Schule personzentriert gestalten - Thomas Fleischer - E-Book

Schule personzentriert gestalten E-Book

Thomas Fleischer

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Beschreibung

Maßnahmen und Programme der Schulentwicklung sollen die Effektivität schulischer Arbeit verbessern. Allerdings erweisen sich diese Programme häufig als wenig wirkungsvoll, da sie den Kommunikationsformen und der Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen zu wenig Beachtung und Wertschätzung entgegenbringen. Das Buch stellt den Personzentrierten Ansatz vor, durch dessen Verwirklichung im schulischen Bereich Schülerinnen und Schüler deutlich besser angesprochen und emotional erreicht werden. So können sie sich leichter am Prozess des Unterrichts beteiligen; sie werden aufgeschlossener und kreativer. Bezüglich der kooperativen Beziehungen unter Lehrkräften wirken personzentrierte Umgangsformen gesundheitsfördernd und helfen, den spannungsvollen Schulalltag zu bewältigen. An Stelle jener Steuerungsinstrumente, die den Führungsmethoden von Wirtschaftsunternehmen entlehnt sind, werden die vielfältigen Wirkungen humaner Beziehungs- und Kommunikationsgestaltung betont, die durch empirische Studien gut belegt sind.

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für

Barbara

Thomas Fleischer

Schule personzentriert gestalten

Zwischenmenschliche Beziehungen und Persönlichkeitsentwicklung in der Schule

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

 

 

 

 

1. Auflage 2016

 

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

 

Print:

ISBN 978-3-17-030774-2

 

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-030775-9

epub:    ISBN 978-3-17-030776-6

mobi:    ISBN 978-3-17-030777-3

 

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Inhaltsverzeichnis

 

 

 

 

Meine Motivation, dieses Buch zu schreiben

Danksagung

Vorwort

1 Einleitung

1.1 Bedingungen und Anforderungen der Gegenwartsgesellschaft

1.2 Der Mensch ist Mittelpunkt

2 Der Personzentrierte Ansatz (PzA)

2.1 Grundbegriffe des Personzentrierten Ansatzes

2.1.1 Person

2.1.2 Die Aktualisierungstendenz (Motivation 1: Entfaltung und Wachstum)

2.1.3 Erfahren – Fühlen – Erleben

2.1.4 Das Selbst und die Selbstaktualisierung (Motivation 2: Erhaltung und Verteidigung)

2.1.5 Inkongruenz zwischen Selbst und Erfahrung – oder: Was macht eine gesunde Person aus?

2.1.6 Bedürfnis nach positiver Beachtung

2.1.7 Innerer Bezugsrahmen – oder: Was ist Wirklichkeit?

2.1.8 Begegnung und Dialog

2.1.9 Gruppe und Gesellschaft

2.1.10 Herausforderungen

2.2 Grundbedürfnisse und weitere Motivationsfaktoren

2.2.1 Defizit- und Wachstumsmotivation

2.2.2 Menschliche Grundbedürfnisse sind zukunftsorientierte Motivationsfaktoren

2.2.3 Entwicklungskreisläufe für eine psychisch gesunde oder eine psychisch gestörte Persönlichkeit

2.3 Der Umgang mit Schule aus Schülerperspektive: zwischen Leistungserbringung, sozialer Akzeptanz und Selbstakzeptanz

2.4 Das personzentrierte Beziehungsangebot

2.4.1 Empathie – einfühlendes, nicht wertendes Verstehen

2.4.2 Positive Beachtung und Nicht-an-Bedingungen-gebundene-Wertschätzung

2.4.3 Echtsein – Kongruenz

2.4.4 Über den Zusammenhang der drei Haltungen und Aktivitäten in der Kommunikation

2.4.5 Ergänzende Methoden und Konzepte: Basiswissen Kommunikation

2.4.6 Förderliche Erfahrungen bei Gesprächspartnern

2.5 Personzentrierte Kompetenzen fördern die soziale Kultur in der Schule und verbessern das Schul- und Klassenklima

2.6 Schwierigkeiten und Fehleinschätzungen bezüglich der personzentrierten Kommunikation

3 Konflikte in der Schule

3.1 Ein Konfliktmodell für die Schule

3.2 Entwicklung von Konfliktkompetenzen

3.2.1 Die entscheidende Frage:

Wer

besitzt

welches

Problem?

3.2.2 Die partnerschaftliche Methode der Konfliktregelung

3.3 Die Arbeit an und mit zwischenmenschlichen Beziehungen

4 Befunde aus wissenschaftlichen Untersuchungen zur Wirksamkeit des Personzentrierten Ansatzes

5 Anwendungsbereiche des Personzentrierten Ansatzes in der Schule: Auf dem Weg zur wertschätzend und zielorientiert arbeitenden Organisation

5.1 Wertschätzung als Grundlage für die Arbeit in der Schule

5.1.1 Die Grundideen des wertschätzenden Organisierens

5.1.2 Schritte zur Förderung wertschätzenden Organisierens

5.1.3 Wertschätzendes Arbeiten in Gruppen

5.1.4 Von der Beurteilung und Bewertung zur Wertschätzung

5.1.5 Schule und ihre Umwelt

5.1.6 Die Grenzen der Wertschätzung

5.2 Psychohygienische Effekte einer »Gesunden Schule«

5.2.1 Programme zur Erhaltung und Verbesserung der psychischen Gesundheit von Schülern

5.2.2 Maßnahmen zur Erhaltung und Verbesserung der psychischen Gesundheit von Lehrkräften

5.2.3 Die positiven Auswirkungen personzentrierter Kommunikation

5.3 Qualifizierung und Professionalität

5.3.1 Die Berufswahlmotivation von Studienanfängern

5.3.2 Die Entwicklung von Professionalität im Lehrerberuf

5.3.3 Guter Unterricht und Professionsstandards

5.3.4 Lehrerprofessionalität und Schulentwicklung

5.3.5 Fort- und Weiterbildung in der 3. Phase des Lehrerberufs

5.4 Die Rolle der Schulleitung: Personalentwicklung

5.4.1 Personalführung – gestaltende Eingriffe in den Schulentwicklungsprozess

5.4.2 Personalförderung

6 Schlusswort und Ausblick

7 Kommentierte Literatur für Fortbildung und Training in personzentrierter Kommunikation

Literatur

Meine Motivation, dieses Buch zu schreiben

 

