Schulabsentismus pädagogisch verstehen - Heinrich Ricking - E-Book

Schulabsentismus pädagogisch verstehen E-Book

Heinrich Ricking

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Beschreibung

Kern des Buches bildet die pädagogische Auseinandersetzung mit Schülerinnen und Schülern, die grundlegende Probleme mit einem regelmäßigen Schulbesuch aufweisen. Dabei geht es im fachlichen Umgang mit illegitimen Schulversäumnissen zunächst um präventive Ansätze: Schulen müssen Bedingungen schaffen, damit sich Kinder und Jugendliche in der Schule sicher und wohl fühlen, entspannt lernen können und gerne zur Schule gehen. Schulabsentismus kann im Einzelfall unterschiedliche Ursachen und Motive aufweisen. Vor Interventionen ist daher eine gründliche individuelle Fallklärung geboten, die Motive und Problemlagen abklärt, um Zugänge und Maßnahmen darauf abzustimmen. Der Band zeigt, dass planvolles und theoriegeleitetes Handeln, um Anwesenheit und Teilhabe zu fördern, auf die Analyse des Einzelfalls angewiesen ist.

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Inhalt

Cover

Titelei

1 Einleitung

Der Fall Lara

2 Charakteristika des Schulabsentismus

2.1 Formgruppen

2.2 Risiken und Bedingungsfaktoren

2.3 Prävalenz

3 Schulversäumnissen zugrundeliegende Beeinträchtigungen

3.1 Dysfunktionale Emotionsregulation

3.2 Angst und Angststörungen

Schulangst

Trennungsangst

Angst und Depressionen

3.3 Leistungsprobleme und Schulversagen

4 Feldtheoretische Rahmung

5 Schulische Prävention von Schulabsentismus

5.1 Grundlegende Aspekte

5.2 Gestaltung der schulischen Umwelt

5.3 Pädagogisches Verstehen im Kontext abweichenden Verhaltens

6 Intervention bei Schulabsentismus

6.1 Bestrafung von Schulversäumnissen?

6.2 Handlungsketten der Intervention

6.3 Beratung

6.4 Elternkooperation

6.5 Intervention bei Schulangst

7 Falldarstellungen

8 Fall 1: Mara

8.1 Ausgangslage

8.2 Problemstellung und methodisches Vorgehen

Familiäre Situation

Schulische Situation

Emotionale und soziale Entwicklung

8.3 Pädagogische Falleinschätzung

Gespräch mit Mara

Gespräch in der Schule

Kollegiale Beobachtungen und Austausch

8.4 Ziele, Kräfte und Barrieren im aktuellen Lebensraum

8.5 Ableitung von Interventionen

Umsetzung der Interventionen

8.6 Evaluation und Ausblick

9 Fall 2: Ruben

9.1 Ausgangslage

9.2 Frage-/Problemstellung und methodisches Vorgehen

9.3 Biographische Informationen zur Person

Familiäre Situation

Schulische Situation

Ziele, Kräfte und Barrieren im aktuellen Lebensraum

9.4 Pädagogische Falleinschätzung

9.5 Ableitung und Umsetzung pädagogischer Interventionen

9.6 Evaluation und Ausblick

10 Fall 3: Stefan

10.1 Ausgangslage

Familiäre Situation

Schulische Situation

10.2 Feldtheoretische Interpretation

10.3 Falleinschätzung und Interventionsplanung

10.4 Interventionen

10.5 Evaluation und Ausblick

11 Fazit

Serviceteil: Ressourcen

Quellenverzeichnis

Fallbuch Pädagogik

Herausgegeben von Armin Castello

Eine Übersicht aller lieferbaren und im Buchhandel angekündigten Bände der Reihe finden Sie unter:

https://shop.kohlhammer.de/fallbuch-paedagogik

Der Autor

Prof. Dr. Heinrich Ricking forscht und lehrt an der Universität Leipzig.

