fortan zusammen wie Butter und Brot, Bogart und Bacall, Boris und Babs.«

»Schlechtes Beispiel«, merkte Peter an.

»Wie auch immer.« Burgstein stand auf, trat an das große Panoramafenster, das sich hinter dem Schreibtisch erstreckte und eine atemberaubende Aussicht auf die Innenstadt von Köln bot. Jedenfalls an den meisten Tagen. Heute lag dichter Nebel über der Stadt, sodass vom Dom nur die Spitzen der Zwillingstürme zu sehen waren. »Die Zeiten haben sich geändert. Die See ist stürmischer geworden«, fuhr Burgstein fort und wirkte mit im Rücken verschränkten Händen tatsächlich wie ein Kapitän auf der Brücke seines Schiffes. »Heutzutage wollen die Leser mehr. Sie wollen Gefühl, wollen Menschlichkeit. Echte Figuren mit echten Problemen, verstehst du? Keinen Neurotiker, der schwere Jungs verprügelt, weil er um seinen Goldfisch trauert.«

»Dann sollen sie was anderes lesen«, raunzte Peter.

»Das tun sie auch«, versicherte Burgstein und wandte sich wieder zu ihm um. »Machen wir uns nichts vor, Peter: Die Verkäufe deiner Romane gehen drastisch zurück, während andere Autoren Erfolge feiern – ganz besonders solche, deren Hauptfiguren in Lederhosen ermitteln. In Zeiten wachsender Globalisierung ist regionale Nähe gefragt! Folklore ist das Zauberwort! Lederjacken sind out, Lederhosen sind in!«

»Bei einem Berliner Bullen?« Ein wenig lustlos zuckte Peter mit den Schultern. »Wie soll das denn gehen?«

»Ganz einfach!« Burgstein strahlte plötzlich. »Indem du deinen neuen Roman noch einmal gründlich überarbeitest. Die Idee mit dem Fragezeichenkiller ist nicht schlecht, aber sie bedarf einiger Nachbesserung. In der Handlung muss es noch mehr menscheln, verstehst du? Außerdem muss unbedingt Lokalkolorit hinein, also wirst du Nick Stahl einfach zu Anfang der Geschichte in den Zug setzen und ihn einen Fall in den bayerischen Alpen bearbeiten lassen!«

»Ich soll Nick Stahl, den Großstadtbullen, in die Berge schicken? Womöglich in ein winziges Kaff? Und ihn dort den Mord an der Dorfschlampe aufklären lassen? Unterstützt vom Pfarrer, während der intrigante Bürgermeister im Hintergrund die Fäden zieht?«

»So ungefähr.« Burgstein strahlte, sichtlich erleichtert darüber, dass sein Autor so rasch begriffen hatte. »Wie findest du das?«

Peter hatte zwei mögliche Antworten parat.

Die eine hätte ihn nur seinen Job gekostet.

Die andere vermutlich auch noch seine Ersparnisse.

»Hältst du das für eine gute Idee?«, fragte er stattdessen.

»Die Amerikaner haben ein Wort für so was. Sie nennen es fish out of water. Das bedeutet, dass man eine Figur aus ihrem gewohnten Umfeld reißt und sie in einem ganz neuen …«

»Ich weiß, was das bedeutet«, versicherte Peter seufzend. »Ich bin der Autor von uns beiden, schon vergessen?«

»Das stimmt, du bist der Autor«, bestätigte Burgstein und kehrte wieder auf seinen Platz hinter dem Schreibtisch zurück, »und ein guter noch dazu, daran hat sich nichts geändert. Aber du steckst in einer Schaffenskrise.«

»Nur weil Nick Stahl keine Lederhosen trägt?«

»Nein, sondern weil du kreativ auf der Stelle trittst. Der Buchmarkt ist dynamisch, Peter«, meinte Burgstein und schnippte dazu mit den Fingern, um zu verdeutlichen, was er meinte. »Wer nicht mitmacht, der geht unter. Und ich will nicht, dass du untergehst, das hast du nicht verdient.«

»Danke.«

»Ich weiß, dass das letzte Jahr für dich nicht leicht war. Der ganze Ärger mit Nicole, die Trennung von deiner Familie – das alles hat dir mehr zugesetzt, als du zugeben willst. Was du brauchst, sind neue Ideen, neue Inspiration. Ein guter Autor sollte sich alle paar Jahre neu erfinden!«

»Was du nicht sagst.« Peter beugte sich vor, starrte auf den Boden. Niederflor, hellgrau, Kaffeefleck, notierte seine durch die Arbeit geschulte Beobachtungsgabe. »Ich soll mich neu erfinden? Wie hättest du’s denn gern? Soll ich mir die Haare abschneiden? Oder Buddhist werden oder sowas?«

»Gratuliere«, sagte Burgstein nur.

