Schule neu denken und organisieren - Florian Rockel - E-Book

Schule neu denken und organisieren E-Book

Florian Rockel

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Beschreibung

Dieses Buch bietet eine tiefgehende Analyse der Herausforderungen im Bildungssystem des 21. Jahrhunderts und stellt das innovative Konzept einer "Evolutionären Schule" vor. Der Autor zeigt auf, wie eine "evolutionäre Haltung" als Leitprinzip für die Neugestaltung von Bildungseinrichtungen fungieren kann, inspiriert von modernen – agilen – Unternehmensformen. Er schlägt eine verzahnte Organisationsstruktur vor, die verschiedene Rollen und Aufgabenbereiche geschickt miteinander verknüpft. Das Buch beinhaltet neben den theoretischen Grundlagen auch konkrete Handlungsanweisungen für die Umsetzung: von Qualitätsmanagement über Abläufe und Strukturen bis hin zu einem Dokumentationssystem und Online-Tools. Darüber hinaus diskutiert der Autor die Herausforderungen bei der Umsetzung seines Schulkonzepts und beschreibt, welche Schritte erforderlich sind, um regulatorische und psychologische Hindernisse zu überwinden. Er liefert mit diesem Werk eine fundierte Auseinandersetzung mit der Zukunft der Bildung.

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Florian Rockel

Schule neu denken und organisieren

Organisation evolutionärer Haltung und Lernprozesse

2024

Der Verlag für Systemische Forschung im Internet:www.systemische-forschung.de

Carl-Auer im Internet: www.carl-auer.de

Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis an:

Carl-Auer Verlag

Vangerowstr. 14

69115 Heidelberg

Über alle Rechte der deutschen Ausgabe verfügt

der Verlag für Systemische Forschung

im Carl-Auer-Systeme Verlag, Heidelberg

Fotomechanische Wiedergabe nur mit Genehmigung des Verlages

Reihengestaltung nach Entwürfen von Uwe Göbel

Printed in Germany 2024

Erste Auflage, 2024

ISBN 978-3-8497-9072-1 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-9073-8 (ePub)

DOI: 10.55301/9783849790721

© 2024 Carl-Auer-Systeme, Heidelberg

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Diese Publikation beruht auf der Masterthesis „Organisation evolutionärer Haltung und Lernprozesse. Schule neu denken und organisieren“ zur Erlangung des akademischen Grades Master of Science am Department für Gesundheitswissenschaften, Medizin und Forschung der Donau-Universität Krems, 2022.

Die Verantwortung für Inhalt und Orthografie liegt beim Autor.

Inhalt

1Einleitung

2Methodisches Vorgehen

3Wissenschaftliche Grundlegung einer evolutionären Haltung

3.1 Radikaler Konstruktivismus

3.2 Subjektive Wirklichkeitskonstruktion durch Viabilität

3.3 Assimilation und Akkommodation durch Pertubation

3.4 (Relative) Objektivität

3.5 Autopoietische Systeme

3.6 Kommunikation

3.7 Systemisch konstruktivistische Reduktion

3.8 Lernen (heisst) Leben

3.9 Humanistische Psychologie

3.10 Flow

4Evolution und Bildung

5Utopie und Gelingen evolutionärer Bildung

6Ergebnis

6.1 Grundvoraussetzung

6.2 Leitbild durch Grundsätze

6.3 Professionelle Haltung

6.3.1Ein evolutionärer Vorschlag für die Handlungspraxis

6.3.2Herausforderungen in der Handlungspraxis

6.3.3Atmosphäre durch Haltung

6.4 Schule als evolutionäre Organisation

6.4.1Personal, Rollen und Aufgaben

6.4.2Organisation evolutionärer Haltung und Atmosphäre

6.4.3Qulitätsmanagement

6.4.4Abläufe und Strukturen

6.4.5Dokumentationssystem und Online-Tool

7Diskussion

8Zusammenfassung und Schlussbetrachtung

Literatur

1 Einleitung

“Wir wissen viel über das menschliche Lernen, dass es überfällig ist, all dies auch in unseren Schulen anzuwenden. Vermutlich würde man die Erkenntnisse der Hirnforschung an den Anfang stellen, einschließlich jener der Kognitions- und Entwicklungspsychologie. Und nachdem wir alles berücksichtigt haben, unser Wissen über Entwicklungsphasen des Gehirns, über die Konzentrationsfähigkeit von Kindern, über das Zusammenspiel von Lernen und Bewegen, über die Bedeutung der Spielregeln der Selbstwahrnehmung und Selbstwirksamkeit und über intrinsische und extrinsische Motivation, würden wir uns an die pädagogische Umsetzung machen und die Didaktik genau darauf abstimmen.“ (Precht, 2015, S. 215)

