Schulangst - Gunnar Brodersen - E-Book

Schulangst E-Book

Gunnar Brodersen

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Beschreibung

Schulbezogene Ängste treten bei Kindern und Jugendlichen heute zunehmend auf. Der Band behandelt in kurzen Einführungen soziale Ängste, Prüfungsängste und Trennungsängste und vermittelt grundlegendes Wissen zur ihrer Entstehung, der Häufigkeit und den Symptomen. Der Leser findet hier Basiswissen zu wirksamen pädagogischen Handlungsweisen, u.a. zu pädagogischer Diagnostik, Elternarbeit und Möglichkeiten einer schulischen Förderung bei Schulangst. Zentrales Element dieses Bandes sind authentische Fallbeispiele, in denen diese Methoden zur Anwendung kommen. Das Buch vermittelt so kompakt praxisnahes, fundiertes Wissen zu pädagogischen Handlungsmöglichkeiten bei Schulangst.

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Fallbuch Pädagogik

Herausgegeben von Armin Castello

Die Autoren

Dr. Gunnar Brodersen ist Akademischer Rat am Institut für Sonderpädagogik der Europa-Universität Flensburg. Dr. Armin Castello ist Professor für Sonderpädagogik, Psychologie und Diagnostik an der Europa-Universität Flensburg.

Gunnar Brodersen, Armin Castello

Schulangst

Pädagogische Förderung im Alltag

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2022

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-039234-2

E-Book-Formate:

pdf:           ISBN 978-3-17-039235-9

epub:        ISBN 978-3-17-039236-6

Inhaltsverzeichnis

 

 

