Schrankenlose Freiheit für Hannah Höch - Cara Schweitzer - E-Book

Schrankenlose Freiheit für Hannah Höch E-Book

Cara Schweitzer

4,8

Beschreibung

Kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs formiert sich in Berlin die Dada-Bewegung. Hannah Höch ist eine der wenigen Frauen in diesem illustren Mannerclub. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten gelten ihre Werke als "entartet". Ihre engsten Freunde verlassen das Land. Die Kriegsjahre verbringt sie zurückgezogen in ihrem Garten am Rand von Berlin. Ihr Haus wird zum geheimen Archiv einer verfemten Avantgarde. Die Biografie thematisiert die dramatischen Umstände ihrer Ehe mit dem 21 Jahre jüngeren Kurt Heinz Matthies. 1938 wird er verhaftet, und für die ehemals so vorsichtige Künstlerin beginnt der Kampf um seine Freilassung. AUTORENPORTRÄT Cara Schweitzer, Jahrgang 1973, studierte in Berlin und Rom Kunstgeschichte und evangelische Theologie und schrieb ihre Magisterarbeit über Kandinskys Künstlerbuch "Klänge". Von 2005 bis 2007 wissenschaftliche Assistentin am Kunstmuseum Stuttgart. Sie veröffentlichte Essays und Kurztexte zur Kunst der 1910er- und 1920er-Jahre sowie zur zeitgenössischen Kunst. "Schrankenlose Freiheit für Hannah Höch" ist ihr erstes Buch.

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Cara Schweitzer

Schrankenlose Freiheit für Hannah Höch

Das Leben einer Künstlerin

1889–1978

Saga

Ebook-Kolophon

Cara Schweitzer: Schrankenlose Freiheit für Hannah Höch. © 2014 Cara Schweitzer. Alle Rechte der deutschen Ausgabe © Osburg Verlag Hamburg [2015] www.osburg-verlag.de. Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen 2016 All rights reserved.

ISBN: 9788711449479

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com - a part of Egmont, www.egmont.com.

Einleitung

Langsam bewegen sich zwei Scheinwerferkegel durch die stockfinstere Nacht. Ein DKW mit Berliner Kennzeichen kämpft sich eine steile, holprige Straße hinauf. Auf etwa 1000 Metern endet die Fahrt. Ein Paar steigt aus dem Auto. Den Rest des Aufstieges bis zum Kraterrand gehen sie zu Fuß. In vollkommener Einsamkeit bietet sich ihnen oben am Kegel des Vulkans ein einzigartiges Naturschauspiel: glühende Lava und eine riesige Rauchfahne, »Feuer und Glutmassen ausspeiend – Glutbälle hoch in die Luft werfend – dazu immer Explosivdonnern – laute Detonationen«.1 Um Mitternacht beginnen sie mit dem Abstieg zurück zum Wagen. Im Auto versuchen sie zu schlafen. Noch vor Sonnenaufgang steigen sie erneut zum Krater hinauf. Zwischen Schwefelausdünstungen und glühender Lava hindurch klettern sie diesmal hinunter in den Kraterboden und wieder nach oben auf den Kegel bis zum Kraterschlund. »Als das Ungeheuer furchtbar laut WWWV sagte, zogen wir uns schreckensbleich zurück«, notiert Hannah Höch am 28. September 1940 selbstironisch in ihren kleinen Taschenkalender.

Kalender sind ihre treuen Begleiter. An die äußere Form stellt Hannah Höch kaum ästhetische Ansprüche. Sie benutzt handliche, unprätentiöse kleine Formate mit Werbeschriftzügen. Unter dem jeweiligen Datum trägt die Künstlerin, wie aus Anlass der Vesuvbesteigung, persönliche Notizen ein, die durchaus literarischen Charakter haben. Ein anderes Mal sind es kurze, stichpunktartige Anmerkungen: wann sie gearbeitet hat, Geburtstage von Freunden und Angehörigen und Termine oder Krankheitssymptome. Ihre Kalender dienten Hannah Höch als Tagebuch und als Erinnerungshilfe. Die Berlinische Galerie bewahrt den Nachlass der Künstlerin auf, unter anderem auch die »Originale« ihrer Kalender.2 Für diese Lebensbeschreibung waren ihre Jahrbücher eine wichtige Quelle. Mein Blick auf die Grande Dame der Berliner Dada-Bewegung konzentriert sich erstmals auf einen bisher nur sehr zurückhaltend dargestellten Lebensabschnitt der Künstlerin, auf die Zeit zwischen 1933 und 1945 in Deutschland unter der NS-Diktatur. Ihre Forderung »Schrankenlose Freiheit« für Hannah Höch formuliert die Künstlerin erstmals als ihr »künstlerisches Credo« in einer ihrer Fotomontagen von 1919.3 Nach der Zeit des Nationalsozialismus bekräftigte sie ihr Bekenntnis noch einmal: »Ich habe immer gekämpft gegen alle Grenzen der Welt.«4 In den sechziger Jahren, als das Interesse an Dada, auch bedingt durch neue zeitgenössische künstlerische Tendenzen wie Fluxus und Pop Art, immer größer wurde, äußerte sich Hannah Höch über ihre Wahrnehmung als Dada-Künstlerin: »Ich kann das Wort Dada nicht mehr hören, aber die Leute wollen es ja derzeit nicht anders.«5 Mittlerweile hat sich der Blick auf Hannah Höch deutlich erweitert und auch ihre späteren Arbeiten werden von der Kunstgeschichte gewürdigt. Dennoch ist nicht zu leugnen, dass viele von ihren herausragenden Werken mit der Dada-Bewegung und ihren Folgen in Verbindung stehen. In der Kunstgeschichte wurden bisher vor allem ihre Fotomontagen und ihre Gemälde der späten zehner und zwanziger Jahre beleuchtet.

