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Mit einem spektakulären Schokoladen-Festival will Samantha ihre Firma vor der Pleite retten - und entdeckt, dass Liebe viel süßer verführt als Schokolade! Aus der Traum! Samantha`s "Sweet Dreams Chocolates" steht vor der Pleite. Weder mit geballtem Charme noch mit ihren süßen Kreationen kann sie den Bankdirektor Blake Preston verführen. Jedenfalls nicht zu einem Kredit. Trotzdem gibt sie nicht auf. Ein großes Schokoladen-Festival soll Geld in die leeren Kassen bringen. Erstaunlicherweise wird sie bei der Planung von Blake tatkräftig unterstützt. Logisch, dass man sich dadurch näherkommt. Aber niemals würde Sam sich in einen Banker verlieben - auch wenn er noch so sexy ist...
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Seitenzahl: 519
Veröffentlichungsjahr: 2012
Alle Rechte, einschließlich das der vollständigen oder auszugsweisen Vervielfältigung, des Ab- oder Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten und bedürfen in jedem Fall der Zustimmung des Verlages.
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Sheila Roberts
Schokolade für dich
Roman
Aus dem Amerikanischen von Gabriele Ramm
MIRA® TASCHENBÜCHER
erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,
Valentinskamp 24, 20354 Hamburg
Geschäftsführer: Thomas Beckmann
Copyright © 2013 by MIRA Taschenbuch
in der Harlequin Enterprises GmbH
Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:
Better Than Chocolate
Copyright © 2012 by Sheila Rabe
erschienen bei: MIRA Books, Toronto
Published by arrangement with
HARLEQUIN ENTERPRISES II B. V./S.àr.l.
Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln
Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln
Redaktion: Daniela Peter
Titelabbildung: Corbis; Thinkstock/Getty Images, München
Autorenfoto: © Harlequin Enterprises S.A., Schweiz
Satz: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN (eBook, EPUB) 978-3-86278-594-0
www.mira-taschenbuch.de
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eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmundwww.readbox.net
Sorge dafür, dass es in deinen Beziehungen gut läuft, dann läuft auch dein Geschäft. Denn ein Geschäft ist nichts anderes als eine Beziehung, an der ein paar Dollarnoten mit dranhängen.
Muriel Sterling, Die Verbindung von Arbeit und Vergnügen: Wie man Arbeit und Liebe erfolgreich miteinander verknüpft
Samantha Sterling saß neben ihrer Mutter in der ersten Reihe der Icicle-Falls-Gemeindekirche und kämpfte gegen den Wunsch an, aufzuspringen und nach vorn zum Altar zu laufen, um ihren Stiefvater Waldo am Kragen zu packen und zu erwürgen. Doch es gab zwei Gründe, die dagegensprachen: Zum einen tat ein braves Mädchen so etwas nicht in der Kirche. Trotzdem, vielleicht hätte sie ausnahmsweise ihre Skrupel über Bord geworfen, wenn es nicht den zweiten Grund gegeben hätte: Gott hatte Waldo bereits zu sich gerufen. Waldo war mausetot. Sein Foto stand vor der Messingurne, die seine Asche enthielt. Zurückgelassen hatte er nicht nur eine Tochter aus erster Ehe, sondern auch seine trauernde Witwe Muriel, seine drei Stieftöchter Samantha, Cecily und Bailey sowie einen Familienbetrieb, der genauso leblos war wie Waldo.
Als Samanthas Vater Stephen noch gelebt hatte, war Sweet Dreams Chocolates ein gesundes Unternehmen gewesen. Ihre Urgroßmutter Rose hatte es gegründet, und unter Stephens Leitung war es langsam, aber stetig gewachsen. Das Unternehmen glich einer großen, glücklichen Familie – ein Spiegelbild der Familie, die von den Firmenerlösen lebte. Alle drei Schwestern hatten ihre Sommerferien stets damit verbracht, für Sweet Dreams zu arbeiten. Allen drei war schon früh eingeimpft worden, dass dieses Geschäft die Familie nicht nur finanziell versorgte, sondern ihnen auch zur Ehre gereichte – abgesehen davon, dass es ihnen nie an Schokolade fehlte. Aber es war Samantha gewesen, die dem Betrieb mit Haut und Haaren verfallen war. Von den drei Mädchen war sie diejenige, die in ihrem Heimatort geblieben und zur rechtmäßigen Erbin auserkoren worden war.
Doch dann war ihr Vater gestorben, und auf einmal hatte alles stillgestanden. Samantha verlor den Mann, den sie und ihre Schwestern vergöttert hatten, und ihre Mutter verlor die Lust am Leben. Muriel überließ es Samantha und der Buchhalterin Lizzy, das Geschäft sozusagen per Autopilot am Laufen zu halten, während sie erst trauerte und sich danach auf die Suche nach einem neuen Ehemann machte.
Und da kam Waldo Wittman ins Spiel, ein großer grauhaariger Witwer, der erst kürzlich von seiner Firma ermuntert worden war, in Frührente zu gehen, weil man Personal abbauen musste. (Inzwischen überlegte Samantha, dass es vielleicht auch noch andere Gründe gegeben haben mochte, warum man Waldo freigesetzt hatte.) Er hatte damals behauptet, er habe aus dem erbarmungslosen Konkurrenzkampf aussteigen wollen. Angesichts des herrlichen Blicks auf die Berge, der Nähe zu den Weinanbaugebieten im östlichen Washington, der freundlichen Kleinstadtatmosphäre und der attraktiven Witwe hatte Waldo entschieden, dass Icicle Falls ganz nach seinem Geschmack war. Und Muriel befand, dass Waldo genau nach ihrem Geschmack war. Also hatte sie, nach anderthalb Jahren Witwendasein, einen neuen Mann gehabt.
Und jetzt stand seine Urne vor dem Altar. Der nette, geliebte Waldo … der Geldvernichter. Oh Waldo, wie konnte nur alles so schnell den Bach runtergehen?