1         Weshalb ein pädagogisches Fallbuch »Schulangst«?

2         Trennungsängstlichkeit

2.1      Symptome klinischer Trennungsangst

2.2      Subklinische Trennungsängstlichkeit

2.3      Häufigkeit und Verlauf

2.4      Entstehungsbedingungen

3         Soziale Ängstlichkeit

3.1      Erleben und Verhalten

3.1.1   Kognitive Merkmale

3.1.2   Physiologische Merkmale

3.1.3   Verhaltensbezogene Merkmale

3.2      Häufigkeit und Verlauf

3.3      Risiko- und Schutzfaktoren

4         Prüfungsängstlichkeit

4.1      Merkmale von Prüfungsängsten

4.2      Häufigkeit und Verlauf

4.3      Risiko- und Schutzfaktoren

5         Pädagogische Grundlagen

5.1      Pädagogische Diagnostik

5.1.1   Verhaltensbeobachtung

5.1.2   Funktionale Verhaltensanalyse (SORCK-Modell)

5.1.3   Angsthierarchie

5.1.4   Elterngespräch und Familienanamnese

5.1.6   Weiterführende Aspekte pädagogischer Diagnostik

5.2      Psychoedukation

5.2.1   Psychoedukation für Eltern

5.2.2   Psychoedukation für Kinder

5.2.3   Psychoedukation für Jugendliche

5.2.4   Psychoedukation im Kollegium

5.3      Elternberatung

5.3.1   Voraussetzungen gelingender Elternarbeit

5.3.2   Wirkfaktoren im Kontext von Elternarbeit bei Schulängsten

5.3.3   Beratungsgespräch

5.4      Bewältigung dysfunktionaler Gedanken

5.4.1   Kognitionen vor, während und nach angstauslösenden Situationen

5.4.2   Möglichkeiten zur Veränderung dysfunktionaler Kognitionen

5.5      Entspannung

5.5.1   Progressive Muskelrelaxation

5.5.2   Autogenes Training

5.6      Konfrontation mit Unterstützung

5.6.1   Angstbewältigung durch Reizkonfrontation

5.6.2   Techniken

5.6.3   Hinweise zur Durchführung

5.7      Kontingenzmanagement

5.7.1   Verstärkung und Bestrafung von Verhalten

5.7.2   Arten von Verstärkern

5.7.3   Techniken des Kontingenzmanagements

5.7.4   Kontingenz als Voraussetzung für Verstärkungslernen

5.7.5   Unbewusster Einsatz von Verstärkern

5.8      Begleitende Evaluation

5.8.1   Vorüberlegungen

5.8.2   Individuelle Zielsetzungen

5.8.3   Übergreifende Zielsetzungen

6         Fallvignette Eliza

6.1      Ausgangslage

6.2      Fragestellung

6.3      Informationen zur Person

6.4      Familiäre Situation

6.5      Schulische Situation

6.6      Pädagogische Diagnostik

6.6.1   Kollegialer Austausch

6.6.2   Kontaktaufnahme mit der Schülerin

6.6.3   Erstgespräch mit den Eltern

6.6.4   Verhaltensanalyse (SORCK-Schema)

6.5      Planung der pädagogischen Intervention

6.6      Pädagogische Intervention

6.6.1   Beratungsgespräch mit den Eltern

6.6.2   Beratungsgespräch mit Eliza

6.6.3   Konfrontation mit Unterstützung

6.7      Erfolgskontrolle bzw. Evaluation

7         Fallvignette Lara

7.1      Ausgangslage

7.2      Fragestellung

7.3      Informationen zur Person

7.4      Familiäre Situation

7.5      Schulische Situation

7.6      Pädagogische Diagnostik und Förderplanung

7.6.1   Kollegialer Austausch

7.6.2   Erstgespräch mit der Schülerin

7.6.3   Gespräch mit der Schülerin und der Mutter

7.6.4   Verhaltensanalyse

7.6.5   Erstellen einer Angsthierarchie

7.7.      Entwicklung einer Förderplanskizze – Begründung der pädagogischen Interventionen

7.8      Pädagogische Interventionen

7.8.1   Beratungsgespräch/Psychoedukation mit der Mutter

7.8.2   Psychoedukation Schülerin

7.8.3   Verhaltensexperiment

7.8.4   Sukzessive Reizkonfrontation

7.8.5   Kontingenzmanagement

7.9      Evaluative Perspektive

8         Fallvignette Joshua

8.1      Ausgangslage

8.2      Fragestellung

8.3      Informationen zur Person

8.4      Familiäre Situation

8.5      Schulische Situation

8.6      Pädagogische Diagnostik

8.6.1   Kollegialer Austausch

8.6.2   Kontaktaufnahme mit dem Schüler

8.7      Entwicklung einer Förderplanskizze

8.8      Pädagogische Interventionen

8.8.1   Beratungsgespräch mit den Eltern

8.8.2   Pädagogisches Gespräch mit Joshua

8.8.3   Prüfungstagebuch

8.8.4   Kollegialer Austausch

8.8.5   Konfrontation mit Unterstützung

8.8.6   Psychoedukation im Unterricht

8.9      Erfolg der Maßnahme

9         Abschließende Anmerkungen

Literatur

1

Weshalb ein pädagogisches Fallbuch »Schulangst«?

Zahlreiche Erkenntnisse, die bereits lange Zeit vorliegen, aber auch aktuellere Entwicklungen haben uns motiviert, in der Reihe »Fallbuch Pädagogik« einen Band zu schulbezogenen Ängsten zu verfassen.

Die Häufigkeit

Zunächst einmal sind schulbezogene Ängste oder auch Schulängste seit vielen Jahren eine der häufigsten psychischen Auffälligkeiten im Kindes- und Jugendalter. Dabei kommen insbesondere drei Themen zum Tragen: Ängste in Zusammenhang mit einer Trennung von den Eltern, Angst vor einer negativen sozialen Bewertung und Prüfungs- bzw. Leistungsängste.

Obwohl individuell oft mehrere Themen relevant werden und bei sozialer Angst und Prüfungsangst Überschneidungen bestehen, haben wir uns entschlossen, diese Unterscheidung als Basis für die inhaltliche Ausgestaltung des Bandes zugrunde zu legen. Daher wird zunächst Grundlagenwissen zu diesen drei Formen schulbezogener Ängste vermittelt.

