Schuljahr - Ulrich Knoll - E-Book

Schuljahr E-Book

Ulrich Knoll

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Beschreibung

Ein Insider erzählt über den ganz normalen Wahnsinn des Schulalltags - amüsant, kenntnisreich und überraschend. Schule ist das Megathema. In Zeiten von PISA spukt sie in den Medien herum und beschäftigt Schüler, Eltern und Lehrer. Die Fragen sind vielfältig: G8 oder G9? Dreigliedriges Schulsystem oder zweigliedriges? Frontalunterricht oder kompetenzorientiertes Lernen? Ganztagsschule oder Vormittagsunterricht? Moderne Medien oder traditionelles Arbeiten? Bildungsexperten glauben, alle Aspekte einer modernen Schule erklären zu können. Sie wissen alles und - wie bei Lehrern üblich - das angeblich sogar besser. Und doch geht es bildungsmäßig drunter und drüber. Warum? Weil hinter der ersten Wahrheit eine zweite steckt. Weil die Sicht der Eltern eine andere ist als die der Lehrer, der Schulleitung und der Schüler. Viele subjektive Interessen und Ideen der Beteiligten scheitern immer wieder am Human Factor, an Systemfehlern, Rahmenbedingungen und Unwägbarkeiten. SCHULJAHR ist eine Satire über die Schule von heute, über den Schulalltag mit all seinen Facetten, Absurditäten und Ärgernissen. Durchzogen von skurrilen Situationen und hanebüchenen Dialogen spannt sich die Handlung von der Lehrerkonferenz vor Schuljahresbeginn bis zur Zeugnisvergabe am letzten Schultag. In absurden und doch realistischen Szenen illustriert Schulleiter Knorr authentisch das Innenleben einer Schule und spart nicht mit Kritik an den hierarchischen Strukturen. Dabei machen ihm nicht nur Schüler, Lehrer und Eltern, sondern auch der hämische Hausverwalter und die hohen Herren vom Kultusministerium das Leben schwer. Konflikte bleiben nicht aus und werden mal besser, mal schlechter gelöst. Die Schule ist halt doch manchmal wie das Leben selbst: widersprüchlich, unzulänglich und von einem Hauch Scheitern begleitet. Ein Buch für alle Lehrer, Eltern und Schüler.

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Ulrich Knoll

SCHULJAHR

Der ganz normale Wahnsinn:Erlebnisse eines Schulleiters

Für Jutta, die es seit Jahrzehnten mit einem Schulmann aushält, und Christopher, der nie Lehrer werden wollte.

Alle Personen, Namen und Episoden in Schuljahr sind frei erfunden. Weder gibt es Knorr noch die anderen Charaktere noch diese Schule.

Nichts von dem, was folgt, hat jemals stattgefunden. Natürlich außer dem, was wahr ist.

(Frei nach Jean-Claude Izzo)

KAPITEL 1

Vor Schuljahresbeginn

9:59 Uhr. Knorr saß in seinem Arbeitszimmer und ordnete seine Unterlagen für die Konferenz. Zehn Meter bis zum Lehrerzimmer, eine Minute bis zur ersten Lehrerkonferenz des neuen Schuljahres. Knorr öffnete die Lehrerzimmertür nur einen Spalt und spähte vorsichtig in den Raum. Drinnen ein ungeheures Lärmen und Tosen, quasi eine Bombenstimmung, überschwängliche Begrüßungsrituale zum neuen Schuljahr, Gelächter, ja Wiehern, die üblichen Protagonisten der Fröhlichkeit in offensichtlicher Vorfreude auf die kommenden Monate, dazwischen ein paar zaghaftere Gemüter, die Neuen. 60 Lehrer, mehr als 20 neue Referendare zur Ausbildung. Es war erstaunlich und erfreulich zugleich, dass alle Anwesenden so gute Laune zu haben schienen, begann doch jetzt die Arbeit nach den Sommerferien aufs Neue. Doch Knorr wusste aus langjähriger Erfahrung, dass diese positive Grundstimmung trügerisch war und wahrscheinlich nicht lange anhalten würde, wenn das Schuljahr mit all seinen Komplikationen erst einmal ins Rollen kam.

Noch flogen Wortfetzen inmitten von Küsschen rechts, Küsschen links hin und her. Knorr glaubte alle möglichen Urlaubsorte von Nepal über Bayerischer Wald bis zu Sylt, Grand Canyon, Kalterer See und Varadero herauszuhören. In der Tat: Ein inspiriertes, gut gelauntes, lautstarkes Geschnatter erfüllte den Raum ob all der ungeheuren Ferienerlebnisse, die man da gerade hinter sich gebracht hatte und von denen man natürlich berichten wollte.

Knorr ging gemessenen Schritts zwischen den einzelnen Tischen hindurch zu seinem Stehpult. Er ordnete seine Papiere penibel, der erste Auftritt war durchaus wichtig. Freundliche Begrüßungsrufe schallten aus allen Ecken. Die Personalratsvorsitzende eilte herbei, schüttelte ihm die Hand und drückte ihre Zuversicht auf ein harmonisches Schuljahr in guter Zusammenarbeit aus. Das war schon mal erfreulich. Die Mitglieder der schulischen Incrowd, also sozusagen die staatstragenden Elemente im Lehrerkollegium, zwinkerten ihm aufmunternd zu, man kannte sich schon lange und vertraute einander. Na, das ist doch wirklich nett hier, dachte er sich.

»Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle recht herzlich zum neuen Schuljahr und freue mich, dass Sie sich nach den Sommerferien alle wieder gesund, munter und bester Stimmung am Ort des Grauens eingefunden haben …« – der seit Jahren ritualisierte Standardsatz zu Beginn wurde von den Routiniers mit wohlwollendem Gelächter quittiert. Die Neuen schauten zaghaft, wussten sie doch weder, wen sie da vor sich hatten, noch wer die netten, wer die unangenehmen Kolleginnen und Kollegen waren. Wie würde jetzt alles weitergehen? Und wieso »Ort des Grauens«? Langsam kam das Lehrerzimmer zur Ruhe, nur die eine oder andere Urlaubsanekdote und der eine oder andere Witz machten noch die Runde. Die Ecke links hinten am Fenster tuschelte wie immer und reagierte auf Blickkontakt wie ertappte Schulkinder. So kannte Knorr das seit vielen Jahren.