»Wozu?«

»Du steckst in einer ausgewachsenen Lebenskrise, weißt weder, wer du bist, noch, was aus dir werden soll. Und obendrein hast du eine Schreibblockade. So etwas wie das hier« – er deutete auf das über den Boden verteilte Manuskript – »hättest du früher niemals abgegeben.«

Peter nickte. Die Einsicht war bitter, und alles in ihm wehrte sich dagegen. Aber womöglich war sie notwendig. »Vielleicht«, meinte er nachdenklich, »sollte ich eine Pause einlegen …«

»Vielleicht«, stimmte Burgstein zu – um sofort kategorisch den Kopf zu schütteln. »Aber nicht jetzt. Denn zwei Dinge sind so sicher wie der Jeck im Karneval. Erstens: Du hast einen Vertrag unterschrieben. Und zweitens: Die nächste Frankfurter Buchmesse kommt bestimmt. Wenn wir überhaupt noch mal die Chance haben, Nick Stahl auf die Bestsellerliste zu kriegen, dann dort. Ich mach dir also folgenden Vorschlag: Ich gebe dir den Schlüssel zu meinem Chalet in den Alpen. Dort hast du alles, was du brauchst, um deinen Roman zu überarbeiten: Abgeschiedenheit, Ruhe und nicht zuletzt Land und Leute, die dich nach Kräften inspirieren werden. Du bleibst dort so lange, wie du brauchst, um den Roman zu beenden – und bei deiner Rückkehr hast du ein Manuskript in der Tasche, das Leser und Kritiker wieder richtig begeistern wird. Ich sehe schon die Schlagzeilen im Feuilleton: ›Der neue Fall – besser denn je!‹«

Wieder gab es manches, das Peter hätte erwidern können – er beschränkte sich darauf zu schweigen. Zwar war er sich keineswegs sicher, ob er Burgstein für sein Angebot dankbar sein oder ihm dafür mit dem nackten Hintern ins Gesicht springen sollte. Doch war nicht zu leugnen, dass der Verleger recht hatte mit dem, was er sagte. Nicht nur, was sein Schreiben betraf, sondern auch in so ziemlich jeder anderen erdenklichen Hinsicht. Er wusste ja tatsächlich nicht mehr, wer er eigentlich war. Das ganze Chaos in letzter Zeit … dann der Umzug und der Papierkrieg mit dem Anwalt … Sein Leben war der sprichwörtliche Scherbenhaufen.

Was blieb ihm also, als sich zu fügen und gute Miene zum bösen Spiel zu machen? Zwar fand er die Idee, Nick Stahl in den Alpen ermitteln zu lassen, ziemlich bescheuert – ebenso gut hätte man Derrick zum CSI Miami abkommandieren können. Und er hasste es, zu verreisen, bewegte sich am liebsten in seinem gewohnten Umfeld, umgeben von Straßen und Häusern, fern von aller Natur. Aber nach allem, was in letzter Zeit gewesen war, hatte er einfach nicht mehr die Kraft zu widersprechen. Das Manuskript zu verfassen, das Burgstein in hohem Bogen von sich geworfen und über den Boden verteilt hatte, hatte ihn seine letzte Energie gekostet.

Der Akku war leer.

»Von mir aus«, hörte er sich selbst sagen, nachdem er ausgiebig geseufzt hatte.

»Du bist einverstanden?«

Peter nickte.

»Sehr schön.« Burgstein wirkte erleichtert. Er feierte seinen Sieg mit einem weiteren Schluck Himalayawasser, dann zog er die oberste Schublade seines Schreibtischs auf und entnahm ihr einen roten Zettel, den er Peter hinschob.

»Hier ist die Adresse«, sagte er nur. »Um alles Weitere werden wir uns kümmern.«

»Danke.«

»Finde dich wieder, Junge. Finde das Feuer wieder, das du mal hattest, die Quelle deiner Inspiration. Und vor allem«, fügte Burgstein hinzu, wobei sein Blick ernster wurde und besorgt, »finde dich selbst wieder, hörst du?«

2.

Peter Falls Wohnung ein Heim zu nennen wäre eine Beleidigung für jede halbwegs annehmbare Behausung gewesen. Sie ähnelte mehr einem Lagerhaus; oder einer Müllhalde, es kam auf den guten Willen des Betrachters an.

Ein Bett, ein Kleiderschrank und ein Schreibtisch, auf dem sein aufgeklapptes Notebook stand, bildeten die einzigen Einrichtungsgegenstände des Wohnzimmers. Der Rest von Peters Habe steckte noch in den Umzugskartons, die überall herumstanden, meist offen und in völliger Unordnung, weil er irgendetwas darin gesucht hatte. An den Wänden lehnten Regale von Ikea, noch in ihrer Verpackung schlummernd und ihres Aufbaus harrend. Und dazwischen stapelten sich überall die Hinterlassenschaften des Single-Daseins, das Peter neuerdings führte: leergefutterte Pizzaschachteln und kleine Kartons mit Yin-Yang-Symbol, die süßlich-sauren Geruch verströmten und in denen noch die Essstäbchen steckten.

Wenn Peter den Blick über die halb ausgepackten Kartons schweifen ließ, war das wie eine Reise in die Vergangenheit – allerdings eine, die er nicht gerne unternahm: das kleine Modell des VW Käfer, das Nicole ihm einst zum Geburtstag geschenkt hatte, weil das sein erklärtes Lieblingsauto war; die Stereoanlage, die er sich als Jugendlicher zusammengespart hatte und von der er sich nie hatte trennen können, obwohl sie weder MP3-kompatibel noch Bluetooth-fähig war; das Bild, das ein Straßenkünstler in Venedig von ihnen gezeichnet hatte, noch lange vor Robins Geburt; das in Glas gefasste Foto, das ihn zusammen mit dem Schauspieler Harry Krüger beim Autorenempfang von Burgstein zeigte; der selbstgestrickte Schal, den ihm eine begeisterte Leserin zum Dank für den dritten Band von »Nick Stahl« geschickt hatte; schließlich der handgeschnitzte Elefant aus Thailand (warum nur hatte er das verdammte Ding gekauft?) – all das weckte Erinnerungen.