Die Versorgungslage

Ein weiterer Grund liegt darin, dass die kinder- und jugendpsychotherapeutische Versorgungssituation und Unterstützungsangebote für Schülerinnen und Schüler, Eltern und involvierte Lehrkräfte bereits seit langer Zeit ungenügend sind. Dieser Notstand führt nicht selten zu einer Beeinträchtigung der sozial-emotionalen Entwicklung betroffener Schülerinnen und Schüler, zu einer Belastung von deren Familien und negativen Auswirkungen auf die schulische Entwicklung dieser Kinder und Jugendlichen. Gleichzeitig sind Pädagoginnen und Pädagogen immer häufiger mit Anforderungen konfrontiert, für die sie keine hinreichende fachliche Unterstützung erhalten.

Aus diesem Grund werden hier praxisnahe pädagogische Grundlagen dargestellt, die zunächst einen diagnostischen Zugang beschreiben und Informationen bereitstellen, auf welche Weise nützliches Wissen über Schulangst an Betroffene, Eltern und an ein beteiligtes Kollegium weitergegeben werden kann. Es werden zudem Methoden beschrieben, die sich auf die Gestaltung von Elterngesprächen beziehen, und Möglichkeiten, Kinder oder Jugendliche in der Bewältigung schulbezogener Ängste zu unterstützen. Es wird zum Beispiel erklärt, wie eine Bewältigung negativen Denkens initiiert werden kann, auf welchem Weg Entspannungskompetenzen entwickelt werden können und wie der Schulalltag so gestaltet werden kann, dass eine allmähliche Reduktion von Ängsten möglich wird.

Der Praxistransfer

Die dargestellten Methoden werden schließlich im Rahmen von drei Fallvignetten angewandt, wobei diese Fälle jeweils eines der drei Themenfelder Trennungsangst, Soziale Ängstlichkeit und Prüfungsangst in den Mittelpunkt stellen. In der Darstellung dieser individuellen Fallgeschichten von Eliza, Lara und Joshua wird versucht, den familiären, individuellen und biografischen Hintergrund zu erläutern und dabei die Ausgangssituation der handelnden Pädagoginnen und Pädagogen verständlich zu machen.

Hiervon ausgehend beschreiben die Fallvignetten Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Rahmen eines differenziellen pädagogischen Handelns angesichts schulbezogener Ängste. Neben einer Aktivierung von Ressourcen innerhalb des Schulbetriebs werden fallbezogen Anstrengungen zur Stärkung der familiären Unterstützung dargestellt. Die individuelle Ausgangslage der betroffenen Schülerinnen und Schüler begründet schließlich die Anwendung unterschiedlicher Methoden, deren schul- und unterrichtsnahe Umsetzung dort beschrieben, erklärt und kritisch diskutiert wird. Hierbei soll es keinesfalls darum gehen, dass Pädagoginnen oder Pädagogen in eine therapeutische Rolle schlüpfen, sondern darum, dass es Möglichkeiten zur Förderung gibt, die hier dargestellt werden.

Die in den pädagogischen Grundlagen bereits skizzierte evaluative Sicht auf pädagogisches Handeln findet sich in den Fallvignetten wieder, indem die Machbarkeit und das Erreichen der jeweiligen Zielsetzungen für die Unterstützung von Eliza, Lara und Joshua kritisch betrachtet werden.

Reaktion auf Veränderung

Wir erleben einen weiteren Anstieg der Prävalenz von Schulangst, dessen Ursachen vielschichtig sind. Sie liegen in einer veränderten Lebenssituation von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien. Hieraus erwächst ein zunehmend verändertes Verständnis zur Rolle von Lehrkräften im Umgang mit psychischen Auffälligkeiten.

Flensburg, Mai 2022

Gunnar Brodersen und Armin Castello

2

Trennungsängstlichkeit

Im nachfolgenden Abschnitt werden die Merkmale von Trennungsängsten dargestellt, es werden Informationen zur Häufigkeit und zum Verlauf und den Entstehungsbedingungen von Trennungsängstlichkeit gegeben. (Oftmals wird »Ängstlichkeit« als Persönlichkeitsmerkmal und »Angst« als Zustand unterschieden. Um das gesamte Spektrum zu beschreiben, verwenden wir beide Begriffe hier weitgehend Synonym. Wenn eine behandlungsbedürftige oder auch klinisch relevante Störung gemeint ist, so wird dies jeweils explizit benannt.)