*

Er selbst und sein Schulleitungsteam waren schon seit zehn Tagen »im Dienst«. Vorbei waren die Jahre, in denen man zu Beginn der Ferien halbwegs beruhigt aus der Schule gehen und seine Ferien entspannt und ohne Sorgen genießen konnte, weil man wusste, welche Lehrer versetzt wurden und welche neuen Lehrer mit welchen Fächerverbindungen zum neuen Schuljahr zuverlässig zugewiesen wurden. Nur selten gab es damals personelle Komplikationen, etwa weil eine Lehrkraft den Dienst nicht antrat oder eine Kollegin ein Kind bekam. Doch die goldenen Zeiten der Planungssicherheit waren lange vorbei. Alles war sehr komplex geworden.

Aber selbst wenn das Schulleitungsteam hätte vorarbeiten wollen: Es machte keinen rechten Sinn, in den Kernzeiten der Ferien in der Schule vorbeizuschauen. Die Putzkolonnen hatten alles auf den Kopf gestellt, die Server funktionierten nicht und alle Verbindungen nach außen waren sozusagen gekappt. Eine Schule in den Sommerferien war eine äußerst trostlose Angelegenheit und stank penetrant nach Putzmitteln.

So hatte die Schulleitung zumindest ein Alibi für ausgedehnte Ferien, wenngleich mit leisen Zweifeln, ob denn alles gut gehen würde. Aber nun war das Team schon zehn Tage vor dem eigentlichen Schulbeginn vor Ort. Zehn Tage, in denen anfangs das reinste Chaos herrschte und sich keiner so recht vorstellen konnte, wie man das Ganze in Gang bringen sollte. Es hakte an allen Ecken und Enden: Einige Zuweisungen waren noch immer nicht geklärt, eine neue Kollegin sollte man sich mit einer benachbarten Schule teilen, in drei Fällen kamen Lehrer mit anderen Fächerverbindungen als den jeweils angeforderten, eine neue Kollegin trat ihren Dienst aus welchen Gründen auch immer gar nicht an, eine mobile Reserve konnte man zwar einbauen, sie würde aber wohl sowieso nach wenigen Tagen oder Wochen wieder weg sein, die Zahl der neuen Referendare änderte sich fast täglich, wegen unvermeidlicher Koppelungen gingen zahlreiche Stunden verloren, die man für Förder- und Ergänzungsunterricht gut hätte gebrauchen können und so weiter und so fort. Die Personalabteilung im Ministerium war ebenfalls in keiner beneidenswerten Situation und hatte mehr oder weniger den telefonischen Kontakt zu den Schulen eingestellt, um nicht in zahllosen Anfragen unterzugehen. So blieb ziemlich viel unklar.

Natürlich wusste Knorr, dass sich am Ende wieder alles auf wundersame Weise zusammenfügen würde, eine Melange aus Kompromissen, gesundem Menschenverstand und Trickserei. Die Konrektoren im Planungszimmer waren nicht zu beneiden. Das ganze Planspiel der Unterrichtsverteilung war ein Puzzle, das sich nie störungsfrei und reibungslos entwickeln konnte. Tagelang bastelten die Stundenplaner herum, mehrfach war das Programm abgestürzt. Immer wieder bot es wegen falscher Parameter im Sportunterricht die absurdesten Pläne an. Alles wurde von Jahr zu Jahr komplizierter, komplexer, detailversessener.

Die Rahmenbedingungen entwickelten sich widrig: große Klassen, überhaupt zu viele Schüler, nicht genügend Räume, Lehrermangel in einigen Fächern, ständig neue, ziselierte Anweisungen aus dem Ministerium, Anforderung von Unterrichtsübersichten, die man zumindest theoretisch bis ins hinterletzte Detail nachprüfen konnte. In der Praxis ging das wohl eher nicht. Man hatte im hohen Haus zwar zunehmend von jeder Schule ungeheure Datenmengen, die aber im Grunde gerade wegen ihrer Komplexität sinnlos waren. Denn bis man sie erfasst, kompiliert, analysiert und rückgemeldet hatte, war es eh schon zum konkreten Eingreifen im Fehlerfall zu spät. Das System schien immer mehr auf begründetem oder unbegründetem Misstrauen zu beruhen, führte sich jedoch mit der Datenflut selbst ad absurdum. Das gab man gegenüber der Basis, also den Schulen, natürlich nicht zu.

Neue Kollegen stellten sich vor, was zwar eine nette Geste war und von deren Interesse zeugte, in der Woche vor Schulbeginn jedoch permanente Störungen bedeutete. Knorr nahm sich trotzdem für die Neuen immer viel Zeit, um sie an die Schule heranzuführen und sie quasi als Aktivposten von vornherein einzubinden. Meist hatte er damit guten Erfolg. Die üblichen Antichambrierer tauchten auf, um ihren noch gar nicht vorhandenen Stundenplan zu optimieren oder sich kleine Vorteile zu erschleichen. Die Teilzeitler wollten wie jedes Jahr ihre ihnen eigentlich gar nicht zustehenden freien Tage am Freitag oder Montag, die Freizeitorientierten wollten keine 5. und 6. Stunde am Freitag. Es war wie jedes Schuljahr das leicht durchschaubare Szenario zu Beginn, Jahr für Jahr das gleiche kleinkarierte Spiel. Einige traten dabei durchaus vorwurfsvoll auf und schienen sich zu fragen, ob die Schulleitung wohl während der Ferien geschlafen habe, weil nun immer noch kein Stundenplan existierte. Das sagten sie zwar nicht laut, aber Knorr merkte es ihnen an, wenn sie immer wieder ihre Kreise im Planungsbüro drehten und andere von der Arbeit abhielten.

Als Knorr vor zehn Tagen zum ersten Mal wieder in sein Büro kam, war sein Schreibtisch mit Post eingedeckt: HausmeisterKlotzer hatte in der ihm eigenen, hämischen Art Hunderte wichtiger und unwichtiger Briefe, Prospekte und Päckchen genüsslich darauf verteilt, zu Pyramiden aufgetürmt und sich wohl insgeheim gedacht, dass es dem Faulenzer recht geschehe, wenn er jetzt auch wieder mal etwas zu arbeiten habe. Knorr wusste natürlich, dass der Großteil dieser Post sowieso Mist war, den er umgehend entsorgen konnte: Prospekte über Klassenfahrten, Angebote für neue Schulmöbel, Verlautbarungen der Stadtratsfraktionen und Parteien, Einladungen zu irgendwelchen Veranstaltungen. Aber da waren auch Schreiben des Kultusministeriums, die selten etwas Gutes verhießen, da waren Anforderungen von eigenartigen Statistiken, Neuregelungen zum Datenschutz, Anweisungen zum Brandschutz, da waren Stellungnahmen zu irgendwelchen schulischen Problemen, Zuweisungsschreiben und dergleichen. Ein ungeheurer Wust, dessen Systematisierung und Abbau wieder unverhältnismäßig viel Zeit und Energie kosten würde.