Erinnerungen an eine Zeit, die um so vieles besser gewesen war als die Gegenwart. Warum das so war und wie es so weit hatte kommen können, vermochte Peter nicht zu sagen. Aber er schalt sich einen elenden Narren dafür, dass er das Glück in seinen Händen gehalten und es noch nicht einmal bemerkt hatte.

In einem beträchtlichen Willensakt riss er sich von dem Anblick los und ging hinaus in den Gang, um den alten Koffer zu holen, den Nicole ihm überlassen hatte; die Hartschalen-Kollektion hatte sie für sich behalten. Misslaunig warf er den Koffer auf das Bett und begann ihn zu packen.

Peter dachte nicht groß darüber nach, was er einpacken sollte. Acht Hemden, vier Pullover und drei Hosen, dazu Unterwäsche und Socken schienen ihm ausreichend. Schließlich hatte er nicht vor, mehr Zeit als irgend nötig in Burgsteins Haus zu verbringen. Dabei, sagte er sich, hätte er eigentlich froh seinem müssen, diesem ganzen Durcheinander für eine Weile zu entkommen. Die Sache war nur, dass das noch ungleich größere Chaos in seinem Inneren herrschte – und dem ließ sich nicht so leicht entkommen.

Er ging ins behelfsmäßig eingerichtete Bad und packte sein Waschzeug zusammen. Auch den Bademantel nahm er mit, ebenso den Fön. Auf dem Weg zurück zum Koffer kam er am Schreibtisch und der gerahmten Fotografie vorbei, die dort stand.

Er zögerte für einen Moment.

Dann nahm er sie mit, legte sie zusammen mit den anderen Sachen in den Koffer, ganz obenauf, wo sie keinen Schaden nehmen konnte.

Nicole war darauf zu sehen, zusammen mit Robin. Im Hintergrund bunte Luftballons.

Es war Robins sechster Geburtstag gewesen.

Sie hatten das Deutzer Volksfest besucht, waren Riesenrad gefahren und hatten Zuckerwatte gegessen, bis ihnen davon schlecht wurde. Abends dann Pizza bei Mario und anschließend Kino, ein Disneyfilm. Ein perfekter Tag – vorausgesetzt, man war sich darüber im Klaren.

Einem jähen Impuls gehorchend, nahm Peter das Bild wieder aus dem Koffer und stellte es zurück auf den Tisch. Der Schmerz war einfach zu groß. Aber als er sich abwenden und weiterpacken wollte, hatte er plötzlich das Gefühl, einen Fehler begangen zu haben. Ganz langsam, fast wie ein Schlafwandler, griff er nach dem Bild und legte es wieder in den Koffer, wütend über seine eigene Unentschlossenheit.

Da klingelte sein Handy.

Es war ein altmodisches, analoges Klingeln. Peter hasste den Klang. Nicole hatte ihn an seinem Smartphone eingestellt, und er wusste nicht, wie man ihn änderte.

»Ja?«

»Ich bin’s«, sagte die Stimme am anderen Ende nur.

Etwas in ihm verkrampfte sich.

Nicole.

»Hallo«, erwiderte er, plötzlich abgeschlagen und müde.

»Wie geht es dir?«, erkundigte sie sich.

»Ganz gut«, log er. Wieso fragte sie ihn das überhaupt? Sie hatte kein Recht, so einfühlsam zu sein. »Und dir?«

»Okay«, sagte sie nur. »Es ist alles noch … ungewohnt.«

»Ich weiß.«

»Aber … es fühlt sich gut an, oder?«

»Ja«, hörte er sich selbst sagen, wofür er sich am liebsten geohrfeigt hätte. Einen Moment lang war er versucht, ihr die Wahrheit zu sagen. Dass es ihm beschissen ging, seit sie und Robin fort waren, dass er nachts nicht schlafen und tagsüber nicht arbeiten konnte, und wenn er es doch tat, dann produzierte er nichts als Mist!

»Hör mal, ich habe eine wichtige Veranstaltung am Wochenende. Diese Leute kommen von sehr weit her, um meine Arbeiten zu sehen, und sie können nur am Sonntag. Deshalb wollte ich fragen, ob Robin schon dieses Wochenende bei dir sein kann.«

»Kein Problem«, sagte er. Deshalb also hatte sie sich nach seinem Befinden erkundigt, jetzt war alles klar.

»Wirklich? Das wäre großartig! Dafür wäre ich dir wirklich sehr, sehr dankbar …« Für einen Moment war wieder die alte Freundlichkeit in ihrer Stimme, und er stellte sich vor, wie sie lächelte – allerdings nur für einen Augenblick. Denn plötzlich sog er scharf die Luft ein.

»Was hast du?«, wollte sie wissen.

