Schreibtisch-Experimente - Vincent Kleemayer - E-Book

Schreibtisch-Experimente E-Book

Vincent Kleemayer

4,9

Beschreibung

Der junge Schriftsteller aus dem Zabergäu nimmt sich im vorliegenden Band verschiedene Stilrichtungen der Unterhaltungsliteratur vor. Wechselnde Erzähltechniken und tragikomische Themen kennzeichnen Kleemayers Versuchsreihe mit Prosatexten, welche einigen »Schreibtisch- Experimenten« entsprungen sind. So ist im »Laboratorium« des Jungautors ein Ensemble von Hauptfiguren entstanden, wie es schillernder kaum sein könnte.

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Seitenzahl: 140

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Der Autor

Zwei erfolgreiche Berufsausbildungen konnten seine Sehnsucht nach der weiten Welt keinesfalls stillen. Kellner im Biergarten, T-Shirt-Verkäufer beim Festival, Pizzabäcker im Schnellrestaurant, Flyerverteiler am Flughafen, Fabrikarbeiter im Metallbetrieb, Statist am Filmset, Entwicklungs-helfer im Waisenhaus, Vorarbeiter beim Glasermeister, Sargträger auf Dorffriedhöfen, Chauffeur hinterm Taxilenkrad - Dieser Kleemayer ist tapfer in so manche Rolle respektive Dienstkleidung geschlüpft, um seine wahre Berufung zu entdecken.

Seit seinem 25. Lebensjahr widmet sich der im ländlichen Zabergäu aufgewachsene Jungkünstler vorwiegend der Schöpfung von deutschsprachiger U-Literatur.

(Und dabei soll es vorerst auch bleiben.)

Umwelthinweis:

Dieses Buch wurde auf chlor- und säurefreiem Papier gedruckt

FÜR     DAS     TEAM

VON

www.armedangels.com

Inhalt

Ehrensache

Fliehende Hoffnung

Das Jesu-Mädchen und Eure letzte Prüfung

Blaubart ohne Mut?

(K)ein feines Trinkgeld

Die Knarre, ein Gammler & Signorina Loren

Tierisch-coole Family

An alle Politiker – weltweit!

~ Zeittafel

&

Statement ~

Ehrensache

Im Juli 2013 an einem Freitag: Sonnenschein über Hitze, Hitze über Sonnenschein. Halb Europa ächzt und schwitzt unter dem Joch einer unerbittlichen Warmfront namens Arinna.

Fürwahr, bei 35 Grad C im Schatten kann einem manch simple Tätigkeit ungeahnt schwerfallen. Gleichfalls der Wahrheit entspricht, dass Freund Hein im Hochsommer häufiger an die Pforten der Kranken und Alten klopft, als es die übrigen Monate im Kalender der Fall ist. Eine Tatsache – so sicher bewiesen wie die Existenz von Viren oder die Gravitation auf unserem Planeten. Und ein Lied davon singen können in erster Linie all jene, die dann und wann mit dem Tod beziehungsweise einem Bestattungsunternehmen zu tun haben.

Ich traf um Punkt 12.40 Uhr auf dem Friedhof in Pfaffenhofen ein. Für die Ausübung meines anstehenden Dienstes war eine gewisse Kleiderordnung oberstes Gebot. Soweit es für mich erschwinglich war, nahm ich diese Vorschrift ernst und trug am Leib: ein Kurzarm-Hemd, eine schlichte Stoffhose, moderne Halbschuhe und ein elegantes Sommerjackett. Bis auf das marineblaue Hemd hielt sich meine Abschiedsgarderobe in satten Schwarztönen. Alter Schwede, du musst ja vor Würde geradezu strotzen!

Vom unteren Eingangstor aus ließ ich den Blick über das mit Kreuzen und Gräbern gespickte Gelände schweifen. Auf dem Westflügel erhob sich die Aussegnungshalle mit Sitzplätzen für rund 80 Personen. Dorthin schritten gesenkten Hauptes nach und nach die Trauergäste für Frida Kaiglocke. Der Start des Hauptgeschehens war auf 13.00 Uhr angesetzt.