In Ausstellungskatalogen, Aufsätzen und Büchern wurde ihre Beziehung zu Raoul Hausmann und zu Til Brugman beschrieben. Über das Leben der Künstlerin während der NS-Diktatur war bisher wenig zu erfahren. Das machte mich neugierig. Wie hat eine politisch kritische Frau wie Hannah Höch, deren Kunstwerke als »entartet« galten, unter den für sie bedrohlichen Strukturen einer Diktatur leben und überleben können?

Hannah Höchs Werk und ihre Biographie entziehen sich vereinfachenden Kategorisierungen. Die Künstlerin hat sich in ihren Arbeiten und durch ihr Leben gegen solche Deutungsversuche gesperrt. Ihre Biographie ist gezeichnet von Brüchen, bedingt durch politische und persönliche Umstände. Von Hannah Höchs Lebenssituation auf ihre Werke zu schließen scheidet schon auf Grund der Vielschichtigkeit ihrer Arbeiten aus. Dennoch bestimmt die Auseinandersetzung mit der Konstruktion von Biographien Hannah Höchs gesamtes Œuvre. Das Sichtbarmachen von Ambivalenzen und die Suche nach »Gleichgewicht« tauchen in vielen ihrer Collagearbeiten und in ihren Gemälden auf.6 Immer wieder involviert Hannah Höch in diese Auseinandersetzung die Betrachter. Etwa wenn in ihrer Fotomontage »Dompteuse« (1930) in der rechten unteren Ecke wissend und frivol ein »niedlicher« Seehund aus dem Bild grinst. Die Physiognomie des Seesäugetiers erfüllt mit seinen großen dunklen Kulleraugen und der weichen Schnauze zunächst alle Kriterien des Kindchenschemas, was bei Betrachtern meist große Sympathien auslöst. Doch diese Robbe hat durch die von der Künstlerin verpasste Wimpernverlängerung alle Unschuld verloren. Ihre natürlichen Schnurrhaare mutieren zu einem Männlichkeit simulierenden Schnauzer, der wiederum einen scharfen Kontrast zu der betont weiblichen Augenpartie bildet. Von dieser Robbe, die ein Detail in einer der wichtigsten Fotomontagen Hannah Höchs ist, geht eine beunruhigende Ausstrahlung aus, die Klischees in Frage stellt.

Die Beschreibung einer bisher kaum beachteten Phase im Leben der Künstlerin öffnet die Möglichkeit, ein neues Versatzstück ihrer Biographie transparenter erscheinen zu lassen. Dennoch bleibt auch meine Lebensbeschreibung ein Biographiefragment. Insbesondere die Aufarbeitung ihres Lebens nach dem Zweiten Weltkrieg steht trotz der bereits existenten und umfangreichen Zusammenstellung des Quellenmaterials von Seiten der Berlinischen Galerie noch immer aus. Es wäre eine Herausforderung, auch diese Zeit eine ausführliche Würdigung erfahren zu lassen, in der zwar die internationale Anerkennung Hannah Höchs als Künstlerin stattfindet, die sich aber vor allem auf ihre Werke der Dada-Zeit bezieht.

Die humorvolle Beschreibung der Vesuverklimmung aus dem Jahr 1940 in einem kleinen rotbraunen Taschenkalender der Firma Mageco zeugt von Lebensfreude und Humor. Gleichzeitig klingt an, dass es die Künstlerin selbst nicht so recht wahrhaben wollte, auf vergleichsweise harmlose Art und Weise unter den politischen Umständen des Zweiten Weltkriegs ein solches Ferienabenteuer zu erleben. Im Vorfeld der Besteigung des Vulkans war allerdings nicht nur der Weg auf den Berg steinig gewesen.

Auch wenn der Vesuv, den Hannah Höch und Kurt Heinz Matthies im September 1940 nachts besteigen, sehr eindringlich Kriegsgeräusche produziert und mit seinen zahlreichen Ausbrüchen mehrfach furchtbare Zerstörungen angerichtet hat, werden diese in seiner von Geologen auf 20000 und bis 37000 Jahre geschätzten Geschichte die durch den Zweiten Weltkrieg und Nazideutschland verursachte Zerstörung nie annähernd erreichen.

Mit der Besteigung des »feuerspeienden Ungeheuers«, wie Hannah Höch den Berg taufte, reihen sich die Reisekalenderschreiberin und ihr Begleiter in eine 200-jährige europäische Tradition ein. Seit dem 18. Jahrhundert zählt das Erklimmen des Vesuvs zu den zentralen Stationen bildungshungriger, antikensehnsüchtiger Italienreisender. Auf der Suche nach einem erhabenen Gefühl nahmen die beiden nächtlichen Bergsteiger gezielt die mit der Wahl der Tageszeit verbundenen zusätzlichen Strapazen auf sich. Denn Ende September brennt selbst in Süditalien die Sonne nicht mehr so unerträglich heiß, dass nicht auch eine morgendliche Tour ein beeindruckendes Erlebnis böte. Nachvollziehbar: Schließlich sehen Großstädter aus dem Norden nicht alle Tage einen aktiven Vulkan. Diesen Anblick dann mit anderen zu teilen würde nur stören, wie auch ein zeitgenössischer Reiseführer warnt. Schon Anfang des 19. Jahrhunderts beklagten sich Reisende über die Touristenströme auf den Wanderpfaden des Vesuv.7 Nachts und am besten natürlich bei Vollmond potenziert sich die Wirkung des mächtigen Bergs. Dann leuchtet die rötlich glühende Lava besonders kontrastreich gegen das Schwarz des Himmels – ein Effekt, den Maler zahlreicher Ölbilder, Gouachen und farbiger Stiche aus der Zeit der Aufklärung und Romantik zu nutzen wussten.