»Ich Idiot!«, entfuhr es ihm. »Ich kann dieses Wochenende nicht. Und nächstes Wochenende auch nicht!«

»Was soll das heißen?«

»E-es tut mir leid, wirklich«, versicherte er. Warum nur begann er in ihrer Gegenwart plötzlich wieder zu stammeln, fast wie am Anfang, als sie sich kennengelernt hatten? »Ich habe eben erst erfahren, dass ich für die nächsten Wochen …«

Es klickte leise.

Sie hatte aufgelegt.

Sofort rief er sie wieder an, wollte erklären, was in Burgsteins Büro geschehen war und warum er so dringend wegmusste – aber sie ging nicht mehr ran. Nach einigem Tuten hatte er die Mailbox dran und erwog, ein paar rechtfertigende Worte drauf zu sprechen. Aber als das Signal erklang, brachte er kein einziges hervor.

Frustriert beendete er das Gespräch, schmetterte das Handy wütend auf den Tisch. Dann nahm er das Bild, das er zuvor noch in den Koffer gelegt hatte, und stellte es zurück auf den Tisch. Endgültig diesmal.

Der Kopf schwirrte ihm. Er wusste nicht, was er zuerst tun oder wohin er gehen, ob er lachen oder weinen sollte. Und er erinnerte sich an die Flasche Whisky, die er in einem der Kartons gesehen hatte. Ein treuer Leser hatte sie ihm einst verehrt, zur Inspiration, wie es im Begleitbrief geheißen hatte. Und war Inspiration nicht genau das, was Peter in diesem Augenblick fehlte?

Es dauerte eine Weile, bis er die Flasche fand. Er wollte die Suche schon aufgeben, überzeugt davon, dass dies eben der Tag sei, an dem alles schiefginge, als er den schmalen Hals mit dem bernsteinfarbenen Inhalt aus einer ansonsten mit Büchern und alten Turnschuhen vollgestopften Kiste lugen sah.

Er zog sie heraus und blickte auf das Etikett.

Macallan Fine Oak Single Malt, 21 Jahre, aus den schottischen Highlands. Schweineteuer. Peter hatte ihn für einen besonderen Augenblick aufbewahrt.

Wenn nicht jetzt, wann dann?

Er ging in die Küche, suchte nach einem halbwegs sauberen Glas. Dann öffnete er die Flasche und schenkte sich ein, begierig darauf, das feine Brennen auf der Zunge zu spüren und den Schmerz abzutöten, Schluck für Schluck – als es erneut klingelte. Diesmal an der Tür.

Er mochte Störungen wie diese nicht, ebenso wenig, wie er unangekündigten Besuch mochte. Entsprechend unwirsch öffnete er die Wohnungstür, soweit die im Gang gestapelten Kartons es zuließen.

»Ich habe gehört, du verlässt die Stadt?«

Rupert Lembach stand auf der Schwelle, sein langjähriger Lektor und zugleich sein Freund, mit hoher Wahrscheinlichkeit der letzte, der ihm geblieben war. Ruperts Haar stand wie immer wirr nach allen Seiten, ein dicker Schal war um seinen dünnen Hals gewickelt. Die Gläser seiner Hornbrille waren infolge der klammen Kälte beschlagen, was ihn nicht daran hinderte, mit Argusaugen das leere Glas und die Whiskyflasche zu erspähen, die Peter in den Händen hielt.

»Ist nicht dein Ernst, oder?«, fragte er, während sein beschlagener Blick zweifelnd zwischen Peter und der Flasche hin und her pendelte.

»Was meinst du?«

»Alkohol ist keine Lösung. Als dein Lektor muss ich dir sagen, dass du in deiner Lage die Finger vom Schnaps lassen solltest. Alkohol hat gute Autoren noch nie besser gemacht – aber schon viele schlechter.«

»Und als mein Freund?«, fragte Peter.

Rupert grinste breit. »Hast du ein zweites Glas?«

Sie gingen in die Küche, wo es Peter tatsächlich gelang, noch ein zweites halbwegs annehmbares Trinkgefäß aufzutreiben: eine Tasse mit abgebrochenem Henkel, auf der ein gelber Smiley gute Laune zu verbreiten suchte. Dann setzten sie sich aufs Sofa und tranken.

»In deiner Wohnung sieht’s saumäßig aus«, meinte Rupert dann.

»Danke.«

»Im Ernst«, belehrte ihn sein Freund. »Du musst das Chaos beenden, sonst wird es dich noch auffressen.«

»Sagt der Mann, der mit vier Katzen und zwei Hunden lebt.«

»Ich bin eben tierlieb«, verteidigte sich Rupert. »Du hingegen bist auf dem besten Weg, zum Misanthropen zu werden, mein Freund. Und am allermeisten hasst du dich selbst.«

»Noch was?« Peter schenkte ihm wieder ein. Es war ihm lieber, wenn Rupert trank, als wenn er solche Weisheiten von sich gab. Noch dazu, wenn sie schmerzlich nahe bei der Wahrheit lagen.

Sie stießen an und tranken wieder ex. Zwar hätte das Getränk es durchaus verdient gehabt, mit mehr Verstand geschluckt zu werden, aber wenn der beabsichtigte Effekt eintreten sollte, zählte vor allem Geschwindigkeit.

»Nein, sonst nichts«, kam es mit bereits etwas beschwerter Zunge zurück. Rupert Lembach war für manches bekannt, aber nicht unbedingt dafür, besonders viel zu vertragen. »Burgstein hatte völlig recht, dass er dir mal die Meinung gegeigt hat. Auf mich wolltest du ja nicht hören.«

»Dir habe ich das also zu verdanken?« Peter warf ihm einen Seitenblick zu, überrascht, aber nicht wütend.

