Schwaben-Angst - Klaus Wanninger - E-Book

Schwaben-Angst E-Book

Klaus Wanninger

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Beschreibung

Konrad Böhler, ein friedlicher Weinbauer, wird in seinem Wingert inmitten der malerischen Landschaft unterhalb der Grabkapelle des Württembergs gefunden. Er wurde mit Blausäure vergiftet. Nur einen Tag später ereilt den Organisten von Großaspach vor seiner Kirchenorgel dasselbe Schicksal. Auffallend kleine Fußabdrücke, die an beiden Tatorten gefunden werden, weisen auf den selben Täter hin. Giftmorde - Die Taten einer Frau? Kommissar Steffen Braig und seine Kollegin Katrin Neundorf finden im Zuge ihrer Ermittlungen heraus, was die beiden Mordopfer miteinander verband: Beide Männer haben ihre Ehefrauen mit außergewöhnlicher Unverfrorenheit betrogen.

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Klaus Wanninger

Schwaben-Angst

Vom Autor bisher bei KBV erschienen:

Schwaben-Rache

Schwaben-Messe

Schwaben-Wut

Schwaben-Hass

Schwaben-Angst

Schwaben-Zorn

Schwaben-Wahn

Schwaben-Gier

Schwaben-Sumpf

Schwaben-Herbst

Schwaben-Engel

Schwaben-Ehre

Schwaben-Sommer

Klaus Wanninger, Jahrgang 1953, evangelischer Theologe, lebt mit seiner Frau Olivera und den schwäbischen Katern Mogli und Balu in der Nähe von Stuttgart. Er veröffentlichte bisher dreißig Bücher. Seine überaus erfolgreiche Schwaben-Krimi-Reihe mit den Kommissaren Steffen Braig und Katrin Neundorf umfasst mittlerweile dreizehn Romane in einer Gesamtauflage von über einer halben Million Exemplaren.

Klaus Wanninger

Schwaben-Angst

1. Auflage November 2002

2. Auflage Juli 2003

3. Auflage Februar 2004

4. Auflage Oktober 2005

5. Auflage September 2008

6. Auflage Februar 2011

© KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim

Telefon: 0 65 93 - 99 86 68

Fax: 0 65 93 - 99 87 01

www.kbv-verlag.de

E-Mail: [email protected]

Umschlagillustration: Ralf Kramp

Druck: Aalexx Buchproduktion GmbH, Großburgwedel

Printed in Germany

Print-ISBN 978-3-934638-87-7

E-Book-ISBN 978-3-95441-093-4

Zwei tapferen Frauen:Schwester Fridel Auer und Dora Bütikoferals Anerkennung für ihr vorbildliches Leben

1. Kapitel

Gerade als sie umkehren wollte, brach plötzlich die Sonne zwischen den Wolken hervor.

Wochenlang hatte es fast ohne Unterbrechung geregnet, hatten immer neue graue Schleier den Himmel verhüllt. Fast der gesamte September, in anderen Jahren ein Monat voller Sonne, Wärme und üppig reifender Früchte, war dem nasskalten, viel zu früh ins Land gezogenen Herbstschmuddel zum Opfer gefallen. Frust und Verbitterung über das ekelhafte Wetter hatte viele Menschen erfasst. Jetzt aber zeigten sich erstmals wieder die Strahlen der Sonne.

Monique Gilbner blieb mitten auf dem breiten, mit Kies ausgelegten Weg stehen, der zur Grabkapelle der Königin Katharina auf dem Württemberg hinaufführte, und starrte zum Himmel. Die Wolkendecke war aufgerissen, Kaskaden von gleißendem Licht verzauberten die Landschaft mit einem spätsommerlichen Panorama.

Sie begriff es sofort als gutes Omen. Über Wochen hinweg hatten sie sich vorbereitet, Texte, Schritte, Abläufe auswendig gelernt, gemeinsam eingeübt und gestern in der Generalprobe – mit wenigen Patzern zwar, doch weitgehend bühnenreif – einem sorgsam ausgewählten Publikum vorgestellt. Heute Abend sollte Das Fräulein Pollinger vor seit langer Zeit ausverkauftem Haus seine Premiere erleben.

Monique Gilbner ließ die überraschendsten Elemente der überaus mutigen und unkonventionellen Neuinszenierung in Gedanken nochmals Revue passieren, war gespannt auf die Reaktion der Zuschauer. Die tri-bühne war eines der kleinsten Stuttgarter Häuser, jedoch als Experimentaltheater Sprungbrett für viele junge Schauspieler. Ein Erfolg als Fräulein Pollinger, der ersten Hauptrolle ihrer vor drei Jahren gestarteten Karriere, eröffnete ihr – so hoffte sie – Chancen auf einen Platz in einem größeren, bekannteren Ensemble.

Sie wandte ihren Blick vom Himmel ab, weil sie von den weißgoldenen Strahlen geblendet wurde, sah, wie die Sonne immer größere Teile der Umgebung in ein ungewohnt warmes Licht tauchte. Die Rebhänge der umliegenden Hügel leuchteten in kräftig grünen, vereinzelt schon gelben Tönen. Die Dächer Rotenbergs auf der Spitze der lang gestreckten Hügelkette präsentierten ihre frisch gewaschenen roten Ziegel. Hoch über ihr blinkte das Kreuz auf der Grabkapelle in glänzendem Gold.

Monique Gilbner gab sich dem Schauspiel der aus dem Regendämmer neu erwachenden Natur hin, fühlte intuitiv, dass die Premiere am Abend Publikum und Kritiker überzeugen und dem jungen Ensemble den erhofften Erfolg bringen musste. Die ernüchternd realistische Geschichte eines in armseligen Verhältnissen aufgewachsenen, naiv-leichtgläubigen Landmädchens, das unter dem Einfluss skrupelloser Lebemänner der Prostitution verfällt, ohne sich dieser Entwicklung vollkommen bewusst zu werden, verkörperte in ihrer Ursprungsfassung schon so viel herbe Melancholie, dass es auch weniger sensiblen Gemütern schwer fallen musste, diesen besonderen Reiz nicht deutlich wahrzunehmen. Was der erfahrene Regisseur dazu noch kurz vor dem Ende des Theaterstücks eingefügt, wie er es überhaupt inszeniert und die Zuschauer ohne deren anfängliches Wissen mitten ins Geschehen eingebunden hatte, das versprach, außergewöhnliche Begeisterung für Das Fräulein Pollinger zu entfachen.

Monique Gilbner hatte den Kiesweg, der zur Grabkapelle hinaufführte, verlassen, ließ ihre Augen über die Umgebung des Württembergs schweifen. Die sich im warmen Licht der Sonne dehnenden Rebhänge schienen zu atmen: Ein feiner Schleier nebliger Feuchtigkeit hing über den Senken zwischen den Hügeln.

Sie schaute am nahen Mönchberg hoch, folgte mit ihrem Blick den dicht belaubten und von rosinengroßen, blauen Trauben bewachsenen Rebenzeilen, die sich steil nach oben wanden. Wenige Meter von ihr entfernt parkte ein Traktor-ähnliches Gefährt, gerade schmal genug, die Wege zwischen den Rebstöcken passieren zu können. Der Anhänger des Weinberg-Schleppers war mit landwirtschaftlichen Geräten beladen. Wer den Traktor dorthin chauffiert hatte, war nicht zu erkennen; keine Menschenseele schien in der Nähe.

Sie wollte ihre Augen gerade wieder abwenden, als sie plötzlich unmittelbar daneben ein helles Glitzern bemerkte. Sie starrte auf den nassen Boden, sah wenige Meter entfernt eine langstielige Hacke, deren metallisch-silberne Zinken die Sonnenstrahlen reflektierten. Plötzlich begann die junge Schauspielerin am ganzen Körper zu zittern. Die Textseiten des Fräulein Pollinger glitten ihr aus den Händen, flatterten durch die Luft, landeten auf dem nassen Wegrand. Voller Entsetzen starrte sie auf die im verkümmerten Gras des Weinbergs hingestreckte Gestalt, deren verkrümmte Körperhaltung und grimassenhaft verzerrten Gesichtszüge ihr unmissverständlich klarmachten: Vor ihr lag ein Toter.

Monique Gilbners schrille Schreie waren bis hinauf zur Grabkapelle und die Spitze des Württembergs zu hören.

2. Kapitel

Steffen Braig, Kommissar beim Stuttgarter Landeskriminalamt, war erst vor wenigen Minuten nach Hause gekommen, als sein Handy läutete. Er hatte sein Büro an diesem Freitagnachmittag kurz nach 16 Uhr verlassen, war am Cannstatter Wilhelmsplatz noch in einem Supermarkt eingekehrt, um Lebensmittel für ein Wochenende mit seiner neuen Freundin zu besorgen.