Es war Anfang Januar, der Beginn eines neuen Jahres. Leider versprach es, der reinste Albtraum zu werden, und das nur, weil Mom ihren neuen Ehemann zum Geschäftsführer des Familienbetriebs gemacht hatte. Samantha war als stellvertretende Geschäftsführerin fürs Marketing zuständig gewesen, was leider auch nichts genützt hatte. Jetzt war Samantha als Geschäftsführerin zuständig für das Desaster, das Waldo hinterlassen hatte, und wenn sie an das Chaos dachte, das sie im Büro erwartete, konnte sie kaum still sitzen.
„Du zappelst“, flüsterte ihre Schwester Cecily, die neben ihr saß.
Auf einer Trauerfeier zu zappeln war wahrscheinlich nicht besonders höflich, aber es war immer noch besser, als aufzuspringen, sich die Haare zu raufen und wie eine Verrückte zu schreien.
Warum nur hatten Mom und Dad nicht beizeiten getan, was hätte getan werden müssen, um sicherzustellen, dass – falls Dad etwas passierte – das Geschäft in kompetente Hände überging? Dann hätte Mom sich glücklich ihren neuen Ehefreuden widmen können, und es wäre nichts weiter passiert.
Niemand hatte erwartet, dass sie für immer allein bleiben würde. Sie war erst Anfang fünfzig gewesen, als Dad gestorben war, und sie war kein Mensch, der gut allein zurechtkam.
Als Waldo aufgetaucht war, hatte sie wieder Spaß am Leben gehabt, und Samantha hatte sich für sie gefreut. Er war lustig und charmant gewesen, und sie und ihre Schwestern hatten begeistert den Daumen gehoben. Was sprach dagegen? Mit ihm hatte Mom wieder Lachen gelernt. Anfangs verstanden sich alle wunderbar. Waldo war Hobbyfotograf gewesen, genauso wie Samantha, und sie hatten sich gern darüber ausgetauscht. Wann immer sie zu Hause vorbeigekommen war, um mit Mom übers Geschäft zu reden (oder es zumindest zu versuchen), hatte sie sofort gefragt: „Wo ist Waldo?“ Es war zu einer Art Running Gag geworden.
Aber nachdem Mom Waldo wie eine Bombe auf die Firma hatte fallen lassen, brauchte Samantha nicht länger zu fragen. Sie wusste, wo Waldo war: Er war im Büro, versunken in seine Arbeit, und trieb Samantha in den Wahnsinn.
Sie knirschte fast mit den Zähnen, als sie kurz überschlug, wie viel Geld er verschleudert hatte: die neuen Visitenkarten mit seinem Namen darauf, das neue Briefpapier, neue Ausstattung, die sie nicht gebraucht hatten, eine neumodische Telefonanlage, die sie sich nicht leisten konnten und die sich Waldo von einem ausgebufften Vertreter hatte andrehen lassen. Wie konnte ein Geschäftsmann so schlecht darin sein, Geschäfte zu machen? Natürlich hatte er sowohl sich als auch Mom davon überzeugt, dass all diese Anschaffungen absolut notwendig waren, und Samantha hatte leider nicht genügend Macht, um ein Veto einzulegen und ihn aufzuhalten.
Doch das war nur der Anfang gewesen. Vor sechs Monaten waren ihre Gewinne drastisch eingebrochen, und sie hatten Schwierigkeiten gehabt, ihre Zulieferer zu bezahlen. Daraufhin hatte Waldo die Produktion zurückgefahren, was zwangsläufig dazu geführt hatte, dass sie ihre Aufträge nicht mehr vollständig hatten ausführen können. Und Lizzy, die Buchhalterin, hatte angefangen auszusehen, als wäre sie zum Essen mit dem Sensenmann verabredet. „Wir sind schon mit den vierteljährlichen Steuervorauszahlungen im Verzug“, hatte sie Samantha berichtet. „Aber das ist noch nicht alles.“ Sie hatte Samantha Ausgaben auf den Auszügen des Geschäftskontos gezeigt, die keinen Sinn ergaben. Eine Waffe. Munition. Kistenweise Mineralwasser, genug, um die ganze Stadt vor dem Verdursten zu bewahren. Waldo glich einem Heuschreckenschwarm, der die gesamte Firma verschlang.
Wo ist Waldo? Fleißig damit beschäftigt, die Firma und damit sie alle den Bach runtergehen zu lassen. Und tschüss! Am liebsten hätte Samantha ihn mit hinuntertreiben sehen, am besten direkt auf einen Wasserfall zu und …
„Und ich glaube, wenn Waldo jetzt zu uns sprechen könnte, würde er sagen: ‚Ich danke Gott für ein gutes Leben‘“, sagte Pastor Jim.
Ihre Mutter schluchzte laut auf, und Samantha bekam ein schlechtes Gewissen. Sie sollte auch weinen, schließlich hatte sie Waldo gemocht. Er hatte ein großes Herz besessen und viel Freude am Leben gehabt.
„Wir wissen, dass ihn alle schmerzlich vermissen werden“, sagte Pastor Jim weiter. Cecily legte tröstend eine Hand auf Moms Arm, woraufhin diese erst richtig zu weinen begann.
„Arme Mom“, flüsterte Bailey, die auf der anderen Seite neben Samantha saß. „Erst Dad und jetzt Waldo.“
Zwei Ehemänner zu verlieren – das nannte man wohl einen doppelten Schicksalsschlag. Mom hatte nicht nur ihre beiden Männer geliebt, sondern sie war auch gern verheiratet gewesen. Sie war keine Geschäftsfrau (was vermutlich erklärte, warum Grandpa vollkommen glücklich und zufrieden damit gewesen war, Dad die Leitung von Sweet Dreams zu übertragen), aber sie besaß ein Händchen für Beziehungen. Sie hatte sogar schon ein paar Beziehungsratgeber in einem kleinen Verlag veröffentlicht, und bevor Waldo starb, hatte sie gerade ein neues Buch anfangen wollen: Geheimnisse einer glücklichen Wiederheirat.