Heinrich Ricking

Schulabsentismus pädagogisch verstehen

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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1. Auflage 2023

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-038476-7

E-Book-Formate:pdf:ISBN 978-3-17-038477-4epub:ISBN 978-3-17-038478-1

1 Einleitung

Der Fall Lara

Lara ist 13 Jahre alt und besucht die 7. Klasse einer Oberschule. Sie lebt mit ihrer alleinerziehenden Mutter in ländlicher Gegend unweit der Kreisstadt. Zum Vater hat sie sporadisch Kontakt. Mehrfach kam bereits die Frage auf, ob nicht eine Beschulung am Gymnasium für sie möglich und angemessen sei. Denn sie verfügt über eine mindestens durchschnittliche Intelligenz und kann in den sprachlichen Fächern gute bis sehr gute Leistungen erzielen, ohne sich besonders anstrengen zu müssen. Diese Potenziale bilden sich in den Noten auf dem Zeugnis jedoch nur eingeschränkt ab, denn dort ist auch zu lesen, dass sie im letzten Halbjahr 31 Tage gefehlt hat (da dieses Schulhalbjahr 100 Schultage umfasst, ist 31 auch ihre prozentuale Fehlquote). Ihre beträchtlichen Versäumnisse hinterlassen tiefe Spuren in ihrem Leistungsprofil und sorgen dafür, dass sie immer wieder Schwierigkeiten hat, in der Klasse sozial Anschluss zu finden. Die Versäumnisse umfassen (häufig entsprechend ihrer Stimmungslage) Blöcke von ein bis zwei Wochen, teilweise entschuldigt, teilweise nicht entschuldigt. Zwischenzeitlich gelang es Lara, sich vormittags in ihrem Zimmer zu verstecken, da die Mutter im Schichtdienst arbeitete. Mittlerweile wurde eine Attestpflicht durch die Schulleitung erlassen. Die Klassenlehrerin Frau Sonthofer kennt Lara nun schon zwei Jahre lang und verfügt über weitreichende Kenntnisse in Bezug auf die Hintergründe, die immer wieder ihre einschneidenden Fehlzeiten bedingen. Sie hat den Eindruck, es gibt wiederkehrende Phasen in Laras Leben, in denen ihr alles zu viel ist. Schon das morgendliche Aufstehen stellt eine Herausforderung dar, dann das Ankleiden, das Entscheidungen fordert, der Weg zur Schule scheint unendlich und schließlich ist die Zeit in der Schule, in der Klasse mit all den anderen Kindern für sie kaum zu ertragen. Die Pausen verbrachte sie bis vor kurzem allein an die Wand der Pausenhalle gelehnt oder auf der Toilette. In letzter Zeit öffnet sie sich leicht und spricht mit Kindern, die sie aus der Tagesgruppe kennt. Im Unterricht verhält sie sich in der Regel teilnahmslos, zeigt Meidungsverhalten, wenn sie exponiert wird und vor den anderen sprechen soll. Ein Toilettengang während des Unterrichts dauert oft mehr als 15 Minuten. Schriftliche Aufgaben in Einzelarbeit erledigt sie allerdings problemlos. Um diese beunruhigenden Vorgänge abzuklären, wurde sie vor einem Jahr in der ambulanten Diagnostik einer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie vorstellig. Der Befund lautete: Kombinierte Angststörung und Depression. Nun gab es eine Erklärung für die antriebslosen Zeiten, ihr Verhalten und die Versäumnisse in der Schule. Laras Mutter eröffnete in einem Gespräch mit der Klassenlehrerin, dass sie an einer ähnlichen Symptomatik leide und die Probleme des Kindes gut nachvollziehen könne. Frau Sonthofer erreichte in der Folge eine Intensivierung der Beziehung zur Mutter und zu Lara. Um dem Meidungsverhalten entgegenzuwirken, konfrontiert sie die Schülerin in regelmäßigen Abständen und in moderater Form mit den Reizen, die üblicherweise gemieden werden, z. B. sich im Unterricht zu melden und etwas zu sagen oder ein kurzes, zweiminütiges Referat zu halten. Probleme bespricht sie mit Lara in Ruhe nach dem Unterricht. Der Aufbau einer tragfähigen Beziehung zur Mutter und das Treffen von Vereinbarungen haben erheblich dazu beigetragen, die Fehlzeiten zu senken.