Und da waren Briefe von Eltern, in denen es um Wiederholung der Jahrgangsstufe, Klassenwechsel, Schmähungen von Lehrkräften und ähnliche Zumutungen ging. Knorr saß schon fast resigniert, ja in gewisser Weise konsterniert vor diesem Berg an Post und griff sich einen Brief, der ihm besonders verdächtig vorkam. Er wusste nicht genau warum, aber er hatte im Laufe der Jahre einen Blick für die problematischen Schreiben entwickelt, täuschte sich selten. Und siehe da, ein Volltreffer:

… und so teile ich Ihnen mit, dass mein Sohn Daniel im nächsten Schuljahr die achte Jahrgangsstufe Ihrer Schule besuchen wird, und zwar den Wirtschaftszweig. Leider konnten wir ihn bisher nicht anmelden, da wir mehrere Wochen in Südamerika weilten. Ich mache Sie schon jetzt darauf aufmerksam, dass Daniel ADHS hat und Legastheniker ist, zudem Dyskalkulierer. Ich gehe davon aus, dass er in den an der Schule angebotenen Förderkursen entsprechend Hilfestellung erhält. Ich werde in den nächsten Tagen, falls es meine Zeit erlaubt, bei Ihnen vorbeikommen und alles detailliert mit Ihnen besprechen. Mit freundlichen Grüßen, Hubert A., Managing Director Industrial Solutions (des ortsansässigen Weltkonzerns).

Bravo. Knorr wusste, dass er keine Lösung parat hatte. Denn erstens war der Wirtschaftszweig in der 8. Jahrgangsstufe hoffnungslos ausgebucht und die Maximalzahlen durften nicht überschritten werden. Zweitens ging es nicht, die entsprechende Klasse zu teilen und noch eine neue aufzumachen, da dafür keine Lehrerstunden mehr im Personalbudget vorhanden waren. Drittens musste man überhaupt erst mal schauen, ob noch ein paar Lehrerstunden für Förderunterricht übrig blieben. Knorr wusste nur eins: Dieser Fall würde ihn mehrere Stunden seiner Existenz kosten und das Ergebnis würde unbefriedigend sein.

Aber klar war ihm auch, dass die Eltern Ansprüche aus ihrem Vorverständnis von Schule stellten. Die Schule wiederum hatte ihre Sachzwänge, daraus erwuchs eine permanente Diskrepanz von Interessen mit entsprechendem Konfliktpotenzial. Das alles war sozusagen elementarer Bestandteil von Knorrs Schulleiterposten, seiner »Job Description«. Diese Konflikte auszuhalten, sie einzudämmen und sie – falls möglich – niederlagenfrei zu lösen, dafür wurden Schulleiter auch bezahlt. Aber genau deswegen wollten immer weniger qualifizierte Kolleginnen und Kollegen Konrektor, geschweige denn Schulleiter werden. Kein Wunder.

*

Erste Lehrerkonferenz des Schuljahres also. Knorr versuchte wie immer, diese erste Konferenz zügig, ja zackig hinter sich zu bringen. Er war gut vorbereitet: Personalsituation, Regularien, Klassenverteilung, ein bisschen was Pädagogisches, ja, auch das. Er hatte es längst aufgegeben, kultusministerielle Schreiben vorzulesen, geschweige denn zu diskutieren. Er erwähnte sie nicht einmal mehr, sondern stellte sie einfach kommentarlos ins schulinterne Netz. Sie würden gerade am Anfang nur zu mieser Stimmung führen und es würden sich sowieso nur die üblichen Verdächtigen dazu zu Wort melden, die etwas zu mäkeln und zu nörgeln hatten und denen die ganze Richtung nicht passte. Das würde später im Schuljahr sowieso oft genug vorkommen. Warum es also gleich zu Beginn noch unnötigerweise provozieren?

Knorr kürzte und kürzte, machte launige Bemerkungen zu diesem und jenem, erheischte ein paar Lacher. Zwischendurch ließ er seinen Blick ins Kollegium schweifen. Er war Routinier genug, um Situationen einzuschätzen, Launen zu erkennen, Gedanken zu antizipieren. Wenn er sich nicht völlig täuschte, dann geschah in wunderbarer Parallelität gerade in etwa Folgendes: Kollegin Schnarr schrieb emsig irgendwelche Listen vor sich hin, Kollege Gratz berichtete von seiner Besteigung des Ortler, Studienrat Brönner murmelte etwas von Reliquienschreinen, Frau Boltke schwärmte von ihrer Metabolic-Balance-Diät, mit der sie im Gegensatz zu ihren Kolleginnen angeblich schon sechs Kilo abgenommen hatte, Fachlehrer Horten las heimlich in der Zeitschrift Wild und Hund, Frau Kümmerli war kurz vor dem Einschlafen, da sie erst zwei Stunden vor Konferenzbeginn aus Südafrika zurückgekommen war, Herr Streb schaute wie immer eifrig und emsig um sich, auf eventuelle Fehler und Unschärfen der Knorr’schen Diktion wartend. Einige blickten interessiert, andere lächelten vor sich hin, man musterte sich gegenseitig und insbesondere die Neuen.

Spürbar war, dass sich die Laune der Kolleginnen und Kollegen nach der Anfangseuphorie leicht verdüsterte. Knorr vermutete, dass dies damit zu tun hatte, dass sie während der Konferenz merkten, dass sie mit der Präsentation ihrer Ferienerlebnisse ihr Pulver vorerst verschossen hatten, dass es nun Herbst wurde und damit das Wetter schlechter, man in den Ferien zu viel Geld ausgegeben und zudem zugenommen hatte und dass der Schulalltag und damit auch irgendwelcher amorphe Stress oder Ärger bevorstanden. Gab es unter diesen Umständen wirklich Grund zur Freude?

Knorr tat unbeteiligt, als ob ihn alles nichts anginge, und zog die Konferenz durch. Im Grunde wusste er in den allermeisten Fällen eh schon vorher, was wer wieder wozu sagen würde, wer sich wie verhielt und wie er selbst kleinere Hiobsbotschaften geschickt unters Lehrervolk bringen konnte, sodass man sie entweder gar nicht oder erst nach einiger Reaktionszeit bemerkte.