Ich ging ein kurzes Stück und erblickte dann meine Kollegen auf der Ost-Ebene an einer bestimmten Stelle versammelt. Mit strammem Rücken bahnte ich mir einen Weg in deren Richtung. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich nicht die leiseste Ahnung, welch böse Überraschung uns Totengräbern heute noch blühen sollte.

Die freundlichen Herrschaften hatten die 60 längst überschritten. Neben Erfahrenheit und Sonnenbräune stand ihnen das wohl verdiente Rentenalter gut zu Gesicht. Wir begrüßten uns per Handschlag und verschworenem Nicken. Für die Durchführung des Auftrages waren somit anwesend: Richard Heufluß, Walter Brückle, Dieter Kleinboot. Und meine Wenigkeit, ein Picasso verehrender Jungkünstler mit ehrgeizigen Plänen hinter der Stirn. Nun, dass ich in deren grauhaariger Gesellschaft wie ein Dreikäsehoch im Sonntagsstaat wirkte, ließ mich allenfalls mit den Schultern zucken.

Du bist hier trotz einer Bullenhitze anwesend. Auch positiv: Das Missionsziel ist kinderleicht und verspricht Bares für die Börse.

Umgehend schloss ich mein Interesse dem der Kollegenschaft an und spähte ebenfalls in die Tiefe einer vakanten Grabgrube. Zunächst fand ich am dargebotenen Beispiel der Vergänglichkeit nichts Ungewöhnliches. Dutzende Male schon hatte ich einen hungrigen Schlund aus lehmiger Erde vor Augen.

Doch wieso blicken die anderen so nachdenklich drein?

Eine zweite Betrachtung ließ mich erkennen: Das Grab wich in den Ausmaßen einige Dezimeter vom üblichen Standard ab. Dem Anschein nach würde unser jüngst verschiedenes Gemeindemitglied in einem extrabreiten Sarg seine letzte Reise antreten. Das bedeutete…

Ich rückte meine Sonnenbrille auf Halbmast und schaute rüber zu Spezi Brückle. Dessen Konzentration haftete im Moment an den Zeigern seiner Armbanduhr.

»Wo bleibt unser Müllers Waldemar bloß?«, sagte er halb in Trance von der allgegenwärtigen Schwüle. Auf seinem spärlich behaarten Schädel glitzerten Schweißtröpfchen wie frisch polierte Edelsteine.

Also stieß ich Kollege Kleinboot leicht in die Flanke, um mir meine Entdeckung und die daraus resultierende Vermutung bestätigen zu lassen. Er wollte gerade den Mund aufmachen, als Heufluß mit der Darlegung des Am-besten-wird-sein-Planes begann. Ja, er sagte liebend gern am besten wir gehen so oder am besten wär's, wenn du so und der gleichzeitig so… Unser weißbärtiger General eben. Jedenfalls schritt Heufluß dabei probeweise die Etappe vom Sargwagen bis zur Grube der Verstorbenen ab. Er tat dies recht gewissenhaft, was den Vorteil hatte, seinen Anweisungen gut folgen zu können. Na ja, heute eher weniger gut, da die herrschende Höllenhitze das logische Denkvermögen merklich beeinträchtigte.

Dieter Kleinboot schob seine rechte Pranke in die Hosentasche, an seiner linken baumelte lässig das Jackett.

»Des kann jo heiter werde«, meinte er mit einem gedämpften Lachen. Es war seine Art, fast jeden dritten Satz lächelnd oder lachend zu beenden. Seinem Gemüt schien ein unerschütterlicher Humor zu eigen, der Jung und Alt gleichermaßen zum Schmunzeln anregte.

»Na, kapiert? Da und da müssen wir besonders aufpassen, Teemeyer.« General Heufluß warf einen scharfen Blick in meine Richtung.

»Isch klar«, gab ich nickend zurück. Langsam beschlich mich das Gefühl, dass mir ein Negativ-Detail zur Lage vorenthalten wurde. Erneut blickte ich in das rötlich gefleckte Antlitz des Kollegen Brückle, der im Zustand innerer Anspannung von einem Bein aufs andere trat. Sehnte er noch immer Verstärkung herbei?