Samantha hoffte, dass Mom jetzt ihre Aufmerksamkeit lieber darauf richtete, zu lernen, wie man ein glückliches Leben führte, ohne verheiratet zu sein. Jedenfalls sollte sie bitte, bitte nicht wieder heiraten, ehe sie nicht die Firma vor Schlimmerem bewahrt hatten und Samantha offiziell die Leitung übertragen worden war.
Je schneller, desto besser. Ihr erster Tagesordnungspunkt würde sein, Lizzy wieder einzustellen, die Waldo in einem missglückten Anflug von Sparwillen entlassen hatte. Sie hoffte nur, dass Lizzy zurückkehren würde, um ihr dabei zu helfen, das Chaos in den Griff zu bekommen.
Sie seufzte. Hier saß ihre Mutter und trauerte, während sie nichts anderes im Kopf hatte, als das Familienunternehmen zu retten. Was stimmte mit ihr nicht? Schlug in ihrer Brust ein Taschenrechner statt eines Herzens?
„Jetzt möchte ich Ihnen allen die Möglichkeit geben, ein paar Worte über Waldo zu sagen“, erklärte Pastor Jim.
Er hat mich in den Wahnsinn getrieben, wäre wohl nicht unbedingt der passende Kommentar. Samantha blieb sitzen.
Allerdings gab es genügend andere Leute, die der Bitte des Pastors gern folgten.
„Er war der großzügigste Mann, den ich je getroffen habe“, sagte Maria Gomez, die Kellnerin, die ihn bei Zelda’s immer bedient hatte. „Er hat mir zweihundert Dollar gegeben, damit ich mein Auto in der Werkstatt reparieren lassen konnte. Einfach so. Er meinte sogar, ich solle mir wegen der Rückzahlung keine Gedanken machen.“
Samantha presste die Lippen fest aufeinander und stellte sich vor, wie die Hundertdollarnoten Flügel bekamen und in Richtung Sleeping Lady Mountain, dem Berg, der vor ihrer Haustür lag, davonsegelten.
Du hast wirklich einen Taschenrechner als Herz. Die Leute sprachen darüber, wie nett Waldo gewesen war, und das Einzige, woran sie denken konnte, war Geld. Sie war ein schrecklicher Mensch, ein durch und durch schrecklicher Mensch. Sie war nicht immer so gewesen, oder? Eine Träne rann ihr über die Wange.
Ed York, der Eigentümer des Weingeschäfts D’Vine Wines, stand auf. „Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich mit Waldo auf seiner Veranda gesessen und mit ihm auf die Berge geschaut habe. Wir haben Wein getrunken, und er hat gesagt: ‚Weißt du was, Ed? Besser als jetzt kann es gar nicht mehr werden.‘ Ja, Waldo hat gewusst, wie man das Leben genießt.“
Während alle um ihn herum sich die Haare gerauft haben.
„Er war wirklich ein wunderbarer Mensch“, sagte die alte Mrs Nilsen. „Erst letzten Monat hat er in eisiger Kälte angehalten und meinen Reifen gewechselt, als ich auf dem Highway einen Platten hatte.“
So ging es immer weiter mit dem Lob auf Waldo. Der gute alte wunderbare Waldo. Alle hier würden ihn vermissen, außer seiner miesen kleinen undankbaren Taschenrechner-statt-Herz-Stieftochter, dem weiblichen Dagobert Duck. Wie jämmerlich. Samantha kullerte noch eine Träne über die Wange.
Schließlich beendete der Pastor die Feierlichkeiten, und die Gemeinde machte sich unter einem düsteren Himmel auf den Weg zur Festival Hall, wo man sich weiter unterhalten, noch einmal Lobgesänge auf Waldo halten und Schnittchen und Kartoffelsalat verputzen konnte. Die drei Schwestern lächelten tapfer und nahmen Beileidsbekundungen entgegen.
Wanda, Waldos Tochter, und auch sein Bruder waren von der Ostküste rübergeflogen. Als Wanda sich mit rot geweinten Augen näherte, gelang es Samantha trotz all ihrer Schuldgefühle, ihrer Verbitterung und dem Frust, ein Fünkchen Mitleid aufzubringen.
„Es tut mir leid, dass wir uns unter solchen Umständen wiedersehen“, sagte Wanda.
„Uns auch“, erklärte Cecily.
„Dich trifft der Verlust sicherlich am härtesten“, fügte Samantha hinzu. Und es tat ihr wirklich leid. Sie wusste, wie schmerzhaft es war, den Vater zu verlieren. Das war etwas, das sie nicht einmal ihrem ärgsten Feind wünschte.
Wanda wischte sich die Augen mit einem durchnässten Taschentuch ab. „Ich kann es immer noch nicht fassen, dass er nicht mehr da ist. Er war der beste Vater der Welt. Und er war immer so positiv, so fröhlich.“
So ahnungslos. „Ich wünschte, man könnte die Zeit zurückdrehen“, sagte Samantha.
Wanda schniefte und nickte. „Ihr wart alle so nett zu ihm.“ Dazu fiel Samantha nichts ein. Sie konnte ja wohl kaum gestehen, dass sie in den vergangenen Monaten alles andere als nett gewesen war.
Zum Glück sprang Cecily ein. „Er war ja auch ein sehr netter Mann.“
Richtig. Er war nur ein miserabler Geschäftsmann gewesen.
„Er hat Muriel wirklich geliebt“, fuhr Wanda fort. „Er war so einsam, nachdem meine Mutter gestorben war. Muriel hat ihm neuen Lebensmut gegeben.“
„Und ich weiß nicht, wie ihr Leben ohne ihn weitergegangen wäre“, betonte Samantha.
„Wanda, ich glaube, das würde sie gern hören“, murmelte Waldos Bruder Walter, während er ihre Stiefschwester davonführte.
„Ich brauche einen Drink“, befand Samantha.
„Gute Idee“, stimmte Bailey ihr zu, und sie machten sich gemeinsam auf den Weg zur Punschschüssel.
Samantha trank eigentlich selten Alkohol, aber im Film half ein kräftiger Schluck den Schauspielern anscheinend auch immer, stressige Situationen durchzustehen, also war sie durchaus willens, es zu versuchen. „Ich wünschte, hier wäre ein stärkerer Schuss drin“, murmelte sie.