 

 

 

In den Jahren 1974 bis 1978 absolvierte ich während meines Psychologiestudiums an der Universität Münster/Westfalen eine Weiterbildung in personzentrierter Beratung und Gesprächspsychotherapie. Die Grundausbildung fand an der Universität statt, die Aufbaustufe wurde von den Ausbildungsteilnehmerinnen und -teilnehmern1 selbst organisiert. Im Jahre 1976 wurde die GwG (heute: Gesellschaft für wissenschaftliche Gesprächspsychotherapie und personzentrierte Beratung e. V.) mit Sitz in Köln gegründet, die auch heute noch der größte Fachverband für Gesprächspsychotherapie und personzentrierte Beratung ist und in die ich im Gründungsjahr eintrat. Durch die GwG wurden schon damals Weiterbildungen etabliert und koordiniert. Die Aktivitäten des Verbandes richten sich auf die Erforschung und Verbreitung des Personzentrierten Ansatzes. Er vermittelt personzentrierte Kompetenzen in sozialen Berufsfeldern wie Supervision, Coaching, Krisenintervention, Sozialarbeit und Sozialpädagogik etc. (siehe die Ausbildungsangebote der GwG unter www.gwg.org). Auch für den Bereich Schule besteht seit vielen Jahren ein Curriculum. Im Jahre 1983 erhielt ich mein Zertifikat »Ausbilder in Klientenzentrierter Gesprächsführung«.

In den Jahren 1976 bis 2004 arbeitete ich als Schulpsychologe im niedersächsischen Landesdienst. 1978 wurde in Niedersachsen die »Weiterbildung zum Beratungslehrer/zur Beratungslehrerin« etabliert, und ich hatte Gelegenheit, an der Entwicklung und Gestaltung des Curriculums mitzuwirken, häufig in enger Kooperation mit meinem Freund und Kollegen Bernd Jötten. Das personzentrierte Konzept wurde wesentlicher Bestandteil dieser Weiterbildung.

Im Laufe meiner Berufsjahre habe ich zahlreiche Fort- und Weiterbildungen zur Vermittlung personzentrierter Kompetenzen in der Schule durchgeführt. Auch in den Curricula der Schulleiterfortbildung in Niedersachsen fanden personzentrierte Kompetenzen ihren Platz und wurden in Rollenspielen trainiert. Daneben führte ich Weiterbildungen in personzentrierter Beratung für Angehörige anderer sozialer Berufe durch.

Meine Erfahrungen mit verschiedenen beruflichen Gruppierungen im Schulbereich (Lehrkräften, Schulleitungen, Seminarleitern, Dezernenten, Inspektoren, Schulsozialarbeitern) haben bei mir das Bild entstehen lassen, dass es der überwiegenden Mehrzahl dieser Personen außerordentlich schwer fällt, wirklich empathisch zu sein und mit sozialen Beziehungen konstruktiv umzugehen und dies, obwohl meist ein Bewusstsein dafür besteht, dass gute Beziehungen sowohl zu den Schülern als auch unter Erwachsenen wesentlich sind. Ich bin immer wieder erstaunt, wie wenig diese Kompetenzen vorhanden sind. Häufig waren einige der im Folgenden beschriebenen Konzepte zwar theoretisch bekannt, es fehlte jedoch an den Fähigkeiten und Fertigkeiten zur Umsetzung.

Meine Erfahrungen haben mich veranlasst, dieses Buch zu schreiben in der Hoffnung, einen Beitrag zu leisten zur Gestaltung förderlicher sozialer Beziehungen in der Schule, zur Konfliktregelung, zur Reduzierung von psychischen Belastungen am Arbeitsplatz und nicht zuletzt zu einer konstruktiven Persönlichkeitsentwicklung bei Schülern und für deren besseres inhaltliches Lernen.

 

 

 

1     Anmerkung: Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird i. d. R. auf die Nennung beider Geschlechtsformen verzichtet. Selbstverständlich ist das jeweils andere Geschlecht stets mit eingeschlossen. An einzelnen Stellen werden jedoch auch beide Geschlechter genannt.

Danksagung

 

 

 

 

Den Anstoß zum Schreiben dieses Buches erhielt ich bei einem Treffen der »AG-Schule« im Januar 2014 in Köln in der Geschäftsstelle der GwG. Der Vorstand fragte an, ob die AG ein Buch zum Thema »Personzentrierte Beratung und Schule« erstellen könne.

Ich beriet mich daraufhin mit Norbert Guss, Schulinspektor in Niedersachsen, mit dem ich seit vielen Jahren zusammenarbeite. Er ermutigte mich zu diesem Projekt und begleitete es aktiv. Dafür danke ich ihm.

Mein Dank geht auch an Gerhard H. Schäfer, Direktor einer Gesamtschule. Er hat mich bei Durchsicht des Textes auf Lücken, Unverständlichkeiten und Ergänzungsmöglichkeiten hingewiesen.

Herbert Schiffmann, Schulamtsdirektor, und Reinhold Schmitz-Schretzmair, Schulpsychologe, haben die inhaltliche Akzentuierung anfangs mit mir diskutiert, wofür ich ihnen danke.