Das Beispiel Lara zeigt, dass eine spezifische Problematik zu häufigen Schulversäumnissen führen kann. Dabei ist sie nur eines von vielen Kindern und Jugendlichen, deren Schulbesuch nur unregelmäßig stattfindet. Jedes von ihnen lebt und handelt – wie Lara – in einem spezifischen Gefüge von Bedingungen und Rahmungen, die einmalig und individuell sind. Sehr unterschiedliche Lern- und Lebensbedingungen können zu problematischen Fehlzeiten in der Schule führen. Dieser Fall macht sowohl die Notwendigkeit deutlich, aus pädagogischer Perspektive genau hinzusehen, als auch die Bedeutung einer professionellen Haltung, der Klärung des Falles und des Einsatzes hilfreicher Maßnahmen offenkundig. So besteht der Gegenstand des vorliegenden Werkes in der pädagogischen Auseinandersetzung mit Schülerinnen und Schülern wie Lara, die deutliche Schwierigkeiten mit einem regelmäßigen Schulbesuch aufweisen. Der Fachbegriff Schulabsentismus kennzeichnet dabei Verhaltensmuster nicht autorisierter Fehlzeiten unabhängig vom Umfang und dem Grund der Versäumnisse. Dieses Thema stellt ein bedeutendes Themenfeld im Bildungsalltag dar, das eine erhebliche Gefährdung für den noch jungen Menschen in sich trägt und auch eine erstrangige schulische wie auch bildungspolitische Herausforderung verkörpert. Unerlaubte Fehlzeiten implizieren nicht nur einen Verstoß gegen die in allen Bundesländern geltende Schulpflicht, sondern zeichnen für die Betroffenen auch einen Weg in die Zukunft vor, der mit vielen Belastungen gepflastert ist. Versäumen Schülerinnen und Schüler in gewohnheitsmäßiger oder chronischer Form Unterricht oder verlassen ein für alle Mal die Schule vorzeitig, besteht eine beträchtliche Gefahr für soziale Devianz, schwere persönliche Probleme und Armut (Beekhoven & Dekkers, 2005; Epstein et al., 2020).

Dauerhaftes Fernbleiben von der Schule ist eine komplexe Angelegenheit und entsteht erst durch vielschichtige Wechselwirkungen zwischen den Verhaltensdispositionen eines Schülers oder einer Schülerin und dessen bzw. deren Umweltbedingungen (Ricking & Hagen, 2016). Es kann somit als multikausal bedingtes Verhalten eingeordnet werden, auf das v. a. familiale, schulische und individuelle Risiken Einfluss nehmen. Insbesondere die dadurch entstehende Komplexität der Risikogefüge, wie auch die hoch variablen Ausdrucksformen im Alltag, bereiten den schulischen Akteuren erhebliche Probleme und bilden oft schwierige pädagogische Aufgaben. Das erweist sich auch in Bezug auf die Häufigkeit als richtig. Melfsen, Beyer und Walitza (2015, 357) differenzieren zwischen »Gelegentlich«: Stunden oder einzelne Tage werden vermieden; »Mittlere Häufigkeit«: Die Schule wird regelmäßig wiederkehrend vermieden; »Massiv«: Die Schule wird sehr häufig oder gewohnheitsmäßig vermieden.

Im Feld des fachlichen Umgangs mit illegitimen Schulversäumnissen sind hilfreiche Aktivitäten zunächst einem präventiven Ansatz zuzuordnen (Kearney, 2016; Ricking & Albers, 2019). Schulen sollten demgemäß ihre Energie darauf verwenden, Bedingungen zu schaffen, die die Wahrscheinlichkeit erhöhen und dafür sorgen, dass sich Kinder und Jugendliche in der Schule sicher und wohl fühlen, zufrieden und erfolgreich lernen können und in der Konsequenz zumeist gerne zur Schule gehen (Alexander, Entwisle & Kabbani, 2001). Erziehungsberechtigte haben in diesem Kontext die Aufgabe, ein angemessenes Umfeld zu schaffen, in dem die unterrichtlichen Lernprozesse unterstützt und eine zielführende Kooperation mit der Schule umgesetzt werden. Wirksame Prävention senkt das Absentismusaufkommen in einer Schule (Sälzer, 2010; Ricking & Hagen, 2016). Doch es ist nicht unwahrscheinlich, dass es auch unter wirksamen präventiven Vorzeichen in der Praxis zu nicht autorisierten Fehlzeiten kommt. Auf diese Problemlagen müssen die professionellen Akteure einer Schule und das erweiterte Umfeld angemessene Antworten finden. Da die Motive und Problemlagen, die zum Schulabsentismus führen, nicht zu vereinheitlichen sind, ist eine gründliche Fallklärung vor der Intervention angezeigt – die Einzelfallperspektive rückt dabei in den Mittelpunkt. Fehlzeiten, die schulischen Frustrationen in Verbindung mit aversiver Meidung zuzurechnen sind, erfordern andere Zugänge und Maßnahmen als Problematiken, in denen Angst oder Depression im Kontext einer emotionalen Störung eine große Rolle spielen. Insofern ist der Spezifik des Einzelfalls Rechnung zu tragen und eine subjektorientierte Blickrichtung einzunehmen.