Bailey blickte zu ihrer Mutter hinüber, die auf der anderen Seite des Raumes saß. „Mir tut Mom so leid.“
Muriel Sterling-Wittman saß auf einem Klappstuhl, eingerahmt vom fahlen Winterlicht, das durch das Fenster hinter ihr hineinschien. Sie wirkte wie eine schöne tragische Figur, die das neue Jahr allein beginnen musste. Ihr schlichtes schwarzes Kleid umhüllte ihre üppigen Kurven diskret, und ihr Haar hatte weiterhin den glänzenden Kastanienton wie damals, als Samantha noch ein Kind gewesen war – was vor allem den hervorragenden Friseuren im Sleeping Lady Salon zu verdanken war. Die grünen Augen, für die Waldo einst geschwärmt hatte, waren zwar vom vielen Weinen blutunterlaufen, aber immer noch schön dank der dichten langen mit wasserfester Mascara versehenen Wimpern. Mindestens die Hälfte der anwesenden Männer umschwirrte Muriel und hielt Taschentücher griffbereit, falls sie eines benötigen sollte.
„Na ja, zumindest brauchen wir keine Angst zu haben, dass sie einsam ist“, meinte Bailey. Sie war ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten und ihr auch vom Charakter her am ähnlichsten: genauso nett, positiv denkend und naiv.
Cecily stieß einen verächtlichen Laut aus. „Als wenn einer dieser Männer ihr irgendwie nutzen würde. Die sind doch alle verheiratet.“
„Ed nicht“, korrigierte Bailey sie.
„Der ist scharf auf Pat aus dem Buchladen“, informierte Samantha ihre Schwestern und fügte im Stillen hinzu: zum Glück.
„Arnie ist nicht verheiratet“, meinte Bailey. „Und Bürgermeister Stone auch nicht. Oder wie wäre es mit Waldos Bruder? Wäre es nicht toll, wenn …“
Samantha unterbrach sie. „Sprich das bitte gar nicht erst laut aus.“ Das war jetzt wirklich das Letzte, was sie gebrauchen konnten: einen Mann, der Mom schnell davon überzeugte, dass aller guten Dinge drei waren.
„Schaut euch das bloß an. Waldo ist erst ein paar Tage tot, und schon umschwärmen sie sie wie in einer Seniorenversion von Der Bachelor.“ Angewidert schüttelte Cecily den Kopf. „Männer.“
„Weißt du, dafür, dass du als Partnervermittlerin tätig bist, hast du eine ziemlich merkwürdige Haltung zu solchen Dingen“, stellte Bailey fest.
„Was meinst du wohl, woher ich meine Einstellung habe?“, konterte Cecily.
„Wie schaffst du es nur, im Geschäft zu bleiben?“, wollte Bailey wissen.
„Indem ich Oberflächlichkeit zur Kunst erhoben habe.“ Cecily schenkte ihnen ein böses Grinsen.
Cecily war die einzige Blondine in der Familie, und sie war die Hübscheste von ihnen allen – mit einer tollen Figur und unglaublich langen Beinen. Samantha war die Niedliche, mit den roten Haaren und den Sommersprossen, aber Cecily war diejenige, hinter der die Jungs schon immer her gewesen waren. Doch obwohl sie so gut aussah, hatte sie kein Glück in der Liebe. Bisher konnte sie schon auf zwei gelöste Verlobungen zurückblicken. Samantha verstand nicht, wie Cecily es schaffte, in Los Angeles Geld damit zu verdienen, dass sie gut aussehende Paare zusammenbrachte, während es ihr nicht gelang, ihrem eigenen Liebesleben auf die Sprünge zu helfen.
Im Gegensatz zu dir, die das so gut hinbekommt?
Eins zu null für dich, musste sie ihrem schnippischen Alter Ego zugestehen.
„Du kannst eine Frau tatsächlich dazu bringen, das Thema Liebe ganz aufzugeben“, murmelte Bailey, während sie höflich den alten Mr Nilsen anlächelte, der sie von der anderen Seite des Raumes anstarrte.
„Das wäre wahrscheinlich das Vernünftigste“, erwiderte Cecily.
„Wie auch immer, ich glaube nicht, dass Mom schon so weit ist, die Liebe aufzugeben. Vielleicht könntest du sie mit irgendjemandem verkuppeln?“, schlug Bailey vor.
„Nein!“ Mehrere Leute drehten sich um und starrten zu ihnen herüber, während Samantha hastig einen Schluck Punsch trank und hoffte, dass er die flammende Röte auf ihren Wangen vertreiben würde. Was war nur mit ihr los? Konnte man mit dreißig plötzlich am Tourettesyndrom erkranken?
Cecilys Grinsen wurde noch ein bisschen garstiger. „Ich weiß, was du meinst. Niemand wird Waldo ersetzen können.“
„Ich mochte Waldo, ehrlich“, rechtfertigte sich Samantha. „Aber Schluss mit Männern. Es gibt schon genug, womit ich mich abplagen muss.“
„Also ehrlich, Sammy.“ Bailey runzelte die Stirn.
Samantha erwiderte den bösen Blick. „Hey, Schwesterherz, ihr beiden könnt zurück ins sonnige Kalifornien fliegen und einsame Millionäre verkuppeln beziehungsweise das Catering für nette Events von Starlets organisieren. Ich bin diejenige, die sich um das Chaos hier kümmern muss.“
Cecily sah auf einmal betreten aus. „Es tut mir leid. Du hast ja recht. Wir lassen dich mit allem allein. Du musst nicht nur das Geschäft wieder auf Vordermann bringen, sondern dich auch noch um Moms Angelegenheiten kümmern.“
„Aber wenn es jemand schafft, dann du, Sammy“, erklärte Bailey und hakte sich bei Samantha unter.
Samantha seufzte. Als Älteste war es ihr Job, der Fels in der Brandung zu sein, obwohl sie sich im Moment überhaupt nicht wie ein Fels fühlte. Eher wie ein winziger Stein am Strand, der jeden Augenblick von einem Tsunami davongeschwemmt werden konnte.