Des Weiteren danke ich Barbara Kievel, Studienrätin, für die engagierte Durchsicht der ersten Fassung des Manuskripts und für ihre Rückmeldungen, Hanna Sundermann, Lehrerin, und Peter Warlimont, Grund- und Sekundarschullehrer, für deren Anmerkungen zum Manuskript und Nena Schröder, Diplom-Sozialpädagogin und Lehrcoach (DVNLP), für Gespräche über das Konzept dieses Buches und dessen Inhalt.

Am meisten aber danke ich meiner Frau Barbara Heilig, Lehrerin, die das Projekt liebevoll begleitet und aktiv unterstützt hat.

Vorwort

 

 

 

 

Lehrkräfte und Schulleitungen stehen heute stark unter Druck, nicht nur durch die ständige hohe soziale Beanspruchung in der Ausübung ihres Berufes, sondern auch angesichts der Ergebnisse der großen Schulstudien (PISA, TIMMS, IGLU u. a.) und den daraus abgeleiteten Forderungen nach mehr Effektivität, die durch Maßnahmen und Programme der Schulentwicklung erreicht werden soll. Dadurch entsteht auf Seiten der Lehrkräfte häufig das Gefühl, selbst auf dem Prüfstand zu stehen, den bisherigen Ansprüchen nicht genügt zu haben und nun den »Schwarzen Peter« zugeschoben zu bekommen. Lehrer erleben Schulentwicklung häufig nicht als ein von ihnen selbst gewünschtes und initiiertes Vorhaben, sondern als eine durch den Dienstherrn erzwungene und von einigen Wissenschaftlern, Schulentwicklungsplanern und Fachleuten propagierte Maßnahme, die ihre direkte pädagogische Arbeit mit den Schülern entwertet. Diese Vorgaben scheinen eher Ausdruck für ein erhebliches Misstrauen zu sein, das den Lehrkräften entgegengebracht wird. So entwickelt sich manches Projekt zur Scheinaktivität, die auf äußere Wirkung abzielt und wenig mit der konkreten Arbeit mit Schülern zu tun hat (z. B. Erarbeitung eines Schulprofils, Erstellung eines Leitbildes im Internet, einige Maßnahmen zur Qualitätssicherung). Bei Schulleitungen und Lehrkräften bleibt Verdruss zurück, sowohl gegenüber dem Dienstherrn als auch gegenüber der eigenen Person darüber, eine Anweisung befolgt zu haben, die man für die praktische Berufsausübung für nutzlos erachtet. Durch diese mangelnde Passung von Anweisung und deren Erfüllung wird die Glaubwürdigkeit von Lehrkräften untergraben. Sie handeln nicht mehr in Übereinstimmung mit ihrer Überzeugung, d. h., sie sind nicht mehr kongruent. Dieses Vorgehen wird häufig als Kränkung empfunden.

Schulentwicklung führt daher weniger zur Leistungssteigerung, sondern vielmehr zur Erschöpfung. Die Kollegien sind häufig ausgepowert und begegnen den Vorgaben »von oben« mit Skepsis und Distanz. Hinzu kommt, dass in vielen Schulen die Beziehungen innerhalb der Kollegien, aber auch zwischen Kollegium und Schulleitung belastet sind. Schulleitungen selbst stehen unter hohem Erwartungsdruck und fühlen sich verpflichtet als »Change-Agents« in ihrer Schule Maßnahmen durchzusetzen. Nicht selten werden auf diese Weise unnötige Fronten gebildet und Spannungen zwischen Schulleitungen und Kollegien provoziert.

Es gibt jedoch auch positive Erfahrungen in Schulen, z. B. wenn es Kollegien gelingt, in Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Schulwirklichkeit zu gemeinsamen Perspektiven und Verabredungen zu kommen. Dazu braucht man aber nicht notwendigerweise ein elaboriertes Schulentwicklungsprogramm. Vielmehr sind vor allem konstruktive Kommunikationsformen, positive menschliche Beziehungen und eine lernfreundliche Atmosphäre notwendig, die von den beteiligten Menschen selbst geschaffen werden. Nach Oswald (1995, 1996) spielen vor allem die Sichtweisen und die emotionale Verfassung der Lehrkräfte und Schulleitungen für das Gelingen von Schulentwicklung eine Rolle.

Angesichts der Instrumente der »neuen Steuerung« des Schulsystems und in Folge der immer wiederkehrenden Reformen richtet sich der analytische Blick stark auf die Schülerleistungen, den »Output«. Die steigende Zahl der Leistungsüberprüfungen führt dazu, dass Lehrer ihre Schüler vorrangig unter dem Gesichtspunkt von Leistung, Lernergebnissen, Noten, Arbeitsdisziplin etc. betrachten. Dadurch geraten jedoch wichtige, für das fachliche Lernen sowie die Leistungsfähigkeit und die Leistungsbereitschaft der Schüler förderliche Faktoren aus dem Blick und können nicht zur Wirkung kommen.

Denken, Lernen, Fühlen und Handeln stehen in einem engen gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis. Soll eine Absicht in eine Handlung münden, wird dies durch positive Gefühle deutlich unterstützt. Neigt jemand hingegen zu Mutlosigkeit und bedrückter Stimmung, so ist er nicht nur bezüglich der Verwirklichung seiner Absichten eingeschränkt, sondern hat auch nur einen geringen Kontakt zu seinen bisherigen Lebenserfahrungen (episodisches Gedächtnis, s. Kuhl 2001, 154), d. h., er »fühlt« sie nicht. Durch positive Gefühle wird Denken, Lernen und Handeln jedoch wesentlich gefördert. Im Wissen um diese Zusammenhänge ist es notwendig, diese Bereiche in der Schulwirklichkeit zur Geltung kommen zu lassen. Grundlage dafür muss ein Verständnis davon sein, wie der Mensch denkt, fühlt und sich selbst steuert. Dazu gehört die Auseinandersetzung mit dem eigenen Menschenbild. Dieses bestimmt, wie wir anderen gegenübertreten, wie wir sie behandeln und wie wir unsere Beziehungen zu ihnen gestalten. Das bezieht die eigene Person mit ein, da wir konkrete Vorstellungen davon haben, wie wir selbst von anderen behandelt werden möchten.