»Ganz ehrlich?« Über den Rand seiner Brille hinweg sah Rupert ihn an. »Ich mach mir ernsthaft Sorgen um dich. Seit der Trennung von Nicole bist du einfach nicht mehr derselbe.«

»Und das wundert dich?« Peter grinste gequält. »Sieh dich doch nur mal hier um. Mein Leben ist ein Trümmerhaufen, genau wie diese Wohnung. Und jetzt kann ich nicht mal mehr richtig schreiben. Ich sitze am Schreibtisch und gebe mein Bestes – aber am Ende kommt nur Scheiße dabei raus.«

»Ich weiß.« Rupert lächelte schwach. »Ich hab’s gelesen. Du musst von vorn anfangen, dich neu erfinden.«

»Fängst du jetzt auch noch an?«

»So ist es eben, die Zeiten haben sich geändert.«

»Leider«, erwiderte Peter und schenkte wieder ein. »Auf die alten Zeiten«, sagte er und erhob sein Glas.

»Auf die Zeiten … die alten«, bestätigte Rupert.

Dann tranken sie.

»Das war noch was, damals«, lallte Rupert versonnen. »Dreihunderttausend Bücher gleich in der ersten Woche! Auftritte im Radio, Interviews im Fernsehen …«

»Ja«, pflichtete Peter ihm bei. »Und Ermittler in Krimis durften noch richtige Helden sein.«

»Ohne Fehler und ohne Macken.«

»Und ohne Lederhosen«, fügte Peter hinzu.

»Darauf wollen wir trinken«, regte Rupert an, und sie genehmigten sich noch eine Runde. Danach wurde es still auf dem Sofa, beide saßen nur da und starrten eine Weile lang schweigend vor sich hin.

»Wirst du’s hinkriegen?«, fragte Rupert irgendwann.

Selbst durch den Mull, den der Alkohol um seinen Kopf gewickelt hatte, fühlte Peter, dass es seinem Freund ernst war und dass er sich tatsächlich Sorgen machte. Vermutlich nicht nur um ihn, sondern auch um seine eigene berufliche Existenz, die mit dem Wohl und Wehe des Autors Fall eng verbunden war.

»Ich weiß es nicht«, gestand er ehrlich. »Aber ich werde mein Bestes geben, das verspreche ich dir.«

»Okay«, sagte Rupert.

Dann schwiegen sie wieder und genehmigten sich noch ein Glas, saßen in trauter Einheit auf dem Sofa, während der Alkohol weiter seine Wirkung tat.

»Es ist kalt dort«, sagte Rupert schließlich. »Der Winter ist hart und lang in den Bergen.«

»Ich weiß. Ich war früher öfter dort.«

»Einen Scheiß weißt du. Es ist viel schlimmer geworden in den letzten Jahren«, behauptete Rupert.

»Ehrlich?«

»Von wegen Klimaerwärmung – die Leute dort frieren sich den Hintern ab. Katzen fallen schockgefroren von den Bäumen, und die Kühe pissen gelbe Würfel.«

»So kalt also.« Peter nickte.

»Nein«, widersprach sein Freund und sandte ihm von jenseits des Alkohols einen düsteren Blick. »Es ist dort sogar noch viel, viel kälter. Denk an meine Worte.«

3.

Um 11 Uhr 55 hatte der ICE den Kölner Hauptbahnhof verlassen, an Bord ein Autor namens Peter Fall, der lieber an jedem anderen Ort gewesen wäre.

Nicht genug damit, dass er die Nacht über schlecht geschlafen hatte und sein Schädel infolge des konsumierten Whiskys schmerzte, als wäre er mit voller Wucht gegen eine Straßenlaterne gelaufen; er hatte auch, dem Ratschlag seines getreuen Freundes Rupert gehorchend, einen dicken Wollpullover angezogen, und da die Heizung des Zuges völlig verrückt zu spielen schien, hatte sich schon kurz hinter Köln Porz angekündigt, dass die Fahrt nach Süden wohl mehr einem Aufenthalt in einer Dampfsauna gleichen würde.

Und das war noch längst nicht alles.

In der Hoffnung auf ein wenig Ruhe hatte sich Peter einen Platz im Abteil reservieren lassen; dass es damit jedoch nichts werden würde, wurde ihm auf schmerzliche Weise bewusst, als in Siegburg/Bonn eine Dame zustieg, deren ausladender Körperbau sich in einem ebenso ausladenden Wesen widerzuspiegeln schien. Er war gerade eingeschlummert, um ein wenig vom versäumten Schlaf der vergangenen Nacht nachzuholen, als etwas gegen sein rechtes Schienbein krachte.

Jäh riss er die Augen auf, um sich rundlichen, mit reichlich Schminke präparierten Zügen gegenüberzusehen, die ihn unverdrossen anstrahlten. »Entschuldigen Sie, junger Mann. Würde es Ihnen wohl etwas ausmachen, mir zu helfen?«

Peter, der nur seine Ruhe wollte, beschloss, den Weg des geringsten Widerstands zu gehen. Bereitwillig erhob er sich und half der Frau dabei, ihre beiden Trolleys (darunter auch den, mit dem sein Schienbein bereits Bekanntschaft geschlossen hatte) in den Gepäckfächern zu verstauen. Wenn er jedoch geglaubt hatte, seine Schuldigkeit damit getan zu haben, so hatte er sich gründlich geirrt.