Wenn sich ein Kind im Kita- oder Grundschulalter nicht gerne von nahestehenden Bezugspersonen trennen möchte, insbesondere über einen längeren Zeitraum hinweg, verwundert dies zumeist niemanden. Es war in der menschlichen Entwicklungsgeschichte lange Zeit sinnvoll, dass gerade kleine Kinder den Schutz der Eltern vermissen, wenn diese außer Sichtweite sind. Kulturell ist es aber für Kinder eine wichtige Entwicklungsaufgabe, mit den unabwendbaren Trennungen im Alltag allmählich umgehen zu lernen, um dadurch Selbstständigkeit zu entwickeln, soziale Kontakte außerhalb der Familie zu knüpfen, hierdurch wesentliche soziale und kommunikative Kompetenzen zu stärken und unbelastetes schulisches Lernen zu ermöglichen.

Wenn diese Entwicklung beeinträchtigt ist, so können negative Auswirkungen auf die sozial-emotionale und schulische Entwicklung eines Schülers oder einer Schülerin entstehen. Häufig gehen mit einer solchen Trennungsängstlichkeit zudem familiäre Belastungen einher, die in einer negativen Feedbackschleife wiederum die Trennungsängstlichkeit verstärken können, z. B. durch zunehmendes Unverständnis oder die Ärgerreaktionen der Eltern. Besonders in schulischen oder familiären Übergangsphasen wie z. B. Schulwechsel oder Umzügen können temporäre Anpassungsprobleme in Form von trennungsängstlichem Verhalten entstehen. Unterschieden werden muss dabei aber die entwicklungstypische Trennungsangst, die Trennungsängstlichkeit als subklinische Episode in Belastungsphasen und klinisch relevante Trennungsängste, die eine kinder- oder jugendpsychotherapeutische Intervention erforderlich machen.

2.1       Symptome klinischer Trennungsangst

Behandlungsbedürftige Trennungsangst im Kindes- und Jugendalter mit Störungscharakter muss von einer entwicklungsbedingten Trennungsangst unterschieden werden. Das DSM-5 (dieser »Diagnostische und statistische Leitfaden psychischer Störungen« ist ein wichtiges US-amerikanisches psychiatrisches Klassifikationssystem) beschreibt die Merkmale einer solchen behandlungsbedürftigen Störung mit Trennungsangst als

»[e]ine in Relation zur Entwicklung unangemessene und übermäßige Angst vor der Trennung, von zu Hause oder von den Bezugspersonen, wobei mindestens drei der folgenden Kriterien erfüllt sein müssen:

1.  wiederholter übermäßiger Kummer bei einer möglichen oder tatsächlichen Trennung von zu Hause oder von wichtigen Bezugspersonen,

2.  andauernde und übermäßige Besorgnis, dass sie wichtige Bezugspersonen verlieren könnten oder dass diesen etwas zustoßen könnte,

3.  andauernde und übermäßige Besorgnis, dass ein Unglück sie von einer wichtigen Bezugsperson trennen könnte (z. B. verloren zu gehen oder entführt zu werden),

4.  andauernder Widerwille oder Weigerung, aus Angst vor der Trennung zur Schule oder an einen anderen Ort zu gehen,

5.  ständige und übermäßige Furcht oder Abneigung, allein oder ohne wichtige Bezugspersonen zu Hause oder ohne wichtige Erwachsene in einem anderen Umfeld zu bleiben,

6.  andauernder Widerwillen oder Weigerung, ohne die Nähe einer wichtigen Bezugsperson schlafen zu gehen oder auswärts zu übernachten,

7.  wiederholt auftretende Albträume von Trennungen,

8.  wiederholte Klagen über körperliche Beschwerden (wie z. B. Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, Übelkeit oder Erbrechen), wenn die Trennung von einer wichtigen Bezugsperson bevorsteht oder stattfindet« (S. 255).