In der schulischen Gesamtbetrachtung des Umgangs mit der Problematik Schulabsentismus sind prioritär vorbeugende Bedingungen und Vorkehrungen ins Auge zu fassen, darauf aufbauend ein Konzept für pädagogisches Handeln, wenn Fehlzeiten aufgetreten sind. Dabei spielen auch Ansätze eine Rolle, die »distanzierte« Schülerinnen und Schüler wieder an die Schule heranführen. Bleiben schulische Maßnahmen ohne ausreichenden Erfolg, sind unterstützende Dienste (z. B. Hilfen zur Erziehung, Psychotherapie) kooperativ einzubeziehen. Im Prozess können rechtliche Sanktionen dahingehend geprüft werden, ob sie Sinn ergeben, geeignet und zielführend sind.

Abb. 1:Handlungsschema

Schließlich verfolgt ein rehabilitativer Prozess die schulische Reintegration von entkoppelten Jugendlichen, die oft monatelang oder mehr als ein Jahr nicht mehr in der Schule waren. So ergibt sich ein abgestuftes System von Handlungsoptionen, die durch Schulbehörden und Schulen konzeptionell verankert das Management von Schulabsentismus leiten sollten (▸ Abb. 1).

Planvolles und theoriegeleitetes Handeln im Rahmen wirksamer Intervention basiert auf Analysen, in denen es darum geht, das Kind bzw. die Jugendliche/den Jugendlichen im eigenen Umfeld zu betrachten und dabei die Zusammenhänge und Wechselwirkungen zwischen Einflussfaktoren und dem schulmeidenden Verhalten besonders zu fokussieren. So soll der subjektorientierte Blick auf die Problematik in diesem Werk besondere Aufmerksamkeit erfahren. Im zweiten Teil dieses Buches werden Einzelfälle ausführlich vorgestellt, die die Möglichkeit bieten, die theoretischen Ausführungen zu illustrieren und die Problematik in konkreter Form zu erarbeiten. Der Leser bzw. die Leserin kann dadurch einerseits die alltägliche Lebenswelt des Kindes nachvollziehen, Verhaltensmotive und Interaktionsmuster erfahren und andererseits Muster der Meidung erkennen, die von weitreichender Relevanz sind (Oehme, 2007).

2 Charakteristika des Schulabsentismus

Schulabsentismus ist ein komplexes Phänomen, das durch eine Vielzahl unterschiedlicher Bedingungsfaktoren beim Individuum, in der Familie, in der Schule und/oder in Bezug auf die Peers hervorgerufen und aufrechterhalten wird. Es lässt sich folgendermaßen definieren:

»Schulabsentismus umfasst diverse Verhaltensmuster illegitimer Schulversäumnisse multikausaler und langfristiger Genese mit Einflussfaktoren in der Familie, der Schule, der Peers, des Milieus und des Individuums, die einher gehen mit weiteren emotionalen und sozialen Entwicklungsrisiken, geringer Bildungspartizipation sowie einer erschwerten beruflichen und gesellschaftlichen Integration und die einer interdisziplinären Prävention und Intervention bedürfen« (Ricking & Hagen, 2016, 18).

2.1 Formgruppen

Schulabsentismus lässt sich grundlegend in drei Erscheinungsformen kategorisieren: (1) Aversives Schulschwänzen, (2) Angstbedingte Schulmeidung, (3) Elternbedingte Schulversäumnisse/Zurückhalten, bei dem die Fehlzeiten von Eltern herbeigeführt oder toleriert werden (Ricking, Schulze & Wittrock, 2009; Lenzen et al., 2013; Thambirajah, Grandison & De-Hayes, 2013).