Jeder Mensch hat ein deutliches Gespür dafür, ob eine andere Person ihm gegenüber angenehm oder unangenehm, förderlich oder beeinträchtigend, gewährend oder einschränkend etc. ist. Aus ethischen Gründen ist daher ein Menschenbild zu wünschen, das davon ausgeht, dass andere Personen grundsätzlich in gleicher Weise bewusstseins- und erkenntnisfähig sind wie man selbst und dass sie dementsprechend zu respektieren sind (Identität in der Selbst- und Fremdanwendung von Menschenbildern). Dies lässt sich durch die goldene Regel des menschlichen Umgangs beschreiben: Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu (siehe auch Kategorischen Imperativ von Kant).

Im vorliegenden Buch gebe ich zunächst einige Hinweise auf ein Menschenbild, das aus den Entwicklungen der Humanistischen Psychologie hervorgegangen ist. Hier wird vor allem das Konzept des Personzentrierten Ansatzes (PzA) wiedergegeben, das bereits in den 1950er Jahren von Carl Rogers formuliert und in Deutschland seit den 1960er Jahren von Reinhard und Annemarie Tausch ausführlich erforscht wurde. Im Mittelpunkt stehen dabei die Begriffe »Person, Aktualisierungstendenz, Selbst, Erleben, Beziehung« u. a. Beschrieben werden wichtige innerpsychische Bedürfnisse und Motivationsfaktoren, deren Zusammenwirken menschliches Fühlen und Handeln bestimmen. Ein Wissen um diese Faktoren führt dazu, Menschen anders wahrzunehmen und ihnen auf eine andere Art und Weise zu begegnen.

Anschließend beschreibe ich die Grundbedürfnisse, wie sie jeder Person zu eigen sind. Hierzu gehören das Bedürfnis nach konstruktiver Selbstentfaltung (Aktualisierungstendenz), das Bedürfnis nach Sicherheit, nach Achtung und Wertschätzung durch andere, nach Selbstachtung, nach tiefem Verstandenwerden etc. Es werden kurz positive (gesunde) und negative (gestörte) Kreisläufe innerpsychischer Entwicklung angesprochen, deren Ablauf davon abhängt, wie stark die Grundbedürfnisse erfüllt werden.

In Abschnitt 2.4 geht es um den praktischen Teil des Personzentrierten Ansatzes, nämlich um die besondere Art der Gestaltung förderlicher zwischenmenschlicher Beziehungen. Hier ist die Beziehung selbst das Mittel für Entfaltung, für inneres Wachstum und für das Lernen von Personen. Für den Menschen, der in sozialen Systemen, Gemeinschaften und Gruppen eingebunden lebt, ist es ganz selbstverständlich, sich als »in Beziehung« zu verstehen. Dieses In-Beziehung-Sein ist etwas äußerst Alltägliches. Aber nur Wenige denken genauer darüber nach, was denn die Merkmale dieser Beziehung sind. In der personzentrierten Kommunikation geht es um eine bestimmte Art der Beziehung, nämlich darum, der anderen Person als Person zu begegnen. Mit dieser Begegnung sind nicht einzelne außergewöhnliche Momente gemeint, vielmehr geht es um ein grundlegendes Beziehungsverständnis, das beinhaltet, die Eigenart der anderen Person zu akzeptieren und sich von ihr berühren zu lassen. Es konkretisiert sich in den Grundhaltungen von Kongruenz, Empathie und Wertschätzung und ist von Nicht-Direktivität geprägt. Übertragen auf die Schule und insbesondere auf die Arbeit mit Schülern bedeutet dies: Die Beziehung zwischen Lehrkräften und Lernenden verändert sich und zwar derart, dass die Verantwortlichkeiten für beide Seiten klarer ins Bewusstsein treten und zugleich der zwischenmenschliche Umgang miteinander partnerschaftlicher wird. Natürlich bleibt es Aufgabe der Lehrkräfte, einen qualifizierten Unterricht anzubieten (vgl. Abschnitt 5.3), gleichzeitig aber sind die Schüler gefordert, dieses Angebot anzunehmen. Dies gelingt nicht allen Schülern in gleicher Weise. Sie sind z. B. oft mit ihren Gedanken woanders oder mit belastenden Gefühlen beschäftigt. Häufig haben sie auch andere emotionale oder motivationale Hemmnisse oder bringen den Lerninhalten Desinteresse entgegen. Durch das Beziehungsangebot des Personzentrierten Ansatzes werden Schüler deutlich besser emotional erreicht und in ihrer Besonderheit angesprochen, so dass sie sich leichter am sozialen Prozess des Unterrichts beteiligen können, zugänglicher und kreativer werden und wieder in Kontakt mit ihrem Potential kommen. Die Beziehung ändert sich dadurch folgendermaßen:

Abb. 1: Schülerzentrierte Kommunikation und Lernentwicklung

Es entsteht eine stärker schülerzentrierte und eher beratende Beziehung, die allerdings konfliktreich sein kann und es in der Realität auch häufig ist. Für diesen Fall hat das Konfliktmodell Bedeutung, das in Abschnitt 3 dargestellt wird. Entscheidend ist, dass Lehrkräfte bei allen Unregelmäßigkeiten personzentrierte Beziehungen leben.

Die personzentrierte Kommunikation entwickelt ihre konstruktiven Wirkungen nicht nur im Zusammenhang mit Einzelnen, sondern auch in Gesprächen und Beziehungen innerhalb von Gruppen, Gemeinschaften und Kollegien (siehe Abschnitt 2.4). Der Einsatz personzentrierter Kompetenzen verbessert das Schulklima, die Arbeitssituation im Unterricht sowie die Zusammenarbeit im Kollegium und mit den Eltern. Die emotionale Belastung aller Beteiligten kann sich dadurch deutlich verringern. Die Anwendung personzentrierter Prinzipien ist daher ein Beitrag zur Psychohygiene und zur Gesundheitsförderung in der Schule.

