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Ausgerechnet in der Liederhalle, dem hoch angesehenen Kultur- und Kongresszentrum Stuttgarts, wird ein Tagungsteilnehmer erschlagen aufgefunden. Kommissar Steffen Braig sieht sich mit ständig neuen Hindernissen konfrontiert, als es darum geht, die Suche nach dem Täter und den Hintergründen des Verbrechens aufzunehmen. Hat es mit dem beruflichen Erfolg des Opfers zu tun, oder eher mit dessen Privatleben? Eine Spur führt in die Reutlinger Hochschule, an der das Opfer als Dozent tätig war. Braig, vom neuen Staatsanwalt Söderhofer mehr sabotiert als unterstützt, bekommt Hilfe von seiner Kollegin Neundorf, die eine Serie von Tankstellenüberfällen untersucht und Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Fällen zu erkennen glaubt. Ihren Ermittlungen zufolge hat das Verbrechen mit einem seltsamen Geschehen beim Schloss Lichtenstein am Rand der Schwäbischen Alb zu tun. Neundorf und Braig ermitteln in ihrem 12. Fall!
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Seitenzahl: 384
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Klaus WanningerSchwaben-Ehre
Vom Autor bisher bei KBV erschienen:
Schwaben-Rache
Schwaben-Messe
Schwaben-Wut
Schwaben-Hass
Schwaben-Angst
Schwaben-Zorn
Schwaben-Wahn
Schwaben-Gier
Schwaben-Sumpf
Schwaben-Herbst
Schwaben-Engel
Schwaben-Ehre
Schwaben-Sommer
Klaus Wanninger, Jahrgang 1953, evangelischer Theologe, lebt mit seiner Frau Olivera und den schwäbischen Katern Mogli und Balou in der Nähe von Stuttgart. Er veröffentlichte bisher neunundzwanzig Bücher. Seine überaus erfolgreiche Schwaben-Krimi-Reihe mit den Kommissaren Steffen Braig und Katrin Neundorf umfasst mittlerweile zwölf Romane in einer Gesamtauflage von über einer halben Million Exemplaren.
Klaus Wanninger
1. Auflage November 20092. Auflage Dezember 20093. Auflage Dezember 2010
© KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheimwww.kbv-verlag.deE-Mail: [email protected]: 0 65 93 - 99 86 68Fax: 0 65 93 - 99 87 01Druck: Aalexx Buchproduktion GmbH, GroßburgwedelPrinted in GermanyPrint-ISBN 978-3-940077-70-7E-Book-ISBN 978-3-95441-100-9
Für meine Mutter
Die Personen, Namen und Handlungen dieses Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen oder tatsächlichen Ereignissen wäre rein zufällig. Leider beruhen die Hintergründe aber auf Tatsachen.
Der auffallend breite, in einen feinen dunklen Anzug gehüllte Rücken eines Mannes war das Erste, was Braig wahrnahm, als er die Toilette betrat. Größe 116 oder 120, falls es die überhaupt gibt, irgendeine Spezialanfertigung jenseits von XXL, schoss es ihm durch den Kopf, als er die wuchtige Figur vor sich hatte. Ob der in eine der schmalen Kabinen passt? Oder – was eher zu vermuten war – schon im Türrahmen stecken bleibt?
Er betrachtete die Umrisse des Breitschultrigen, sah die blaugrauen Schwaden, die von ihm aufstiegen. Intensiver Zigarettenqualm hing in der Luft. Der Mann schien keinen Hals zu besitzen, sein Kopf ruhte unmittelbar auf seinen Schultern. Alles an ihm wirkte klobig. Der Halslose starrte in eine der Kabinen, seinen Kopf wie bei der lautlosen Verneinung einer Frage unruhig hin und her bewegend, als könne er nicht glauben, was dort zu sehen war.
Braig trat einen Schritt zur Seite, versuchte, einen Blick ins Innere zu erhaschen. Es war unmöglich, der gewaltige Leib des Mannes versperrte jede Sicht.
Ein Toter in einer Toilette der Liederhalle, hatte man ihn informiert. Sie müssen sich darum kümmern. Sofort und mit äußerster Diskretion. Es läuft gerade ein wichtiger Kongress. Nicht, dass es zuviel Aufsehen gibt.
Steffen Braig, seit vielen Jahren als Kriminalhauptkommissar beim Stuttgarter Landeskriminalamt tätig, war sich der Brisanz des Falles von Anfang an bewusst. Die Stuttgarter Liederhalle war seit Jahrzehnten eines der, wenn nicht sogar das renommierteste Kultur- und Kongresszentrum nicht nur der Landeshauptstadt, sondern des gesamten Bundeslandes. Tagungen und Konzerte, die hier angeboten wurden, genossen allein schon der Lokalität wegen einen besonderen Status. Wer immer sein Image aufzupolieren gedachte, gab sich als Besucher einer der zahlreichen Veranstaltungen der Liederhalle zu erkennen – heute wie seit Jahrzehnten eine beliebte Gepflogenheit der Bürger fast des gesamten Ländles, Kultur zu genießen und zugleich das eigene Renommee nachhaltig zu verbessern.