Neben dem rein naturwissenschaftlichen Interesse – demonstrieren doch die verschiedensten Abstufungen von noch flüssigem Gestein hin zu schon gefestigten Auswürfen nichts weniger als die Entstehungsgeschichte der Erde – bietet der Berg einen brisanten zusätzlichen Kick. Ihre sportliche Aktivität und das Wissen um die potentielle Gefahr, jederzeit mit dem ganzen Haufen in die Luft fliegen zu können, erhöhen die Pulsfrequenz der beiden. Und ein Blick in die Zukunft bestätigt, dass schon dreieinhalb Jahre nachdem Hannah Höch und Kurt Heinz Matthies auf den Vesuv geklettert waren, die Katastrophe eintrat, die die meisten Vulkanbesucher, während sie zwischen Schwefelausdünstungen herumsteigen, nur als ein beklemmendes Gefühl erahnen, das ihnen die Begrenztheit des eigenen Seins vor Augen führt. Der Verlauf des Zweiten Weltkrieges traf die italienische Zivilbevölkerung in Neapel und Umgebung besonders hart. Zunächst bombardierten die Amerikaner das Gebiet und nach der Landung der Alliierten bei Salerno im September 1943 die Deutschen. Am 18. März 1944 kam es zum letzten Ausbruch des Berges, bei dem der kleine Krater im Inneren des Kegels vollständig zusammenbrach. Steine, Lava und Asche wurden in die Luft geschleudert. Nachfolgende Lavaströme zerstörten zwei Dörfer in der Umgebung. Vom Himmel fallende Gesteinsbrocken zertrümmerten eine Start- und Landebahn der Alliierten bei Terzigno und zahlreiche Flugzeuge.8 Den willkürlichen Eingriff des Berges in die Kämpfe des Zweiten Weltkriegs konnten Hannah Höch und Kurt Matthies nicht vorhersehen.

Quellen

Die vorliegende Lebensbeschreibung der Künstlerin stützt sich maßgeblich auf die mehrbändige Veröffentlichung ihres Nachlasses in der Berlinischen Galerie. Ausführlich ist darin das Leben Hannah Höchs dokumentiert und wissenschaftlich kommentiert. Zitate der Künstlerin und der Personen, denen sie begegnet ist, habe ich, soweit sie aus dem publizierten Nachlass der Berlinischen Galerie entnommen sind, in der entsprechenden Transkriptionsweise wiedergegeben. Nur an wenigen Stellen wurde die Orthographie der besseren Lesbarkeit halber korrigiert.

Neben zeitgenössischen Quellen und Selbstaussagen Hannah Höchs aus ihren Kalendern und Briefen an Freunde oder Kollegen benutzte ich ihre rückblickenden Kommentare, die sie etwa ihrem ersten Biographen Heinz Ohff gegenüber äußerte oder die in ihrem publizierten Lebensüberblick von 1958 nachzulesen sind. Diese retrospektiven Kommentare hat Hannah Höch autorisiert und nachträglich überarbeitet. In den Zitaten kommt die Künstlerin zu Wort. Ihre Selbstaussagen eröffnen einen Assoziationsraum, der Feinheiten ihrer zeitgenössischen und retrospektiven Sichtweisen erkennbar werden lässt.

Darüber hinaus dienten mir bisher unveröffentlichte Briefe von Til Brugman, der niederländischen Lebenspartnerin von Hannah Höch, als Quelle. Sie werden im Deutschen Kunstarchiv des Germanischen Nationalmuseums aufbewahrt.

Die Darstellung ihrer Beziehung zu Kurt Heinz Matthies stützt sich auf Autographen der Künstlerin aus den Gerichtsakten ihres späteren Ehemanns. Ich habe versucht, ihre Briefe in den Kontext der gesellschaftlichen und politischen Entwicklung der NS-Diktatur einzuordnen.

Ohne Hannah Höchs Vorgeschichte, ihre Kindheits- und Jugenderfahrungen in dem gutbürgerlichen Elternhaus in Gotha, ihre erste Liebe zu Raoul Hausmann und ihre Teilhabe am Kreis der Berliner Dadaisten, ihre Partizipation an der Berliner Kunstszene der zwanziger Jahre sowie ihre Beziehung zu der holländischen Schriftstellerin Til Brugman ließe sich das Leben der Künstlerin unter der NS-Diktatur kaum beschreiben. Die einleitenden Kapitel enthalten jedoch nur wenige neue Forschungsergebnisse. Sie stützen sich auf die umfangreiche kunsthistorische Fachliteratur, die mittlerweile zu diesem Lebensabschnitt von Hannah Höch existiert.