Im Zeitalter des technologischen Wandels, in dem disruptive Technologien und Akteure einst etablierte Unternehmen mehr und mehr vom Markt verdrängen, müssen Organisationen, um konkurrenzfähig zu bleiben, die Fähigkeit erlangen radikal zu innovieren und schnell zu skalieren (vgl. Aulet, 2019, S. 9). In der aktuellen Diskussion um die Frage, wie Organisationen strukturell aufgebaut sein müssen, um den Anforderungen von Exploitation und Exploration gerecht zu werden, spielen Begriffe wie Agilität, Selbstorganisation, Kollaboration, Interdisziplinarität, Autonomie, Eigenverantwortung und Kreativität eine wichtige Rolle. Autonomie ist der Schlüssel zu Eigenverantwortung, Motivation und Kreativität, somit eine wichtige Voraussetzung für Innovation (vgl. Klasing, 2019, S. 23). „Diese Werte zu vermitteln, ist vor allem Aufgabe des Bildungssystems. Wenn wir damit warten, bis die Menschen auf den Arbeitsmarkt kommen, ist es schon zu spät.“ (Klasing, 2019, S. 65)

Die Fähigkeit radikal innovativ denken zu können erscheint im Kontext der gegenwärtigen Probleme der Welt nicht nur für die Wirtschaft von großer Bedeutung, sondern auch für die Wissenschaft und das gesellschaftliche Zusammenleben an sich. Themen wie Globalisierung, Digitalisierung, alternde Gesellschaften im globalen Norden, Bevölkerungswachstum im globalen Süden und den Auswirkungen des Klimawandels auf Mensch und Natur verlangen ebenfalls nach radikalen Innovationen, zeigen doch bestehende Denk- und Lösungsansätze kaum Wirkung. Das steigende Aufkommen von KI gesteuerten Maschinen verdrängt durch ihre qualitative und quantitative Überlegenheit den Menschen aus nicht kreativen Tätigkeitsfeldern. Die Anforderungen an die Gesellschaft werden in 20 Jahren komplett anders sein als jetzt. Das System Schule sollte für diese Anforderung als Kompass dienen, Bildung sollte auf diese Anforderungen vorbereiten (vgl. Precht, 2015, S. 18–20). Um Innovationen oder Neuerungen entdecken und (auch gesellschaftlich) annehmen zu können, braucht es eine offene Haltung, welche Veränderungen, also auch das Brechen von Regeln, dass Verlassen von bestehenden, sicheren Pfaden und Wahrheiten, als etwas Positives betrachtet und nicht als eine Gefahr ansieht. Diese Haltung beginnt beim Subjekt und macht eine Veränderung in der Gesellschaft überhaupt erst möglich. Doch der Rohstoff für solche Persönlichkeiten wird, laut der Reformpädagogin Ellen Key, in den Schulen durch die direktive, defizitorientierte und gleichgeschaltete Lernkultur erstickt (vgl. Hüther, 2016, S. 156). Das Bildungssystem und die Schule als wichtigste und prägendste öffentliche Sozialisationsinstanz für Heranwachsende nimmt für die Entwicklung von Haltung eine zentrale Rolle ein (vgl. Christina Schwer, 2014, S. 50). Im Idealfall ist sie der Ort, an dem, neben den fachlichen Inhalten, Werte wie Eigenverantwortung, Selbstorganisation und Kreativität sowie eine offene Haltung wachsen und gedeihen können. In den meisten Schulen und im öffentlichen Bildungssystem kann aber kaum die Rede davon sein, dass sich dieser Aufgabe adäquat gestellt wird (vgl. Precht, 2015, S. 216). Noch immer bestimmen vorgegebene Lehrpläne die inhaltlichen und zeitlichen Strukturen des Schulalltags. Auf diese Art prägt das (soziale) System Schule auch potenzielle Lehramtsstudent*innen schon vor ihrer universitären Ausbildung und macht diese einer kritischen Haltung dem Konstrukt Schule gegenüber immun (vgl. Christina Schwer, 2014, S. 51). Dieses Standardmodell der Schule ist den Anforderungen des 21. Jahrhunderts nicht gewachsen (vgl. Precht, 2015, S. 19), da es die Veränderungsresistenz und Immunität gegenüber kritischen und neuen Denkansätzen aus sich selbst und seiner eigenen Logik erzeugt (vgl. Christina Schwer, 2014, S. 51).