»Fahren Sie auch bis München?«

Ein kurzes Zögern. »Ich überlege noch.«

»Also ich schon. Ich habe dort Verwandtschaft, wissen Sie. Eine Schwägerin. Also, eigentlich ist sie keine Schwägerin mehr, denn mein Bruder und sie haben sich vor acht Jahren getrennt. Aber wir haben uns immer so gut verstanden, nicht wahr, und da wäre es doch schade gewesen, wenn …«

Peter versuchte, nicht weiter zuzuhören, was sich als schwierig erwies, da die Dame, deren Alter er auf Anfang sechzig schätzte, ein recht schrilles Organ hatte, das sich beharrlich einen Weg durch seine Gehörgänge suchte. Er beschloss, sich schlafend zu stellen, in der Hoffnung, dass die Dame ihren Redefluss dann abstellen und die Geschichten ihrer Wahlverwandtschaften für sich behalten würde. Aber dem war nicht so. Sie hatte es sich am Fensterplatz gemütlich gemacht und sah der vorbeiziehenden Landschaft zu, während sie weiter und weiter redete. An Schlaf war nicht zu denken, und es wurde immer noch wärmer – wohl nicht nur wegen der Amok laufenden Klimaanlage, wie Peter annahm, sondern auch seines rotbäckigen Gegenübers wegen, das trotz der tropischen Hitze den rosafarbenen Mantel anbehielt und still vor sich hin schwitzend die herrschenden Temperaturen noch zusätzlich befeuerte.

Irgendwo zwischen Frankfurt und Mannheim verfiel Peter auf den Gedanken, aus der Not eine Tugend zu machen und ein wenig zu arbeiten. Er klappte das kleine Tischchen aus der Armlehne des Sitzes und stellte sein Notebook darauf, und das alles mit übertrieben aufmerksamkeitsheischenden Gesten, damit sie es auch ja bemerkte.

Inzwischen war es unerträglich heiß geworden.

Peter spielte mit der Idee, sich den Pullover vom Leib zu reißen. Da solches Verhalten jedoch die Gefahr eines Missverständnisses barg, ließ er es lieber bleiben und versuchte es stattdessen mit Konzentration.

Erstes Kapitel …

»Sagen Sie bloß, Sie sind Autor?«

Peter nickte. Den Blick hielt er fest auf den Bildschirm gerichtet, um zu signalisieren, dass ihm auch weiter nicht nach Konversation zumute war.

Aber das nützte nichts.

»Wie interessant«, ging es erbarmungslos weiter. »Schreiben Sie einen Roman?«

Wieder ein knappes Nicken.

»Worum geht es?«

»Krimi«, sagte Peter lakonisch.

»So richtig mit Mord und so?«

»Genau. Mit Mord und so.«

Ein leicht verächtliches Schnauben kam von der anderen Seite des Abteils. »Ich mag keine Krimis. Die sind immer so schrecklich gewalttätig. Sie sollten lieber was Erbauliches schreiben, junger Mann. Einen schönen Liebesroman vielleicht?«

»Nein danke.«

»Was arbeiten Sie denn? Ich meine, beruflich.«

Ein tiefer Seufzer. Das Gespräch dauerte schon viel zu lange. »Das ist mein Beruf«, erklärte Peter. »Ich schreibe Romane.«

Ein langgezogenes »Oh« war die Antwort. Überraschung, Entsetzen, Mitleid – von allem schien etwas darin mitzuschwingen. »Also haben Sie gar keine richtige Arbeit?«

Kopfschütteln.

»Sie Armer! Vom Schreiben kann man doch nicht leben!«

Er hielt es nicht mehr aus. Über das aufgeklappte Display hinweg warf er der Frau einen vernichtenden Blick zu. »Gute Frau«, raunzte er, »sehe ich vielleicht irgendwie tot für Sie aus?«

Es war, als würde das rosige Gesicht auf links gedreht. Die Augen schlossen sich, der Mund wurde spitz. »Ich wollte nur höflich sein«, versicherte sie.

Damit war das Gespräch beendet und wurde bis zum Ende der Fahrt auch nicht wieder aufgenommen.

Als der Zug München um 16:50 Uhr mit dreiundzwanzigminütiger Verspätung erreichte, war Peter froh, das Abteil endlich verlassen zu dürfen – nicht nur der Hitze und der Ausdünstungen wegen, die seine Reisebegleiterin vor allem auf den letzten sechzig Kilometern verbreitet hatte, sondern auch wegen der vernichtenden Blicke, mit denen sie ihn beinahe unablässig bedacht hatte. Vermutlich, sagte er sich, hatte die Dame, die keine Krimis las, sich in den letzten zwei Stunden die Zeit damit vertrieben, sich mindestens zweiundfünfzig verschiedene Arten auszudenken, wie sie ihn möglichst qualvoll vom Leben zum Tode befördern konnte.