Erfüllt sein müssen weiterhin folgende Kriterien:

»B. Die Dauer der Störung beträgt mindestens 4 Wochen.

C.  Der Störungsbeginn liegt vor dem 18. Lebensjahr.

D.  Die Störung verursacht in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, schulischen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.

E.  Die Störung tritt nicht ausschließlich im Verlauf einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung, Schizophrenie oder einer anderen psychotischen Störung auf und kann bei Jugendlichen und Erwachsenen nicht besser durch die Panikstörung mit Agoraphobie erklärt werden« (ebda).

Die erlebte Angst im Vorfeld der Trennung führt außerdem zu sozial irritierenden Verhaltensweisen wie exzessivem Anklammern an Bezugspersonen oder aggressivem Verhalten, häufig mit Konsequenzen für die soziale Integration (s. u.).

Die Angst ist begleitet von einer raschen Aufmerksamkeitshinwendung, um Kontrolle über die Situation zu erhalten, d. h. trennungsrelevante Situationen werden aufmerksam »belauert«. Anschließend wird die Aufmerksamkeit abgewendet, d. h. vermieden, um sich möglichst wenig mit dem bedrohlichen Stimulus beschäftigen zu müssen. In einer Situation akut erlebter Trennungsängste ist das schulische Lernen stark beeinträchtigt. Betroffene sind kaum in der Lage, den eigenen Aufmerksamkeitsfokus von den eintretenden Angstgedanken und -gefühlen abzuwenden.

2.2       Subklinische Trennungsängstlichkeit

Sehr große familiäre und schulische Belastungen entstehen bereits, auch wenn nicht alle klinischen Kriterien vollständig erfüllt sind. Subklinische Trennungsängste gehen oft ebenso einher mit Vermeidungstendenzen. Sie können sich auf die häusliche Einschlafsituation beziehen, sodass es Betroffenen schwerfällt, abends alleine ins Bett zu gehen und einzuschlafen, oder auf alltägliche Trennungssituationen zu Hause, wie z. B. mit einer anderen Person als den Eltern alleine zu Hause zu bleiben. Das temporäre Verlassen der Familie ist in vielen Situationen nur gegen heftigen Widerstand des Kindes möglich, wie z. B. Schwierigkeiten, bei Bekannten oder befreundeten Kindern bzw. Jugendlichen zu übernachten oder im Alltag zur Schule zu gehen.

Weiter ins Gewicht fallen schließlich die sekundären Belastungen, die bei Trennungsängstlichkeit entstehen können. Hierzu gehören Schwierigkeiten in der sozialen Integration, da die regelmäßige Vermeidung und dauerhafte Weigerung, zur Schule zu gehen, viele Fehlzeiten verursachen kann. Darunter leidet in der Regel allmählich auch die Qualität des Kontakts zu Gleichaltrigen und der Integration in die Gleichaltrigengruppe. Schließlich ist hohe Ängstlichkeit mit weniger positiver Einschätzung der Kinder oder Jugendlichen durch andere assoziiert (Weber & Huber, 2020). Sie werden insgesamt von Mitschülerinnen und Mitschülern weniger beachtet (Strauss et al., 1987).

2.3       Häufigkeit und Verlauf

Bei Mädchen und Jungen treten die dargestellten trennungsängstlichen Symptome etwa gleich oft auf. Trennungsängste sind insgesamt vergleichsweise häufig, wobei die Befunde hierzu schwanken. In einer amerikanischen Untersuchung wurde eine Lebenszeitprävalenz von 5,2 % ermittelt (Kessler, 2005). Falkai und Wittchen (2015) quantifizieren die Häufigkeit von klinisch relevanten Trennungsängsten bei etwa 4 %.