Er hatte seinen Einkaufswagen dort höchst unwillig an den reichhaltig mit Weihnachtsartikeln bestückten Regalen vorbeigeschoben. Christstollen, Lebkuchen, Adventskalender, Nikoläuse in allen Größen und Variationen – jetzt, Anfang Oktober? Kopfschüttelnd hatte Braig das Sortiment passiert. Gerade waren die meisten Leute aus den Sommerferien zurückgekehrt, erwartete sie bereits das in grellen Farben präsentierte Angebot des in einigen Monaten anstehenden Festes. Gab es denn überhaupt keine Grenzen der Geschäftemacherei mehr?

Der Ärger über die weihnachtlich bestückten Regale hatte Braig fast die gesamte Heimfahrt begleitet. Erst beim Verlassen der S-Bahn am Feuersee schaffte er es, sich von seinem Unmut zu lösen und wieder zu dem Gefühl zurückzufinden, das ihn den ganzen Morgen begleitet hatte: die Vorfreude auf ein hoffentlich dienstfreies gemeinsames Wochenende mit Ann-Katrin Räuber: Freitagabend, Samstag und Sonntag – falls nicht wieder ein unvorhersehbares Ereignis, das seinen beruflichen Einsatz erforderte, dazwischen kam. Er hatte Wochenendbereitschaft, wusste, was ein Anruf auf seinem Handy bedeuten konnte.

Unangenehme Neuigkeiten vermutend, zog er es aus der Tasche, meldete sich.

Kriminalmeister Stöhrs Stimme verhieß nichts Gutes. »Sie müssen entschuldigen, wir haben einen seltsamen Todesfall.«

»Todesfall?« Braig reagierte gereizt. Freitagnachmittag, 17 Uhr. »Mord, ja?« Nur Stöhr war im Stande, sich so umständlich auszudrücken.

»Mord. Wie es aussieht, ja.«

»Wo?«

»Rotenberg. In der Nähe des Württembergs.«

Braig kannte den idyllisch mitten zwischen Weinbergen gelegenen Vorort Stuttgarts, hatte die Grabkapelle der Königin Katharina ein- oder zweimal besucht. Er ließ sich von Stöhr die genaue Lage des Fundorts des Toten beschreiben, bat den Kollegen, die Kriminaltechniker zu benachrichtigen und versprach, sofort nach Rotenberg aufzubrechen. Das erhoffte gemeinsame Wochenende war in weite Ferne gerückt.

»Herrn Söhnle habe ich ebenfalls informiert«, schloss Stöhr.

Braig packte die Lebensmittel bis auf die Bananen in den Kühlschrank, wählte Ann-Katrin Räubers Nummer. Er hatte sich mit der jungen Kollegin angefreundet, seit diese bei einem gemeinsamen Einsatz in Backnang im Frühjahr von einem Verbrecher niedergeschossen und schwer verwundet worden war. Braig, der sich lange für das Unglück Ann-Katrins mitverantwortlich gefühlt hatte, war regelmäßig im Krankenhaus bei ihr zu Besuch gewesen – ob mehr aus moralischer Verpflichtung für sein vermeintliches Versagen oder von Anfang an aus Interesse an der jungen Frau, wusste er im Nachhinein nicht zu beurteilen. Schon wenige Wochen später bei der Verlegung Ann-Katrins ins Ludwigsburger Klinikum war beiden klar gewesen, dass sich zwischen ihnen mehr entwickelt hatte als nur die Beziehung zwischen Kollegen.

Tag für Tag, soweit es ihm beruflich möglich war, hatte er sie besucht, sogar als sich ihr Genesungsprozess durch verschiedene Komplikationen immer mehr in die Länge zog. Eine der Kugeln hatte ihre Milz getroffen, worauf ihr das Organ mittels einer komplizierten Operation entfernt worden war. Später, nach langen Wochen vergeblichen Wartens auf durchgreifende gesundheitliche Besserung, hatte sich die Wunde bakteriell infiziert, was einen zweiten Eingriff erforderte. Die Kunst der Ärzte war damit jedoch immer noch nicht zu dem erwünschten Ziel gelangt.

Sechs Wochen Aufenthalt in einer Rehabilitationsklinik in Markgröningen hatten es Ann-Katrin Räuber zwar ermöglicht, fast normal aufrecht zu gehen, doch musste sie aufgrund der immer noch nicht völlig verheilten Wunde nach wie vor jede sportliche Betätigung und erst recht jede spontane, unüberlegte Bewegung dringend vermeiden. Zudem litt sie alle paar Tage unter erheblichen Schmerzanfällen, deren Ursachen noch nicht eindeutig ermittelt worden waren. Trotz ihres Alters von 29 Jahren war es ihr sechs Monate nach dem Attentat also noch nicht möglich, den Dienst als Kriminalmeisterin wieder aufzunehmen. Sie hatte in der Zwischenzeit ihre Wohnung in Kornwestheim an eine Freundin weiter vermietet und war zu ihrer Mutter nach Ludwigsburg gezogen, um sich mit deren Hilfe langsam wieder auf ein geordnetes Leben vorzubereiten.

Was Steffen Braig selbst anbetraf, war das folgenschwere Zusammentreffen mit dem Verbrecher in Backnang glimpflicher ausgegangen, als er es sich anfangs ausgemalt hatte. Mit zwei Schüssen hatte er damals den Verbrecher getötet. Selbstvorwürfe, einen Menschen erschossen zu haben, stellten sich nur in Stunden tiefster Depression bei ihm ein, war die Notsituation, aus der heraus er gehandelt hatte, nämlich: das Leben seiner jungen Kollegin vor einem skrupellosen Kriminellen zu retten, doch noch zu deutlich in seiner Erinnerung präsent. Es hatte keine andere Möglichkeit gegeben, Ann-Katrin vor dem Tod zu bewahren. Der von ihm erschossene Auftragskiller war unmittelbar vor der durch eine Unebenheit gestrauchelten Beamtin aufgetaucht und hatte mit seiner Waffe direkt auf sie gezielt.

Auch das automatisch bei einem unnatürlichen Todesfall eingeleitete Untersuchungsverfahren durch die Staatsanwaltschaft hatte ihm keine Probleme bereitet: Zu eindeutig waren die von mehreren Augenzeugen beobachtete Situation und der Tathergang, als dass Braig irgendein Vorwurf daraus erwachsen konnte. Die Voruntersuchung war von den zuständigen Staatsanwälten bald abgeschlossen, das Hauptverfahren erst gar nicht eingeleitet worden. Die Kommission hatte ihm ohne jeden Einwand korrektes Verhalten bestätigt. Was den Kommissar bewegte, war nicht die Tatsache, einen Menschen getötet, sondern der Selbstvorwurf, Ann-Katrin Räuber nicht schnell genug vor den Attacken des Verbrechers geschützt zu haben.

»Es tut mir Leid«, entschuldigte er sich am Telefon, »aber ich habe schlechte Nachrichten. Ich muss zu einem Einsatz. Rotenberg. Anscheinend das Übliche.«

Er versprach, die Untersuchung möglichst schnell durchzuführen und dann auf direktem Weg nach Ludwigsburg zu kommen.

Der Fundort des Toten war nicht schwer zu erreichen: Die Häuser Rotenbergs klebten eng aneinander gereiht auf der Spitze eines lang gezogenen, schmalen Bergkamms unweit des Neckartals, von unzähligen mit Weinreben überzogenen Hügeln umgeben, gerade mal drei, vier Kilometer vom Landeskriminalamt entfernt..

Ein traumhaft schönes Panorama, überlegte Braig, als er sich einer Gruppe heftig diskutierender und kritisch die Umgebung musternder Menschen am Ortsende Rotenbergs näherte. Er grüßte die uniformierten Polizeibeamten, welche die Straße mit einem rotweiß gemusterten Plastikband abgesperrt hatten, wies sich aus, ließ sich den Weg zur Fundstelle des Toten erklären. Keine hundert Meter weiter, einen Steinwurf unterhalb der Grabkapelle, sah er seine Kollegen. Der Himmel hatte sich inzwischen vollkommen aufgeklart, nur einzelne Wolkenreste waren noch am Horizont zu erkennen. Die Sonne stand schon tief im Westen, warf ein mildes Licht auf die von wochenlangen Niederschlägen und Feuchtigkeit aufgeweichten Böden und Blätter der Weinberge.

Braig grüßte Markus Schöffler, den Kollegen von der Kriminaltechnik, klopfte Bernhard Söhnle, mit dem er seit Jahren zusammenarbeitete, auf die Schulter. Der Anblick der Leiche zu Füßen der Männer brachte ihn auf andere Gedanken. Braig betrachtete das vom Todeskampf verzerrte Gesicht des Verstorbenen, erkannte erst jetzt den Arzt, der schwer atmend vor der Leiche kniete und mit der Untersuchung der Bauchpartie des Mannes beschäftigt war.