Die Formgruppe des Schulschwänzens basiert auf schulaversiven Gefühlen und Befindlichkeiten, bei der die Schule als Ganzes, Unterricht oder Lehrerinnen und Lehrer dauerhaft und nicht selten nachdrücklich abgelehnt werden und dies auf der Verhaltensebene durch Fernbleiben vom Unterricht, Zuspätkommen, geringe Intensität der Mitarbeit zum Ausdruck gebracht wird (Henry, 2007). Hiermit werden Schulversäumnisse gekennzeichnet, die auf Betreiben des Schülers oder der Schülerin zurückgehen, von denen die Erziehungsberechtigten mitunter keine Kenntnis haben und bei denen die Schülerinnen und Schüler während des Vormittags einer attraktiveren Beschäftigung nachgehen. Für manche dieser Schülerinnen und Schüler sind die Online-Spiele am Computer, das eigene Bett oder die belebten Plätze der Stadt attraktive Alternativen zur negativ erlebten Unterrichts- und Schulsituation. Diesen motivationalen Aspekt unterstreicht schon Nissen (1972, 187), als er Schulschwänzen als »Vermeiden der unlustgetönten schulischen Leistungssituation und Überwechseln in lustbetonte Verhaltensweisen« definierte.

Die zweite Formgruppe bildet die Schulverweigerung, bei der Furcht und Angst von wesentlicher Relevanz sind, die sich in Merkmalen wie depressiver Verstimmung, Traurigkeit, Rückzug aus sozialen Bezügen und auch extremen emotionalen Ausbrüchen vor Schulbeginn niederschlagen können. Hinzu kommen regelmäßig Klagen des Kindes über körperliche Beschwerden, die während der Ferien oder am Wochenende verschwinden. Schulverweigerer aus Angstgründen suchen keine außerschulischen Aktivitäten höherer Attraktivität, sondern bleiben bei ihren Eltern, die häufig beträchtliche Probleme damit haben, den Schulbesuch durchzusetzen (Kearney, 2016). Die Angstquellen können sowohl in der Schule liegen (z. B. Schulangst) als auch in der Familie (z. B. Trennungsangst) (Reissner & Knollmann, 2020).

Geht die Initiative für die Schulversäumnisse von den Erwachsenen aus oder wird durch ein diskretes Übereinkommen zwischen Eltern‍(-teil) und Schülerin oder Schüler bedingt, ist das Zurückhalten angesprochen. Als kausale Einflussgrößen werden verschiedene Problemstellungen in der Literatur benannt, die dazu führen, dass eine regelmäßige Beschulung des Kindes nicht realisierbar wird (Albers & Ricking, 2018). In einem Fall beeinträchtigt eine körperliche oder psychische Erkrankung eines bzw. einer Erziehungsberechtigten einen regelmäßigen Schulbesuch (Lenz & Kuhn, 2011; Kaiser, Schulze & Leu, 2018). In einem anderen ist das Zurückhalten dadurch zu erklären, dass das eigene Kind als zu verletzlich, z. B. wegen frühkindlicher gesundheitlicher Problematiken, angesehen und daher der schulischen Situation nicht ausgesetzt wird. Daneben werden wiederholt kulturell oder religiös bedingte Zurückweisungen der Schulpflicht verzeichnet, sodass die Erziehungsberechtigten die curriculare Ausgestaltung des Schulalltags als unvereinbar mit eigenen Grundsätzen betrachten (Achilles, 2007). Es wird deutlich, dass das Verhalten der Erziehungsberechtigten eine aktiv-zurückhaltende, eine reaktiv-billigende oder eine eher passive Tendenz aufweisen kann. Sie überlassen so die Entscheidung, ob die Schule besucht wird, den Kindern, tolerieren stillschweigend die Unwilligkeit des Kindes zum Schulbesuch (eher passiv), animieren das Kind zum Versäumnis oder halten es zurück, obwohl es zur Schule gehen möchte (eher aktiv) (Albers & Ricking, 2018).