In der Diskussion um Schulentwicklung stehen fachliche sowie methodische, didaktische und unterrichtsorganisatorische Themen im Vordergrund. Im vorliegenden Buch geht es vornehmlich um die personzentrierte Kommunikation als spezielle Kompetenz von Lehrenden, die dazu führt, Schüler emotional, motivational und in ihrer Persönlichkeitsentwicklung zu fördern. Seltener gerät in den Blick, dass Schüler in Bezug auf die Schule ihre eigenen Sichtweisen und Probleme haben. Für sie kann Schule Freude, aber auch Zwang sein. Sie müssen mit den Lehrkräften und mit ihren Klassenkameraden auskommen. Im positiven Fall haben sie die Unterstützung der Eltern bzw. der Erziehungsberechtigten, häufig fühlen sie sich aber auch durch deren Wünsche und Ansprüche unter Druck gesetzt. Für sie kommt es darauf an, innerpsychisch im Gleichgewicht zu sein bzw. dieses immer wieder herzustellen. Ein Schüler, der sich selbst akzeptiert und innerlich bei sich ist, kann mit anderen sozial verbunden sein, sich aber auch von diesen, wenn erforderlich, abgrenzen und sich einer Sache zuwenden und lernen. Es ist eine für Schüler nicht immer leicht zu bewältigende Aufgabe, einen Ausgleich herzustellen und ein von Selbstakzeptanz geprägtes Selbstverständnis zu erreichen. Personzentrierte Kompetenzen von Lehrkräften können hier förderliche und heilende Wirkungen entfalten. Diese Dynamik wird in Abschnitt 2.3 beschrieben.

Die gute Beziehung zwischen Lehrer und Schüler sowie der Einbezug emotionaler Bereiche in Erziehung und Unterricht werden von vielen pädagogischen Ansätzen für wichtig erachtet. Auch gibt es unter den psychologisch begründeten Konzepten andere Methoden, die sich durchaus als fruchtbar und nützlich für die Arbeit im Klassenraum erwiesen haben (z. B. Kooperative Verhaltensmodifikation, Neurolinguistisches Programmieren (NLP), Systemtheorie u. a.). Die Güte und die Wirksamkeit dieser Verfahren werden jedoch bezüglich ihrer Anwendung in der Schule kaum wissenschaftlich überprüft.

In den letzten Jahrzehnten wurden zahlreiche Einzelstudien zur personzentrierten Kommunikation und ihrer Wirkung auf Schüler durchgeführt, die wiederum neben anderen pädagogischen Programmen und Methoden ihren Platz in großen Metastudien fanden. John Hattie (2014) hat die Einflussfaktoren auf gelingende Schülerleistungen untersucht und dabei die unterschiedlichsten Modelle des Lehrens und Lernens einbezogen. In seiner umfangreichen Metaanalyse, in der er fast den gesamten weltweit verfügbaren Wissensstand in Bezug auf die Bedingungen schulischer Leistungen zusammengefasst hat, stellt er fest, dass nahezu jedes pädagogische Vorgehen Effekte auf die Lernenden hat. So kann sich demnach jede Methode als erfolgreich bezeichnen. Dieses dürfte auch für die oben angeführten psychologisch begründeten Ansätze in der Schule gelten. Hattie (2014) hebt jedoch hervor, dass eine personzentrierte Haltung der Lehrkräfte mit den entsprechenden Verhaltensweisen einen exzellenten Effekt auf das Lernen und die Persönlichkeitsentwicklung von Schülern hat. In Abschnitt 4 werden die Ergebnisse der großen Metastudien kurz dargestellt.

In Abschnitt 5 beschreibe ich verschiedene ausgewählte Anwendungsbereiche des Personzentrierten Ansatzes in der Schule.

Abschnitt 5.1 befasst sich mit Fragen des Schulklimas und des wertschätzenden Umgangs miteinander. Wertschätzende Arbeitsformen scheinen in der Schule schwer erreichbar zu sein. Lehrkräfte fühlen sich häufig von mehreren Seiten unter Druck gesetzt und geraten unter Stress, so dass gegenseitiger Respekt, Anerkennung und ein wertschätzender Umgang miteinander immer wieder auf der Strecke bleiben. In vielen Schulen besteht hierfür kein Problembewusstsein.

Schule ist eine komplexe soziale Veranstaltung, in der man – wie woanders auch – Missachtung, aber auch Achtung und Wertschätzung erfahren kann. Während Missachtung psychisch schwächend wirkt, werden Beachtung und Wertschätzung als stärkend und psychisch nährend empfunden und sind somit sehr gut geeignet, den schulischen Stress zu mindern und ausgleichend zu wirken. Die Grundideen des wertschätzenden Organisierens werden hier deshalb kurz vorgestellt.

Der nächste Abschnitt 5.2 behandelt das Thema »Gesunde Schule«. Dabei geht es nicht um Fragen der physischen Sicherheit oder des gesunden Frühstücks in der großen Pause, sondern vielmehr um die Gestaltung einer sozialen Kultur, die geeignet ist, die psychische Gesundheit der Beteiligten zu stärken und somit das schulische Lernen zu fördern. Psychische Gesundheit steht damit im Dienst der Schule. Sie ist nicht nur Ziel spezieller Interventionen, sondern wird als grundsätzliche Komponente betrachtet, die die Schule maßgeblich in ihrem Bildungs- und Erziehungsauftrag unterstützt.