»Dr. Keil, freut mich, Sie zu sehen.«

Der Mediziner knurrte irgendwelche unverständlichen Worte, richtete sich schwerfällig auf. »Ist es mal wieder so weit.« Er reckte seinen Oberkörper hoch, streifte die Plastikhandschuhe ab, begrüßte den Kommissar. Keil war ein älterer, weißhaariger Mann mit einem bulligen Körper und dichten Augenbrauen. Seine Stimme klang rauchig und verschnupft, seine Nasenflügel glänzten rot, wie bei einem starken Trinker. Braig schätzte den Mediziner aufgrund langjähriger Zusammenarbeit. Keils Diagnosen waren präzise und sorgsam fundiert, entbehrten oft nicht eines kräftigen Beigeschmacks von Sarkasmus. Fast immer wurden seine Befunde zuletzt durch die Ergebnisse der Obduktion bestätigt.

Das Gesicht des Arztes schien vor Begeisterung zu strahlen. »Saubere Arbeit«, spottete er, auf den Toten unter ihm deutend, »war schon lange nicht mehr in meiner Sammlung.«

Braig betrachtete den toten Körper voller Abscheu. Es handelte sich um einen Mann zwischen fünfzig und sechzig, dessen unangenehm verzerrtes Gesicht von zwei hellroten Flecken gezeichnet war. Er trug dunkelblaue, an den Seiten leicht verschmutzte Arbeitshosen, ein schwarz-rot kariertes Holzfällerhemd aus festem Baumwollstoff, darüber eine abgetragene Cordjacke. Eine Verletzung, die seinen Tod verursacht haben könnte, war nirgends zu erkennen. Nicht die typischen Symptome eines Durchschusses, keine Hinweise auf einen Einstich mit einem Messer, einem Dolch oder sonst einer scharfen Klinge, keine Spuren eines Niederschlags mit einem harten Gegenstand.

Sein Körper lag in leicht gekrümmter Haltung unterhalb einer dicht belaubten und von kleinen, noch längst nicht ausgereiften, blauen Trauben bewachsenen Rebenzeile, die sich parallel mit unzähligen anderen sanft den Hügel hinauf erstreckte. Wenige Meter oberhalb stand ein dunkelgrüner Weinberg-Schlepper samt Anhänger, schmal genug, die langen, kaum mehr als einen Meter breiten Areale zwischen den Reben passieren zu können. Braig sah, dass der kleine Wagen mit landwirtschaftlichen Arbeitsgeräten beladen war, wendete sich wieder dem Mediziner zu.

»Was wollen Sie damit sagen?«, fragte er.

»Gift«, erklärte der Arzt.

Der Kommissar sah überrascht zu ihm auf. »Gift?«

Dr. Keil nickte. »Noch haben wir ihn nicht obduziert. Aber ich müsste mich schwer täuschen.«

»Was für ein Gift?« Braig zeigte auf die Weinreben der Umgebung. »Spritzmittel?«

»Nein. Anfang Oktober darf nicht mehr gespritzt werden. Zyanidhaltige Mittel sowieso nicht.«

»Zyanid?«

»Blausäure. Die Symptome sind deutlich genug. Der Geruch aus dem Mund«, der Arzt deutete auf den Toten, »die hellrote Verfärbung einiger Körperstellen. Das ist fast schon klassisch.«

»Selbstmord?«

»Das zu entscheiden, ist Ihre Aufgabe.« Dr. Keil streckte seine Hände weit von sich. »Allerdings wüsste ich nicht, womit er sich das Zeug zugeführt haben könnte. Irgendwo muss er es aufbewahrt haben, wenn er es hier draußen zu sich nahm. In flüssiger Form oder als Pulver. Ich konnte nichts finden. Ihr Techniker«, er wies auf Schöffler, »ebenso wenig. Keine Flasche, keine Ampulle, keine Tüte, nichts.«

Braig überlegte, was die Feststellung des Arztes zu bedeuten hatte. »Wie schnell wirkt das Zeug?«

»Schnell. Sehr schnell. Sekunden, höchstens Minuten. Kommt natürlich auf die Konzentration an, aber …«

»Er kann es nicht in seiner Hand hierher gebracht haben?«

Dr. Keil schüttelte den Kopf. »Kaum. Dann hätte es ihn schon früher erwischt. Die Resorption durch die Haut funktioniert zwar langsam, aber dennoch gründlich.«

Braig musterte den Boden in der Umgebung, wandte sich Markus Schöffler zu. »Du hast dich bereits umgesehen?«

Der Kriminaltechniker nickte. »Noch nicht weiträumig, aber der kleine Bereich hat schon Interessantes ergeben.«

»Ja?«

»Spuren«, erklärte Schöffler und wies auf eine Stelle wenige Meter unterhalb des Toten, »Spuren einer anderen Person. Aufgrund des wochenlangen Regens und des nassen Bodens nicht zu übersehen.«

»Was für Spuren?«, fragte Braig.

»Fußabdrücke.« Schöffler zog eine Plastikflasche aus seinem Koffer, bewegte sich vorsichtig von ihnen weg. »Ich bin gerade dabei, sie aufzunehmen. Auffallend kleine Füße. Sie können nicht von dem Toten stammen. Außerdem ziemlich frisch. Das Gras konnte sich noch nicht aufrichten.«

Braig seufzte laut. »Ich sehe schon, ihr gönnt mir kein ruhiges Wochenende.« Er dachte an Ann-Katrin, spürte mehr und mehr, dass die nächsten Tage anders ausfallen würden, als er es sich erhofft hatte. Wenn sich der Verdacht mit dem Gift bestätigen sollte, hatte er bald sämtliche Medienvertreter des Landes auf dem Hals und der Wunsch nach freien Stunden oder gar Tagen blieb Utopie. Er betrachtete wieder den Toten, fragte nach dessen Identität.

»Papiere trug er keine bei sich«, erklärte Söhnle, »wir wissen aber trotzdem, um wen es sich handelt.« Er zog einen Zettel hervor, reichte ihn Braig.

Konrad Böhler war in krakeligen Buchstaben zu lesen.

»Woher hast du das?«

Söhnle zeigte zur Absperrung des Weges. »Ein Nachbar, er hat ihn identifiziert.«

Braig sah die aufgeregte Menschengruppe, die von den beiden uniformierten Kollegen offenbar nur schwer im Zaum gehalten werden konnte. »Er wohnt hier?«

»Am oberen Ende Rotenbergs.«

»Ein Landwirt.«

»Es sieht so aus.«

Markus Schöffler kniete im nassen Gras, füllte hellen Schaum in eine kleine Einkerbung.

»Wer hat den Mann gefunden?«, fragte Braig.

Söhnle blickte auf einen Zettel, las den Namen ab. »Monique Gilbner, eine junge Frau. Schauspielerin.«

»Schauspielerin?«

»Sie steht dort vorne, ist völlig durcheinander.«

»Wie kam sie hierher?«

Söhnle zeigte nach oben. »Sie lernte für eine Rolle. Hier oben. Macht sie öfters, wie sie erklärte. Sie wohnt in Rotenberg und läuft durch die Weinberge oder, wenn wenig Besucher unterwegs sind, zur Grabkapelle hoch, um ihre Texte zu pauken. Unterwegs sah sie ihn liegen. Klingt plausibel.«

Braig sah zur Kapelle hoch, nickte. Eine Schauspielerin lernt ihre Texte und sieht plötzlich einen Toten. Nur ihn? »Was ist mit der zweiten Person, von der Markus sprach? Hast du Frau Gilbner schon danach gefragt?«

Söhnle schüttelte den Kopf. »So lange bin ich noch nicht hier.«

Braig überlegte. »Die Angehörigen des Toten. Wurden sie verständigt?«

»Nicht, dass ich wüsste. Die beiden Beamten, die als Erste herkamen, sind damit beschäftigt, uns die Neugierigen vom Hals zu halten. Sollen wir …?«

Steffen Braig sah sich um, wusste nicht, wozu er hier noch gebraucht wurde, nahm Söhnles Vorschlag auf. »Ihr kommt allein zurecht?«, fragte er.

Schöffler und der Arzt nickten. Beide waren bereits wieder intensiv mit der Untersuchung der Umgebung und des Toten beschäftigt.

Der Kommissar verabschiedete sich, lief mit seinem Kollegen zu der aufgeregten Menschenmenge, die sich hinter dem rotweißen Plastikband versammelt hatte.

»Ein Toter«, rief eine Frau, »stimmt es wirklich?«

Braig reagierte nicht, ließ sich von Bernhard Söhnle mit Monique Gilbner bekannt machen, die etwas abseits über einen Text gebeugt im nassen Gras saß.

»Mein Name ist Braig. Ich komme vom Landeskriminalamt. Frau Gilbner, Sie haben den Toten entdeckt?« Er musste laut reden, weil die aufgeregten Stimmen hinter ihm seine Worte zu übertönen drohten.