Trennungsangst tritt im Vergleich zu anderen Ängsten bei Kindern und Jugendlichen relativ früh auf – der Erstauftrittsgipfel liegt bei etwa 8 Jahren; sie wird in aller Regel noch vor Eintritt in die Pubertät sichtbar. Der Beginn der Symptome kann sehr unterschiedlich vonstattengehen. Manchmal entwickeln sich diese langsam und eskalieren allmählich. Plötzlich auftretende Symptome einer Trennungsangst hingegen stehen sehr oft in Verbindung mit erkennbar emotional einschneidenden Ereignissen, die auslösend wirken.

Erwachsene, die in ihrer Kindheit und Jugend unter starken Trennungsängsten leiden, erleben im Verlauf ihres Lebens häufiger weitere psychische Belastungsreaktionen bzw. psychische Störungen mit Krankheitswert.

2.4       Entstehungsbedingungen

Trennungsängste entstehen in der Wechselwirkung der individuellen temperamentsbezogenen Voraussetzungen und den bindungs- und trennungsrelevanten Erfahrungen eines Kindes. Von Bedeutung ist, dass Kinder auf die stressauslösenden Trennungssituationen mit einer stark genetisch mitbedingten physiologischen Erregung reagieren. Insofern ist die Irritabilität in Trennungssituationen auch erblich determiniert (vgl. Döpfner, 2000). Gleichzeitig kann die Entwicklung innerhalb der Familie den Verlauf der Neigung zur Irritation bei Trennungen mitbedingen.

Eltern, die aufgrund ihrer eigenen Biografie und nachfolgend in der Interaktion in der Familie bzw. mit ihrem Kind den auftretenden Trennungssituationen eine hohe negative Aufmerksamkeit schenken, verstärken die Neigung zu Trennungsängsten bei ihrem Kind. Wenn innerhalb der Familie die negativen Gefühle im Kontext von Trennungen betont und Hilflosigkeit und Verzweiflung erlebt und gezeigt werden, so wirkt dies als ungünstiges elterliches Modellverhalten. Ungünstig ist ebenso, wenn Trennungen als bedrohliche Ereignisse beschrieben werden und kaum Strategien und Anstrengungen zur Bewältigung angewandt werden.

Im Rahmen einer Metaanalyse zum Zusammenhang von elterlichem Erziehungsverhalten und der Entwicklung von Ängstlichkeit im Kindes- und Jugendalter (McLeod et al., 2007) wurden diese Faktoren als besonders wirksam identifiziert:

  eine auffällige elterliche Kontrolle des kindlichen Verhaltens,

  wenig Autonomiegewährung durch die Eltern,

  ein deutliches Überengagement der Eltern.

Eltern, die dazu neigen, ihre eigene soziale Umwelt in Beruf und Privatleben als bedrohlich zu erleben, befinden sich oft in einem emotionalen Zustand, der dazu führt, ihre eigenen Kinder vor dieser vermeintlichen Bedrohung schützen zu müssen. Dieses Elternverhalten ist zwar aus ihrer Sicht verständlich, kann aber die Verstärkung von schulischem Vermeidungsverhalten nach sich ziehen. Dieses Vermeiden reduziert fatalerweise sowohl das erlebte Angstniveau des Kindes als auch das der Eltern, d. h. beide Seiten erleben Schuleschwänzen als positiv und entlastend. Die Einschränkung der kindlichen Autonomie hat also zum Ziel, das Kind vor der subjektiv als bedrohlich erlebten sozialen Umwelt fern zu halten. In dieser elterlichen Vermeidung werden Faktoren wirksam, die aufrechterhaltend wirken: Indem Vermeidung stattfindet, kann keine Löschung der irrational negativen Bewertung der Umwelt und unangemessen intensiv erlebten Bedrohung stattfinden.

Die Familie eines Kindes kann allerdings auch als Schutzfaktor wirken. Ein fundamental wichtiges Element ist hier die in der Familie geprägte Bindungsbiografie. Kinder, die in der familiären Interaktion eine sichere Bindung entwickeln, sind weniger häufig von Trennungsängsten betroffen.