Seit Jahrzehnten besteht eine intensive Diskussion darüber, wie die Qualifizierung von Lehrkräften in der 1., 2. und 3. Phase der Lehrerbildung durchgeführt werden sollte. Schon im Vorfeld des Hochschulstudiums (1. Phase) stellen sich Fragen nach den Vorerfahrungen, den Leistungsvoraussetzungen und Persönlichkeitsfaktoren der Studienanfänger. Nach Abschluss der 2. Phase in den Lehrer- bzw. Studienseminaren beginnt die eigenständige berufliche Tätigkeit als Lehrer in einer Schule. Aber erst in der Ausübung ihres Berufes über viele Jahre hinweg entwickelt sich Professionalität in ihrer gesamten Breite. Dabei erweisen sich Fort- und Weiterbildungen als unverzichtbar für die Erhaltung und Fortschreibung der Professionalität. Die professionelle Entwicklung bedarf neben der Erweiterung des fachlichen Wissens der Anregung zur Selbstauseinandersetzung sowie des Erwerbs von Kompetenzen im kommunikativen und sozialen Bereich. Dies sind wesentliche Bestandteile des Personzentrierten Ansatzes (vgl. Abschnitt 5.3). Zu wünschen wäre, dass zukünftige Lehrer diese Kommunikations- und Selbstkompetenzen bereits zu Beginn ihres Studiums erwerben und im Laufe ihrer beruflichen Tätigkeit weiter entwickeln.

Abschnitt 5.4 behandelt die Rolle der Schulleitung in Bezug auf Personalführung und Personalförderung. In Folge der Ergebnisse der Schulstudien PISA u. a. gerieten nicht nur die Lehrmethoden ins Blickfeld, man stellte sich auch die Frage, inwiefern Personalführung ein wichtiger Innovationsfaktor für Schulentwicklung sein kann. Dabei steht die Diskussion über ein angemessenes Führungsverständnis in der Schule im Mittelpunkt. Auf der Basis einer ganzheitlichen Sichtweise schlagen neuere Führungskonzepte eine »dialogische Führung« vor, die entsprechende Kommunikationsformen voraussetzt und auf einem eher partnerschaftlichen Kooperationsverhältnis zu den Personen beruht, die an Schule beteiligt sind. Personalförderung dagegen wendet sich an einzelne Lehrkräfte und dient dazu, deren Potentiale zu erkennen und zu fördern. Hierzu werden verschiedene Maßnahmen vorgeschlagen. Alle erfordern ein differenziertes Repertoire an kommunikativen Kompetenzen.

In verschiedenen Kapiteln führe ich Beispiele zu den jeweiligen Themen an. Dieses Buch bietet jedoch kein detailliertes Übungs- und Trainingsprogramm zum Erwerb personzentrierter kommunikativer Kompetenzen, was den Umfang dieser Arbeit bei weitem überschreiten würde. Ich gebe am Ende dieses Buches jedoch einige Hinweise auf Fortbildungsmöglichkeiten und auf Bücher, die ausdrücklich als Übungs- und Trainingsprogramm angelegt sind. Diese finden in Fort- und Weiterbildungen Anwendung, sind aber auch zum Selbststudium geeignet. Allerdings ist einschränkend darauf hinzuweisen, dass kommunikative Kompetenzen und insbesondere die personzentrierte Kommunikation mit ihren Verhaltensmerkmalen von Empathie, Wertschätzung und Echtheit/Kongruenz nicht allein aus Büchern erlernt werden können. Dazu bedarf es der lebendigen Auseinandersetzung mit sich selbst in Anwesenheit von lernenden Anderen und der persönlichen Erfahrung in der Anwendung und Wirkung dieser Kommunikationsform.

1          Einleitung

 

 

 

1.1       Bedingungen und Anforderungen der Gegenwartsgesellschaft

Der Personzentrierte Ansatz ist ein wichtiger Bestandteil der Humanistischen Psychologie, die neben der Verhaltensmodifikation und der Psychoanalyse die dritte Kraft unter den psychologischen Richtungen darstellt. In den sechziger und siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts hat dieser Ansatz viel Anerkennung und Verbreitung gefunden. Obwohl der Personzentrierte Ansatz die psychologische Beratung in ihren verschiedenen Anwendungsfeldern sowie die pädagogische Arbeit in Schulen und in der Erwachsenenbildung nachhaltig geprägt hat, leidet er unter einem schwachen Image, da er häufig als veraltet angesehen wird. Es stellt sich die Frage, welche Bedeutung der Ansatz dennoch heute für die pädagogische Arbeit hat.

Der Personzentrierte Ansatz hat diejenige Haltung differenziert beschrieben, die Grundlage für die Gestaltung von Kontakt, Begegnung, Kommunikation und Kooperation in allen gesellschaftlichen Bereichen ist. Seine Wirksamkeit zeigt sich nicht nur im Kontext professioneller Berufsausübung, sondern auch im öffentlichen und privaten Bereich. Die personzentrierte Haltung schafft ein positives, konstruktives Klima in jeder zwischenmenschlichen Beziehung, gestaltet somit die soziale Wirklichkeit und macht sie humaner.

Will man die Frage nach der Bedeutung und Aktualität des Personzentrierten Ansatzes beantworten, scheint es sinnvoll, Bezug zu nehmen auf jene Analysen der Gegenwartsgesellschaft, die die Veränderungen und Herausforderungen unserer Zeit für die Lebensgestaltung der Menschen beschreiben. Diese gesellschaftlichen Verhältnisse sind gekennzeichnet sowohl durch Komplexität und Intransparenz als auch durch die Gleichzeitigkeit von Kontinuität und schnellem Wandel. Dazu gehören u. a.