Der mitten im Zentrum Stuttgarts gelegene Komplex war in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts als weltweit gelobte Meisterleistung der Architektenkoryphäen Rolf Gutbrod und Adolf Abel anstelle des 1864 erbauten und 1944 durch Bombenangriffe zerstörten Vorgängergebäudes als deutlich von expressionistischen Strukturen geprägtes Konzerthaus errichtet und 1991 durch einen vom Gutbrod-Schüler Henning kreierten Neubau ergänzt worden. Beethoven-, Hegel-, Mozart-, Schiller- und Silchersaal galten ebenso wie die zahlreichen Tagungsräume als Musterbeispiele gelungener Architektur, warteten zudem bis in die letzten Winkel mit perfekter Akustik auf. Tag für Tag zogen sie Tausende von Kongress- und Konzertbesuchern an. Die geniale Gestaltung des gesamten Komplexes hatte unzählige Kulturbeauftragte und Städteplaner auf der ganzen Welt zu dem Versuch veranlasst, die Liederhalle zu kopieren, zumindest ihre zentralen Strukturen zu übernehmen – nirgendwo jedoch, so das weitgehend einhellige Urteil der Fachleute, mit der Perfektion, die das Original zu einem so einzigartig gelungenen Kunst- und Musentempel hatte gedeihen lassen. Dass es den Managern dieser Kulturhochburg in einer Zeit immer neuer geistiger Tiefschläge und alle paar Wochen nicht mehr nur von privaten Fernsehsendern mit großem medialen Getöse inszenierten Verblödungsaktionen gelungen war, sich den auf ein kaum mehr zu unterbietendes Fäkalniveau zusteuernden Unterhaltungstendenzen wirkungsvoll zu widersetzen und dem seit Jahrzehnten bewährten, auf der Klassik gründenden Ideal weitgehend treu zu bleiben, hatte den Ruf der Institution weiter gefestigt. Einem Fels in der Brandung gleich schien das Kultur– und Kongressangebot der Liederhalle bis auf den heutigen Tag unangefochten aus der unübersehbaren Flut der belanglose Nichtig- und Geschmacklosigkeiten plärrenden Hohlköpfe und Dummschwätzer zu ragen.
Kein Wunder, dass Braig bei der Nachricht vom Fund eines Toten an diesem Ort sofort hellhörig geworden war und sich auf dem schnellsten Weg zu dem mitten im Zentrum Stuttgarts gelegenen Gebäudekomplex aufgemacht hatte.
Sein um einen Tag verlängertes Wochenende war überaus zufriedenstellend verlaufen. Am Samstag der Besuch eines Konzerts seiner Lieblings-Folkrockband Wendrsonn im Staufer-Schulzentrum in Waiblingen, gemeinsam mit seiner hochschwangeren Lebensgefährtin. Ihr erstes Wendrsonn-Erlebnis, hatte Ann-Katrin Räuber erklärt, verschmitzt lächelnd auf ihren Bauch deutend.
Bruder, mei Bruder, letscht Nacht do han i träumt,
a Wese kam zu mir, s’ hat’s gut mit mir gmoint…
Biggi Binder, die Leadsängerin der Band, hatte Braigs Lieblingssong wieder einmal mit besonders einfühlsamer Stimme vorgetragen, ihn den Stress und die Mühsal seines Berufes vergessen lassen.
Nur einen Tag später dann das beeindruckende Orgelkonzert seines Kollegen Dr. Kai Dolde in der voll besetzten Backnanger Stiftskirche, das der promovierte Kriminaltechniker dem 200. Geburtstag des Komponisten Felix Mendelssohn-Bartholdy gewidmet hatte. In der Begleitung seiner Kollegin Katrin Neundorf und deren Partner Thomas Weiss waren Braig und Ann-Katrin Räuber in das von vielfältigen Klangfarben getragene Werk des Romantikers abgetaucht. Doldes musikalische Virtuosität hatte sich in besonderem Maß bei seiner abschließenden Triosonate in C-Dur von Johann Sebastian Bach gezeigt, ein, wie er selbst betont hatte, hochkomplexes Stück, das er auf seiner heiß geliebten Stiftskirchen-Orgel mit viel Ehrgeiz zum Besten gegeben hatte.
Zu Braigs und seiner Partnerin großer Zufriedenheit war auch ihr Besuch beim Gynäkologen am folgenden Morgen ohne negative Überraschungen ausgefallen.