Abb. 2:Drei Wege zum Schulabsentismus

2.2 Risiken und Bedingungsfaktoren

Vorliegende Forschungsergebnisse weisen eindeutig darauf hin, dass Schulabsentismus nicht als monokausales Phänomen verstanden werden kann, sondern diverse Einflüsse in unterschiedlichen Settings Wirkungen auf den Schulbesuch freisetzen (Gubbels, van der Put & Assink, 2019; Corville-Smith et al. 1998). Es wird somit deutlich, dass die Entstehung und Ausformung als sehr komplexer Prozess verstanden werden kann, der von vielen inneren wie äußeren Faktoren abhängig ist, die sich in folgenden Bereichen manifestieren (Hillenbrand & Ricking, 2011; Hammond, Linton, Smink & Drew, 2007):

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psychosoziale Dispositionen der Schülerin bzw. des Schülers (Rothman, 2001),

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familiale Interaktions- und Lebensbedingungen (Dunkake, 2010),

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schulische Rahmenbedingungen und Beziehungen (Sälzer, 2010),

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die Gleichaltrigen‍(gruppe) (Samjeske, 2007) sowie

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der Bereich der Freizeit und Medien (Rehbein, Kleimann & Mößle, 2009).

Insofern ist auf multikausal bedingte Beeinträchtigungen Bezug zu nehmen, bei denen Wirkungen aus unterschiedlichen Lebensräumen in fließendem Interaktionszusammenhang stehen. Im Rahmen multipler Risikobelastungen bei Kindern und Jugendlichen führt die Anhäufung von individuellen und umfeldbezogenen Risikofaktoren zumeist zu einer Verstärkung der pädagogisch ungünstigen Wirkungen, die die Wahrscheinlichkeit von Lern- und Verhaltensstörungen in der Entwicklungskonsequenz steigen lässt (Beelmann, 2006; Ihle & Esser, 2008). Ob und wie Lebens- und Lernbelastungen verarbeitet werden können, ist auch stark abhängig von den zeitlichen Ausmaßen, in denen die Heranwachsenden ihnen ausgesetzt sind, wie auch von ihrer eigenen Vulnerabilität. Häufig wiederkehrende und langandauernde Negativeinflüsse (persistente im Gegensatz zu situativen Risikofaktoren) sind nur schwer konstruktiv zu verarbeiten, wirken sich am massivsten aus und überfordern mitunter die Möglichkeiten der konstruktiven Bewältigung (Beelmann & Raabe, 2007). Dabei ist auf kritische Phasen erhöhter Vulnerabilität hinzuweisen, auf Entwicklungsstadien, die besonders sensibel erfahren werden: Übergänge/Transitionen (z. B. zwischen Zuhause und Kindergarten oder Kindergarten und Schule), in denen sich vertraute Abläufe ändern, neue Bezugspersonen hinzukommen und veränderte Anforderungen gestellt werden. Sie stellen immer ein gewisses Risiko dar, bieten aber auch die Chance einer neuen positiven Entwicklung. In individueller Perspektive sind Beeinträchtigungen im Verhalten die sichtbaren Folgen eines Mangels von angemessenen und flexibel einsetzbaren Anpassungsleistungen angesichts neuer Herausforderungen und Aufgaben (Felner et al., 1993).