Die Frage für diese Arbeit lautet: Wie muss eine professionelle Haltung im Kontext der (Lern-)Begleitung von Studierenden1 beschaffen sein, um den Anforderungen und wissenschaftlichen Erkenntnissen des 21. Jahrhunderts gerecht zu werden? Daraus ergeben sich folgende Unterfragen: Lassen sich die von der Wirtschaft geforderten Kompetenzen und Fähigkeiten wie Kreativität, Eigenverantwortung und das Denken außerhalb der Box gezielt vermitteln bzw. welche Rahmenbedingungen sind dafür notwendig? Wie kann eine evolutionäre professionelle Haltung qualitätssichernd organisiert werden? Welche Elemente sind hilfreich oder notwendig?

Eine Hypothese zu diesen Fragen ist, dass die fachliche Expertise von Begleiter*innen nicht von vorrangiger Bedeutung ist (vgl. Fiegert & Solzbacher, 2014, S. 31), die direktive, gezielte Vermittlung von Inhalten kaum möglich ist (vgl. Simon, 2006, 84) und der Versuch einer direktiven Vermittlung eher als problematisch zu betrachten ist, da er die individuelle intrinsische Motivation von Studierenden übergeht (vgl. Hüther, 2016, S. 70). Vielmehr wird eine den Studierenden gegenüber positive und zugewandte, bedarfs- und stärkenorientierte Haltung als vorrangig erachtet. Entsprechend dieser Annahme gilt es Rahmenbedingungen zu schaffen und zu erhalten, die es den Studierenden ermöglichen, intrinsisch motiviert wertebasierte Lernziele zu entdecken und zu verfolgen, um im Flow lernen zu können (vgl. Hansch, 2008, S. 38). Dem gegenüber steht die Auffassung, dass Lernerfolge bei Studierenden sich direkt auf das Expertentum und die besondere Qualität des professionellen Wissens von Lern(Begleiter*innen) zurückführen lassen. Die Haltung ist hier, wenn überhaupt nur, von sekundärer Bedeutung (vgl. Fiegert & Solzbacher, 2014, S. 19).

Ziel dieser Arbeit ist es einen Vorschlag für eine professionelle Haltung zu erarbeiten, welcher sich plausibel auf der Grundlage aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse begründen lässt. Daran anschließend folgt die Formulierung eines Vorschlags dazu, wie eine Organisation beschaffen sein kann bzw. welche Elemente hilfreich sind, um eine Stabilität der Qualität bei einer möglichen Skalierung der Organisation zu gewährleisten.

1 Mit Studierenden sind in Bezug auf diese Arbeit immer auch Schüler*innen, Student* innen oder Lernende gemeint.

2 Methodisches Vorgehen

Begriffe wie Stärken- und Bedarfsorientierung oder auch Partizipation2 werden im öffentlichen Diskurs vielfältig verwendet, diskutiert, aber in der Konsequenz ihrer praktischen Umsetzung teilweise unterschiedlich betrachtet und ausgelegt, was die fachliche Auseinandersetzung erschwert (vgl. Rieger & Gaby Straßburger, 2019, S. 22). Für eine radikale Bedarfsorientierung beispielsweise fehlt eine ausführliche Beschreibung und wissenschaftliche Betrachtung davon, was sich hinter diesem Begriff verbirgt. Die radikale Bedarfs- und Stärkenorientierung ist als Teil der in dieser Arbeit zu untersuchenden evolutionären Haltung zu betrachten. Auch der Begriff der evolutionären Haltung ist wie der Begriff Haltung selbst noch kein wissenschaftlicher Begriff, folglich existiert auch kein konkreter, universeller Vorschlag für eine mögliche Überführung der Theorie einer evolutionären Haltung in die Handlungspraxis einer Organisation.

Diese Arbeit formuliert zu diesen Begriffen eine Definition und entwickelt und untersucht davon ausgehend eine eigene Hypothese zur praktischen Anwendung einer evolutionären Haltung und ihrer Organisation. Für die Literaturanalyse werden aktuelle bzw. bis zum Beginn der Arbeit nicht falsifizierte Erkenntnisse und Hypothesen der Forschung aus den Bereichen Epistemologie, Psychologie, Sozialwissenschaften und Neurobiologie in Bezug auf die menschliche Entwicklung untersucht.