Und ihre Mutter war diejenige gewesen, die sie unwissentlich dort hatte fallen lassen. Sie und Muriel mochten sich wirklich sehr, aber sie waren häufig unterschiedlicher Meinung. Und bevor Waldo gestorben war, hatten sie sich oft gestritten, vor allem als Samantha versucht hatte, ihre Mutter davon zu überzeugen, dass sie Waldo mal wieder zur Vernunft bringen sollte.
„Er fühlt sich nicht wohl“, hatte ihre Mutter dann immer gesagt, doch wenn man sie daraufhin nach Einzelheiten fragte, antwortete sie nur ausweichend.
Vielleicht hatte das Herz des Ärmsten schon die ganze Zeit Aussetzer gehabt. Vielleicht hatte er sich solche Sorgen um seinen Gesundheitszustand gemacht, dass er nicht in der Lage gewesen war, sich zu konzentrieren, und deshalb so absurde Entscheidungen getroffen hatte. Allerdings erklärte das auch nicht seine merkwürdigen Käufe. Oder die Antworten, die er Samantha gegeben hatte, als sie ihn darauf angesprochen hatte.
„Ein Mann muss in der Lage sein, das, was ihm gehört, zu beschützen“, hatte er erklärt, als sie ihn nach der Waffe gefragt hatte.
„In Icicle Falls?“, hatte sie erwidert. Das größte Verbrechen, das sie im letzten Jahr zu verzeichnen gehabt hatten, hatte Amanda Stevens begangen, als sie aus den Reifen von Jimmy Rodriguez’ Jeep die Luft herausgelassen hatte, weil er fremdgegangen war. Und Jimmy hatte nicht einmal Anzeige erstattet.
„Man weiß ja nie“, hatte Waldo ausweichend geantwortet. „Ich habe jemanden gesehen. Auf dem Parkplatz.“
„Und was hat er getan?“
„Er ist mir gefolgt. Und erzähl das bloß nicht deiner Mutter“, hatte er gesagt. „Ich will nicht, dass sie sich Sorgen macht.“
So wie sich jetzt seine Stieftochter Sorgen machte? Dann war die Sache mit dem Wasser passiert.
„Wir könnten von einem Lawinenunglück getroffen werden, und dann wären wir hier tagelang eingesperrt“, hatte er erklärt.
Auch das hatte sie noch durchgehen lassen. Doch danach war es richtig schlimm geworden. Und gerade als sie entschieden hatte, dass sie und ihre Mutter mal ein ernstes, vermutlich nicht gerade angenehmes, Gespräch führen müssten, war Waldo von ihrem Haus in Richtung Stadt marschiert und vor Lupine Floral, dem Blumenladen, tot umgefallen. Der arme Kevin hatte die Rosen fallen lassen, die er gerade in den Kühlraum bringen wollte, um Erste Hilfe zu leisten, während sein Partner Heinrich einen Notarzt gerufen hatte. Doch Waldo war innerhalb von Minuten gestorben.
Und jetzt war es an Samantha, das Chaos, das Waldo hinterlassen hatte, zu beseitigen. Ihre Schwestern würden am Montag wieder abreisen, und sie war diejenige, die sich um ihre Mutter kümmern und sich überlegen musste, wie sie die Arbeitsplätze der Angestellten von Sweet Dreams sichern konnte. Urgroßmutter Rose, die das Geschäft gegründet hatte, drehte sich vermutlich, angesichts dessen, was ihre Nachfahren dem Betrieb angetan hatten, im Grab um.
Samantha blickte stirnrunzelnd in ihr halb leeres Punschglas. Das Glas ist halb leer … das Glas ist halb voll. Wie auch immer. „In das Zeug muss mehr Alkohol rein.“
Das größte Plus ist deine Familie
Muriel Sterling, Die Verbindung von Arbeit und Vergnügen: Wie man Arbeit und Liebe erfolgreich miteinander verknüpft
Zwei Stunden später hatten Freunde und Verwandte das Thema Waldo erschöpfend behandelt und den gesamten Kartoffelsalat sowie die Schnittchen aufgegessen. Die Party war vorüber. Olivia Wallace schickte die drei Schwestern und ihre Mutter mit einer letzten Umarmung und einem Pappteller voller Zitronenschnitten nach Hause. Sie traten hinaus in einen kalten wolkenlosen Abend.
Mom sah genauso ausgelaugt aus, wie Samantha sich fühlte. Nur dass Mom aus reiner Trauer erschöpft war, während Samantha von weit weniger reinen Gefühlen heimgesucht wurde.
„Ich fahre hinter euch her“, sagte sie und machte sich auf den Weg zu ihrem Auto.
Es war jetzt Freitagnachmittag, halb sechs, und die altmodischen Laternenpfähle an der Center Street hielten Wache über die Stadt, die sich schon bald zur Ruhe begeben würde. Die Restaurants in der Nähe wie Zelda’s und Schwangau würden demnächst öffnen, doch die Geschäfte schlossen gleich, und nur noch wenige Autos waren unterwegs.
Samantha liebte ihre kleine Heimatstadt: den Park mit der Gartenlaube und den vielen Blumenbeeten, die Kopfsteinpflasterstraßen, an denen sich die unterschiedlichsten kleinen Läden aneinanderreihten. Und über allem wachten die Berge. Normalerweise wären sie um diese Jahreszeit mit einer dicken Schneeschicht bedeckt, und sowohl Alpin- als auch Langläufer sowie Snowboarder würden an den Wochenenden die Stadt bevölkern, um einzukaufen, in den Restaurants zu essen und sich auf der kleinen Eislaufbahn zu vergnügen, während sie die bayerische Architektur bewunderten. Aber in diesem Winder gab es leider wenige Besucher. Es gab wenig Schnee, was sich dramatisch auf die Wirtschaft von Icicle Falls ausgewirkt hatte. Mehrere Geschäfte, die früher floriert hatten, waren jetzt geschlossen.
Geschäfte, die pleitegegangen sind – denk bloß nicht darüber nach.