Stratege Heufluß hatte gerade die Verfänglichkeit der Zielgeraden zu Ende erläutert, als sich Bestatter Gregor Bald zwischen uns stellte, um ein formelles »Grüß Gott zusammen!« an seine Träger-Crew zu richten. Dann zückte er ein Briefkuvert und verteilte reihum die Honorare. Das ging bei ihm Schlag auf Schlag, so zügig brachte keiner sein Dankeschön heraus. Unser Boss stand sichtlich unter Strom; er glich mehr einem Börsianer knapp vor Feierabend als einem renommierten Leichenbetter des Auenlandes. Daran kann nicht allein das zermürbende Wetter schuld sein, sagte ich mir im Stillen.

Beim Versuch, uns alle gleichzeitig anzublicken, meinte Bald mit gewichtiger Stimme: »Männer, es gibt ein kleines Problem«, der Mittvierziger schwieg einen Moment, wobei er sich um 180° drehte und seinen Stab aus willigen Helfern Richtung Hauptgeschehen dirigierte. Wir folgten im Gänsemarsch, lauschten was es Problematisches zu bewältigen gab. Inzwischen hatte ich eine konkrete Vorahnung…

»… Liebe Trauergemeinde, in der Ansprache halten wir uns an ein Wort aus einem alten Gebet – Psalm 90, Vers 17:

Der Herr, unser Gott, sei uns freundlich und fördere das Werk unserer Hände bei uns, ja, das Werk unserer Hände wolle er fördern.

Nun, dieser Denkspruch wurde Frau Kaiglocke bei ihrer Konfirmation mitgegeben – 1947. Und sein Inhalt hat ja wahrlich Tiefsinn. Denn da wird Gott in Anspruch genommen für einen ganz bestimmten Lebensentwurf. Und uns wird vor Augen geführt: Man kann mit Mut und Entschlossenheit das Leben in Angriff nehmen und sich sagen: Was zählt im Leben – das ist das, was wir erarbeitet haben. Ja, und im Rückblick soll man dann auch sagen können: Ich habe gute Erfahrungen gemacht, diese gaben mir Kraft zum Leben, das vollbrachte Tagewerk beschied mir Zufriedenheit. Ich konnte etwas leisten! Für die guten Erfahrungen, für meine Erfolge bin ich dankbar: der Allmächtige ist freundlich mit mir gewesen …«

Um 12.50 Uhr, noch bevor Pfarrer Wolfgang Blendhögel ans Podium trat, hatten der Bestatter, sein Azubi Till und Richard den geschlossenen Sarg vor der Trauergemeinde aufgebahrt.

Mittlerweile saßen wir auf Holzstühlen in einem kleinen Nebenraum der Aussegnungshalle. Hier war unser Wartebereich, diskret von den Angehörigen und Gästen abgeschirmt. Immer wenn ich über jene Schwelle trat, musste ich an Entsagung und österreichische Ordensklöster irgendwo im Alpengebirge denken.

Der Boden war olivgrau gefliest. Von den überhohen Wänden rieselte hie und da ein Rauputz, der durch seinen Stich, fernab von Weiß, an Ödheit unübertreffbar schien. Für ausreichend Tageslicht sorgten mehrere Glaselemente, welche im oberen Drittel des nördlichen Mauerwerkes über dessen volle Breite verliefen. Nahe der Decke hatten sich auf den schmalen Rahmenleisten der Scheiben Weberknechte und Staubmäuse gutnachbarlich angesiedelt. Von Zeit zu Zeit schwebten Letztere wie von Magie beseelt frei durch die Luft; dann schauten die 8-beinigen Knechte, gafften, hatten Spaß am Spektakel des fliegenden Staubes.

Verflucht sei, wer deren Eintracht dort droben zu stören wagt.

Das Mobiliar wirkte auf ewig ausrangiert. Es war nur eine Frage der Zeit, bis daraus ein Festschmaus für den Holzwurm werden würde. Über dem Eichenschreibtisch hing ein gekreuzigter Messias an der Wand, darunter ein Holztäfelchen mit altdeutscher Inschrift: Das tat ich für Euch, was tut Ihr für mich?