Ein Teil der Untersuchung beschäftigt sich mit den Postulaten des Radikalen Konstruktivismus, wie sie u.a. von Ernst von Glasersfeld vertreten werden und inwieweit sich diese von Erkenntnissen aus der neurobiologischen Forschung (hier u. a. Gerald Hüther und Gerhard Roth) stützen lassen. Um die menschliche Entwicklung auf gesellschaftlicher Ebene, also auch in Bezug auf schulisches Lernen, zu betrachten, werden ergänzend die Arbeiten von Jean Piaget und Niklas Luhmann untersucht. Abraham Maslow, Carl Rogers, Hermann Haken und Mihaly Csikszentmihályi liefern von der Humanistischen Psychologie über die Synergetik bis hin zur Flow Theorie wichtige Bestandteile zur Untersuchung passender Rahmenbedingungen für intrinsisch motiviertes Lernen. Auf diesem literaturanalytischen Fundament wird der Frage nachgegangen, welche Rahmenbedingungen es für nachhaltige Lernansätze bedarf und wie diese beschaffen sein müssen, um die Ausbildung von Kompetenzen wie Eigenverantwortung, Selbstbestimmung und Kreativität zu ermöglichen. Für die Konstruktion einer möglichen Handlungspraxis und ihrer Rahmenbedingungen in Bezug auf die Organisation dienen Arbeiten von Frederic Laloux, Julia Duwe, Rolf Drähter, Holger Koschek, Carsten Sahling und Rebecca Wild. Um potenzielle Konflikte bei der Theorie-Praxisüberführung zwischen den radikalen Ansätzen des Lernkonzepts und den aktuellen rechtlichen Rahmenbedingungen im etablierten Bildungssystem aufzudecken und zu untersuchen, wird eine Analyse der für das Land Berlin geltenden Gesetzestexte in Bezug auf Bildungseinrichtungen durchgeführt. Hier ist insbesondere das Berliner Schulgesetz (SchulG) zu nennen, da hier deutliche Vorgaben zu beachten sind.

Im Ergebnis wird basierend auf den Erkenntnissen der wissenschaftlichen Grundlegung und der vorangehenden Untersuchung menschlicher Entwicklungsprozesse ein Vorschlag erarbeitetet, welcher die aktuellen Erkenntnisse berücksichtigt. Dieser Vorschlag wird im Aufbau immer wieder rückbezüglich auf die wissenschaftlichen Erkenntnisse auf seine Viabilität hin geprüft und so schrittweise entwickelt.

2 Partizipation wird in dieser Arbeit auf der Stufe 6 der Partizipationspyramide (Rieger & Gaby Straßburger, 2019, S. 23) angesiedelt und im Verlauf der Arbeit durch den Begriff radikale Bedarfsorientierung ersetzt.