1. Kapitel

»Kunstgewerblerin war immerhin nicht Künstlerin«

Kindheit und Ausbildung(1889–1915)

Am 1. November 1889 wird Hannah Höch, deren vollständiger Geburtsname Anna Therese Johanne lautet, als ältestes von fünf Kindern in der thüringischen Residenzstadt Gotha geboren. Sie wächst in behüteten bürgerlichen Verhältnissen auf. Ihr Vater, Friedrich Höch, ist Generalagent der Württembergischen Feuerversicherung und baut als Subdirektor die Niederlassung der Stuttgarter-Berliner Versicherungsanstalt für Thüringen aus.1 Ihre Mutter Rosa Höch, geborene Sachs, war vor ihrer Eheschließung in den Häusern adliger Damen als Haushaltsvorsteherin und Vorleserin tätig.2 Wie in vielen bürgerlichen Familien zählte künstlerische Bildung zum guten Ton bei den Höchs. Die Mutter fördert Hannah Höchs Freude am Zeichnen und Malen. Auch sie selbst ging »bescheidenen künstlerischen Ambitionen« nach und »malte nach Vorlagen« Ölbilder.3 Mit einer kurzen berufsbedingten Unterbrechung, die die Höchs nach der Geburt ihrer ersten Tochter nach Weimar führt, lebt die Familie in Gotha, in einem dreistöckigen Gründerzeithaus in der Kaiserstraße 28, die heute 18.-März-Straße heißt.4 Die Fassade des Höch’schen Wohnhauses erscheint wohlgeordnet, wenige schlichte Stuckelemente gliedern die Front. Das Gebäude wirkt großzügig, aber nicht protzig. Hinter dem Haus öffnet sich ein Garten, der an eine kleine Parkanlage angrenzt, die zum Gut des Barons von Leesen gehört.5 Für das Familienleben und die intensive Beziehung zwischen Hannah Höch und ihrem Vater ist der Garten von zentraler Bedeutung. Den grünen Daumen hat sie offenbar von Friedrich Höch geerbt: »Mittags, zwischen zwölf und zwei Uhr, wenn die Büros geschlossen waren, pflegte mein Vater seinen Rosengarten, und ich lernte dabei helfend, schon mit sechs oder sieben Jahren, Rosen veredeln. Ich musste den Bast aufbinden, für die richtige Feuchtigkeit sorgen, das Okuliermesser reichen.«6 Ihre Familie bedeutet Hannah Höch sehr viel. Hier findet sie Verständnis und Rückhalt auch in schwierigen Lebenssituationen. Die Geborgenheit erzeugt in ihr einen großen Schatz an Vertrauen. Dieses Lebensgefühl trägt sie in sich und es bietet ihr in Krisensituationen Halt. Dennoch hat sie für das harmonische Zusammenleben in der Familie auf ihr wichtige Anliegen und Ziele verzichten müssen. 1904 verlässt Hannah Höch auf Wunsch der Eltern vorzeitig als Fünfzehnjährige die Höhere Töchterschule. Eigentlich hatte ihr die Schule viel Spaß bereitet, und der Unterrichtsstoff in vielen Fächern, auch in den Naturwissenschaften, interessierte sie. Der Grund für ihr vorzeitiges Ausscheiden aus der Schule lag in der Geburt der jüngsten Schwester Marianne, genannt Anni oder Nitte (1904–1994) begründet.7 Hannah Höch sollte als älteste Schwester die Mutter bei der Betreuung und Erziehung unterstützen und Verantwortung in der Familie übernehmen. Als die Kleine drei Tage alt ist, übernimmt Hannah Höch die Säuglingspflege. Sie wird die Schwester bis zur Einschulung betreuen.8 »Ich liebte dieses Kind sehr, aber dadurch zögerte sich zu meinem großen Kummer mein Studium beträchtlich hinaus – sehr zur Befriedigung meines Vaters, der ein Mädchen verheiratet wissen, aber nicht Kunst studieren lassen wollte, was übrigens um 1900 noch der allgemeinen bürgerlichen Ansicht entsprach.«9

Ein um 1905 entstandenes Foto zeigt die etwa sechzehnjährige Johanne Höch in einem weißen, mit Rosen und Blüten geschmückten Ballkleid. Aufrecht sitzend schaut sie stolz aus dem Bild (Abb. 1). Die junge Frau scheint den für sie vorbestimmten Weg anzunehmen, wenn da nur nicht dieser selbstbewusste Blick wäre.