Zum ersten kleinen Aufreger des Schuljahres kam es, als beim Tagesordnungspunkt »Fragen, Anträge, Beschwerden, Drohungen« ein neuer Kollege, ein Herr Hettmann, urplötzlich einen Prospekt einer sogenannten »Sorpreso-Kaffeemaschine« hochhielt und das Leasing einer ebensolchen Maschine für die Lehrerküche vorschlug. Er hätte damit an einer anderen Schule »glänzende Erfahrungen« gemacht. Das Kollegium dort habe ungeheure Mengen an Sorpreso-Kaffee getrunken und dafür sogar wegen seiner nachhaltigen Vorbildfunktion beim Kaffeetrinken eine Belobigung der Sorpreso-Kaffeefabrik erhalten. Das Kollegium hier nun müsse nur zusagen, dass es pro Tag mindestens 50 Sorpreso-Kaffees trinken würde, was ja wohl »ein Kinderspiel« sei, dann wäre ein ihm bekannter »Leasing-Franchiser« oder dergleichen gerne bereit, diese wundervolle Qualitätsmaschine aufzustellen. Herr Hettmann schien Kaffee-Junkie zu sein, denn sonst hätte er sich als Neuer bei der ersten Konferenz kaum gleich so weit aus dem Fenster gelehnt.

Die Kolleginnen und Kollegen guckten verdutzt. Das Angebot rief umgehend den Chef-Ökologen, Umweltaktivisten und Gutmenschen Studienrat Bleyer auf den Plan. Ob es sich dabei denn um Fair-Trade-Kaffee handle, wollte er mit besorgter Miene wissen. Frau Wunderlich schrie von hinten links, man solle lauter reden und wieso dies ein »Vertreterkaffee« sei. Die Mitglieder des hochintellektuellen Mathematiker-Tisches grinsten süffisant beziehungsweise rollten mit den Augen.

Wie sollte das überhaupt gehen? Wenn nun 30 Lehrkörper in der 20-minütigen Pause einen Sorpreso-Kaffee aus der Sorpreso-Kaffeemaschine trinken wollten, dann müssten sie nacheinander jeweils ein Pad einlegen, das Wasser durchlaufen lassen, das dauerte pro Pad circa 30 Sekunden, das bedeutete … Sie rechneten angestrengt herum, kamen aber zu keinem Ergebnis, außer dass die Pause irgendwie gefährdet war.

Offenkundig hatte die Konferenz ihre wahre Bestimmung, ihren wahren Sinngehalt nunmehr gefunden. Munter wogte die Debatte auf und ab, und Knorr freute sich, da dieses ad hoc aufs Tableau gebrachte Thema alle Energien, allen Kampfgeist auf sich zog. Damit hatte er vorerst eine Ruhepause. Er lauschte, auf sein Rednerpult gelehnt, für ein paar Minuten dem bunten Gerede. Er wusste, dass es nicht mehr lange, maximal zwei Minuten, dauern würde, bis Studienrätin Waddel ihre mächtige Stimme erheben würde, dahin gehend, dass die Lehrerküche sowieso ein einziger Saustall sei und dass sie dort erst kurz vor Konferenzbeginn verschimmelte Marmelade, stinkende Wurstsemmeln und ausgelaufene und verrottete Marinade entdeckt habe. Genauso geschah es. »Und da wollt ihr eine neue Kaffeemaschine?«, zeterte sie. »Wenn solche nachlässigen Dreckfinken unter uns sind, die sich um nichts kümmern, dann brauchen wir erst mal einen funktionierenden Küchendienst. Ich habe es satt. Ich habe mich seit Jahr und Tag für die Lehrerküche aufgeopfert und sie sauber gemacht. Jetzt reicht es mir. Ich bin dagegen.«

Kollege Hettmann zuckte zusammen. Seine Pläne hinsichtlich der famosen Sorpreso-Kaffeemaschine gerieten ins Wanken. Er hatte sich wohl zu weit vorgewagt, ohne vorher Mehrheiten abzusichern. Knorr war entzückt. Alles wie erwartet. Alles wie jedes Jahr. Jedes Jahr der Lehrerküchenskandal. Einmal am Anfang, einmal zwischendurch, einmal am Ende des Schuljahres. Man diskutierte heftig und erwog, die Angelegenheit zunächst vom Personalrat prüfen zu lassen.

Knorr, dem das alles völlig einerlei war, weil er ja seine eigene Kaffeemaschine hatte, gab sich staatsmännisch. »Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, es sind alle Argumente ausgetauscht. Sollten wir nicht ein Sorpreso-Kaffeemaschinen-Tandem bilden, oder gar ein Trio, das sich um diese Maschine kümmert, falls wir sie leasen?«

Allgemeines Gemurmel. Wohlwollendes Gebrummel. Na, das war doch eine Idee. Kollege Zündt, ein großer Kaffeetrinker, meldete sich spontan. Er würde beim Tandem sofort mitmachen. Hettmann, offenbar doch kaffeesüchtig, zog sofort nach. Knorr war innerlich entzückt. Wie elegant hatte er das doch »gelöst«. Studienrat Bleyer schaute besorgt, Studienrätin Waddel beleidigt.

Am Schluss der ersten Lehrerkonferenz stand wie üblich die Ausgabe des vorläufigen Stundenplans an. Jetzt herrschte sehr rege Aufmerksamkeit. Jeder studierte seinen Plan, zählte die Stunden, freute sich über die eine oder andere Klasse, maulte über die Stundenverteilung. Von dieser war schließlich die Gestaltung des ganzen individuellen Schuljahres mit abhängig. Manche unterrichteten gerne die Kleinen, manche schätzten die Ganztagsklassen, andere mochten wiederum die Abschlussklassen, einige wollten freitags schon um 11:15 Uhr ins Wochenende fahren, andere mussten die Kinder abholen und wollten keine 6. Stunden. All die Petitessen, auf die Stundenplaner Rücksicht nehmen sollten und für die Ende des vorhergehenden Schuljahres ein Wunschzettel abgegeben werden konnte, ohne Anspruch auf Erfüllung. Aber man versuchte ja, kollegial zu arbeiten und das Beste für die Kolleginnen und Kollegen herauszuholen. Ob sie es immer zurückgeben würden, war eine andere Frage.

Knorr nutzte die Chance, verließ möglichst unauffällig das Lehrerzimmer und zog sich in sein Büro zurück, wo die Beantwortung von gefühlten 120 Mails auf ihn wartete. Rums. Die Tür zu seinem Büro wurde ohne vorheriges Klopfen aufgestoßen. Frau von Plechschmidt-Hammerstein schleppte sich herein, ihr Blick weidwund, die Mundwinkel heruntergezogen, ihre Stimme tonlos. Sie schaute lange auf ihren Stundenplanausdruck, dann auf Knorr.

»Donnerstag, 6. und 7. Stunde Deutsch in der 6c-Ganztagsklasse. Hatte ich nicht mehrfach darum gebeten, dass mir diese Stunden frei gehalten werden? Mein Yoga-Kurs«, hauchte sie mit letzter Kraft.