Auf dem Münchener Hauptbahnhof herrschte rege Betriebsamkeit, eisiger Wind fegte durch die weite Bahnhofshalle, wohl ein erster Vorgeschmack auf die Dinge, die noch kommen würden. Da er den ganzen Tag über noch nichts gegessen hatte – das Frühstück hatte aus einer Kopfwehtablette bestanden –, knurrte sein Magen, und er sah sich nach einem Imbiss um. Bayerische Gastlichkeit winkte ihm in Form eines gelben M entgegen, dennoch entschied er sich für das Angebot eines Schnellitalieners, der Pizza und Espresso zum Schnäppchenpreis von 12 Euro 50 anpries. So fand sich Peter auf einem Barhocker sitzend wieder, wo er mit einiger Schwierigkeit versuchte, ein leider wenig formbeständiges Pizzastück Richtung Mund zu bugsieren. Dass sich dabei ein großes Stück Tomate löste, auf seinem beigen Pullover landete und dort für ein mittelgroßes Blutbad sorgte, ließ seine Laune in ungeahnte Tiefen stürzen. Beim Espresso immerhin hob sie sich wieder ein wenig: Das Zeug war heiß und bitter und brachte seine Lebensgeister wieder zurück.

»Intercity Express 1004 nach Berlin Gesundbrunnen heute auf Gleis 8«, plärrte eine verzerrte Frauenstimme aus einem Lautsprecher, während Peter beobachtete, wie sich zwei Arbeiter mit einem überdimensionalen Buchstaben »L« abmühten, der wohl zu einer Werbeaufschrift gehörte. Wenigstens, so tröstete er sich, war er nicht der Einzige, der bei der Arbeit mit Problemen zu kämpfen hatte.

Er griff in die Innentasche seines Daunenanoraks, den er über den benachbarten Hocker geworfen hatte, und zückte das Handy, schaute nach, ob es Nachrichten gab.

Keine.

Nicole hatte sich nicht mehr gemeldet. Was sie von ihm dachte, war ihm klar, und vielleicht hatte sie ja recht damit. Er widerstand der Versuchung, sich einen Verdauungsschnaps zu genehmigen, schließlich musste er noch fahren. Nachdem er die wenig erbauliche Bekanntschaft der Bahnhofstoilette gemacht hatte, suchte er die örtliche Station des Mietwagenverleihs auf. Ein junger Mann, den ein goldfarbenes Namensschild als »Matz Rühmann« auswies, sah ihm frohgemut entgegen.

»Willkommen in München. Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Mein Name ist Peter Fall. Über den Verlag Burgstein müsste ein Audi TT mit Winterausrüstung für mich gebucht sein.«

»Ihre Reservierungsbestätigung, bitte.«

Peter gab ihm den Ausdruck, ebenso wie seinen Führerschein und seine Kreditkarte, während Herr Rühmann mit flinken Fingern die Tastatur seines Terminals bediente, was diese mit lautem Klappern quittierte.

»Sie sind im System«, stellte er schließlich fest.

»Freut mich«, behauptete Peter. »Mein Audi TT hoffentlich auch?«

»Einen Augenblick, bitte.« Wieder wurde die Tastatur bearbeitet, während draußen vor dem Schaufenster einige Schneeflocken vorbeitrieben.

Kein gutes Zeichen.

»Ich habe Ihre Reservierung hier, Herr Fall. Allerdings nicht für einen Audi, sondern für einen Nissan Micra.«

»Was?«

»Das ist eine geringere Fahrzeugkategorie«, erklärte der junge Mann freundlich.

»Ich weiß, dass das eine geringere Kategorie ist«, versicherte Peter, »deshalb habe ich ja auch eine höhere Kategorie bestellt.«

»Davon weiß das System aber nichts.«

»Dann ist Ihr System eben falsch informiert.«

Das Gesicht des jungen Mannes nahm einen befremdeten, zugleich leicht vorwurfsvollen Ausdruck an. »Das System weiß alles, Herr Fall.«

»Ich verstehe.« Peter atmete tief ein und aus, zwang sich zur Ruhe. »Aber wäre es nicht möglich, dass bei der Buchung ein Fehler unterlaufen ist?«

»Das wäre denkbar. Aber unwahrscheinlich.«

»Dennoch würde ich Sie bitten, diesen Fehler jetzt zu korrigieren und mir das Auto zu geben, das mir zugesichert wurde, nämlich einen Audi TT mit Winterausrüstung und Navigationsgerät.«

»Wie Sie wünschen.«

Erneut klapperte die Tastatur, und Peter wollte schon innerlich aufatmen, als sich die Züge von Herrn Rühmann verfinsterten.

»Bedaure«, sagte er.

»Was?«, wollte Peter wissen.

»Laut System ist im Augenblick kein Audi TT verfügbar.«

»Aha. Weiß das System auch, wann wieder einer verfügbar sein wird?«

»Natürlich. Das System weiß alles.« Die Tastatur klang, als würde sie gegen die Behandlung protestieren. »Sie haben Glück, schon Ende dieser Woche.«

»Ende dieser Woche?« Peter war kurz davor, die Nerven zu verlieren. »Heute ist Dienstag!«

»Tut mir leid. Aber so steht es im System.«

Peter starrte sein Gegenüber an. Alles in ihm verlangte danach, gegen das herrschende System zu revoltieren.