Um die praktischen und kaufmännischen Fähigkeiten seiner Tochter weiter zu fördern, verlangt der Vater von Hannah Höch, dass sie ihn ein Jahr lang in seinem Versicherungsbüro unterstützt.10 Trotz der klaren Vorstellungen des Vaters über den weiteren Lebensweg seiner Tochter, der nicht ihren eigenen Wünschen entsprach, beschreibt Hannah Höch das Verhältnis zu ihm als liebevoll und positiv. Friedrich Höch stellt mit seiner Lebenshaltung und seinem pädagogischen Konzept keine Ausnahme unter den bürgerlichen Familien in Deutschland vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs dar. Hannah Höchs Biographie entspricht bis dahin dem typischen Bild einer behüteten Tochter aus bürgerlichem Hause. Doch all die Versuche der Eltern, ihre Tochter zu einem »bodenständigen« Beruf zu bewegen, scheitern an Hannah Höchs starkem Willen: »Lieber will ich mich in Berlin zu Tode schuften, als dass ich einen Tag länger in Gotha bliebe.« So jedenfalls schilderte sie retrospektiv ihren Entschluss, als junge Frau ihrer Heimatstadt den Rücken zu kehren, in dem 1977 von Hans Cürlis gedrehten Film »Hannah Höch – jung geblieben«.11 Erst acht Jahre nachdem sie von der Schule abging, fast zweiundzwanzigjährig, verlässt sie 1912 die wohlgeordneten Verhältnisse und zieht nach Berlin. Trotz vieler Vorbehalte der Eltern beginnt sie eine Ausbildung an der privaten Kunstgewerbeschule Charlottenburg, wo sie in die von Harold Bengen geleitete Klasse für Gestaltung aufgenommen wird.12 Bengen war selbst Maler und hatte 1910 unter anderem mit Max Pechstein gemeinsam die Neue Sezession in Berlin gegründet. Sein künstlerischer Ruf basierte auf Entwürfen für Mosaiken und Glasfenster. Er gestaltete Teile der ornamentalen Ausschmückung für das Museum in Magdeburg, das Friedenauer Rathaus und die Berliner Charité. Die Charlottenburger Kunstgewerbeschule war den Ausbildungstraditionen des 19. Jahrhunderts verpflicht. Das Entwerfen und Zeichnen von Ornamenten, Kalligraphie und Schriftgestaltung bestimmten das Curriculum, wobei das Kopieren historischer Vorlagen einen zentralen Stellenwert einnahm.13 Ursprünglich war es Hannah Höchs oberstes Ziel, an einer Akademie freie Kunst zu studieren. Doch die Erfüllung dieses Traumes wäre eine allzu provokative Entscheidung gegen die Pläne ihrer Eltern gewesen. »Kunstgewerblerin war immerhin nicht Künstlerin«.14 Kunstgewerbeschulen etablierten sich seit dem späten 19. Jahrhundert zusehends in Deutschland. Die Ausbildung setzte einen starken Akzent auf die praktische Anwendbarkeit des Gelernten und auf fundierte Kenntnisse handwerklicher Techniken. Das Angebot war breit gefächert. Entwerfen von Stoff- und Tapetenmustern, das Gestalten von Schnittmustern und das Erlernen druckgrafischer Verfahren zählte ebenso zum Curriculum wie Techniken der Glasmalerei. Vieles, was an diesen Schulen unterrichtet wurde, konnte sinnvoll in einem handwerklichen Beruf oder in der industriellen Warenproduktion eingesetzt werden. Es war ebenso in einem bürgerlichen Haushalt von Nutzen. Dieser Aspekt scheint, trotz der tendenziell eher liberalen und der Kunst durchaus zugeneigten Erziehung im Hause Höch, bei der Zustimmung der Eltern eine Rolle gespielt zu haben. An den Kunstakademien hingegen wurden die Studenten zu »freien« Künstlern in der sogenannten »hohen« oder »freien« Kunst ausgebildet, auch wenn aus heutiger Sicht der Lehrplan mit seinen verpflichtenden Kursen wie dem Zeichnen vor Originalen verschult wirkt.15 In der rückblickenden Äußerung Hannah Höchs klingt an, dass sie wohl nicht nur mit den im Großen und Ganzen ihr sehr wohlwollenden Eltern Schwierigkeiten bekommen hätte, wenn sie sich an einer Kunsthochschule oder Akademie für den Bereich »freie Malerei« beworben hätte. Ein Universitätsstudium war Frauen in Preußen offiziell erst seit wenigen Jahren, seit dem Wintersemester 1908/1909, gestattet.16 Als Hannah Höch ihre Ausbildung in Berlin beginnt, herrschen nach wie vor starke politische und gesellschaftliche Ressentiments gegen den gleichberechtigten Zugang von Frauen und Männern zu Bildungseinrichtungen. Die rückschrittliche Haltung in Deutschland demonstriert ein Vergleich mit anderen europäischen Ländern, wie etwa der Schweiz, die bereits in den 1840er Jahren erste Gasthörerinnen akzeptierte und bald darauf auch die Vollimmatrikulation von Frauen erlaubte. Ähnliches gilt für Frankreich, Schweden, Dänemark und Belgien und die USA, in denen sich nach englischem Vorbild Frauen-Colleges etablierten.17 Nicht nur in den medizinischen, theologischen und juristischen Fakultäten sind starke Vorbehalte gegen das Frauenstudium verbreitet. Vor allem die Kunstakademien verweigerten ihnen den Zugang zur Ausbildung. Einzelne renommierte Kunsthochschulen wie etwa die Münchner Akademie setzten in ihren Statuten noch 1911 fest, dass sie ihren Bildungsauftrag ausschließlich in der Schulung von »jungen Männern« definierten, »welche die Kunst als Lebensberuf gewählt haben«. Ihnen seien »jene Kenntnisse zu vermitteln, deren sie zur selbstständigen erfolgreichen Ausübung des Künstlerberufes bedürfen«.18 Erst nach dem Ersten Weltkrieg konnte sich auch die Münchner Kunstakademie auf Grund des in der Weimarer Verfassung festgeschriebenen Gleichheitsprinzips nicht länger der Immatrikulation von Studentinnen verschließen. Die frauenfeindliche Haltung der Akademien spiegelt sich auch in der allgemein verbreiteten Abneigung wider, die die spätwilhelminische Gesellschaft Künstlerinnen entgegenbrachte. In Satirezeitschriften wie dem »Simplicissimus« oder auch in sonst so fortschrittlichen Kunstjournalen wie der »Jugend« wurden bartwüchsige Künstlerinnen in Männerkleidung und Herrenschnitt vor der Staffelei stehend als »Malweiber« diskreditiert, die, falls sie es je zu künstlerischen Leistungen bringen sollten und nicht im Dilettantismus verharrten, zu halben Männern mutieren würden.19 Die Vorstellung, dass eine ernstzunehmende Künstlerin notwendigerweise einen Verwandlungsprozess durchlaufen müsse, der einer Geschlechtsumwandlung gleichkommt, entsprang einer abwehrenden Einstellung gegenüber Frauen, die einem intellektuellen Beruf nachgingen. Kritiker sprachen Frauen auf Grund ihrer angeblichen psychischen und biologischen Konstitution die Fähigkeit ab, selbständig neue künstlerische Ideen zu entwickeln.20 Zu diesem Urteil trugen Theorien über die »Biologie« der Frau aus dem Bereich der Naturwissenschaften bei. Frauen dichtete man auf Grund ihres Geschlechts einen Mangel an Erfindergabe, an »inventio«, an, die jedoch als maßgebliches Zeichen künstlerischer Genialität galt. Eben diese Begabung bestimmte wenige Ausgewählte und selbstverständlich nur Männer zu Künstlern. Hierin unterschied sich der Künstler, der nach seiner freien Eingebung Neues schafft, von den Kunstgewerbetreibenden, die nach Vorgaben und Aufträgen angewandte oder gewerbliche Arbeiten ausführten.