Konrektor Böllmann, der herbeigeeilt war, weil er Frau von Plechschmidt-Hammerstein im Sekretariat gesehen und die Probleme antizipiert hatte, setzte zur üblichen Verteidigungsrede an: Rahmenbedingungen, klassenübergreifende Koppelungen, Knappheit der Hallenplätze, Gruppenstärken, Raummangel, Seminarbedingungen, Gleichbehandlung der Kollegen und Kolleginnen.

Frau von Plechschmidt-Hammerstein ächzte schwer mit ersterbender Stimme. »Ich kann nicht mehr, … ich kann nicht mehr. Das nun auch noch. Donnerstag, 6. und 7. Stunde. In meinem Alter. Kurz vor der Pensionierung. Kann man nicht einmal in 38 Jahren Rücksicht nehmen, nur einmal?« Sie blickte auf einen imaginären Punkt an der Wand, würdigte die Schulleitung keines Blickes mehr und schlurfte gramgebeugt aus dem Raum, wohl wissend, dass sie den Boden für allerlei Schuldgefühle bereitet hatte, und darum ging es schließlich.

Böllmann und Knorr schauten sich an und schnauften durch. Wie war das mit der Kunst, es allen recht zu machen? Das würde wieder heiter werden mit Frau von Plechschmidt-Hammerstein. Trotz allem: Der Anfang war gemacht. Beide wussten, dass es morgen, am eigentlichen ersten Schultag, richtig losgehen würde. Sie wussten aber auch, dass das Kollegium im neuen Schuljahr wieder gute Arbeit leisten würde und dass diese erste Konferenz am Tag zuvor nur der ritualisierte Startschuss für die kommenden Monate war. Same procedure as every year. Da capo al fine.

KAPITEL 2

Der erste Schultag

Knorr war schon seit 6:30 Uhr in der Schule, um wenigstens etwas vorarbeiten zu können und das Sammelsurium auf dem Schreibtisch zu reduzieren, denn erfahrungsgemäß würde er im allgemeinen Durcheinander des ersten Schultags später nicht mehr dazu kommen. Allgemeiner Schulbeginn war um 8:00 Uhr, und es war erstaunlich, wie fröhlich und gut gelaunt die Schülerinnen und Schüler zu den Schultoren hereinkamen, sich nach doch recht langen Ferien auf ein Wiedersehen zu freuen schienen. Knorr sah von seinem Fenster aber auch ein paar Schüchterne und Außenseiter, die sich in irgendwelche Ecken des Eingangsbereichs drückten. Für sie schien die Schule schon am ersten Schultag ein Albtraum zu sein. Die neuen Kleinen, die zum ersten Mal in diese Schule kamen, sollten um 8:45 Uhr von ihm empfangen und begrüßt werden. Schon geraume Zeit vorher drängten sich die Neuen mit ihren Eltern in der Aula, fröhlich krakeelend die einen, sehr timid an der Hand der Mutter die anderen. Einige speziell abgeordnete Sympathieträger des Lehrerkollegiums leiteten Kinder und Eltern in den Multifunktionsraum. Dieser war zwar aufgrund seiner abscheulichen Farbgebung im Stile der frühen Siebzigerjahre und seiner Düsternis der mit Abstand hässlichste des Schulgebäudes, aber eben auch der größte. Er reichte trotzdem nicht für die fast 150 neuen Schüler mit ihren Eltern. Das Gedränge war gar fürchterlich, die Luft schon nach wenigen Minuten zum Schneiden.

Schon kurz vor 8:00 Uhr war die Klasse 6b schnell zum Üben eines Liedes zusammengetrommelt worden. Die Schülerinnen und Schüler hatten sich vor der Tafel aufgebaut und Musiklehrer Wickert hub auf ein Zeichen Knorrs kraftvoll und aufmunternd in die Tasten seines mickrigen elektrischen Pianos, um die Neuankömmlinge mit einem kleinen musikalischen Gruß zu beglücken.

Knorr verstand nicht so recht, worum es in dem Lied eigentlich ging, irgendwie jedoch drückten die Strophen aus, dass im Schulalltag immer irgendwas schieflief, so jedenfalls deutete er mühsam den matten, ja nachgerade erbarmungswürdigen Singsang der offensichtlich von den Ferien noch völlig erschöpften Schüler. Aber nachdem eh alle entweder gespannter Erwartung oder sinnlos guter Laune waren, war die Qualität der Darbietung sowieso egal. Eltern und Kinder ließen sich diese erste Stunde an der neuen Schule nicht verdrießen.

Dann kam Knorrs Auftritt. Er musste natürlich eine kleine Begrüßungsrede halten. Das war immer eine heikle Angelegenheit, denn entweder sprach er die Kinder an, dann wurde es eher albern, oder er sprach die Eltern an, dann schauten die Kinder befremdet und waren schnell gelangweilt. So hielt er sich nicht lange mit wertvollen Gedanken zur Schule von heute und zum erforderlichen Lernen auf, machte lieber ein paar Späßchen und gab der Überzeugung Ausdruck, dass für die Kleinen alles gut werden würde. Er war sich nicht sicher, ob er selber daran glauben sollte.

Die Klassenlisten wurden verlesen, die Klassenleiter der neuen fünften Klassen schnappten sich ihre erwartungsvoll blickenden Kleinen und strebten mit ihnen den Fachräumen zu. So viele hoffnungsfrohe Blicke. Doch das dicke Ende würde bei einigen von ihnen nachkommen, da war sich Knorr ganz sicher. Es gelang ihm nicht, heiter und entspannt zu sein.

*

Knorr kreuzte rasch durch das vor Aktivitäten nur so brummende Lehrerzimmer, machte ein paar Honneurs, grüßte hier, lächelte da und eilte zur ersten Sitzung mit den neuen achtzehn Referendarinnen und Referendaren, die um 10:00 Uhr vereidigt werden sollten. Das war seine ehrenvolle Aufgabe als Seminarleiter. In dieser Funktion war er zudem Vermittler der Inhalte von Schulrecht und Schulentwicklung.

Erwartungsfroh und doch auch etwas verzagt saßen die Referendarinnen und Referendare im kalten, kahlen Seminarraum, der am Ende eines langen Ganges lag. In diesem Teil des Schulhauses war es fast immer kühl und unwirtlich. Die Einfachglasscheiben waren fast blind, die Isolierung ein Witz. Zwar hatten die Rahmenbedingungen nicht unmittelbar etwas mit Inhalten und Atmosphäre zu tun, Knorr wusste aber, dass der erste Eindruck gerade in einer Schule wichtig war. Knorr wusste damit auch, dass er selbst jetzt gut sein musste, denn die erste Sitzung eines neuen Studienseminars entschied über vieles. Es galt, Atmosphäre und Charakter der Ausbildungsschule zu vermitteln, wenn möglich etwas die Anspannung herauszunehmen, Lockerheit zu zeigen, Identifikation mit der Schule herzustellen, Sympathie zu wecken.