•  Veränderungen der Arbeitswelt durch Auflösung von Normalbiographien, Deregulierung und Flexibilisierung, Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse, Globalisierung;

•  Pluralisierung von Lebensformen durch Bedeutungswandel von Partnerschaft, Ehe und Familie, neue Formen des Zusammenlebens, ein großes Ausmaß an Trennungen und Scheidungen;

•  Veränderungen im Geschlechterverhältnis, Probleme der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Forderung nach Geschlechtergerechtigkeit;

•  Verschärfung sozialer und insbesondere materieller Ungleichheiten, Ausgrenzung und Marginalisierung in drastischer Weise;

•  Zunahme des Lebens in virtuellen Welten: Internet, soziale Netzwerke, Computerspiele, Filme, Unterhaltung, aber auch IT-Learning, internationale Kommunikation und elektronische Überwachung;

•  Durchlässigkeit der Grenze zwischen Arbeit und Privatleben durch ständige Erreichbarkeit;

•  Fortschreiten von Migration und Entwicklung einer multikulturellen Gesellschaft, zum Teil auch der Entwicklung von Parallelgesellschaften.

Schon diese wenigen Hinweise zeigen, dass die Veränderungen sowohl mit Individualisierung als auch mit der Auflösung bisher Halt gebender Strukturen einhergehen. Dies bedeutet für die Einzelperson eine Zunahme der Selbststeuerung und Selbstverantwortung bezüglich der eigenen Orientierung und der Entscheidungen sowie die Kunst, sich immer wieder selbst zu erfinden. Erforderlich ist eine aktive Haltung gegenüber dem eigenen Leben, die das Ich zum Zentrum hat, ihm Handlungschancen und Möglichkeiten eröffnet und ihm auf diese Weise erlaubt, die auftauchenden Gestaltungsmöglichkeiten zu nutzen und umzusetzen, d. h., die Menschen gewinnen neue vielfältige Handlungsoptionen. Dabei ist allerdings jede Person mehr oder weniger auf sich selbst gestellt und kann nur in Bezug auf die eigenen Erfahrungen und Lebensentwürfe eine Wahl treffen. Es bestehen vielseitige Möglichkeiten und Freiheiten, die zugleich Gestaltungs- und Entscheidungszwänge sind und die erhebliche, individuell zu tragende Risiken in sich bergen. Neue Unübersichtlichkeiten, Umbrüche und Veränderungen können verunsichern, ängstigen und Stressreaktionen verursachen. Deshalb ist heute mehr denn je eine Persönlichkeit gefragt, die sich ihrer selbst sicher ist, die weiß, was sie kann und wozu sie fähig ist, und die lebt, was sie in ihrem Inneren ist.

Das aktuelle Selbst ist keine fertige Gestalt, sondern befindet sich in einem anhaltenden Prozess des Werdens (vgl. Keupp 2002, 279). Je weniger kulturelle Normen eine Richtschnur darstellen, desto mehr ist jeder Einzelne darauf angewiesen, in sich selbst ein Gefühl von Stimmigkeit und damit einen Kompass zu finden, der ihm Orientierung bieten kann. Durch die multimediale Konsum- und Kulturindustrie findet der Mensch zwar eine Vielzahl von Vorbildern, Beispielen und Angeboten, aus denen er auswählen kann, durch deren Vielfalt fühlt er sich aber auch häufig überfordert. Nur wer in sich selbst sein Zentrum findet, kann selbstbestimmt sein Leben gestalten (vgl. Keupp 2002).

Im Kontrast zu dieser allgemeinen gesellschaftlichen Perspektive ist die Stabilität im Lehrerberuf relativ hoch. Da die meisten Lehrkräfte im Beamtenverhältnis arbeiten, können sie mit einer lang andauernden Beschäftigung in einem unkündbaren Arbeitsverhältnis rechnen. Das ermöglicht ihnen, sich langfristig in ihrem Berufsfeld und damit auch in ihrem Privatleben einzurichten. Dennoch sind auch sie mit Neuerungen konfrontiert und erleben die Turbulenzen gesellschaftlicher Veränderungen im Kontakt mit Schülern, deren Erziehungsberechtigten, den kommunalen Trägern, dem Jugendamt etc. Auch die Vorgaben und Bestimmungen durch die Kultusbehörden bringen erhebliche Veränderungen, Belastungen und Irritationen in die Schule (PISA, Schulentwicklung, Evaluation, Inklusion etc.). Hier bedarf es bei Lehrern einer stabilen Persönlichkeit, die sich selbst zum Zentrum hat und die mit dem eigenen Beruf identifiziert ist. Dies beinhaltet eine verlässliche Kenntnis der eigenen beruflichen Fähigkeiten und Fertigkeiten, der Vorlieben und Interessen, aber auch der eigenen Grenzen. Das Wissen über äußere Gegebenheiten und das System Schule sowie die Einsicht in die private Welt und die eigenen Ressourcen gehören ebenfalls dazu. Erst dann können persönliche Impulse und Interessen auf der einen Seite sowie private und berufliche Handlungsmöglichkeiten auf der anderen Seite ausbalanciert werden.

Die Gegebenheiten einer unübersichtlichen, individualisierten Gesellschaft fordern also ein eher Ich-zentriertes Selbstverständnis. Gleichzeitig wird auf der anderen Seite die Bedeutung von Beziehungen als eine wichtige Kraftquelle zur Lebensgestaltung und Alltagsbewältigung gesehen. Beziehungen sind »Lebensmittel«, nur dass man heute soziale Netze und Beziehungen aktiver als früher herstellen und bewusst pflegen muss. Dies gelingt leichter mit positiven kommunikativen und dialogischen Kompetenzen. Bei der Pluralität von Werthaltungen und Orientierungen für das Zusammenleben und -arbeiten muss Vieles miteinander ausgehandelt werden. Ein Alltag mit Freiheiten und Möglichkeiten verlangt von Paaren, Familien, Arbeitsgruppen, in betrieblichen sowie schulischen und insbesondere kollegialen Kontexten eine Beziehungs- und Aushandlungsakrobatik. Im sozialen System Schule ist es erforderlich, dass die Beteiligten in der Lage sind, Unterschiede und Widersprüchlichkeiten auszuhalten. Sowohl in Bezug auf sich selbst als auch in Bezug auf Andere erweist sich das Wahrnehmen und Beschreiben von Unterschieden sowie deren Respektierung und Wertschätzung als notwendig.