3 Wissenschaftliche Grundlegung einer evolutionären Haltung

Der Begriff der evolutionären Bildung bezieht sich auf die evolutionäre Epistemologie, wie sie u.a. von Humberto Maturana und Francisco Varela vertreten wird. Die Idee bzw. der Vorschlag einer evolutionären Bildung und Haltung und ihrer Organisation, wie sie in dieser Arbeit betrachtet und untersucht wird, wurde ab dem Jahr 2013 im Rahmen eines Think Tanks zu radikaler Bedarfs- und Stärkenorientierung im Bildungsbereich entwickelt. Somit beruhen die Erkenntnisse der hier vorliegenden Arbeit auf dieser Vorarbeit und einer Momentaufnahme des untersuchten Literaturmaterials. Zum Grundbestandteil dieser Struktur gehört, dass sein natürlicher Zustand sich durch einen permanenten Entwicklungsprozess auszeichnet. Aus den Überlegungen entwickelte sich ein Feldversuch, der Ende 2018 begann: Das Street College als Projekt von Gangway e.V., einem Träger der freien Jugendhilfe. Mitte des Jahres 2021 hat sich die gemeinsam herausgearbeitete Struktur als tragfähig erwiesen. Diese Organisationsstruktur war direkt an das theoretisch philosophische Fundament und die sich daraus ergebende Handlungspraxis gekoppelt. Das Konzept setzt ein eigenverantwortliches Handeln und Lernen aller Beteiligten voraus. Es werden keine Inhalte und Rahmenbedingungen vorgegeben, bei gleichzeitigem Verzicht auf eine defizitorientierte oder in Fürsorge3 gehende Haltung. Es wird sich vollständig am Bedarf der Lernenden orientiert und eine rein auf die Stärken der Lernenden abzielende Feedback-Kultur gepflegt. Dies führt zu unterschiedlichen Konsequenzen für Begleiter*innen4 und Lernenden, die berücksichtigt werden müssen. Außerdem ist zu beachten, dass die durch bisher internalisierte Vorstellungen und Figurationen geschürte Erwartung darüber, wie Lernen und Lehren klassischerweise richtig funktioniert, für keine der beiden Parteien erfüllt wird (vgl. Christina Schwer, 2014, S. 50). Ziel ist es durch Strukturen und eine evolutionäre Haltung Rahmenbedingungen in der Organisation zu etablieren, die eine positive, vertrauensvolle Atmosphäre5 ermöglichen. In dieser Atmosphäre können Fehler und das Scheitern an einer Aufgabe einerseits als Chance zur eigenständigen Lösungsfindung betrachtet werden, um dadurch Selbstwirksamkeitserfahrung zu sammeln, andererseits aber auch als Möglichkeit zur Entwicklung der Problemlösekompetenz und psychologischer Flexibilität (vgl. Harris, 2009, S. 62–64). Eine Atmosphäre ist die des bewussten Erlebens von Lernerfahrungen, „…die Kommunikation zulässt, persönlichen Kontakt ermöglicht und zu gemeinsamer Reflexion ermutigt.“ (Hinte, 1980, S. 94) Das Konzept stellt keinen normativen Anspruch, sondern ist als ergänzende Variante im Spektrum der Handlungspraxis professioneller Begleitung zu verstehen. Das philosophische und theoretische Fundament fußt auf den Gedanken und Überlegungen des Radikalen Konstruktivismus, wie Heinz von Foerster und Ernst von Glasersfeld ihn postulieren. Neben der Systemtheorie von Niklas Luhmann, der humanistischen und positiven Psychologie nach u. a. Abraham Maslow und Carl Rogers zählt auch die von Mihaly Csikszentmihalyi beschriebene Flow-Theorie zu wichtigen Elementen des Fundaments einer evolutionären Bildung. Gestützt wird dieser theoretische Unterbau durch aktuelle Erkenntnisse der Lern- und Kognitionsforschung und der Neurobiologie.

3.1 RADIKALER KONSTRUKTIVISMUS

Hinter dem Begriff Konstruktivismus6 eröffnet sich ein weites Feld unterschiedlicher Ideen und Theorien, welche sich u. a. mit der Frage beschäftigen „…in welchem Verhältnis das Sein der Welt zur Erkenntnis der Welt steht.“ (Simon, 2006, S. 9) Sie stimmen darin überein, dass sie sich von absoluten Wahrheits- und Wirklichkeitsbegriffen distanzieren, da für sie „…alltägliches Erkennen wie auch Wissenschaft […] subjekt- und kontextabhängig…“ (Berger, 1993, S. 195) ist. Als Begründer des Radikalen Konstruktivismus gelten u. a. Ernst von Glasersfeld und Heinz von Foerster. Deren philosophische Theorien zur Erkenntnis und Wahrnehmung konvergieren mit denen von Francisco J. Varela und Humberto Maturana (vgl. Berger, 1993, S. 196) und schließen sich an die Entwicklungstheorie von Jean Piaget an (vgl. Simon, 2006, S. 69). Die Theorien können als Brückenbau zwischen Geistes- und Naturwissenschaften betrachtet werden. Der radikale Konstruktivismus kritisiert die vorherrschende Vorstellung einer erkennbaren, ontischen Realität und stellt ihr den Begriff der Viabilität gegenüber (vgl. Berger, 1993, S. 199). Dies wird begründet mit der Unmöglichkeit kognitiven Zugang zu einer ontischen Welt zu erlangen, also einer an sich bestehenden Wirklichkeit zu erlangen. Somit ist auch kein Vergleich zwischen der subjektiven Wahrnehmung und einer an sich seienden Wahrheit möglich (vgl. Glasersfeld, 1992, S. 13).