Knorr setzte sich ans Tischende und ließ den Blick schweifen. Auf den ersten Blick eine nette Gruppe freundlicher, adretter junger Leute. Alle blickten gespannt, alle schienen auch besorgt und das nicht umsonst. Zwei Jahre würde das Referendariat dauern, ein Jahr hier an der Seminarschule, ein Jahr irgendwo draußen im Lande an einer Einsatzschule mit nur gelegentlicher Rückkehr an die Seminarschule anlässlich der sogenannten Seminartage.

Die Einstellungschancen und damit die Übernahme in den Staatsdienst nach zwei Jahren, so viel war jetzt schon klar, waren für diese jungen Leute miserabel. Knorr hatte die letzten, frustrierenden Statistiken gesehen. Es war das alte Lied. Es wurde gespart, wo man nur konnte. Und da man mittelfristig aufgrund der demografischen Entwicklung mit sinkenden Schülerzahlen rechnete, stellte man auch nur noch sehr begrenzt neue Lehrer ein. Auf die Idee, weiterhin großzügig einzustellen, um die hohen Klassenstärken abzubauen, kam niemand oder besser: durfte niemand kommen. Überall prahlte man damit, wie viel man in Bildung und Lehre investierte. Die Realität war ernüchternd. Am schlimmsten war die Einstellungslage in den Sprachen und in den gesellschaftspolitischen Fächern. Genau diese Fächerkombinationen aber hatten die Referendare und Referendarinnen an Knorrs Schule: Englisch, Deutsch, Erdkunde, Geschichte, Sport. Eine bittere Situation.

Bei der Vereidigung stellte Knorr fest, dass eine Referendarin, deren Name auf der vom Kultusministerium übermittelten Liste stand, nicht anwesend war. War sie im letzten Moment abgesprungen? Hatte sie sich für einen anderen Beruf entschieden? So etwas kam immer wieder einmal vor. Gegen 11:00 Uhr klopfte die Sekretärin an die Tür und sagte, dass sie einen Anruf einer Referendarin erhalten habe, die berichtete, sie habe sich hoffnungslos verfahren. Das war seltsam, denn sie kam aus der benachbarten Großstadt, aus der eine nicht zu verfehlende Autobahn herführte. Um 11:20 Uhr informierte die Sekretärin über einen neuerlichen Anruf der Referendarin. Diese sei nunmehr auf der betreffenden Autobahn, aber in der falschen Richtung. Um 11:45 Uhr traf die nächste Nachricht von einer diagonal im Großraum gelegenen Schule ein, dass die Referendarin irrtümlicherweise dort aufgetaucht sei und sich nunmehr auf den Weg zur Seminarschule begebe. Um 12:00 Uhr klopfte wiederum die Sekretärin und sagte, die neue Referendarin habe angerufen und berichtet, dass sie jetzt auf der Autobahn stehe und leider das Benzin ausgegangen sei.

Während Knorr mit seinen neuen Referendaren nach seinen einführenden Worten und der Vereidigung einen Rundgang durch das Schulhaus unternahm, kam die neue Referendarin gegen 13:00 Uhr nach ihrer Odyssee verschwitzt und völlig aufgelöst durch den Nebeneingang in die Schule. Sie blickte verschreckt, lief hektisch auf und ab, entdeckte die Gruppe und berichtete mit schriller Stimme von ihren Abenteuern bei der Anreise. So kompliziert hatte sie sich das nicht vorgestellt. Knorr, einem smarten Vorurteil nicht abgeneigt, war sich sicher, dass sie sich während des kommenden Schuljahres auch im Schulhaus verlaufen würde und die Klassen nicht finden würde. Genauso kam es.

Doch nun stand erst mal die Vorstellungsrunde mit allen Referendaren und den Seminarlehrern auf dem Programm: der übliche pseudo-zwanglose Stuhlkreis, allerdings ohne Kerze in der Mitte, das übliche seichte Geplauder, mit dem die Seminarlehrer einen positiven Ersteindruck hinterlassen wollten, ohne zugleich auf die Bekanntgabe ihrer hehren Ausbildungsziele zu verzichten. Knorr kannte ihre seit Jahr und Tag gleichen Witzchen und Anekdoten. Er hatte zunehmend ein Problem damit, alles schon einmal gesehen und gehört zu haben. Das lag wohl am schulischen Jahreszyklus, am sich stetig wiederholenden Ritual. Die neuen Referendare und Referendarinnen aber schienen interessiert oder taten zumindest so. Was hätten sie auch anderes tun sollen? Sie waren ja irgendwie abhängig und versuchten ebenfalls, einen guten Eindruck zu hinterlassen.

Knorr verzichtete auf das traditionelle gemeinsame Mittagessen beim Italiener um die Ecke, einer ganz und gar miserablen Trattoria, die sich aufgrund ihrer Monopolstellung nahe dem Schulzentrum kulinarisch alle Tiefschläge erlauben konnte. Er schlich sich durch einen von ihm oft frequentierten Hinterausgang in der Nähe der Dreifachturnhalle davon ins nächstgelegene Kaffeehaus, um kurz seine Ruhe zu haben. Er wurde mit lautem Hallo von allerhand Kollegen und Schülern begrüßt, die den Weg dorthin aus unerfindlichen Gründen bereits vor ihm geschafft hatten. Pech gehabt.