Oh, so was geht die Gläubigen an, aber gewiss keinen kunstvernarrten Pinselschwinger wie mich.

Vis-à-vis der Bibelsentenz ragte ein Kleiderschrank in die Höhe; vielleicht aus den Siebzigerjahren, demnach nicht im Geringsten modern. Einmal ließ ich seine Scharniere knarren und äugte ins Innere. Neben muffiger Luft beherbergte er eine Schachtel mit Teelichtern sowie ein mysteriöses Paar gelber Gummistiefel in Kindergröße, und an einem der Holzbügel baumelte eine Art Trauergewand, dessen letzte Showeinlage womöglich zur Ewigkeitsentsendung meines Urgroßvaters geboten wurde.

Rechts von dem Schrank bestand die Möglichkeit, eine Hutablage mit Kleiderhaken zu nutzen. An einem der Messinghaken hing schlaff wie ein Putzlappen eine kiefergrüne Männerweste aus Schurwolle, und auf dem Brett darüber lag ein Homburger. Der Kopfschmuck schien unter einer Staubschicht auf Dekaden konserviert. War es nicht tröstlich, dass die beiden einander Gesellschaft leisten konnten? Kumpel Weste und Freund Herrenhut – zwei Veteranen aus anderen Zeiten. Wann wurden sie unter dem Pfaffenhofener Dach der Aussegnung zurückgelassen? Welches Jahr zeigte der Kalender?

Zum Zeitvertreib rufe ich mir ein paar Ereignisse deutscher Geschichte ins Gedächtnis…

… anno 1970, Polen: »Verständigung mit dem Osten Europas«, legendärer Kniefall von Kanzler Willy Brandt vor dem Warschauer Ghetto-Mahnmal; diese Geste unterstreicht Wahrhaftigkeit sowie das moralische Anliegen Deutschlands im Bezug auf die neue Ostpolitik… anno 1974, München: »Zum zweiten Mal Fußballweltmeister«, 16 Mannschaften starten ins Turnier, welches erstmals in Germany ausgetragen wird; unter Kapitän Franz Beckenbauer erkämpft sich unsere Elf die begehrte Gold-Trophäe… anno 1977, Köln: »Deutscher Herbst«, Arbeitgeber-Präsident Hanns Martin Schleyer wird von RAF-Terroristen entführt, knapp 6 Wochen später, im Oktober, gelangt die Lufthansa-Maschine Landshut in die Gewalt von palästinensischen Terroristen; in Mogadischu gelingt es der GSG 9, alle 86 Geiseln zu befreien und die Luftpiraten auszuschalten, daraufhin begehen drei RAF-Köpfe in der JVA Stuttgart-Stammheim Selbstmord…

anno 1982, München: »Bühnen- und Film-Genie stirbt im Alter von 37 Jahren«, Rainer Werner Fassbinder galt als einer der profiliertesten Vertreter des Neuen Deutschen Films. Der exzentrische Regisseur realisierte bis zu 7 Filme pro Jahr; er war auch bekannt für seine intensive Zusammenarbeit mit den Schauspielern, viele unter seiner Ägide avancierten zu Weltstars… anno 1986, Düsseldorf: »Beuys: Jeder Mensch ist ein Künstler«, Joseph Beuys segnet mit 64 das Zeitliche; einer der größten avantgardistischen Künstler nach dem Zweiten Weltkrieg, sein Schaffens- und Darstellungsfokus galt auch ökologischen Themen… anno 1995, Berlin: »Zwei Verpackungskünstler verhüllen Reichstagsgebäude«, der bulgarisch-amerikanische Künstler Christo und seine Frau Jeanne-Claude verbergen den Reichstag unter 100.000 m2 silbrig glänzendem Polypropylengewebe; die mit Aluminium metallisierten Stoffbahnen sind schwer entflammbar und können recycelt werden. Sämtliche Kunstkritiker loben die überwältigende Ausstrahlung des Werkes unterm Himmel der Hauptstadt, welches für terminierte zwei Wochen im Sommer von über 5 Millionen Menschen bestaunt wird… Lebt der Christo eigentlich noch?