Zu spät. Es genügte, um wieder wütend darüber zu werden, dass ihre eigene Firma in solchen Schwierigkeiten steckte, und sie musste sich daran erinnern, dass ihre Welt, im Gegensatz zu der ihrer Mutter, gerade nicht eingestürzt war. Irgendwie würde es ihr gelingen, die Firma zu retten, aber Mom würde ihren Ehemann nicht wiederbekommen. Dies war nun schon der zweite Mann, den sie innerhalb von fünf Jahren verloren hatte. Wie es sich wohl anfühlte, verliebt und glücklich zu sein und dann nicht nur ein, sondern sogar zwei Mal alles zu verlieren? Samantha dachte an ihre eigenen romantischen Probleme und stellte fest, dass sie sich nicht in die Lage ihrer Mutter versetzen konnte. Sie konnte es sich nur vage vorstellen.
Wichtig war jetzt, dass sie sich als fürsorgliche Tochter zeigte, ihre Mutter unterstützte, all die negativen Gedanken in ihrem Kopf einschloss und einfach den Mund hielt. Mund halten, Mund halten, Mund halten. Sie bläute es sich immer wieder ein, bis sie die wenigen Schritte zu ihrem Wagen zurückgelegt hatte. Nachdem sie eingestiegen war, sagte sie es noch einmal laut: „Mund halten.“ Okay. Sie war bereit.
Als sie im Haus ankam, war Cecily gerade dabei, ein Feuer in dem großen Kamin zu entzünden, und das Knistern des Zedernholzes erfüllte bereits das Zimmer. Während Mom in der Küche Tee kochte, stellte Bailey die vielen Trauerkarten auf den Kaminsims, wo auch Waldos Asche in einer Messingurne einen Ehrenplatz gefunden hatte. Der Teller mit den Zitronenschnitten stand auf der Granitarbeitsplatte. Die übliche Szenerie nach einer Beerdigung.
Als Bailey sie die Tür klappen hörte, drehte sie sich um und stieß dabei gegen die Urne. Die geriet ins Wanken, und ihre Mutter schnappte entsetzt nach Luft. Zum Glück fing Cecily die Urne auf, ehe sie umfallen konnte.
„Entschuldigung“, sagte Bailey zerknirscht.
Mom sandte einen Blick gen Himmel. „Stell ihn auf den Kamin, Schätzchen.“
Cecily nickte ernst und brachte Waldo in Sicherheit.
Samantha zog ihren Mantel aus und hing ihn an die Garderobe, bevor sie sich dazu zwang, in die Küche zu gehen und ihre Mutter zu fragen, ob sie Hilfe brauchte.
Mom schüttelte den Kopf, den Blick auf die Becher gerichtet, die sie vor sich auf der Arbeitsplatte aufgereiht hatte. „Möchtest du Tee?“
Das Angebot klang nicht besonders freundlich, was nicht weiter überraschend war. So schlecht, wie sie in letzter Zeit miteinander ausgekommen waren, fürchtete Samantha schon fast, dass ihre Mutter ihr Arsen in den Tee tun könnte. „Nein danke.“
Plötzlich sehnte sie sich nach ihrer kleinen Wohnung am Rande der Stadt, wo es keine emotionalen Unterströmungen zu umschiffen galt und wo der neue Mann in ihrem Leben sie willkommen heißen würde – ihr Kater Nibs. Die anderen wären ohne sie sowieso viel glücklicher. Mom hatte Cecily und Bailey, die ihr Gesellschaft leisten und sich Geschichten über Waldo anhören würden. Und die beiden konnten das ohne schlechtes Gewissen tun.
„Ich glaube, ich mache mich mal wieder auf den Weg.“
„Bleib doch noch ein bisschen“, erwiderte Mom.
Dann wohl nicht. Samantha nickte und ließ sich auf die Couch plumpsen.
„Tee ist fertig“, verkündete Mom.
Cecily und Bailey holten ihre Becher ab und gesellten sich dann wieder zu ihrer Schwester. Cecily setzte sich zu Samantha auf die Couch, während Bailey sich am Kamin neben Waldo platzierte.
Mom folgte und nahm auf dem gelben Ledersessel Platz, in dem sie immer saß und las. Vorsichtig nippte sie an ihrem Tee, bevor sie den Becher auf den Couchtisch stellte, den Kopf zurücklehnte und tief seufzte. „Ich möchte euch Mädchen noch einmal sagen, wie sehr ich eure moralische Unterstützung zu schätzen weiß. Ich kann immer noch nicht fassen, dass Waldo tatsächlich nicht mehr da ist.“
„Wir werden ihn alle vermissen“, sagte Bailey.
„Ja, das werden wir“, stimmte Mom zu und warnte Samantha mit einem Blick, dass sie ja nicht wagen sollte, zu widersprechen.
Als ob Samantha sich das trauen würde. „Ich brauche eine Zitronenschnitte“, murmelte sie.
„Vergiss es. Lass uns lieber was Richtiges essen“, meinte Cecily. „Hol die Schokolade raus.“
Aber im ganzen Haus gab es nicht ein einziges Stück Schokolade. Mom hatte sich in ihrem Kummer einem wahren Schokogelage hingegeben. Also blieb Bailey bei ihr, während Samantha und Cecily zum Laden rüberliefen.
Die Firma Sweet Dreams Chocolate war in guter Geschäftslage, nur wenige Straßen von der Center Street entfernt, untergebracht. Die Einheimischen nannten den Block, in dem der Laden lag, Foodie Paradise, das Schlemmerparadies.