Die Ressentiments gegenüber Künstlerinnen demonstrieren aber auch, wie entschieden man das kreative Potential des Kunstgewerbes unterschätzte. Neben diesen angeblich von der Natur vorgegebenen Beschränkungen der Frau wurde vor allem das für die künstlerische Ausbildung notwendige Studium des nackten menschlichen Körpers als Argument gegen Studentinnen an den Kunstakademien angeführt. Moralisch anstößig war für viele Professoren die Vorstellung, dass junge Studenten und Studentinnen gemeinsam vor dem Akt zeichneten. Im späten 19. Jahrhundert galt das Zeichnen des entblößten weiblichen Körpers allerdings generell als Gefährdung der Sittlichkeit. Der preußische Staatskünstler und kunstpolitisch äußerst einflussreiche Historienmaler Anton von Werner lehnte 1874 aus diesem Grund einen Antrag seiner männlichen Studenten ab, weibliche Modelle einzustellen.21 Die Vorbehalte und Verbote waren Ausdruck des tabuisierenden und unterdrückenden Umgangs mit dem weiblichen Körper um 1900 in Deutschland. An Koedukation vor dem unbekleideten Modell war auch noch lange nach der Jahrhundertwende nicht zu denken. Das gilt übrigens auch und vor allem für die Medizin. Anatomie lernten Frauen hier in von ihren männlichen Kollegen getrennten Kursen.

Hannah Höchs Entscheidung gegen eine Bewerbung an einer Kunstakademie entsprach dem Ausbildungsweg der meisten künstlerisch begabten und interessierten jungen Frauen ihres Alters. Als Kompromiss bot sich zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts die Wahl einer privaten Kunst- oder Kunstgewerbeschule an.22

Der Eintritt des deutschen Kaiserreichs in den Ersten Weltkrieg am 1. August 1914 und die damit verbundene Schließung ihrer Schule zwang Hannah Höch, noch einmal zu ihren Eltern zurückzukehren, um in Gotha einige Monate für das Rote Kreuz zu arbeiten. Hannah Höch erlebt den Kriegsausbruch in Köln. Die Kunstgewerbeschule hatte ihr, gemeinsam mit drei Kommilitonen, ein Reisestipendium zur Werkbund-Ausstellung verliehen, die 1914 auf dem am rechten Rheinufer gelegenen Messegelände gezeigt wird. Der Werkbund war 1907 von zehn führenden Künstlern, Formgestaltern und Architekten ins Leben gerufen worden. Dazu zählten unter anderem Peter Behrens, Theodor Fischer, Joseph Hoffmann, aber auch Paul Schultze-Naumburg. Ziel der Gründung war es, deutsches Kunstgewerbe mit hohem künstlerischem Anspruch auf Weltmarktniveau zu bringen und der verbreiteten Devise »German goods are cheap and nasty« (deutsche Waren sind billig und scheußlich) entgegenzutreten.23 Seine Gründer legten die Ziele in ihrem Programm fest. Die Veredelung gewerblicher Arbeit und Steigerung der Qualität wurden festgeschrieben. Die Werkbundschau, die Hannah Höch besuchte, sollte maßgeblich Einfluss auf zukünftige künstlerische und architektonische Entwicklungen in Deutschland nehmen. Hannah Höch konnte in Köln unter anderem Bruno Tauts Glaspalast besichtigen, das utopische Sinnbild kristalliner Architektur.