KAPITEL 3

Die erste Schulwoche

Mit dem Stundenplan für das neue Schuljahr stimmte so einiges nicht. Die Schulleitung hatte sich zwar inzwischen daran gewöhnt, dass sie im Gegensatz zu früher mehrmals im Jahr einen neuen Stundenplan aufstellen musste, aber so viele Ungereimtheiten gleich zu Beginn? In einer Jahrgangsstufe ging eine Religionskoppelung nicht auf, weil die zulässige Gesamtschülerzahl massiv überschritten wurde. Eine fest eingeplante Halle für den Sportunterricht stand eigenartigerweise nicht mehr zur Verfügung. Knorr kannte dieses Szenario nur zu gut. Er erinnerte sich daran, dass er als neuer Konrektor vor vielen Jahren an einer Schule vor Beginn des Schuljahres Sporthallenteile verplant hatte, die aus welchen Gründen auch immer nur auf dem Papier vorhanden waren. Am ersten Schultag war sein wunderschöner, damals wie üblich noch von Hand gebastelter Stundenplan dann kollabiert und er musste von Neuem beginnen. In der jetzigen Situation kam als weitere Komplikation hinzu, dass eine Einsatzreferendarin in den naturwissenschaftlichen Fächern ihren Dienst nicht angetreten hatte und dies vom Ministerium sehr kurzfristig mitgeteilt wurde. So fehlten 17 Stunden, die auf andere Kollegen verteilt werden mussten. Eine Ersatzlehrkraft mit den Fächern Biologie und Chemie war nirgends zu finden und die Personalzuweisung durch das Ministerium war definitiv abgeschlossen. Das wiederum hieß, dass von vornherein im Wahlunterricht und bei naturwissenschaftlichen Übungen gekürzt werden musste, da Pflichtunterricht natürlich Vorrang hatte. Eine Schule mit völlig ausgedünntem Zusatzangebot jedoch war Knorr genauso zuwider wie den Eltern. Diese aber würden wohl demnächst wiederum die Schule für unfähig erklären, weil sie keine zusätzlichen Wahlfächer und Förderkurse anbieten konnte.

»Wenn wir die Sportkoppel der 7a und der 7d von der 3./4. Stunde auf die 5./6. Stunde schieben und dafür in IT die 7c mit den evangelischen Schülern der 7d koppeln, dann könnten wir …«

»Geht nicht, weil dann die Mädchen der 7a und 7d mit denen der 7e gekoppelt werden müssten, dann aber …«

»Wenn Herr Horten die 9a in Biologie in der 5. Stunde am Dienstag nimmt, dann kann Frau Stumpf-Breitkreuz die 9b in der 6. Stunde im Chemiesaal unterrichten, weil …«

»Das siehst du falsch, dann müsste parallel die 8f aus dem Biologiesaal 1 raus, das klappt aber nicht, weil Horten in der 4. Stunde, wo wir noch eine Lücke haben, bereits …«

»Und außerdem ist der Pfarrer am Donnerstag in der 3./4. Stunde sowieso nicht da, also können wir die Religionskoppel nur …«

So ging es den ganzen Tag lang bei den Konrektoren und Stundenplanern zu. Mit fiktiven Räumen, Querbeet-Verschiebungen und allerlei Tauschgeschäften versuchten sie, all das zu bereinigen, was einerseits das durchaus elaborierte Computer-Stundenplanprogramm und andererseits die neu aufgetretenen Parameter noch an weiteren Ungereimtheiten hinterlassen hatten. Das würde noch die eine oder andere Abend- oder sogar Nachtschicht erfordern, denn der endgültige Stundenplan sollte, wie sich das für eine gut geführte Schule gehörte, ja baldmöglichst stehen.

*

Die Stundenplaner, die um mehrere Ecken dachten und mit geröteten Augen vor den Bildschirmen saßen, merkten nicht, dass sich Frau von Plechschmidt-Hammerstein bereits heimlich hinter sie geschoben hatte und ebenfalls auf den Bildschirm lugte.

Sie hatte zwar stets selbst zugegeben, dass sie die ganze EDV für Teufelswerk halte und davon nichts verstehe und auch niemals etwas zu verstehen gedenke, tat aber in diesem Augenblick so, als würde sie sofort kapieren, was sie auf dem Bildschirm an kryptischen Zeichen erblickte. Aber obwohl sich da insgesamt gesehen sozusagen nur böhmische Dörfer auftaten, gelang es ihr doch, flugs auf ihrem eigenen Einsatzplan die geplanten Zwischen- und Präsenzstunden zu zählen, und kam dabei auf vier.

»Das ertrage ich nicht«, hauchte sie vollkommen erledigt. »Ich habe es schon geahnt, dass man mich, nunmehr da ich auf die 60 zugehe, endgültig fertigmachen will. Drei Zwischenstunden, in denen ich ja sowieso wieder vertreten muss, und die Sprechstunde obendrein! Bereits vor vier Jahren hatte ich vier Zwischenstunden! Ich habe das alles protokolliert! Und letztes Jahr hatte ich die 10. Klasse immer in der 5. und 6. Stunde! Aber bitte, meine Herren, machen Sie nur so weiter. Wenn Sie unbedingt wollen, dass ich krankheitsbedingt oder wegen eines Erschöpfungssyndroms ausfalle, bitte schön. Sie werden schon sehen.«

Frau von Plechschmidt-Hammerstein würdigte die Stundenplaner keines Blickes mehr, zitierte mit allerletzter Kraft irgendeinen Vers irgendeines berühmten Melancholikers und schlurfte ermatteten Schrittes aus dem Raum. So hatte sie es als Hobby-Psychologin den Kollegen wieder mal gezeigt. Die schauten sich fragend an und tranken dann Kaffee. Ihre Schuldgefühle hielten sich diesmal jedoch in sehr engen Grenzen, wie man am leisen Gelächter noch durch die Tür hören konnte.

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Knorr verließ das Konrektorat in der Hoffnung auf irgendetwas Positives, nur um am anderen Ende des Flures auf Hausmeister Klotzer zu stoßen, der dort gerade zwei Putzmänner des Reinigungsdienstes schurigelte.

»Ihr Idioten«, brüllte Klotzer vehement auf sie ein und lief dabei rot an. »Ihr habt das ganze Laminat versaut. Und außerdem habt ihr die Fußmatten wieder nicht an der Unterseite gereinigt. Da, schaut euch das an.«

Die zwei Putzmänner, offenkundig osteuropäischer Abstammung, schauten nicht wie gefordert die Fußmatten, sondern sich gegenseitig an. Sie selbst schienen mit ihrer Reinigungskunst durchaus zufrieden und verstanden offenkundig nicht so recht, warum Klotzer so brüllte. Anscheinend waren sie an dessen sich täglich wiederholende Auftritte aber längst gewöhnt.

Das brachte diesen noch mehr auf die Palme. »Alles Trottel, alles Faulpelze und Idioten«, plärrte er, als er Knorr entdeckte. Sogar einige der robusteren Schüler schauten verdattert und suchten vorsichtshalber das Weite. »Trottel aus Weißrussland oder Kasachstan oder Kurgasien oder wie das Zeugs da drüben heißt. Wissen Sie was, Herr Knorr, früher putzten hier Polen und Tschechen und Slowaken. Und vorher Ostdeutsche. Und noch vorher richtige Deutsche. Aber die haben es alle nicht mehr nötig. Sind stinkreich wahrscheinlich. Haben sich alle hier eine goldene Nase verdient. Und jetzt dieses Pack!« Klotzer war nicht zu bremsen. Seine Frau, die sonst mit ihm den Pausenverkauf erledigte, nickte stumm mit heruntergezogenen Mundwinkeln. »Da müssen Sie mal was unternehmen, so geht das nicht weiter«, ging er jetzt auf Knorr los. »Sie als Schulleiter sind doch verantwortlich, das Reinigungsteam mit der Stadt neu zu verhandeln. Aber dafür haben Sie ja offenbar keine Zeit. Und kein Interesse!«

Klotzer war außer sich. Diesen Idioten vom Gebäudemanagement der Stadt, die diese Putzkolonnen aus dem Osten anheuerten, denen werde er es zeigen. Und Knorr dazu.