Gegenüber lag das Gingerbread-Haus, die von Cassandra Wilkes geführte Bäckerei, in der es köstliche Konditoreispezialitäten zu kaufen gab. Zu Weihnachten wurde sie von Bestellungen für ihre Lebkuchenhäuser überschwemmt, die sie in alle Welt verschickte. Daneben befand sich das Spice Rack, in dem es praktisch alle exotischen Gewürze zu kaufen gab. Jedes Mal wenn die Ladentür geöffnet wurde, lockte der verführerische Duft von Lavendel oder Salbei potenzielle Kunden in den Laden. Immer wenn Bailey in der Stadt war, lebte sie mehr oder weniger dort. Auf der anderen Seite neben dem Gingerbread-Haus war das Bavarian Brews, wo alle hingingen, um ein Schwätzchen zu halten und köstlichen Kaffee zu trinken – auch sehr praktisch, wenn Samantha auf die Schnelle eine Tasse zum Mitnehmen brauchte. Am Ende der Straße konnte man das Schwangau sehen, ein Fünfsternerestaurant und ein weiterer beliebter Treffpunkt. Der Eigentümer und Chefkoch Franz Reinholdt briet die besten Schnitzel überhaupt.
Die Sterlings besaßen das größte Grundstück – jedenfalls noch – und einen herrlichen Ausblick, denn das zweistöckige Bürogebäude überblickte die Stadt auf der einen und den Fluss Wenatchee auf der anderen Seite. Die Fabrik und der Laden bildeten einen großen Gebäudekomplex, und das Lagerhaus, das in der Zeit vor Waldo angebaut worden war, einen weiteren. Es sollte eigentlich viel mehr Vorräte und Bestände aufweisen, als es zurzeit tat. Seufz.
Samantha schloss den Laden auf und schaltete das Licht an und die Alarmanlage aus, während Cecily hineinschlenderte.
„Manchmal vermisse ich das alles hier“, sagte ihre Schwester mit einem Seufzer und schaute sich im Laden mit den vielen Regalen und Ausstellungstischen voller Köstlichkeiten um. Und es gab viel zu sehen – Geschenkpackungen mit getrocknetem Obst mit Schokoladenüberzug, Kartoffelchips und Kekse, Schachteln mit Pralinenmischungen, exotische Sachen wie gesalzene Karamellbonbons, Cognactrüffel, hergestellt nach Urgroßmutter Roses Geheimrezept, Buttertoffee und Buttertoffeesoßen unterschiedlichster Geschmacksrichtungen (Moms Beitrag zur Produktlinie), die von mexikanisch würzig bis hin zur Schokoladen-Pfefferminz-Variante reichten. Weiter hinten in der Ecke lief auf einem Bildschirm ein Video, in dem die Belegschaft in der Fabrik gezeigt wurde, die all die Köstlichkeiten herstellte, die die Käufer hier finden konnten. Neben dem Fernsehmonitor fanden die Kunden all die nicht essbaren Sachen wie zum Beispiel Schälchen für Süßigkeiten, Kerzen mit Schokoladenduft, kleine Küchenschilder mit netten Sprüchen wie „Die besten Küsse sind aus Schokolade“ und „Ich würde ja auf Schokolade verzichten, aber das hieße aufgeben, und das tue ich nie“.
„Man kann eine Frau aus der Schokoladenfirma treiben, aber man kann einer Frau nicht die Schokolade austreiben“, meinte Samantha neckend, schnappte sich eine Schachtel mit Trüffelpralinen und ging zur Kasse hinüber. „Hast du Geld dabei? Ich hab nur einen Fünfer.“ Und sie konnte froh sein, dass sie den überhaupt noch besaß.
Ihre Schwester sah sie schockiert an. „Seit wann müssen wir dafür bezahlen?“
„Seit wir pleite sind.“ Samantha streckte die geöffnete Hand aus.
Cecily runzelte die Stirn und holte ihr Portemonnaie heraus. „Ich muss für die Schokolade unserer eigenen Firma zahlen. Das ist doch pervers.“
„Willkommen in meiner Welt.“
„Behalt das Wechselgeld“, sagte Cecily und reichte ihr einen Zwanziger.
„Danke. Mach ich.“
„Es ist wirklich schlimm, oder?“
„Nein“, erwiderte Samantha fest. Wenn sie es nur oft genug wiederholte, konnte sie vielleicht selbst daran glauben.
Als kleines Mädchen hatte sie es geliebt, die Geschichten von der Gründung der Firma zu hören. Wie ihre Urgroßmutter Rose angefangen hatte, die Firma in ihrer Küche aufzubauen, wie ihr die Rezepte buchstäblich in ihren Träumen eingefallen waren, wie sie und ihr Mann Dusty all ihre Ersparnisse zusammengeklaubt hatten, um dieses Stück Land zu kaufen und einen kleinen Laden aufzubauen. Damals, als Icicle Falls nur ein bunt zusammengewürfelter Haufen kleiner Häuser gewesen war. Sweet Dreams war nicht einfach nur irgendeine Firma. Es war eine Familienlegende. Außerdem versorgte die Firma dreißig Familien mit einem Einkommen, und Samantha war fest entschlossen, hart daran zu arbeiten, dass es auch so blieb – koste es, was es wolle.
Cecily lehnte sich gegen den Verkaufstresen und musterte sie. „Lügst du mich an?“
„Ja, aber es könnte noch schlimmer sein. Wir haben immer noch unser Inventar.“ Samantha steckte das Geld ein, öffnete dann die Schachtel, nahm eine Praline heraus und steckte sie in den Mund. Wie eine Droge verwöhnte die Schokolade ihre Geschmacksnerven, und Samantha genoss die köstliche Süße, die sich auf ihrer Zunge ausbreitete. Es war fast so, als könnte sie die Glückshormone spüren, die ihren Körper in Aufruhr versetzten. Eine Frau konnte sich der größten Herausforderung stellen, solange sie nur in Schokolade gehüllt war.
„Also, was können wir tun, außer das Inventar aufzuessen?“, fragte Cecily besorgt ihre Schwester.
Cecily war diejenige gewesen, die Bedenken geäußert hatte, als sie damals überlegt hatten, einen Kredit aufzunehmen, um die Firma zu erweitern. Selbst Samanthas Kalkulationen und Dads Selbstvertrauen hatten sie nicht überzeugen können. Zu jener Zeit hatte Samantha ihr mangelnde Weitsicht vorgeworfen.