»Wollen Sie bis zum Ende der Woche warten? Oder lieber den Nissan nehmen?«

Peter konnte nicht verhindern, dass sich eine blutige Gewaltfantasie in sein Bewusstsein schlich, die mit Herrn Rühmanns Nase und der Computertastatur zu tun hatte. Seine Fäuste ballten sich, sein Herz pochte heftig, während es Adrenalin in seine Adern pumpte und ihn auf die dramatische Konfrontation vorbereitete …

»Ich nehme den Nissan«, erklärte er, während es draußen zu schneien begann.

Als Peter zwei Stunden später von der Schnellstraße abfuhr, hatte es noch immer nicht zu schneien aufgehört, im Gegenteil: Das Gewirr der Flocken, die mit lautloser Gleichgültigkeit zu Boden fielen und die Straße mit einer weißen Schicht überzogen, wurde ständig dichter.

Da der Wagen über kein Navigationsgerät verfügte, hatte der freundliche Herr Rühmann ihm eine Karte der Alpenstraßen mitgegeben, die Peter jedoch unbesehen ins Handschuhfach gestopft hatte. Stattdessen benutzte er die Navigationsfunktion seines Smartphones dazu, sich den Weg zu Burgsteins Chalet weisen zu lassen. Das kleine Gerät in der rechten Hand, die Linke am Steuer, manövrierte er den Nissan durch eine verschneite Winterwelt, die er jenseits der Lichtkegel der Scheinwerfer mehr erahnte als wirklich sah, während er immerzu leise Verwünschungen ausstieß.

Die Alpen … wie er sie hasste.

Der Grund dafür war vermutlich in seiner frühen Kindheit zu suchen. Jahr für Jahr, Sommer für Sommer waren seine Eltern mit ihm in die Berge gefahren, weil sein Vater eine angeborene Aversion gegen alles gehabt hatte, was nass war und schwamm. Urlaub am Meer, wie normale Familien ihn machten, war von daher kategorisch ausgeschlossen gewesen. In schöner Regelmäßigkeit hatte man die Sommerferien auf einer Berghütte verbracht, wo es weder fließendes Wasser noch Elektrizität gab und man also auf alles verzichten musste, was das Leben schön und lebenswert machte: kein Fernseher und damit auch kein gemeinsames Ferienprogramm von ARD und ZDF; kein Kassettenrekorder, mit dem man den Abenteuern von Winnetou, Commander Perkins und anderen Helden lauschen konnte; lesen unter der Bettdecke – meist Romanhefte des Burgstein-Verlags – konnte man nur, solange die Batterien der Taschenlampe reichten. Es waren harte, entbehrungsreiche Wochen gewesen, noch dadurch verschlimmert, dass man Peter zwang, Zeit mit den einheimischen Jungs zu verbringen. Sein Vater war der Überzeugung gewesen, dass die Menschen aus den Bergen bodenständiger und unverdorbener seien als jene aus der Stadt und der Kontakt mit ihnen der Entwicklung seines Sohnes zuträglich sein würde. Folglich zwang man Peter, kurze Lederhosen mit Hosenträgern und Hirsch-Applikation zu tragen und sich unters unverdorbene Bergvolk zu mischen, das meist nichts Besseres zu tun hatte, als ihn seiner Beinkleider wegen zu verspotten und mit Kuhfladen zu bewerfen.

Nach dem letzten gemeinsamen Familienurlaub hatte er den Bergen den Rücken gekehrt und war nie mehr zurückgekommen – und ausgerechnet hier sollte er mehrere Wochen lang bleiben und seinen Roman überarbeiten?

Ihm alpines Lokalkolorit verpassen?

Das Einzige, was Peter zu Burgsteins Verteidigung vorbringen konnte, war, dass der Verleger wohl nicht gewusst hatte, was er ihm damit antat.

Es war eine Schmach, eine persönliche Niederlage, kurz: eine Strafe, und während er den Nissan über die verschneite Straße steuerte, geradewegs ins Nirgendwo, hatte Peter das Gefühl, dass es schlimmer nicht mehr kommen konnte.

Er irrte sich.

Denn im nächsten Augenblick verlor das Smartphone den Kontakt zum Satelliten.

4.

Zwei weitere Stunden später schneite es noch immer. Und was noch schlimmer war, es war stockdunkel geworden.

Von kräftigen Schneefällen zu sprechen, wie der Wetterfrosch im Radio es unbeirrt tat, wurde der Sache nicht mehr annähernd gerecht: Es war ein ausgewachsener Blizzard, der sich über den Alpen austobte, während sich ein einstmals metallicblauer, inzwischen jedoch schneeweißer Nissan Micra einsam die verschneite Straße hinaufkämpfte.

Getrieben von eisigen Böen, die den Wagen erfassten und kräftig durchschüttelten, umtanzten die Flocken die Karosserie, gaben dem Insassen das Gefühl, gar nicht mehr zu fahren, sondern irgendwo inmitten von mit weißen Strichen durchsetzter Schwärze zu schweben. Vergeblich suchten die Frontscheinwerfer des Nissan einen Weg durch das Chaos, der Scheibenwischer führte einen aussichtslosen Kampf gegen einen Feind, der in Überzahl aus dem dunklen Himmel stürzte, und der Motor klang, als würde er sich vor dem widrigen Wetter fürchten – und dies umso mehr, da es steil bergauf ging. In endlosen Serpentinen wand sich die Straße einem hohen, unbekannten Ziel entgegen.