Die Schauspielerin sah mit fahrigen Augen auf, blickte ihn erschrocken an. »Ich habe doch schon alles erzählt. Kann ich immer noch nicht gehen?« Sie schaute auf ihre Uhr, streckte sie dem Kommissar entgegen. »Wir haben Vorstellung. Premiere.«

Braig betrachtete die Frau, wunderte sich über ihr jugendliches Alter. Sie war groß und schlank, um nicht zu sagen: dünn, hatte spindeldürre Arme, ein schmales, bleiches Gesicht. Er schätzte sie auf Anfang zwanzig, vielleicht sogar noch jünger, merkte, wie aufgeregt sie war.

»Sie spielen heute Abend?«

Monique Gilbner nickte mit dem Kopf. »Wir haben Premiere.«

»Theater?«

»In der tri-bühne.«

Er erinnerte sich an begeisterte Berichte von Kollegen über das Haus, versuchte, sich kurz zu fassen. »Ich will Sie nicht länger aufhalten. Wenn Sie mir nur ganz kurz noch einmal erzählen würden, wie Sie den Toten entdeckten?«

Die Frau schilderte den Hergang ihrer Beobachtung in knappen Sätzen, wies auf die Stelle, von der aus sie den Toten entdeckt hatte. »Es war Zufall, wirklich Zufall. Wäre die Sonne nicht plötzlich zwischen den Wolken durchgebrochen …«

»War der Mann alleine?« Braig merkte, dass sie seine Frage nicht verstand. »Ich meine, Sie sahen keine andere Person in seiner Nähe?«

Sie schaute ihn überlegend an, schüttelte den Kopf.

»Sonst irgendwo in der Umgebung? Ein anderer Mann, eine Frau, in einem der Weinberge?«

Monique Gilbner wusste keine Antwort. »Eine andere Person? Aber die hätte ich doch um Hilfe gebeten …«

Braig dankte der jungen Frau für ihre Unterstützung, gab ihr seine Karte, bat sie, ihn zu informieren, falls ihr doch noch etwas einfallen sollte. »Wie heißt das Stück, in dem Sie spielen?«

Monique Gilbner benötigte einige Sekunden, bis sie reagierte. »Das Fräulein Pollinger.«

Er glaubte, irgendwann davon gehört zu haben, verabschiedete sich von ihr und wünschte ihr alles Gute für ihren Auftritt. Bernhard Söhnles Kommentar ging im heftigen Geraune der wartenden Menschenmenge unter, das durch die Ankunft eines schwarz-grau lackierten Leichenwagens ausgelöst wurde. »Die ist völlig durch den Wind. Hoffentlich spielt sie keine wichtige Rolle in dem Stück.«

3. Kapitel

Das Haus Konrad Böhlers lag am oberen Ortsrand Rotenbergs, hoch auf dem Bergkamm, dessen Flanken im Südosten Weinreben, im Nordwesten Obstbäume trugen. Dem frisch renovierten Fachwerkhaus war eine breite, von Büschen und Blumen gesäumte Terrasse vorgelagert, an deren Ende sich ein passender Stall befand. Die weißen Mauern des landwirtschaftlich genutzten Gebäudes glänzten in der Abendsonne.

»Hast du dir die richtige Hausnummer geben lassen?«, fragte Braig, als er an der Pforte vergeblich nach einem Namensschild suchte.

Söhnle hob abwehrend seine Hände. »Ich kann für nichts garantieren.«

Braig war froh, dass er die schlimme Nachricht nicht allein überbringen musste. Schon die Tatsache, den Kollegen beim ersten Kontakt mit den Angehörigen des Verstorbenen an seiner Seite zu wissen, erleichterte ihm den Weg. Bei aller Routine – zu oft hatte er im Verlauf der vergangenen Jahre die Botschaft vom überraschenden Tod eines Menschen überbringen müssen –, die Angst in den Augen der Partner, Verwandten oder auch nur weitläufig Bekannten, den Moment des Begreifens des schrecklichen Geschehens in ihren Gesichtern mit ansehen zu müssen, waren für ihn die unangenehmsten Minuten seiner beruflichen Tätigkeit. Am liebsten war es ihm, wenn er von einem Pfarrer oder einer Pfarrerin begleitet wurde, Personen, denen es – zumindest dem Anschein nach – mit größerer Souveränität und Abgeklärtheit gelang, diese Aufgabe zu bewältigen. Aber war das wirklich so?

Er erinnerte sich an seine Gespräche mit Vera Sommer, der jungen Pfarrerin von Lauberg, mit der er anlässlich eines seiner ersten Fälle beim Landeskriminalamt zusammengetroffen war. »Es ist nicht allein die Betroffenheit der Angehörigen und das Mitgefühl mit ihnen, es ist die Erinnerung an unser eigenes Ende, das stille Begreifen der Tatsache, dass es mit uns in jeder, wirklich jeder Sekunde unseres Lebens genauso weit sein kann, was uns das Überbringen der Todesnachricht so erschwert«, hatte Frau Sommer erklärt. »So sehr wir fast das ganze Leben darum kämpfen, uns von anderen zu unterscheiden, etwas Besseres als sie zu sein, so schnell sind alle Bemühungen dahin, wenn wir erst einmal so daliegen wie die Toten. Deshalb bedrückt es uns so. Jeden von uns.«

Braig wusste nicht, wer sie erwartete. Der Nachbar, der so freundlich gewesen war, Konrad Böhler zu identifizieren, hatte laut Söhnle von einer Ehefrau des Toten gesprochen. Gab es Kinder, vielleicht sogar jüngere? Sie hatten vergessen, den Mann danach zu fragen.

Steffen Braig betrachtete den dunklen Holzzaun, der das Grundstück begrenzte, entdeckte ein paar Meter weiter einen silbergrau lackierten Kunststoffbriefkasten samt Klingelkonsole, der die Aufschrift Marion und Konrad Böhler trug.

Er läutete. Die Glocke war deutlich zu hören. Zunächst bemerkte er keinerlei Reaktion. Irgendwo, weit hinter ihm, hupte ein Auto. Er drehte sich um, betrachtete die Umgebung. Von seinem Standort aus hatte er einen prächtigen Rundum-Blick über rebenbestandene Hänge hinweg ins Tal, wo sich unten die roten Dächer des Nachbardorfes Uhlbach um eine alte Kirche gruppierten. Zwei kleine Traktoren, etwa von der Größe der Maschine, die sie bei dem Toten gefunden hatten, tuckerten die Weinberge hoch. Der Lärm ihrer Motoren scholl laut herauf.

Braig drückte erneut auf die Glocke, schimpfte. »Scheint wohl niemand zu Hause zu sein.« Er suchte die Fenster des Fachwerkhauses mit seinen Augen ab, merkte, dass alles still blieb. »Dann können wir nichts anderes tun, als es später noch einmal zu versuchen.«

Sie begaben sich zurück zu ihrem Wagen, sahen einen älteren Mann, der im Nachbargarten Unkraut rupfte. Er hatte stoppelige, graue Haare, schien unrasiert, trug alte, ausgebleichte Jeans, deren Hosenträger sich auf seinem Rücken kreuzten. Ohne lange zu überlegen, eilte Söhnle zu ihm, fragte nach Frau Böhler.

Der Mann änderte seine Körperhaltung kaum, ließ sich in seiner Arbeit nicht stören. »Die?«, fragte er kurz. »Feiere wird se.«

»Feiern?«

»Was denn sonscht, wo der Alte jetzt endlich abkratzt isch.«

Bernhard Söhnle starrte den Mann mit vor Überraschung offenem Mund an, blickte sich zu Braig um, winkte ihn herüber. Offensichtlich hatte sich der Tod Böhlers bereits im Ort herumgesprochen.

»Wollen Sie damit sagen, dass das Verhältnis zwischen den beiden nicht besonders gut war?«, fragte er laut, damit Braig jedes Wort verstand.

»Gar nix will i sage, überhaupt nix.« Der Alte rupfte ein Löwenzahnbüschel aus der Erde, warf es an Söhnle vorbei an den Rand des Gartens.

»Also, die Böhlers hatten öfter Streit«, erklärte Söhnle, indem er die Andeutung des Nachbarn aufnahm, »ziemlich heftigen sogar. Seit langem schon. Richtig?«

»Des woiß jeder im Ort. Do könnet Se frage, wen Se wellet.«

»Gab es einen konkreten Anlass dafür?«

»En Anlass?« Der Nachbar richtete sich abrupt auf, betrachtete die Männer mit misstrauischem Ausdruck. »Wozu wellet Sie des überhaupt wisse? Zeitungsschmierfinke, wie?«

Söhnle schüttelte den Kopf. »Polizei. Mein Name ist …«

»Dann lasset Se mi in Ruh! I verpfeif niemand. Nachher heißt’s no, der alte Allmachtsdackel hat die Böhlere in de Dreck neizoge. Noi, ohne mi!« So abrupt, wie er sich erhoben hatte, wandte er sich von ihnen ab, stapfte schwerfällig zu seinem Haus.