Wie sie jetzt zugeben musste, war das ein großer Fehler gewesen, denn Cecily besaß, was solche Dinge anging, einen außergewöhnlich sicheren Instinkt. Auf der Highschool hatte sie immer gewusst, wann ein Lehrer einen Überraschungstest schreiben lassen würde und auch wann ihre Schwestern mit ihren Freunden Schluss machen würden, lange bevor diese selbst das auch nur in Erwägung gezogen hatten. Nachdem Dad gestorben war, hatte sie vorausgesagt, dass Mom innerhalb eines Jahres wieder verheiratet sein würde. Sie hatte sich nur um wenige Monate geirrt.
Aber wenn es ums Geschäft ging, hatte Samantha sich ihres Fachwissens gerühmt und alle Einwände vom Tisch gefegt. Sie hatte große Träume gehegt und war bereit gewesen, aufs Ganze zu gehen. Und Dad hatte sie dabei unterstützt. Ihr Ehrgeiz und das Desaster, das Waldo angerichtet hatte, führten jetzt dazu, dass sie Gefahr lief, alles zu verlieren. Das Vertrauen, das ihr Vater in sie gesetzt hatte, war leider nicht begründet gewesen. Plötzlich sah die Pralinenschachtel so verschwommen aus, als befände sie sich unter Wasser. Sie blinzelte, und eine Träne fiel auf den Tresen.
Sie spürte eine Hand auf ihrer Schulter. „Hey, es ist okay“, sagte Cecily. „Du kriegst das schon wieder hin. Ich weiß, dass du es schaffst.“
Samantha verdrehte die Augen. „Glaubst du das wirklich, oder versuchst du nur, mich zu trösten?“
„Von beidem ein bisschen. Könntest du vielleicht in der Zwischenzeit mit Arnie von der Bank reden, um zu hören, was er so machen kann?“
„Arnie wird gerade geschasst.“
Cecily blinzelte. „Was?“
„Ich habe gehört, dass Cascade Mutual einen neuen Filialleiter engagiert hat. Ich habe keine Ahnung, was das für ein Mensch ist.“ Vielleicht würde er sich als genauso nett entpuppen wie Arnie. Die Hoffnung starb bekanntlich zuletzt. Aber realistisch gesehen vermutete sie, dass die guten alten Zeiten, in denen eine Bank sich noch um die Kunden ihrer Gemeinde bemühte, vorbei waren. Arnie hatte sich ein wenig zu sehr um seine Kunden gekümmert, was wohl dazu geführt hatte, dass die Bank jetzt einen neuen Chef bekam.
Cecily wickelte sich eine Locke ihres blonden Haares um den Finger. „Vielleicht könnte ich einen Kredit aufnehmen.“
„Nein“, sagte Samantha sofort. „Womöglich befinden wir uns in der gleichen Situation wie die Titanic, und wenn wir sinken, möchte ich nicht, dass du mit uns untergehst.“
„Wir sind eine Familie, und dies ist ein Familienbetrieb. Wir halten zusammen. Schon vergessen?“
„Danke.“ Die Worte ihrer Schwester waren tröstlich, aber letztlich war Samantha sowohl Kapitän als auch Crew dieses Schiffes, und es lag allein in ihrer Verantwortung, den Eisberg zu umschiffen.
„Ich bin sicher, dass ich was auftreiben könnte“, beharrte Cecily.
L. A. war ein teueres Pflaster, und Samantha hatte nicht die Absicht, ihrer Schwester einen großen Kredit aufzubürden. Abgesehen davon würde Cecily sowieso niemals so viel Geld auftreiben können, wie sie hier brauchten. „Ich schaffe das schon.“
„Das tust du doch immer. Aber ich wollte dir nur noch mal versichern, dass du es nicht alleine wuppen musst. Schließlich hast du noch was bei mir gut, weil ich dein Tagebuch geklaut habe“, meinte Cecily lächelnd.
Auch Samantha musste lächeln, als sie daran dachte, wie sie Cecily dabei ertappt hatte, wie die ihren Freundinnen die geheimen Gedanken ihrer zwölfjährigen Schwester vorgelesen hatte. Inzwischen war es eine lustige Anekdote, doch damals war es ein halber Weltuntergang gewesen. „Du kannst froh sein, dass du die Grundschulzeit noch überlebt hast.“
Cecily wurde wieder ernst. „Ich möchte gern etwas tun, um mir den Anteil an den Gewinnen zu verdienen, sobald sie wieder fließen.“
„Wenn mir etwas einfällt, sage ich Bescheid“, erwiderte Samantha, doch sie wussten beide, dass sie es nicht wirklich ernst meinte. Sie hatte schon einen Menschen – nämlich Waldo – gehabt, der „geholfen“ hatte, und das reichte für ein ganzes Leben.
Cecily öffnete die Pralinenschachtel und nahm sich eine heraus, bevor sie auch Samantha noch eine anbot. „Ich weiß, dass sich das Blatt wieder wenden wird.“
„Ich hoffe, dass du so viel weißt, wie du zu wissen glaubst“, sagte Samantha. Sonst … Oh nein. Sie würde ihre Gedanken nicht wieder in diese Richtung treiben lassen. Jedenfalls noch nicht jetzt.
Immer erst denken, dann handeln. Das ist die wichtigste Regel sowohl in einer guten Liebes- wie auch in einer guten Geschäftsbeziehung.
Muriel Sterling, Die Verbindung von Arbeit und Vergnügen: Wie man Arbeit und Liebe erfolgreich miteinander verknüpft
Es war Montag, und nachdem die Mädchen am Morgen abgereist waren, herrschte wieder Ruhe. In gewisser Weise genoss Muriel es, allein zu sein. Es gab ihr die Möglichkeit, sich ganz ihrer Trauer hinzugeben. Aber das Haus wirkte so leer, und sie fühlte sich so allein. Ihre Töchter hatten jedoch ihr eigenes Leben, in das sie zurückkehren mussten, und sie konnte ihnen nicht einmal verübeln, dass sie davongelaufen waren. Im Moment war es kein Vergnügen, mit ihr zusammen zu sein. Sie hatte ihnen nicht einmal Frühstück gemacht, bevor Samantha die beiden anderen zum Flughafen gebracht hatte.
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