Exkurs

Die Entwicklung einer sicheren Bindung wird unterstützt durch die Qualität der Eltern-Kind- Interaktion, wobei Eltern die bindungsrelevanten Signale ihres kleinen Kindes (z. B. Quengeln, Weinen, Kontaktsuche) wahrnehmen und diese verlässlich, sensitiv, prompt und angemessen durch das eigene Handeln beantworten (wie z. B. in den Arm nehmen, Trösten, Bewegen usf.). Eltern, die aufgrund ihrer psychischen Verfassung vorbelastet sind (z. B. aufgrund von Krisen oder Erkrankungen), können in ihren Interaktionskompetenzen beeinträchtigt sein.

In einer gelingenden frühen Eltern-Kind-Interaktion entwickelt sich bereits früh die Fähigkeit der Kinder, sich selbst emotional erfolgreich zu regulieren. Diese Kompetenz ist insbesondere bei solchen Kindern wesentlich, die sie aufgrund einer temperamentsbedingten Irritierbarkeit in Trennungssituationen häufiger benötigen. Eltern, die in der frühen Interaktion mit ihrem Kind diese Kompetenzen zur Emotionsregulation stärken, wirken als Schutzfaktor gegen die Entwicklung von Trennungsängstlichkeit.

Sie spielen zudem eine wichtige Rolle als Schutzfaktor, indem sie als soziales Modell für den Umgang mit Trennungssituationen dienen. Dazu gehört beispielsweise

  die Bewertung von Trennung als Chance und Möglichkeit für neue Kontakte,

  das Vorleben einer positiven emotionalen Bewältigung und

  das Vermitteln von Kompetenzen oder Strategien für eine angemessene Emotionsregulation.

Kinder und Jugendliche, die aufgrund ihres Temperaments stark unter der Belastung einer Trennung leiden, können mit der Unterstützung ihrer Eltern Wege zu einer angemessenen Bewältigung erlernen. Dazu kann eine fundierte Psychoedukation von (vorbelasteten) Eltern einen wesentlichen Beitrag leisten (Kap. 5.2 Psychoedukation).

3

Soziale Ängstlichkeit

Wir alle kennen soziale Situationen, in denen wir eine erhöhte Aufregung spüren – das können beispielsweise Situationen sein, die für uns eine besondere Bedeutung haben (z. B. ein Vorstellungsgespräch für einen neuen Job), die soziale Hinweisreize beinhalten, die wir nicht eindeutig interpretieren können (z. B. auf sich gerichtete Blicke in fremder Umgebung), oder die eine Notsituation darstellen und schnelles Handeln erfordern (z. B. das Auffinden eines ohnmächtig gewordenen Menschen). In solchen Situationen sind wahrscheinlich die meisten Menschen angespannt oder nervös; dennoch sprechen wir hier nicht von sozialer Ängstlichkeit, denn eine erhöhte Erregung betrachten wir in diesen Fällen als verständliche und angemessene Reaktion. Von sozialer Ängstlichkeit sprechen wir dann, wenn stark ausgeprägte Angst in sozialen Situationen erlebt wird, die für die meisten Menschen in vergleichbarem Alter nicht besonders furchtauslösend sind. Kinder und Jugendliche reagieren also in Situationen mit sozialer Angst, die von ihren Peers als alltäglich und als wenig aufregend empfunden werden. Im Schulumfeld ergeben sich zahlreiche solcher Situationen: Sei es die morgendliche Fahrt mit dem Schulbus, ein Referat vor der Klasse oder die Pause auf dem Schulhof – Kinder und Jugendliche mit sozialer Angst sehen sich mit Herausforderungen im Schulalltag konfrontiert, die von Mitschülerinnen und Mitschülern gar nicht wahrgenommen werden.

3.1       Erleben und Verhalten

Soziale Ängstlichkeit wirkt sich bedeutsam auf das Erleben und Verhalten von Kindern und Jugendlichen aus. Wie bei anderen Ängsten auch lassen sich dabei kognitive, physiologische und verhaltensbezogene Merkmale unterscheiden.