Tabelle 1 verdeutlicht die Notwendigkeit, bei einer erklärenden Perspektive auf Schulabsentismus den Blick auf die Risiken zu weiten und ihre Kumulation und Interaktion zu berücksichtigen (Gubbels, van der Put & Assink, 2019; Hammond, Linton, Smink & Drew, 2007; Ricking & Hagen, 2016). Grundsätzlich sind Familien aller sozialen Schichten von Schulabsentismus betroffen. Dennoch verdichtet sich die Problematik mit hohen Versäumnisfrequenzen in sozial benachteiligten Milieus und Gruppen mit größerer Bildungsferne. Familiale bzw. elterliche Faktoren bestimmen die Schulanwesenheit bzw. -abwesenheit maßgeblich mit (Ricking & Speck, 2018). Als strukturelle familiale Risikofaktoren gelten u. a. ein niedriger sozioökonomischer Status sowie die Ansiedlung in einem deprivierten Wohnviertel (Corville-Smith et al., 1998; Dunkake, 2007; Stamm et al., 2009). Die bedeutende Rolle dieser Faktoren wurde sowohl in internationalen (McAra, 2004) als auch nationalen (Baier, 2018) Studien dokumentiert. Als multipel wirkende Stressoren im Primärmilieu haben Delinquenz der Eltern, Drogenkonsum (Beekhoven & Dekkers, 2005; Gust, 2017), psychische Störungen, gewalttätige Konfliktregelung sowie chronische Krankheiten Einfluss auf den Schulbesuch (Weihrauch, Ricking & Wittrock, 2021; Ricking & Dunkake, 2017). Ein weiteres familiales Risikomerkmal des Schulabsentismus ist die Trennung der Eltern, bei der angenommen wird, dass die mit der Trennung verbundene emotionale Belastung und der Wegfall verschiedener Ressourcen für die Destabilisierung des Schulbesuchs mitverantwortlich sind. Damit sind sowohl finanzielle Mittel, die wiederum zur Belastung eines alleinerziehenden Elternteils (Deprivationstheorie) werden können, als auch Ressourcen gemeint, die sich auf den Erziehungsprozess auswirken können, wie z. B. mangelnde elterliche Kontrolle (Dunkake, 2010; Fornander & Kearney, 2019).

Tab. 1:Risikofaktoren bei Schulabsentismus (vgl. Gubbels et al. 2019)

Risikofaktoren Schulabsentismus

Individuum

Familie

Schule

Peers

dissoziales Verhalten/Kognition

Substanzmissbrauch (Rauchen, Alkohol- und Drogenkonsum)

erhöhte Risikobereitschaft

delinquentes Verhalten

unangemessene Bewältigungsstrategien

internalisierende Probleme (z. B. Angst)

psychische Störungen (z. B. Depression)

niedrige Intelligenz

subkulturelle Zugehörigkeit

schulisches Desinteresse/negative Schuleinstellung

Missbrauch, häusliche Gewalt

beeinträchtigte Eltern-Kind-Beziehung

psychische und chronische Erkrankungen der Eltern

unzulängliche elterliche Kontrolle

geringe Akzeptanz, wenig elterliche Unterstützung

instabile Familienkonstellation, Trennung der Eltern

geringer Bildungsstand der Eltern

niedriger sozioökonomischer Status

negative Schüler-Lehrer-Beziehung

Klassenwiederholung

schlechte Schulleistungen, Lernbeeinträchtigungen

negative Schuleinstellung

geringes schulisches Bildungsniveau

negatives Schul- und Klassenklima

Klassen- und Schulgröße

Deviante Peergroup (z. B. auffälliges Schwänzverhalten)

Anbindung an multikulturelle Peers (ausschließlich Dropout)

Daneben kommen auch die Qualität des schulischen Angebots, die programmatische Ausrichtung auf die Schülerklientel sowie das konkrete Management von An- und Abwesenheit auf der Handlungsebene im schulischen Bereich in Betracht (Lee & Burkam, 2003, Reid, 2002, Ricking & Dunkake, 2017). Zweifelsohne gehen auch vom Verhalten der Lehrkräfte und des weiteren schulischen Personals erhebliche Wirkungen aus (Baier, 2012):

»Kontrollierendes Lehrverhalten, wie z. B. ein Mangel an Auswahlmöglichkeiten im Unterricht, langweilige Aufgaben und wenig Unterstützung durch die Lehrkraft, führen jedoch zu Disengagement und Rückzug vom Unterricht und der Schule, sowie zur Untergrabung jeglicher Motivation« (Raufelder, 2018, 86).

Lehrkräfte, die demgegenüber ihren Schülerinnen und Schülern Zuneigung entgegenbringen, sie unterstützen und sich für deren Probleme interessieren, steigern das Wohlbefinden und die Motivation der Kinder und Jugendlichen und mindern Schulschwänzen (Reid, 2014; Raufelder, 2018). Ein angespanntes bzw. gestörtes pädagogisches Verhältnis erhöht entsprechend das Risiko für das Fernbleiben vom Unterricht signifikant (Lee & Burkam, 2003; Malcom et al., 2003; Baier, 2012). Im Rahmen von ausgeprägtem Konkurrenzdenken und wenig Zusammenhalt unter den Mitschülerinnen und Mitschülern entwickeln sich zudem eine positive soziale Dynamik in der Klasse und ein Zugehörigkeitsgefühl in Bezug auf die Schule nur schwerlich (Oreopoulos, 2007; Henry & Huizinga, 2007; Juvonen, 2006; Visser, 2000).