Söhnle und Braig blieben stehen, riefen ihm nach. »Vielen Dank für Ihre freundliche Auskunft!«

Der Alte verharrte mitten zwischen zwei Zwiebelbeeten, drehte sich um. »Dass oiner von dene eines schönen Tags de andere umbringt, überrascht in Roteberg niemand. Damit hent mir alle scho lang grechnet. Die hent sich doch so schon halb tot gschlage!« Er bückte sich, zupfte einen Grashalm aus der Erde, starrte in geduckter Haltung zum Zaun. »Kommet Se nach achte, wenn Se von der was wellet.« Seine Stimme wurde knorriger. »No isch die feine Dame vielleicht zurück.«

Söhnle spürte, dass die Auskunftsfreude des Mannes endgültig erloschen war, nickte Braig zu. »Also heute Abend noch mal, ja?«

Sie fuhren die Stettener Straße abwärts, bogen dann im Ortskern in die Württembergstraße ein, folgten deren Serpentine zwischen Weinbergen hinunter ins Tal.

Die Worte des Nachbarn lagen Braig noch in den Ohren. Damit hent mir alle scho lang grechnet. Die hent sich doch so schon halb tot gschlage!

Szenen einer zerrütteten Ehe. Falls der Nachbar auch nur in Ansätzen Recht hatte … Sie mussten die Frau genau überprüfen. Die meisten Verbrechen waren Beziehungstaten, Gewaltakte zwischen Partnern, Bekannten oder Verwandten. Vielleicht hatten sie Glück und der Fall war im Handumdrehen gelöst, das Wochenende doch noch gerettet.

Braig sah einen Bauern am Rand der Fahrbahn, damit beschäftigt, den Zustand seiner Trauben zu begutachten. Der Mann trug mehrere kurzstielige Arbeitsgeräte in einer Art Rucksack, blickte sich prüfend um. Keine zwanzig Meter weiter werkelte der nächste Weinbauer. Das Ende der langen Regenperiode und die Rückkehr zu spätsommerlichen Temperaturen, die der Wetterbericht zumindest für die nächsten drei, vier Tage angekündigt hatte, lockte sie offensichtlich in Scharen in ihre Reviere.

Nachprüfen, wie weit die Trauben sind, überlegte Braig, letzte Vorbereitungen zur Ernte der frühen Sorten treffen. Hatte er sich Konrad Böhler so, in dieser Pose vorzustellen? Ein Weinbauer, der sich auf die Erträge seiner sicher recht mühseligen Arbeit der vergangenen Monate freut, der die Belohnung für manche schweißtreibende Stunde des letzten Jahres deutlich vor Augen hat, jetzt aber das Ergebnis nicht mehr erleben darf. Ausgelöscht durch Gift. Ausgerechnet ein Mann, der mit Spritzmitteln, Giften verschiedener Art, umzugehen gewohnt ist. Wer tötet einen harmlosen Weinbauern mit Gift? Seine eigene, mit ihm heillos zerstrittene Frau?

»Was glaubst du?«, fragte Bernhard Söhnle mitten in Braigs Überlegungen. »Haben wir es mit einer Frau zu tun?«

Der Kommissar war noch ganz in Gedanken.

»Gift. Das klassische Tötungsmittel von Frauen, oder?«

Braig sah ihn erstaunt an. Diesen Aspekt hatte er bisher übersehen. »Suizid können wir ausschließen?«

»Dr. Keils Argumente klangen überzeugend, oder nicht?«

»Ich kann mich nicht erinnern, dass er jemals total lag.«

»Also.« Söhnle nickte, bog in Untertürkheim in die Augsburger Straße ein. Auf der Gegenfahrbahn stauten sich die Fahrzeuge. »Und dann noch die Fußabdrücke. Auffallend kleine Größe, wie Schöffler meinte.«

Braig gab keine Antwort.

»Kennst du den Film ›Arsen und Spitzenhäubchen‹?«

»Wovon handelt er?«

»Eine Uralt-Klamotte. Zwei Omas killen Männer. Aus Mitleid. Damit die nicht länger wegen Obdachlosigkeit und sozialer Isolation leiden müssen.«

»Und dann begraben sie sie im Keller?«

Söhnle nickte zustimmend.

»Ich kenne ihn. Ann-Katrin hat ihn auf Video.«

»Arsen. Sie schütten das Zeug ins Glas und ihre Opfer trinken es – ohne jeden Verdacht. Und schon ist der Typ erledigt.«

»Du meinst, wir sollten uns voll auf Böhlers Frau konzentrieren?«

»Ich weiß es nicht. Zuerst müssen wir uns die Familienverhältnisse genau ansehen. Wenn wir dem Nachbarn glauben können …«

Braig nickte. »Sofern sich die Untersuchungsergebnisse wirklich bestätigen.« Auch wenn es noch so einfach aussah – der Abend konnte lang werden. Er musste sich noch mal bei Ann-Katrin entschuldigen.

»Blausäure. Wie kommt man an das Gift?«

»Keine Ahnung. Wir müssen die Techniker fragen.«

»Ich fürchte, das gibt Arbeit. Apotheken überprüfen, Ärzte, Chemielabors. Hoffentlich kommen wir dem Täter schnell auf die Spur.«

Sie hatten das Amt erreicht. In seinem Büro im obersten Stockwerk angelangt, zog Braig Jacke und Hemd aus, hängte sie auf einen Bügel, streckte sich. Er lief zum Wasserhahn, füllte sich ein Glas, trank es leer. Dann klatschte er sich mit beiden Händen kaltes Wasser auf die Stirn, schaute aus dem Fenster. Industrieanlagen, breite Straßen, das kanalisierte Band des Neckars, darüber die Steilhänge der Weinberge und mittendrin die Grabkapelle Königin Katharinas auf dem Württemberg, von seinem Standort aus gut zu erkennen. Die Senke, in der sie die Leiche Böhlers gefunden hatten, war nicht zu sehen; sie wurde von einem der davor gelegenen Hügel verdeckt. Ob die Techniker bereits über genauere Untersuchungsergebnisse verfügten?

Braig ging zu seinem Computer, gab den Namen des Toten ein, beauftragte das Suchprogramm, ihn zu überprüfen. Der Rechner arbeitete, brachte kein Ergebnis. Böhler war nirgendwo negativ aufgefallen.

Ein durchschnittlicher, auf den ersten Blick völlig normaler Vorortwingerter, überlegte er. Vergiftet von seiner eigenen Frau?

Braig starrte auf den Monitor, nahm sein Telefon, wählte Ann-Katrins Nummer. Sie war sofort am Apparat.

»Hallo«, grüßte er, »für heute Abend sieht es leider nicht so gut aus.«

»Schade. Ich habe mich so auf deine freien Tage gefreut!«

»Mir geht’s ja nicht anders. Endlich Ruhe, dachte ich, und ein Wochenende nur für uns.«

»Ist es Mord?«

»Ich fürchte, ja. Gift.«

»Gift?«

Braig merkte an ihrer Reaktion, wie ungewohnt auch ihr diese Todesart erschien. »Blausäure.«

»Ihr seid euch sicher.«

»Vorläufig. Du kennst den Arzt doch auch: Dr. Keil.«

»Wer ist der Tote?«

»Ein Weinbauer. Nichts weiter über ihn bekannt.«

»Blausäure.« Sie machte eine Pause, zögerte. »Ein schrecklicher Tod, oder?«

»Ich glaube, ja.« Er dachte an die grauenvoll verzerrten Gesichtszüge, schwieg. Alles wollte er ihr nicht erzählen. Sie hatte genug Schlimmes erlebt.

»Wer tut so etwas?«

»Ich weiß noch nichts. Wir müssen bei Null anfangen.«

»Dann wird es heute Abend nichts mehr.« Sie sagte die Worte im feststellenden, nicht im fragenden Ton, konnte ihre Enttäuschung dennoch nicht verbergen.

»Ich werde versuchen, möglichst bald zu einem Ende zu kommen. Vielleicht haben wir Glück und stoßen schnell auf den Täter«, erwiderte er, versuchte, sich selbst Mut zuzusprechen. Er versicherte ihr seine Liebe, bemüht, sie zu trösten, versprach, sich bald wieder zu melden.

Gift, arbeitete es in ihm, auch Ann-Katrin hatte überrascht reagiert, als sie die Todesursache gehört hatte. Wer mordet mit Gift? Wirklich die eigene Frau?

Er überlegte gerade, den Rechner zu beauftragen, ihm alle Unterlagen auszudrucken, die er über Blausäure ausfindig machen konnte, als das Telefon läutete. Er hatte Dr. Keils sonore Stimme am Ohr.