3.1.1     Kognitive Merkmale

Auf kognitiver Ebene macht sich soziale Ängstlichkeit vor allem durch sorgenvolle Gedanken bemerkbar. Meist steht dabei die große Sorge vor einer Abwertung durch andere im Mittelpunkt, die die Betroffenen stark belastet. Sie befürchten, sich in sozialen Situationen unangemessen zu verhalten oder etwas Peinliches zu tun, sodass sie ausgelacht oder verspottet werden könnten. Die befürchtete negative Bewertung durch andere stellt für die Betroffenen eine große Bedrohung dar (Vasey, 1996). Gestützt wird diese Befürchtung häufig durch ein negatives Selbstbild: Die betroffenen Kinder und Jugendlichen nehmen an, nicht über ausreichende Fähigkeiten zu verfügen, um einen guten Eindruck bei anderen zu hinterlassen (Leary, 1986). Häufig kommen weitere ungünstige und verzerrte Annahmen hinzu wie beispielsweise die Überzeugung, etwas Falsches im Unterricht zu sagen, führe dazu, abgelehnt und nicht gemocht zu werden. Die Anforderungen an das eigene Verhalten sind dadurch extrem hoch. Gleichzeitig rückt die eigene Person bei der Bewertung sozialer Situationen sehr stark in den Fokus. Man spricht hierbei von einer erhöhten Selbstaufmerksamkeit, d. h. Betroffene schenken dem eigenen Auftreten, ihrem Erscheinungsbild und Verhalten viel Beachtung. Zumeist sind es negative Informationen, die von Betroffenen beachtet und erinnert werden (Daleiden, 1998; Daleiden & Vasey, 1997). Man kann sich vorstellen, dass diese sorgenvollen Gedanken, verzerrten Annahmen und ungünstigen Schemata zu einem hohen Leidensdruck führen.

3.1.2     Physiologische Merkmale

Auch auf der körperlichen Ebene macht sich soziale Ängstlichkeit bemerkbar. So reagieren betroffene Kinder und Jugendliche in einer Angstsituation (z. B. wenn sie einen Text laut vorlesen müssen) mit starkem Herzklopfen, Schwitzen oder Erröten. Auch eine erhöhte Muskelspannung, Übelkeit, Bauchschmerzen oder Zittern sind häufige körperliche Reaktionen. Insbesondere von Bauchschmerzen berichten Betroffene oftmals schon im Vorfeld einer unangenehmen Situation (z. B. bei Gedanken an ein bevorstehendes Referat). Vereinzelt kann es auch zu erlebtem »Erstarren« oder »Kälteschauern« kommen.

3.1.3     Verhaltensbezogene Merkmale

Das Verhalten von Kindern und Jugendlichen mit sozialer Ängstlichkeit erscheint in der Schule mitunter zunächst unauffällig, da die Betroffenen in der Regel nicht den Unterricht stören und sich weder laut noch aggressiv verhalten. Vielmehr sind sie still und zurückhaltend (Asendorpf, 1990). Ihr Handlungsspielraum ist durch ihre Angst jedoch massiv eingeschränkt: Sie sind gehemmt, verlegen und befangen und trauen sich wenig zu (z. B. etwas vor der Klasse zu sagen oder allein zu Schule zu gehen; Ahrens-Eipper und Nelius, 2009; Schneider und In-Albon, 2006). Situationen, in denen die Betroffenen im Mittelpunkt stehen oder Kontakt aufnehmen müssen, erleben sie als Stresssituationen. Es fällt ihnen nicht nur schwer, sich in sozialen Situationen durchzusetzen, sondern auch Freundschaften aufzubauen und zu pflegen. Dadurch kann das wichtige Bedürfnis nach Zugehörigkeit, das Deci und Ryan (2002) als eine von drei zentralen menschlichen Motivationsquellen bezeichnen, nur unzureichend befriedigt werden. Häufig beschäftigen sich die Kinder und Jugendlichen am Nachmittag allein und entwickeln Interessen für Tätigkeiten, bei denen man ohne Spielpartnerin oder Spielpartner auskommt, wie z. B. Programmieren, Basteln o. Ä. Vereinzelt lassen sich auch für das Alter eher untypische Interessen beobachten wie beispielsweise das Sammeln von Briefmarken (Albano, DiBartolo & Heimberg, 1995).