»Nicht mit mir«, lärmte er in seinem Furor und stapfte mit einem Blick der Verachtung an Knorr vorbei in Richtung Katakomben der Schule. Was er dort stundenlang tagsüber trieb, war Knorr schon immer ein Rätsel. Klar war ihm jedoch, dass er als Schulleiter in der Tat für alles und jedes verantwortlich war und an allem und jedem irgendwie schuld war.

Was sollte er sagen? Klotzer war im normalen Gemütszustand eigentlich kein unrechter Mensch. Er hatte viele gute Seiten, kümmerte sich intensiv um das in die Jahre gekommene Schulgebäude. Wenn man pfleglich mit Klotzer umging und seinen Vorstellungen von Sekundärtugenden entsprach oder sie zumindest mitspielte, dann konnte er sehr hilfsbereit sein, sogar höflichen Schülern gegenüber. »Ich und der Herr Direktor haben beschlossen, dass die, wo …« war einer seiner vom Kollegium immer mit großer Begeisterung aufgenommenen Aussprüche.

Aber Klotzer hatte eben seine Vorurteile, und die pflegte er. Etwas grobschlächtig und barsch im Ton war er im Grunde die allermeiste Zeit. Bei bravem und ehrerbietigem Verhalten konnte man von ihm durchaus alles haben. Hatte man als Lehrkraft aber einmal bei ihm verspielt, zum Beispiel, weil die eigene Klasse nach der letzten Vormittagsstunde den Raum nicht ordentlich verlassen hatte oder gar die Stühle nicht auf die Bänke gestellt hatte, oder noch schlimmer, wenn man zu erkennen gab, dass man von Heizungsbau, Schreinerei und dergleichen keine Ahnung hatte, dann war man seiner Verachtung preisgegeben und seiner Tyrannis ausgeliefert.

Und Klotzer hielt nicht nur ausländische Putztrupps, sondern insbesondere summa summarum die meisten Lehrer für unfähig. »Weltfremd, völlig weltfremd«, wetterte er über sie. Hatte er da völlig unrecht? Ein Hausmeister sah eine Schule eben generell aus einem anderen Segment von Welt als ein Lehrer oder Schüler oder gar Schulleiter. Die Schüler würde es abgesehen von den willkommenen Einnahmen aus dem opulenten Pausenverkauf wohl gar nicht unbedingt brauchen. Ohne Schüler kein Schmutz und keine Unordnung. Und die Lehrer auch nicht. Verdienten eh zu viel und redeten wirres Zeug. So einfach war die Welt. War Klotzer der heimliche Herrscher der Schule?

*

Knorr machte einen Rundgang durch das Schulhaus. Das Schuljahr war noch taufrisch. Irgendwie kam ihm einerseits alles neu und aufregend vor, andererseits aber wie ein einziges Déjà-vu. So banal der Vorfall von vorhin war, so simpel gestrickt Klotzers Ansichten daherkamen, für Knorr wurde wieder einmal deutlich: Jeder – eben auch der Hausmeister – sah die Welt der Schule aus seiner eigenen Perspektive, aus seinem Vorverständnis der Dinge. Gut, das galt für alles in der Welt, aber in Bezug auf Schule war dies gravierender. Es arbeiteten mehr Menschen auf engem Raum zusammen als anderswo, die jeweiligen vitalen Eigeninteressen kamen wohl doch insgesamt deutlicher zum Ausdruck – und damit auch zum Ausbruch – als zum Beispiel in einem Betrieb, in einer Firma oder in einer Behörde. Nirgendwo sonst, dachte Knorr, war der Begriff des gelebten Lebens und der unterschiedlichen Vitalinteressen so zentral: junge und nicht mehr so junge Schüler, starke und schwache, viele relativ junge Lehrer und doch auch deutlich ältere, im Hintergrund die Eltern, die Familien, die Alleinerzieher, alle mit unterschiedlichem Alter, unterschiedlicher Ausbildung, unterschiedlichen Erwartungshaltungen, unterschiedlichen Interessen. Manchmal half das Verbalisieren von Problemen, manchmal geriet man dabei schnell an Grenzen.

Und der gesellschaftliche Gesamtrahmen? War es eigentlich die ureigenste Aufgabe der Schulen, sozusagen »funktionierende« junge Menschen quasi zu produzieren? Wie weit musste zum Beispiel die Schule den Interessen von Wirtschaft, Handel und Handwerk nachkommen? Wie weit war sie im Sinne der Lebensabsicherung der jungen Menschen gar verpflichtet, diese auf das Leben in der Gesellschaft als deren »brauchbare« Mitglieder zu formen, sie auf das Leben in Hierarchien vorzubereiten? Oder – und Knorr neigte eher dieser Auffassung zu – wie weit war die Schule die eigentlich einzige verbleibende Instanz, um Werte zu vermitteln, den schönen Künsten zu huldigen, das Kreativpotenzial zu fördern und dieses aus den jungen Leuten herauszukitzeln? Das Spielerische und Kreative, das ja in allen jungen Menschen angelegt war, durfte nicht verloren gehen, auch wenn dies heißen sollte, Effizienz und Berufstauglichkeit vielleicht etwas hintanzustellen. Viele junge Menschen hatten vielfältige Talente und erkannten oder nutzten sie nicht. Oft genug gelang es der Schule nicht, diese Talente zu entdecken, sie zu fördern, oft genug ließ sie diese verkümmern.

Man konnte all dies natürlich auch anders sehen. Sollte Schule wirklich zunehmend den Interessen der jungen Menschen nachgeben, immer höheren Spaßcharakter entwickeln? Sollte sie nicht vielmehr auf frontales, effizientes Lernen, auf Schwerpunktsetzung in Kernfächern wie Lesen, Schreiben, Rechnen setzen? Die Schule hatte doch sowieso keine realistische Chance, mit der multimedialen Außenwelt mitzuhalten oder diese gar zu überholen. Was also sollte der alberne Fun-Charakter, was diese Anbiederung an den Zeitgeist?