»Weil ich die Neugier meiner Damen und Herren Kommissare kenne«, erklärte der Arzt, »bin ich heute wieder besonders schnell. Ich habe den Mageninhalt Böhlers untersucht. Die Sache mit der Blausäure hat sich bestätigt. Die Symptome waren eindeutig. Mit irgendeiner alkoholhaltigen Flüssigkeit eingenommen. Was es genau war, weiß ich noch nicht. Ich tippe auf Wein.« Er hielt kurz inne, räusperte sich. »So viel für heute. Alles Weitere schriftlich in ein paar Tagen.«

»Können Sie schon die Zeit des Todes bestimmen?«

»Zwischen 15 und 16 Uhr. Der war höchstens eineinhalb Stunden tot, als ich ihn draußen gesehen habe. Maximal.«

»Also eher 15.30 bis 16 Uhr.«

»Wenn Sie so wollen, ja.«

Braig wollte sich gerade bedanken und den Arzt verabschieden, als ihm noch etwas einfiel. »Zyanid«, sagte er, »wer kommt an das Zeug?«

Dr. Keils Lachen drang laut an sein Ohr. »Ja, das ist eine gute Frage. Wer kommt an das Zeug?« Er schwieg einen Moment, hustete. »Fragen Sie Ihre Techniker.«

»Sie wissen es nicht?«

»Ich bin Arzt, kein Handelsvertreter für chemische Produkte. Wer wird es schon haben? Apotheker natürlich, Laboranten.«

»Sie sind sich sicher, dass es nicht zur Schädlingsbekämpfung oder Unkrautvernichtung in den Weinbergen eingesetzt wird?«

Dr. Keils Lachen dröhnte durch die Leitung. »Junger Freund, dann hätten wir alle paar Tage Gelegenheit, uns beruflich zu treffen.« Er lachte noch immer, beruhigte sich nur langsam. »Ganz so schlimm sind unsere landwirtschaftlichen Brüder doch nicht. Außerdem, ich sagte es Ihnen bereits, das Spritzen ist im Weinbau nur bis Mitte, höchstens Ende August erlaubt. Je nach Wetter und Reife der Trauben. Sie können mir glauben, einer meiner Freunde ist selbst Wingerter. Die Vorschriften sind streng, die Behörden kennen kein Pardon. Nein, da müssen Sie sich schon woanders nach einem Täter umsehen.«

Braig bedankte sich für die schnelle Information, legte auf. Blausäure also, endgültig. Dr. Keils erste Aussage hatte sich bestätigt. Wie war sie an das Gift gekommen? Er ertappte sich bei dem Gedanken, die Ehefrau des Toten bereits als Mörderin überführt zu haben, rief sich in Erinnerung, dass dieser Verdacht bisher nur auf den Aussagen des Nachbarn basierte. Vorerst war das jedoch nur eine unbewiesene Beschuldigung, die noch keinerlei Beweiskraft besaß. Er musste schnellstmöglich in Erfahrung bringen, wer über das hoch giftige Zeug verfügte oder – aus welchen Gründen auch immer – an das Material herankam. Vielleicht konnten ihm die Techniker helfen.

Braig wählte Markus Schöfflers Handynummer. Wie er die gründliche Arbeitsweise des Kollegen kannte, war er sicher noch am Tatort. Die lange Reaktionszeit, bis Schöffler endlich abnahm, bestätigte seine Vermutung. »Du bist noch in Rotenberg?«

»Wir sind zu dritt. Ich habe Verstärkung angefordert. Hutzenlaub und Camilleri sind dabei.«

Braig kannte die Kollegen, wusste, wie sehr vor allem Hutzenlaub Wochenendbereitschaft hasste. »Ihr sucht die Gegend weiträumig ab?«

»Es gibt eine zweite Person, eindeutig. Schuhgröße siebenunddreißig.«

Siebenunddreißig, überlegte Braig. Eine Frau? Böhlers Frau? »Wirklich so klein? Du bist dir absolut sicher?«

Schöfflers Stimme klang leicht gereizt. »Ich habe das Profil genau gemessen. Du solltest mich kennen.«

»Ist schon gut. Ich bin nur überrascht, dass es sich um einen so kleinen Fuß handelt.«

»Wir haben Böhlers Abdrücke und die der anderen Person über mehrere Meter hinweg genau lokalisiert. Der klatschnasse Boden bietet einmalige Chancen. Wochenlanger Regen, total feuchtes Gras. Pech für den Täter. Er kam von der anderen Seite, quer durch die Reben. Mal sehen, wie weit wir ihn verfolgen können.«

»Dann müssen wir die Weinbauern der Umgebung fragen, ob sie die Frau oder den Mann zufällig gesehen haben.«

»Das ist zu empfehlen. Am Rand des Wingerts, etwa an der Stelle, wo Böhlers Traktor steht, müssen sie sich getroffen haben. Dort stoßen die Abdrücke jedenfalls aufeinander. Eine freundliche Begegnung, schätze ich mal. Es gibt keinerlei Anzeichen für einen Streit oder gar Kampf, die Männer standen sich gegenüber, sprachen vielleicht miteinander.«

Die Männer, überlegte Braig. Oder seine Frau, seine eigene Ehefrau? »Du glaubst, dass Böhlers und die anderen Abdrücke auf dieselbe Zeit zurückgehen? Ich meine …«

»Da bin ich mir sicher, Hutzenlaub und Camilleri übrigens auch. Die Einkerbungen sind von der Tiefe und den Ausbuchtungen her vergleichbar, Böhlers Abdrücke sind nur unmerklich tiefer. Setzen wir voraus, dass die Person mit den kleinen Füßen etwas leichter war als der Tote, lässt sich dieser minimale Unterschied gut erklären. Sie müssen sich getroffen haben, freundlich, denke ich. Hätte es eine Auseinandersetzung gegeben, wäre der Boden weiträumig niedergetrampelt worden. Das ist ganz sicher nirgends der Fall.«

»Dann hat Böhler seine Mörderin oder seinen Mörder gekannt.«

»Vermutlich, ja.«

Braig atmete tief durch. Die Frau? Seine eigene Ehefrau? »Das engt den Kreis der potentiellen Täter auf jeden Fall ein. Vielleicht haben wir Glück.«

»Ich wünsche es dir.«

»Danke. Bleibt nur die Frage, in welcher Form Böhler das Gift verabreicht wurde. Dr. Keil vermutet, mit Wein. Wäre das vorstellbar?«

»Wein?« Schöffler zögerte einen Moment mit seiner Antwort. »Warum nicht? Vielleicht bot der Typ ihm von seinem Mitgebrachten zum Trinken an. Wenn es ein Bekannter war …«

Braig stimmte dem Kollegen zu. »Die beiden prosten sich zu, der oder die andere simuliert aber nur, als würde sie ebenfalls trinken. Oder sie hat zwei verschiedene Gläser oder Flaschen dabei. Eine mit und eine ohne Gift. Böhler kippt das Zeug, die Wirkung lässt nicht lange auf sich warten.«

»Der Mörder nimmt die Flasche oder das Glas wieder an sich und verschwindet.«

»Denselben Weg, den sie gekommen ist?«

»Denselben. Nur eine Rebenzeile weiter westlich, das haben wir schon eruiert.«

»Dann hoffe ich, dass ihr ihre Spuren möglichst weit verfolgen könnt.«

»Du sprichst immer von sie und ihr.«

»Schuhgröße siebenunddreißig. Eine Frau.«

»Das muss nicht unbedingt sein. Auch Männer haben manchmal kleinere Füße.«

»Richtig.«

»Außerdem kann es ein Trick sein.«

»Ein Trick?«

»Extra für den Mord. Kleine Schuhe, um uns irre zu führen.«

Braig musste Schöffler insgeheim Recht geben. »Vielleicht. Warten wir’s ab.« Er verabschiedete sich.

Bernhard Söhnle trat ein. Die Haltung des jungen Kollegen hatte sich verändert, seine Augen blickten trotz der späten Stunde aufgeregt, sein Mund stand offen.

»Ich habe etwas entdeckt«, erklärte er. Er baute sich vor Braigs Schreibtisch auf, drehte dessen Computermonitor zur Seite, trommelte auf das Kunststoffgehäuse. »Die Frau des Toten.«

Braig wartete neugierig auf Söhnles Idee. »Was ist mit ihr? Mach es nicht so spannend!«

»Ich gab meinem Suchprogramm die Aufgabe, alle Leute hier in der Umgebung auszudrucken, die mit Gift zu tun haben. Personen mit Zugang zu toxischen Stoffen.«

»Und?«

»Marion Böhler, Stuttgart- Rotenberg.«

»Ja?«

»Sie ist Apothekerin. In Bad Cannstatt.«

Braig pfiff laut durch die Zähne.

4. Kapitel

Zehn Minuten nach acht hatte Söhnle Marion Böhler endlich am Telefon.