Eine Fülle von Studien belegt den engen Zusammenhang zwischen schulischem Leistungsversagen und häufigen Schulversäumnissen (Gubbels, van der Put & Assink, 2019; Reid 2002, Baier, 2012; Stamm et al., 2009; Weiß, 2007; Ricking & Dunkake, 2017). Das Merkmal Schulversagen – und oftmals damit einhergehend mangelnde Motivation wie auch Schulunzufriedenheit – kann als einer der wirkungsmächtigen Risikofaktoren für Schulschwänzen bewertet werden. Schulerfolg wird zumeist als Schutzfaktor betrachtet (Ricking, 2014). Einige Zitate aus Publikationen der letzten Jahre verdeutlichen diesen Zusammenhang:

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Baier, D. (2012, 55): »[...] Alle vier zusätzlich einbezogenen Faktoren stehen in signifikanter Beziehung mit dem Schulschwänzen: Schlechte Schulnoten, die Bereitschaft Risiken einzugehen, das Erleben elterlicher Gewalt und der Kontakt mit schwänzenden Freunden erhöhen das Schwänzrisiko.«

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Ricking & Dunkake (2017, 54): »Wenn die Schüler einen absteigenden Schulformwechsel erlebt haben, dann ist ihr Risiko, die Schule tageweise zu schwänzen um das 4,3-fache höher (RR=4,33, p≤0,001). Und wenn der Schüler im letzten Zeugnis mindestens eine Fünf hatte, dann steigt das Risiko des tageweisen Schulschwänzens um den Faktor 2,9, also fast das Dreifache«.

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Dunkake, I. (2007, 170). Familie und Schulverweigerung im Rahmen der Anomietheorie: Ergebnisse der PISA-Studie 2000: »Beide Indikatoren der Schulleistung (Einschätzung der Leistungen im Deutschunterricht und die Schulentwicklung) haben einen hochsignifikanten negativen Einfluss auf die Schulverweigerung (Modell 4): Eine niedrige Beurteilung der Leistungen erhöht die Wahrscheinlichkeit der Schulverweigerung um 30 %, und das Wiederholen einer oder mehrerer Klassen steigert es um 39 %.«

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Oberwittler, D., Blank, T., Köllisch, T. & Naplava, T. (2001, 71). Soziale Lebenslagen und Delinquenz von Jugendlichen: »SchülerInnen, die eine geringe Schulmotivation oder bereits eine Klasse wiederholt haben, gehören doppelt so oft zu den Schulschwänzern und sogar bis dreimal so oft zu den häufigen Schulschwänzern wie andere SchülerInnen.«

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Sälzer, C. (2010, 178). Schule und Absentismus. Individuelle und schulische Faktoren für jugendliches Schwänzverhalten: [...] »Dies kann besonders deutlich an der Variable der Leistungsanforderungen abgelesen werden: verglichen mit Schülern, die die Leistungsanforderungen gerade richtig finden, schwänzen sowohl Schüler, die die Anforderungen zu hoch finden [...] als auch diejenigen, die sie zu niedrig finden [...], häufiger. [...] »Je stärker also Leistungsdruck wahrgenommen wird, desto häufiger wird in den betreffenden Klassen auch geschwänzt.«

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Schreiber-Kittl, M. & Schröpfer, H. (2002, 155). Abgeschrieben? Ergebnisse einer empirischen Untersuchung über Schulverweigerung: »Die Interviews zeigen, dass mangelnder Schulerfolg die Neigung verstärkt zu schwänzen. Man geht den Situationen aus dem Weg, in denen man vermutlich negative Erlebnisse haben wird.«

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Weiß, B. (2007, 52). Wer schwänzt wie häufig die Schule? Eine vergleichende Sekundäranalyse auf Grundlage von 12 deutschen Studien: »Schüler mit mindestens einer Klassenwiederholung schwänzen häufiger die Schule.«