Einer, dessen Werke für mich persönlich größte Ausdruckskraft besitzen, weilt leider schon Ewigkeiten nicht mehr unter den Lebenden: der hochbegabte Spitzweg aus Unterpfaffenhofen/Bayern. Wann genau trat das Malergenie Carl Spitzweg ab? 1858?, oder war es später, 1885?… Ich wollte mich just für ein Jahr entscheiden, als sich bei der Tür etwas regte.

Auf leisen Nobelsohlen betrat unser Boss den Aufenthaltsraum. Offensichtlich musste auch er eine unfreiwillige Schwitzkur durchstehen. Gregor Balds Interesse galt der Getränkekiste auf dem Schreibtisch. Links vom Pult duselte unser General mit abgenommener Brille, die Arme vor der Brust verschränkt, den Kopf gesenkt.

Der Bestatter fischte wahllos eine PET-Flasche aus dem 9er-Kasten und schraubte den Deckel ab. Er stand mit dem sportlichen Rücken zu mir, legte den Kopf zurück und setzte begierig an. Indessen tropfte es mir wie Wachs ins Bewusstsein: du kennst nur zwei Besonderheiten aus seinem Privatleben. Erstens das Sommerhaus in Südspanien und zweitens ein Cabriolet von Porsche aus den Achtzigern. Die Luxusimmobilie in mediterranen Breitengraden selbstverständlich bloß vom Hörensagen; das Cabrio hingegen sah man in den Sommermonaten häufig durch die Dörfchen des Auenlandes flitzen.

Weshalb einem Fast-Workaholic derlei materielle Freuden missgönnen?

Statt kleinlichen Antworten fielen mir primäre Charaktermerkmale ein: Im Grunde war es unmöglich, aus seiner Miene zu lesen. Noch besser als ein Hollywood-Mime hatte Herr Gregor Bald seine Gefühlsregungen unter Kontrolle – so schien es zumindest. Dann und wann lächelte er das Lächeln des weisen Mannes, beneidenswert geduldig à la nomen est omen. Aber niemals schallte sein Lachen an mein Ohr. Dies zeugte von wahrer Selbstbeherrschung! Auch mit Worten ging dieser hochmoderne Leichenverwalter sparsam um; wohl war sein Mundwerk so viel Plaudertasche wie ich Quantenphysiker bei der NASA. Er hatte kein sonderlich lautes Organ, änderte nur selten den Tonfall. Was er aber mit zehn flinken Fingern anpackte, das gelang im Normalfall einwandfrei.

Nach einem erfrischenden Apfelschorle, wandte Gregor Bald seine Aufmerksamkeit dem Verstärker-Gerät für die Lautsprechertechnik zu. Dass dieser Klumpen Elektronik längst nach Sinsheim ins Museum gehörte, schien den Boss kaum zu beeindrucken. Ich persönlich machte stets einen Bogen um diese hochsensible Apparatur, welche in einer Ecke nahe der Tür auf einem Beistelltisch stand. Die kleinste Fehleinstellung – so wurde mir eingeschärft – würde Pfarrer Blendhögel klingen lassen wie eine überhitzte Kreissäge, oder – andersrum – wie das donnernde Rattern einer Dampfwalze. Nein, gottbewahre! Weder Sägen- noch Walzengeräusche wollen wir in unmittelbarer Nähe einer Totenkiste haben!

Unser Chef kontrollierte zwei der Regler nebst Anzeigen; sachte wippte sein Zeigefinger nach oben. Nun tönte des Predigers Stimme eine Spur lauter aus den Boxen. Und der Bestatter im maßgeschneiderten Anzug nickte beifällig. In Wahrheit allerdings zeugte sein Nicken von der Befeuerung des eignen Wagemutes. Denn risikobereit wie selten hoffte Gregor Bald an diesem 13., das Moment der Schwerkraft einmal mehr austricksen zu können…

»… Ein kleines Vermächtnis an ihre Nachwelt möchte ich Frida zugutehalten. Jenes leuchtet besser ein, wenn man folgenden Hintergrund kennt: Eine Woche vor ihrem Heimgang durfte ich gemütlich bei ihr im Wohnzimmer sitzen. Und selbstverständlich gab es echten Bio-Kaffee aus Guatemala und leck're Stückle vom Zwetschgenkuchen.