»Du glaubst es nicht, was die für ein Gezeter anstimmte, als ich ihr erklärte, dass wir heute Abend noch persönlich bei ihr vorbeischauen wollen. Als ob wir sie bei einem Verbrechen überraschen könnten«, erklärte der Kriminalmeister, als sie nach Rotenberg unterwegs waren.

»Du traust der Frau nicht?«

Söhnle überlegte nicht lange. »Das zu beurteilen, ist es noch zu früh. Erst will ich persönlich mit ihr sprechen und beobachten, wie sie reagiert.«

Braig nickte, starrte in die dunklen Straßen, die draußen an ihnen vorbeizogen. »Hattest du den Eindruck, dass sie über den Tod ihres Mannes Bescheid weiß?«

»Keine Ahnung. Vor lauter Schimpfen und Protesten kam ich nicht dazu, den Grund unseres Besuches auch nur anzudeuten.«

Das Haus der Böhlers am Ortsrand Rotenbergs lag weitgehend im Dunkeln. Einzig eine einsame Straßenlaterne verbreitete trübes Licht in Höhe der Grundstücksgrenze zum Nachbarhaus. Das änderte sich jedoch schlagartig, als sie sich dem Zaun der Böhlers näherten. Wie von Geisterhand gesteuert flammten im Sekundenrhythmus hintereinander mehrere gleißend helle Strahler auf, setzten die beiden Beamten in ein unerträglich grelles Licht.

Braig riss seine Arme hoch, hielt sich die Hände schützend vor die Augen. »Bewegungsmelder, wie ich die Dinger hasse!« Er hatte Mühe, den Klingelknopf zu finden, läutete ausgiebig. Das sanfte Dingdong war deutlich zu hören.

Marion Böhler ließ sich Zeit. »Sie haben es wirklich eilig«, erklärte sie mit kräftiger Stimme, als sie langsam, vom unverhofften Licht immer noch geblendet, die Stufen zum Eingang des Fachwerkhauses hinaufstiegen.

Braig reichte ihr die Hand, zeigte seinen Ausweis, stellte sich und seinen Kollegen vor. Er hatte Mühe, sie anzusehen, benötigte einige Sekunden, bis sich seine Augen wieder an das wohldosierte Licht im Inneren des Hauses gewöhnt hatten. Marion Böhler war von mittlerer Größe, hatte eine feine, schlanke Statur. Ihre Haare trug sie kurz, in einem modischen Hennaton gefärbt, das Gesicht dezent geschminkt. Im Gegensatz zu ihren Worten am Telefon war ihr keine Verstimmung anzumerken.

Sie führte die Männer in ein weiträumiges Wohnzimmer, das mit einer modernen, dunkelroten Sofagarnitur, einem weißen Klavier und einem hohen Wandschrank ausgestattet war, bot ihnen Platz, dann auch Getränke an. Braig und Söhnle setzten sich, ließen sich Mineralwasser reichen, das sie in stilvoll schlanken Gläsern servierte. Nachdem sie die Flasche neben dem Sofa abgestellt hatte, nahm auch die Gastgeberin Platz.

»Sie müssen entschuldigen, mein Mann ist noch nicht hier. Ich kann Ihnen nicht einmal sagen, wo er sich aufhält.«

Braig hörte den kritischen Unterton in ihrer Stimme. »Sie gehen oft getrennte Wege?« Sein Blick fiel auf ihre Schuhe; mittlere Größe, schätzte er, durchaus im Bereich dessen, was am Tatort festgestellt worden war. Ihr Körperbau war nicht besonders kräftig; wenn sie ihren Mann töten wollte, musste sie zu einem Hilfsmittel greifen. Gift, die Waffe der Apothekerin? Braig spürte, dass er sich von seiner Voreingenommenheit nur schwer befreien konnte. Er sah sich im Zimmer um, wunderte sich, wie großzügig der Raum ausgestattet war. Nach einer Bauernstube sah es ganz und gar nicht aus. Der in samtroten Farbtönen gearbeitete Perserteppich, der sich in einer Braig bisher unbekannten Größe quer über den gesamten Boden erstreckte, kostete wahrscheinlich mehr als das Jahresgehalt eines Kriminalkommissars. Die moderne Sofagarnitur, zum Sitzen weniger geeignet als zum Vorzeigen und Bestaunen, lag im Preis sicher nicht viel günstiger. Stirnrunzelnd dachte er darüber nach, ob die Böhlers wohl das Klavier, ein Steinway and sons, mehr zur Dekoration oder zum Gebrauch erworben hatten. Sein Standort auf dem dicken Teppich schien jedenfalls ungeeignet, eine künstlerischen Ansprüchen genügende Akustik zu entfalten.

»Getrennte Wege?« Marion Böhler lachte leise. »Stundenlang im nassen Weinberg herumstapfen, Rebe um Rebe betatschen, die mickrigsten Trauben untersuchen – das ist nicht jedermanns Sache. Mir scheint es reizvoller, einen Kaffee in angenehmer Umgebung zu trinken, die neuen Auslagen einer Boutique zu betrachten oder einfach durch die Stadt zu bummeln. Fällt es schwer, das nachzuvollziehen?«

»Nein, überhaupt nicht. Sie waren den ganzen Nachmittag unterwegs?«

»Wieso interessiert Sie das?« Sie schien ehrlich verwundert, betrachtete ihn mit fragender Miene.

Die Frau war clever, spürte Braig, im Umgang mit Menschen erfahren. Er vermochte nicht zu erkennen, ob sie die Rolle der Unwissenden spielte oder ihm einfach frei von der Leber weg – durchaus mit Charme – antwortete. »Sie wollen uns nicht sagen, wo Sie waren?«

»Was soll die Frage? Ich war in der Stadt, in Boutiquen, bummeln, einen Kaffee trinken. Ich erzählte es doch gerade.« Sie griff nach ihrem Glas, nippte von dem Wasser. »Was, bitte, wollen Sie eigentlich von mir?«

Braig beobachtete sie misstrauisch, tat es ihr nach. Das Wasser war eiskalt. Er schluckte es langsam, stellte das Glas vorsichtig wieder zurück. »Es tut mir Leid, aber Sie wissen offensichtlich noch nicht, was mit Ihrem Mann …«, er stockte, überlegte, wie er die nächsten Worte formulieren sollte. Ob sie es weiß? Weil sie ihn selbst ermordet hat?

Die Frau blieb ruhig, wartete auf eine Erklärung.

»Frau Böhler, Ihr Mann wurde heute Nachmittag gegen 16 Uhr in Ihrem Weinberg gefunden. Tot.«

»Wie bitte?«

Sie war wie von einem Katapult in die Höhe geschleudert aus ihrem Sessel gesprungen, stand mit weit aufgerissenem Mund vor ihm und starrte ihn an.

Braig sah, wie es in ihr arbeitete. Er erhob sich ebenfalls, legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter. »Ihr Mann, er war in Ihrem Weinberg heute, ja?«

Sie nickte mit dem Kopf, schaute ihn immer noch ungläubig an. »Im Wingert, ja natürlich. Ich sagte es Ihnen doch schon.«

»Er wurde ermordet.«

Sie fiel wie in Trance in sich zusammen, plumpste in ihren Sessel zurück. Ihre Augen starrten auf einen imaginären Punkt irgendwo im Raum. Sie schwieg, versuchte das Ungeheuerliche zu begreifen.

Marion Böhler, die Mörderin ihres Mannes? Wenn ja, dann verfügte sie jedenfalls über eine außergewöhnliche schauspielerische Begabung, dachte Braig. Er betrachtete ihr vor Entsetzen versteinertes Gesicht, sah, wie eine Träne über ihre linke Wange rann. Ihre Mundwinkel arbeiteten, ihre Augen versuchten, sich von dem imaginären Punkt zu lösen. Pures Unverständnis machte sich in ihrem Gesicht breit. Plötzlich richtete sie sich ruckartig wieder auf.

»Ermordet?«, fragte sie. Ihre Lippen bewegten sich, hatten Mühe, die Worte zu formen. »Heute Mittag?«

Braig ließ ihr Zeit, wartete, bis sie wieder zu sich gefunden hatte, nickte mit dem Kopf. »Mit Gift.«

Sie rutschte zur Seite, warf ein Kissen auf den Boden. Bernhard Söhnle erhob sich, gab ihr das Kissen zurück. Sie beachtete ihn nicht.

»Zyanid«, erklärte Braig, als er ihre fragende Miene sah. Sie schien sprachlos, war unfähig, die Worte auszusprechen, die ihr auf den Lippen lagen.

Sekunden später bestätigte sie, dass sie ihn verstanden hatte. »Blausäure«, hauchte sie.

Die Apothekerin, überlegte er, die Expertin für Arzneien und Gifte. Würde ausgerechnet sie zu dem hoch gefährlichen Zeug greifen, wenn sie ihren Mann beseitigen wollte? Sie, die die Polizei ihres Berufes wegen als Erste verdächtigen würde?