1.2       Der Mensch ist Mittelpunkt

Im Folgenden stelle ich einige Grundannahmen des Personzentrierten Ansatzes vor und beschreibe deren Bedeutung für die aktive Lebensbewältigung und -gestaltung in unübersichtlichen und riskanten Zeiten. Hierbei geht es zunächst um die Philosophie und um das Menschenbild, die dem Personzentrierten Ansatz zugrunde liegen. Dabei kommt auf der einen Seite die Einzelpersönlichkeit, das Subjekt, in den Blick, auf der anderen Seite die jeweils gegebenen sozialen und gesellschaftlichen Zusammenhänge.

Ausgangspunkt meiner Überlegungen sind meine Beobachtungen, die ich in den vielen Jahren meiner Berufsausübung als Schulpsychologe mit Schülern, Lehrkräften, Schulleitungen und Schulbehörden machte. Wiederholt erlebte ich, dass die menschliche Seite in ihrer Psycho-Logik im Unterricht, in Kollegien und in Schulentwicklungsprozessen nicht angemessen berücksichtigt wird. Die offiziell verordnete und unterstützte Schulentwicklung hat nur einen eingeschränkten Ertrag und Nutzen für Schüler sowie für Lehrkräfte und Schulleitungen erbracht. Nach Untersuchungen von Schlee ist das Lern- und Arbeitsklima »nur selten von gegenseitigem Respekt, von Wertschätzung, Freude und Neugier geprägt. Eher sind Anspannung und Lustlosigkeit zu verspüren«. Nicht wenige Schüler verlassen »die Schule mit einem angeknacksten Selbstwertgefühl. Viele Lehrkräfte sind nach aufreibenden Schuljahren in ein Burnout oder in Zynismus abgerutscht« (Schlee 2014, 159). Ich möchte daher die menschliche Seite in der Schule wieder verstärkt in den Blick rücken. Dies auch, weil ich der Meinung bin, dass Schulen keine »lernenden Systeme«, »Problemlöseschulen« oder »pädagogische Handlungseinheiten« sind – Vokabeln, die im Kontext der Schulentwicklung kreiert wurden –, sondern dass in Schulen vor allem Menschen lernen, arbeiten und einen Großteil ihrer Lebenszeit verbringen. Meine Darstellung soll Anregung sein, den Unterricht und die sozialen Beziehungen in der Schule auf allen Ebenen mit Hilfe der personzentrierten Kommunikationskultur zu gestalten.

2          Der Personzentrierte Ansatz (PzA)

 

 

 

 

Personzentrierte Beratung, Begleitung und Pädagogik bieten den Menschen Unterstützung in ihrem Alltagshandeln durch Stärkung ihrer Selbstständigkeit, durch Klärung ihrer inneren und äußeren Konflikte und durch Verbesserung ihrer Fähigkeiten, sich der eigenen Ziele und Wege zu vergewissern. Im Unterschied zu einer Psychotherapie ist sie nicht vergangenheitsorientiert und heilt keine Wunden, sondern fördert und begleitet das innere Wachstum einer Person durch ein konstruktives Beziehungsangebot.

Der Ansatz wurde in den 1940er Jahren in den USA von dem Psychologen Carl Rogers entwickelt. Der Begriff »Personzentrierter Ansatz« ist eine Übersetzung des englischen Ausdrucks »person centered approach«; »approach« bedeutet so viel wie Annäherung oder Herangehensweise, der Begriff »person centered« soll ausdrücken, dass vor allem Einstellungen, die auf die Person konzentriert sind und die damit übereinstimmenden, konkreten Verhaltensweisen zu positiven Wirkungen in verschiedenen Formen der Beratung, Pädagogik und im privaten Bereich führen. Im Folgenden verwende ich die Bezeichnung »Personzentrierter Ansatz« (Kurzform: PzA), wobei die »Person« stets im Singular genannt wird.

Der Personzentrierte Ansatz wurde über viele Jahrzehnte kontinuierlich in Wechselwirkung von Theorie, Praxis und wissenschaftlicher Forschung weiterentwickelt. Ohne Praxis hätte es keine Theorieentwicklung und keine empirische Forschung geben können, umgekehrt hätte sich ohne Theorie und Forschung auch die Praxis nicht weiterentwickelt. Heute findet der PzA in vielen beruflichen Feldern Anwendung: in der Pädagogik, in der psychologischen Beratung, in der Psychotherapie, in Supervision und Coaching, sowohl in Unternehmen und Betrieben als auch in Organisationen und Verwaltungen. Es liegen zahlreiche Prozess- und Wirksamkeitsstudien vor (vgl. Auckenthaler 1998, Kriz 2003, Kunze 2003, Straumann 2001, Tausch & Tausch 1991).

Seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts entstanden in relativ schneller Folge andere psychologische Ansätze. Personzentrierte Kriterien sind dabei stets Bestandteil dieser Strömungen und Konzepte geworden. Aber je mehr Richtungen entstehen, die sich auf den PzA berufen und je mehr Methoden beanspruchen, personzentriert zu sein, desto mehr stellt sich die Frage nach den entscheidenden Merkmalen: Was ist das Einzigartige des PzA?

Anhand der Grundbegriffe »Person«, »Aktualisierungsprozess«, »Begegnung«, »Gruppe« und »Dialog« gehe ich dieser Fragestellung nach. Dabei wird sich zeigen, dass das Potential des PzA bei weitem nicht ausgeschöpft ist.

Was ist nun das Wesentliche am PzA? Zunächst ist festzustellen, dass fast alle psychologischen oder pädagogischen Orientierungen für sich in Anspruch

Abb. 2: Grundlagen des Personzentrierten Ansatzes