Nun, an diesem Nachmittag haben wir auch über die Wunder eines Jesus von Nazareth gesprochen. Dabei konnte ich gut feststellen, dass unsre Frida seine einzigartige Freundlichkeit, also die immerwährende Liebe Jesu Christi, sehr wohl kannte ...«

Die Tür zum Korridor stand offen. Ein minimaler Luftaustausch war definitiv besser als gar keiner. Dennoch fühlte ich mich – man bedenke meine Montur! – wie in einer finnischen Dampfgrotte.

Verstohlen äugte ich nach dem Befinden meiner Kameraden. Natürlich standen auch ihnen die Schweißtropfen dick wie Linsenschoten auf der Stirn. Im Minutentakt kamen unsere Taschentücher zum Einsatz. Walter hielt ein ellenlanges Stück aus blauweiß kariertem Stoff zwischen den Fingern, welches ebenso gut als Geschirrtuch getaugt hätte. Zum x-ten Mal begann er jetzt, Hals und Nacken damit trocken zu reiben.

Vor mich hin träumend sann ich über die Chronik der geschätzten Rotzfahne. Vielleicht ein Präsent vom Schwiegervater an den jungen Bräutigam zur Hochzeit? Eine Beigabe zum Gesellenbrief? Oder gar vom Großonkel zum Tag der Konfirmation?

Als hätte Walter meine Gedanken gelesen, nahm er mich ins Visier. »Geschenk zur Meisterprüfung. Beste Qualität aus Norddeutschland«, offenbarte der Oldtimer stolz. »Damals waren wir noch wer! Ja, damals funktionierte unsre Wirtschaft – auch ohne Chinesen und Dumping-Moral. Des kannsch mir glaube!«

»Hm, Tatsache?« Meine Kenntnisse in Ökonomie konnten ein Update vertragen.

Der alte Haudegen rümpfte verächtlich die Nase.

»Ha! Wie diese Schlitzaugen ihre Hunde fressen, so werden sie irgendwann Europa fressen… Sieh dich vor, feiner Maler!«

Theatralisch wich mein Oberkörper zurück.

»Grundgütiger, Walter«, meinte ich mit gepresster Stimme, »hoffentlich nimmt Europas Geschichte einen anderen Lauf!«

Ungeduldig reckte ich mich hoch in die Senkrechte. Auch dieser Stuhl gehörte schleunigst ins Museum, vorgeschlagenes Themengebiet: Foltermethoden im Mittelalter.

Ich kreiste zur Entspannung den Kopf. Wie ein Staffelläufer spürte ich den Schweiß zwischen meinen Schulterblättern hinabfließen – dabei hatte ich noch keinen Handschlag getan! Als Säule der Untätigkeit äugte ich zu Dieter rüber. Der hantierte mit seinem Klapp-Handy, war tief eingetaucht in ein Universum aus winzigen bunten Bausteinen. Mir verriet sein flüsterleises Gemeckre unter dem Schnurrbart, dass er die Kniffeligkeit einer Tetris-Welt unterschätzt hatte.

Meine Trinkflasche war bis auf den letzten Tropfen geleert. Ich peilte den Schreibtisch an, genehmigte mir eine weitere Pulle aus der Getränkekiste. Am linken Rand der Arbeitsfläche sah ich DAS DOKUMENT der Dokumente liegen – die Sterbeurkunde. Eine Kopie umhüllt vom Schutz der Klarsichtfolie.

Welchem Schriftstück könnte mehr Endgültigkeit anhaften?

Scheue Ehrfurcht ließ mich den Blick abwenden; zugleich schmolz mir das Eis der gedanklichen Zerstreutheit unter den Füßen weg und ich brach wieder ein in das triste Geschehen der Realität.

Nach einem tüchtigen Schluck deponierte ich den ACE-Drink unterm Stuhl und linste auf die Uhr. Meine Casio teilte mit: halb zwei sei mittlerweile durch. Sicher, der Prediger hatte permanente Unterstützung von oben