In ihrem Lebensüberblick von 1958 schrieb Hannah Höch, sie sei vom Ersten Weltkrieg »überrascht« worden. Lange vor dem 1. August 1914 prägten Vorzeichen der Mobilmachung in Deutschland das Straßenbild. Hannah Höchs Blindheit für die Kriegseuphorie hing mit ihrer Einstellung zusammen. Anders als viele Altersgenossen, vor allem auch in Künstlerkreisen, verband sie mit der sich anbahnenden kriegerischen Auseinandersetzung keinerlei positive Vorstellungen: »Aus den schwerelosen Jugendjahren kommend und glühend mit meinem Studium beschäftigt, bedeutete diese Katastrophe den Einsturz meines damaligen Weltbildes. Ich übersah die Folgen für die Menschheit und für mich persönlich sofort und litt unter dem munteren Aufbruch meiner Umwelt in den Krieg sehr.«24 Ihr klares Bekenntnis zum Pazifismus wird Hannah Höchs persönlichen und künstlerischen Werdegang maßgeblich beeinflussen.

Zu Beginn des Jahres 1915, als die Kunstschulen trotz des Krieges ihren Unterricht wieder aufnehmen, kommt sie nach Berlin zurück und schreibt sich neu in die Klasse für Graphik und Buchkunst von Emil Orlik ein, diesmal an der staatlichen Unterrichtsanstalt des Kunstgewerbemuseums.25 Der Krieg ist auch in dieser Institution täglich präsent. Teile des Gebäudes werden als Lazarett genutzt. Unter anderem befindet sich eine Nervenstation im Reservelazarett Kunstgewerbemuseum, wie die Notunterkunft militär-bürokratisch genannt wird.26 Geleitet wird sie von Richard Cassirer, dem Bruder des Galeristen Paul Cassirer.

Anders als ihre erste Ausbildungsstätte genießt die staatliche Unterrichtsanstalt einen progressiven Ruf. Die Schule bietet ihren Studenten künstlerischen Freiraum.27 Der Unterricht bei Orlik, der während eines Aufenthaltes in Japan vom asiatischen Farbholzschnitt beeinflusst wurde und diese Technik mit nach Europa brachte, bot ihr auf künstlerischem Niveau höchste Anforderungen. Schon bald nach ihrem Eintritt in seine Klasse stellte Orlik sie als Assistentin ein. Hannah Höch schnitt nach seinen Vorgaben Holzstöcke. Ihre Schule lag zwischen Potsdamer Platz und Anhalter Bahnhof in der Prinz-Albrecht-Straße 7. Das Architektenteam Martin Gropius und Heiko Schmieden errichtete Ende der 1870er Jahre das monumentale kubische Gebäude. Das Besondere an dieser Einrichtung war die enge Nachbarschaft zwischen der Sammlung des Berliner Kunstgewerbemuseums, die zu den königlichen Museen zählte, und der Schule. Museum und Unterrichtsanstalt waren unter einem Dach untergebracht, wobei die Ausbildungseinrichtung im Nordflügel des Hauses lag. Die Studierenden lernten auf diese Weise problemlos hochwertige historische Zeugnisse handwerklich oder industriell hergestellter Produkte und Gebrauchsgegenstände kennen. Auch heute wird das Gebäude wieder für Ausstellungen genutzt. Es ist nach einem seiner Architekten Martin-Gro-pius-Bau benannt. Lehrer und Studenten der Schule standen in engem Austausch mit Kreisen der künstlerischen Avantgarde im Berlin der 1910er Jahre. Über Hannah Höchs Jugendfreundin und Studienkollegin Maria Uhden, die ebenfalls aus Gotha stammte und die bereits ein Jahr vor Höch in Berlin an der Kunstgewerbeschule zu studieren begonnen hatte, nahm sie erste Kontakte zum expressionistischen Künstlerkreis »Der Sturm« auf. Gründer und Namensvater der Vereinigung war der mit all seinen physischen und finanziellen Kräften für die Kunst kämpfende Schriftsteller, Musiker, Galerist und Verleger Herwarth Waiden. Ebenfalls Schüler in Orliks Klasse war George Grosz, mit dem Hannah Höch später, nach dem Ersten Weltkrieg, gemeinsam auf der »Ersten Internationalen DADA-Messe« in der Kunsthandlung Dr. Otto Burchard ausstellen wird. Allerdings hatte sie während ihres Studiums nur wenig Kontakt zu Grosz.

Hannah Höch hat ihre kunstgewerbliche Ausbildung auch später, als sie sich als freischaffende Künstlerin definiert, nie verleugnet. Vielmehr wird sie ihr technisches und handwerkliches Wissen in ihren Arbeitprozess integrieren. Und wie viele Künstlerkolleginnen ihrer Zeit interessiert sie sich weiterhin für ornamentale Strukturen von Stoffen und Stickereien. Mehrfach wird sie sich zum Ziel setzen, neue Tendenzen in der Kunst in den Bereich der Formgestaltung zu übertragen.

Im April 1915 lernt sie in der Bibliothek des Kunstgewerbemuseums, die den Studierenden auch in den vorgeschrittenen Abendstunden offenstand, ihre erste große Liebe kennen, Raoul Hausmann. Er ist verheiratet und Vater einer Tochter. Mit Hausmann wird sie eine siebenjährige Liebesbeziehung verbinden, die von tiefer Nähe, aber auch zermürbenden Auseinandersetzungen und vielen Zerwürfnissen geprägt ist. Über eigene freundschaftliche Beziehungen und vor allem durch Hausmanns Bekanntenkreis lernte Hannah Höch all jene Künstler kennen, die sich zum Ende des Ersten Weltkrieges in der Berliner DADA-Bewegung formierten.