»Sie kennen sich aus?«

Marion Böhler kam langsam wieder zu sich. »Ich arbeite in einer Apotheke. In Cannstatt.«

»Jeden Tag?«

»Dreimal die Woche.«

»Aber heute nicht.«

»Heute? Nein, ich sagte Ihnen doch, ich war in der Stadt, bummeln, einkaufen …«

Braig spürte, wie sie wieder auflebte, schaute auf seine Uhr. Fünf vor neun. Marion Böhler schien stabil genug, weitere Fragen beantworten zu können. »Sie waren nicht bei Ihrem Mann im Weinberg?«

»Bei Konrad? Um Gottes willen, was soll ich dort? Wissen Sie, wie nass es draußen ist?«

Hatte sie den Hintergedanken seiner Frage wirklich nicht verstanden?

»Der Wingert, das ist Konrads Welt, nicht meine«, erklärte sie, wie zur Bestätigung seiner Vermutung.

»Wie würden Sie den Zustand Ihrer Ehe bezeichnen?«

Sie stutzte, schaute ihn mit großen Augen an, antwortete nur zögernd. »Was tut das jetzt noch zur Sache? Konrad ist tot, oder?«

Braig nickte. »Trotzdem.«

»Wir haben spät geheiratet. Ich war Ende dreißig, Konrad Anfang vierzig. Vielleicht verstehen wir uns deshalb so gut. Bis auf einige Reibereien könnte es nicht besser sein.«

Braig schaute sie überrascht an, wunderte sich über die Dreistigkeit, mit der sie ihn belog. Mit den Ausführungen des Nachbarn hatte diese Aussage nichts gemein. Er wandte seinen Blick Söhnle zu, sah das vorsichtige Kopfschütteln des Kollegen.

»Von welchen Reibereien sprechen Sie?«, fragte er.

Sie antwortete nicht sofort, überlegte erst, wie sie es formulieren solle. »Kleinigkeiten, nicht der Rede wert. Wie sie in jeder Beziehung ab und an mal vorkommen.«

Es war nicht zu überhören, dass sie nicht die Wahrheit sagte.

»Haben Sie Zeugen für Ihren Einkaufsbummel heute Mittag?«

»Zeugen?«

»Haben Sie jemand getroffen? Unterwegs oder beim Kaffee trinken?«

Marion Böhler zuckte mit der Schulter, schaute ihn ratlos an. »Wozu? Konrad ist tot.«

Ihre Antwort überzeugte ihn nicht. »Irgendjemand wird Sie doch gesehen haben, heute Nachmittag.«

»Nein, niemand.«

»Das ist schlecht.«

»Wieso?«

Er wusste nicht, ob sie ihn wirklich nicht verstand oder ihn zum Narren hielt. Immerhin war es möglich, dass sie unschuldig und vom plötzlichen Tod ihres Mannes schockiert war. Er musste seine Aggressionen bremsen. »Haben Sie Kinder?«

»Kinder?« Sie wiederholte seine Frage, schüttelte dann den Kopf.

»Verwandte oder Bekannte, die wir rufen können, damit Sie nicht allein sind?«

Sie verstand, worauf er hinauswollte. »Danke. Ich komme allein zurecht.« Ihre Stimme hatte deutlich an Kraft gewonnen. Sie griff nach einem Papiertaschentuch, putzte sich die Nase. »Ermordet«, fügte sie hinzu, langsam, wie in Zeitlupe. »Dann waren die Drohungen doch echt.«

Braig und Söhnle richteten sich gleichzeitig auf. »Von welchen Drohungen sprechen Sie?«

»Briefe. Ich dachte zuerst, Sie seien deswegen gekommen. Jetzt hat er die Polizei doch informiert, obwohl er die Sache bisher nur auf die leichte Schulter nahm.«

Braig wusste nicht, ob er der Frau glauben solle. »Sie haben sie hier?«

Marion Böhler schüttelte energisch den Kopf. »Sie liegen in seinem Büro.«

»Können wir sie sehen?«

»Muss das unbedingt heute noch sein? Reicht morgen früh nicht auch? Das war sehr viel für mich.« Der Tonfall ihrer Stimme hatte überraschend an Volumen gewonnen. Sie klang energisch, fast aggressiv. So wie am Anfang ihres Besuches, als sie sie empfangen hatte.

Braig nickte, wollte ihr nicht widersprechen. Nicht, wenn sie wider Erwarten erst vor wenigen Minuten, aus seinem Mund vom Tod ihres Mannes erfahren hatte. Ganz konnte er diese Möglichkeit nicht ausschließen. Obwohl sie ihm nicht besonders wahrscheinlich erschien. Er gab Söhnle mit einer Kopfbewegung zu verstehen, dass er aufbrechen wollte, erhob sich. »Wir können wirklich niemanden für Sie rufen?«

»Ich benötige Ihre Hilfe nicht, danke.« Marion Böhler ging ihnen voran, begleitete sie bis zur Haustür.

Braig betrachtete die Frau, bemerkte im hellen Licht der Diele, welch kräftige Farbe ihr Gesicht wieder angenommen hatte. Sie musste sich überraschend schnell von dem Schock erholt haben. Wenn es wirklich ein Schock und eine Überraschung für sie war.

»Schönen Abend noch«, sagte sie, als sie sich verabschiedeten. Ihrer Stimme war nichts, aber auch gar nichts von einer Beunruhigung durch die schlimme Botschaft anzuhören, die sie ihr überbracht hatten.

Ob sie wirklich so unwissend war, wie sie getan hatte? Braig war sich nicht sicher. Ob sie nicht doch über schauspielerische Fähigkeiten verfügte? Der theatralische Sprung vom Sofa, das pathetische Zurückfallen, die dekorative Träne auf der Wange, passte das zu der gesunden Gesichtsfarbe und der kräftigen Stimme, zu denen sie so schnell wieder zurückgefunden hatte? Damit hent mir alle grechnet. Die hent sich doch so schon halb tot-gschlage. Wusste sie von seinem Tod, war aber so clever, uns für einige Minuten die vom Schock der schlimmen Nachricht erschütterte Witwe vorzuspielen? Und um uns von sich selbst abzulenken, gaukelt sie jetzt die Existenz irgendwelcher Drohbriefe vor. Wer weiß, was für absurde Behauptungen sie uns morgen präsentieren wird. Ob ich mich wirklich so einfach von ihr abfertigen lassen soll?

Er hörte, wie die Frau hinter ihnen die Tür abschloss, stieg mit Söhnle vorsichtig die Stufen zur Straße hinunter.

Oder täusche ich mich? Tue ich ihr Unrecht? Er hatte Mühe, seine Gedanken zu ordnen. Vielleicht lag es an der späten Stunde. Müde starrte er ins gleißende Licht der Strahler.

5. Kapitel

Ann-Katrin Räuber hatte keinen guten Tag gehabt.

»Ich konnte es fast nicht aushalten«, erzählte sie Steffen Braig am Telefon, als er kurz vor 22 Uhr zu Hause angelangt war und sich müde auf seine Couch geworfen hatte, »ohne Schmerzmittel wäre es nicht gegangen.«

Er hatte mehrfach nachgefragt, weil er ihre Reaktion inzwischen kannte und deutlich spürte, wie sie dem Thema wieder einmal aus dem Weg zu gehen versuchte.

»Wir müssen es mit einem anderen Arzt versuchen«, sagte er, »ich werde mich jetzt ernsthaft darum kümmern.« Er hatte Dr. Keil um Rat fragen wollen, weil er von Bernhard Söhnle um dessen Kompetenz auch in der Beurteilung von Kollegen wusste, war aber angesichts des vergifteten Mannes im Weinberg nicht zu diesem Gedankensprung fähig gewesen. Er beschloss, den Arzt in den nächsten Tagen privat anzurufen.

»Seid ihr weitergekommen?«, fragte Ann-Katrin.

Braig spürte, dass sie von ihrem Gesundheitszustand abzulenken versuchte, fühlte sich aber zu müde, sich dagegen zu wehren. »Nicht viel. Die Sache mit dem Gift hat sich bestätigt.«

»Blausäure?«

»Wie Dr. Keil von Anfang an vermutete.«

»Wer kommt an das Zeug?«

»Eine gute Frage. Wenn wir die Antwort wüssten, hätten wir den Fall so gut wie geklärt. Apotheker, Mitarbeiter in Chemielabors und solche Leute.«

»Im Umkreis des Toten ist niemand dabei?«

»Seine Frau. Sie ist Apothekerin.«

»Oh.« Ann-Katrin stutzte. »Und? Habt ihr sie euch schon vorgenommen?«

»Ich war mit Bernhard bei ihr. Wir trauen es ihr zu, wissen es aber nicht. Sie schien für einen Moment betroffen, sehr betroffen sogar, hatte sich aber schnell wieder in der Gewalt. Vielleicht etwas zu schnell.«