„Um da eine Übereinstimmung festzustellen oder zu prüfen, müßte das Erlebte ja mit der „Wirklichkeit“ verglichen werden- und dieser Vergleich ließe sich nur machen, wenn man Erlebtes dem noch nicht Erlebten gegenüberstellen könnte. Der einzige Zugang zu noch nicht Erlebtem aber führt eben durch das Erleben, und darum läßt sich nie ermitteln, ob die Art und Weise des Erlebens das von der Wirklichkeit ‚Gegebene‘ vermindert oder verfälscht.“ (Glasersfeld, 1992, S. 10)

Grundsätzlich geht die Theorie davon aus, dass alles, was der Mensch als Wirklichkeit identifiziert und durch seine Sinneseindrücke wahrnimmt, von ihm selbst unterbewusst konstruiert wurde und wird. „Wahrnehmung und Erkenntnis wären demnach also konstruktive und nicht abbildende Tätigkeiten.“ (Glasersfeld, 1992, S. 30) Ob diese konstruierte Wirklichkeit in der Wahrnehmung ihrer Beschaffenheit einer äußeren Realität gleicht, Ähnlichkeiten aufweist oder diese überhaupt abbilden kann, wird vom Radikalen Konstruktivismus in Frage gestellt (vgl. Simon, 2006, S. 69). Gestützt wird diese Annahme durch unterschiedliche Erkenntnisse aus den Bereichen der Hirn- und Kognitionsforschung (vgl. Roth, 1997, S. 317). Das Bild der Umwelt, welches auf die Netzhaut (Retina) des Auges trifft, kann als solches von den Sinnesorganen nicht als Bild ins Gehirn transportiert werden (vgl. Roth, 1997, S. 252). Die durch den Lichteinfall auf die Retina gereizten lichtempfindlichen Nervenzellen übermitteln durch ein Aktivitäts-Inaktivitäts-Muster dem Gehirn die Informationen, mit denen es in der Lage ist, ein Bild der Umwelt zu errechnen (konstruieren) (vgl. Simon, 2006, S. 44). Diese Kodierung der Nervenzellen misst jedoch nicht die Qualität der Reizung der Nervenzellen, sondern nur die Quantität. Die elektrische Entladung einer Tastzelle beispielsweise liegt immer etwa bei 1/10 Volt, unabhängig von der Reizstärke (vgl. Foerster, 1992, S. 56). „Die Erregungszustände einer Nervenzelle codieren nur die Intensität, aber nicht die Natur der Erregungsursache.“ (Foerster, 1992, S. 58) Das Gehirn ist als autopoietisches System operational geschlossen, hat keinen direkten Kontakt zu Außenwelt und errechnet lediglich anhand der durch die Nervenzellen übertragenen Frequenzmuster ein Bild der Umwelt. Das Tasten und Berühren eines Steins löst eine bestimmte Formation bzw. ein bestimmtes Frequenzmuster aus und sendet es an das Gehirn, welches dieses Muster bei genügend Wiederholungen der Kategorie Stein zuordnet, bzw. im Entwicklungsprozess anlegt. Gleiches gilt für die lichtempfindlichen Zellen im Auge (der Retina). Die Korrelationen der aus Seh- und Tastsinn übermittelten Frequenzmuster erhärten die Wahrnehmung, dass es sich um einen Stein handelt. Das Erkennen bzw. Zuordnen der Frequenzmuster übernehmen sogenannte Ordner oder auch Attraktoren. Diese reagieren auf alles, was vom kognitiven System im Phänomenbereich erfasst wird, und ordnen es entsprechend zu. Weist ein Frequenzmuster genügend Ähnlichkeiten mit einer bestehenden Kategorie auf, wird es dieser zugeordnet. Dies gilt für Objekte, Geräusche, Gedanken oder Gefühle, also auch für Werte. Die Regionen im Gehirn, welche für die Encodierung der übermittelten Frequenzmuster der Sinnesreizungen und damit für die Konstruktion der Wirklichkeit verantwortlich sind, bekommen zwar genug Informationen, bedienen sich bei der Wirklichkeitskonstruktion jedoch immer schon angelegter kognitiver Strukturen. Eine dem Gehirn vertraute Umgebung (die durch einzelne Attraktoren erkannt wird), wird zum überwiegenden Teil aus Bildern erzeugt, welche schon im Gedächtnis lagern. Das Gehirn reagiert also in seiner neuronalen Aktivität zum überwiegenden Teil selbstreferentiell (vgl. Roth, 1997, S. 253). Der Mensch kann durch seine Sinnesorgane