2. Kapitel

»Damen ohne Herrengesellschaft ist das Rauchen hier nicht gestattet«

Raoul Hausmann. Dada-Berlin.Künstlerfreundschaften(1915–1926)

Das Foto zeigt einen jungen Mann in typischem Porträtformat (Abb. 2). Er trägt einen eleganten dunklen Anzug, einen dunklen Schlips und ein steifes weißes Oberhemd. Sein leicht vorgeschobener Unterkiefer und die vollen Lippen verleihen ihm einen energischen, fast brutalen Gesichtsausdruck, der durch den ernsten Blick verstärkt wird. Breite Schultern betonen seine Männlichkeit. Hausmann schaut nicht direkt in die Kamera, er fokussiert etwas, das sich links neben ihr befindet. Der Mann hat eine Vision, vermittelt unmissverständlich sein Blick aus dem Bild. Im Glas seines Monokels bricht sich das Licht. Die Sehhilfe erzeugt einen Lupeneffekt, der das dahinterliegende Auge vergrößert und verzerrt.

In dem Foto aus dem Jahr 1915 sind bereits alle stilbildenden Attribute angelegt, auf die Raoul Hausmann zukünftig bei seiner Selbstinszenierung als Künstler Wert legt. Dazu zählt die kämpferische Haltung, gepaart mit Eleganz. Auf das Monokel wird Hausmann kaum noch verzichten. Das konservative Image des Einglases steht im Kontrast zu seinem sonstigen Erscheinungsbild. Der Widerspruch verwandelt das Monokel in ein modisches Accessoire, das seinem Träger die nötige Lässigkeit verleiht. Doch das Monokel ist nicht nur Dekor. Hausmann leidet seit seiner Kindheit an Kurzsichtigkeit und ist auf seinem linken Auge fast blind.1 »Ich muß erwähnen, daß Monokeltragen zu der Zeit zwar etwas provozierend wirkte, es aber doch weit mehr benutzt wurde als heute; Hausmann kam wahrscheinlich schon mit Monokel auf die Welt. Denn schon als ich ihn kennenlernte, also längst vor DADA, wäre er sich ohne ... wie ohne Kleidung vorgekommen. Er hatte seine Augen, die schon immer einer Stütze bedurften, so an das Einglas gewöhnt, dass es saß wie eingewachsen. Er hat es auch nie an einer Schnur getragen. Und wenn er den ganzen Kurfürstendamm hinunter hätte Purzelbäume schlagen müssen, er hätte das Glas nicht einen Augenblick abgenommen oder gar verloren. Psychologisch gesehen gehörte es auch zu ihm, er musste es tragen aus der prinzipiellen Verneinung des Üblichen«, kommentierte Hannah Höch die Extravaganz ihres Partners im Rückblick.2 Modebewusstsein zählt zu seinen Charaktereigenschaften.

Hannah Höch notierte auf dem Foto, das sich heute in ihrem Nachlass in der Berlinischen Galerie befindet, »Raoul Hausmann 1915. Als ich ihn kennenlernte.«3

Am 12. Juli 1886 wurde Raoul Hausmann in Wien in eine wohlhabende Künstlerfamilie geboren. Der Vater, Victor Hausmann, stammte aus Ungarn, aus einer betuchten Großkaufmannsfamilie. Zunächst zog er für ein Studium an der Kunstgewerbeschule und dann an der Wiener Akademie in die Hauptstadt der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn. Hier erarbeitete der Vater sich einen Ruf als Porträt- und Historienmaler. Dennoch zieht die Familie 1900 nach Berlin, in die südwestlichen Vorortbezirke nahe der Havel. Dort entsteht eine neue, großzügig angelegte bürgerliche Wohngegend im Grünen mit großen freistehenden Häusern, umgeben von Gartenanlagen. Berlin bedeutet für Hausmanns Vater einen Karrieresprung. Wilhelm II. berief ihn als Hofmaler in die kaiserliche Reichshauptstadt. Zudem verlangte die weiterhin von konservativen Kreisen dominierte Berliner Kunstszene anders als das im Aufbruch befindliche Wien von dem etablierten Maler nicht allzu große Anpassungen an neue Kunstauffassungen.4

Der junge Raoul Hausmann wächst, zumindest was seine pekuniäre Situation anbelangt, in ähnlich behüteten Verhältnissen auf wie Hannah Höch. Über seine Kindheit ist wenig bekannt. Wahrscheinlich ist, dass der Vierzehnjährige in Berlin nicht mehr eine Schule besucht, sondern sich autodidaktisch weiterbildet. Ursache für die Entscheidung der Eltern, ihren Sohn nicht noch einmal in eine schulische Einrichtung zu geben, mögen seine Schwierigkeiten mit Autoritäten gewesen sein: »In dem Wiener Realgymniasium habe ich wirklich nichts als Unfug gemacht, und als ich dann nach Berlin kam, war mein Vater so davon überzeugt, dass ich in keiner Schule zu halten sei, dass er mich der Malerei und dem Radfahren überließ«, kommentiert Hausmann.5

Als er Hannah Höch 1915 kennenlernt, war das Verhältnis zu seinen Eltern und seiner Schwester Mira, die er 1916 zum letzten Mal sieht, distanziert.6 Seine Eltern nehmen sich 1920 gemeinsam das Leben. Über die Ursachen für die Tat erfährt man aus der Korrespondenz zwischen Raoul Hausmann und der Künstlerin nichts. Die Inflation und der Verlust von Ansehen nach dem Zusammenbruch der Habsburger Monarchie und dem Ende des Kaiserreiches hatten das Selbstverständnis des akademischen Hofmalers zerstört.

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