Er starrte auf den breiten Rücken des Mannes vor sich, überlegte, ob es sich wohl um einen eilig herbeigerufenen oder zufällig im Haus anwesenden Arzt handele, der jetzt noch auf die Ankunft des Gerichtsmediziners wartete, räusperte sich daher laut. »Guten Morgen«, versuchte er seine Anwesenheit deutlich zu machen, »ich komme vom Landeskriminalamt. Darf ich wissen …«
Er trat einen Schritt zurück, weil sich die beleibte Gestalt vor ihm etwas ungelenk zur Seite drehte, wich der blaugrauen Wolke, die der Mann von sich stieß, mit einer schnellen Kopfbewegung aus.
»Landeskriminalamt, da schau her. Auch schon ausgeschlafen, auf Steuerzahlerkosten, wia?«, erklärte sein Gegenüber mit kräftigem Bass, die qualmende Zigarette von den Lippen nehmend. »Hams dort alle so a lahmarschiges Timing?« Er zeigte ins Innere der Kabine, maulte in einem leicht bayrisch gefärbten Akzent etwas von »unerquicklicher Dislokation«, gab eine weitere blaugraue Rauchwolke von sich, reichte dem Kommissar die Hand.
Braig schob den Kopf zurück, um dem Nikotinnebel auszuweichen, spürte den laschen Händedruck des Mannes. Es fühlte sich eher wie die versehentliche Berührung eines glitschigen, auf einem Marktstand zum Verkauf angebotenen Fisches an. Er sah die feucht glänzenden, üppig gegelten Haare seines Gegenüber, begriff im gleichen Moment, wen er vor sich hatte. Söderhofer, der neue Staatsanwalt! Er hatte ihn erst ein- oder zweimal von Weitem gesehen, noch nie direkt mit ihm zu tun gehabt, um so ausführlicher jedoch von ihm gehört. Wahre Horrorstorys, die über den Mann im Umlauf waren. Kochs, des Oberstaatsanwalts eifrigster Speichellecker, sein ungeniertester Zuträger, von unglaublichem Ehrgeiz getrieben, Tag und Nacht im Einsatz, jede von ihm betreute Untersuchung akribisch verfolgend. Was davon wahr war, wirklich persönlichen Erfahrungen und Beobachtungen entsprang, konnte Braig allerdings nicht beurteilen. Mehrfach schon waren ähnlich skeptische Gerüchte im Umfeld neuer Staatsanwälte aufgetaucht, die jeweilige Person als einzigartigen Alptraum disqualifizierend, hatten sich dann aber nach wenigen Wochen gemeinsamer Ermittlungen schnell als weitgehend unberechtigte pauschale Verdächtigungen entpuppt.
Er dachte an den Dienstantritt von Thekla Kliss vor etwas mehr als einem Jahr zurück, einer jungen Staatsanwältin, mit der er inzwischen schon einige Male zu tun gehabt hatte. Noch bevor er zum ersten Mal mit ihr in Kontakt gekommen war, hatte ihn die Gerüchteküche aufs Ausführlichste mit angeblichen Informationen über sie versorgt gehabt. Von der Unfähigkeit in Person über Alibifrau der staatsanwaltlichen Männermafia bis zur Schlampe, die sich durch die richtigen Betten hochgeschlafen hat, waren unzählige Varianten übelster Nachrede über sie im Umlauf gewesen. Braig hatte im Umgang mit der Juristin von Anfang an versucht, möglichst sachlich zu bleiben, hatte die Kontakte mit ihr nie als unangenehm empfunden. Mochte die Staatsanwältin ihre Tücken haben – wer hatte die nicht? – besser als mit Koch, dem personifizierten Ekel zusammenarbeiten zu müssen, war es allemal.
Wird schon nicht so schlimm werden mit Söderhofer, hoffte er deshalb, wahrscheinlich wird sich ein Großteil der über ihn kursierenden Storys als Ansammlung plumper, letztendlich unberechtigter Vorurteile erweisen. In drei, vier Monaten werden die meisten Kollegen ganz anders über ihn reden. Er versuchte deshalb, seine Irritation über das Auftauchen des Staatsanwalts hier am Tatort und über das ungewohnte Phänomen, dass der Mann zu einem solch frühen Zeitpunkt schon über das Verbrechen informiert war, zurückzustellen und sich vorurteilslos auf die Zusammenarbeit mit ihm einzulassen.
»Braig ist mein Name«, stellte er sich vor, vorsichtig seine Rechte zurückziehend, bevor der andere noch einmal auf die Idee kam, sie zu berühren. Wenn er etwas nicht leiden konnte, dann Leute, die beim Grüßen nur die Handfläche aneinanderrieben statt richtig zuzupacken. Einen nassen Waschlappen konnte er sich zu Hause selbst herrichten.
Er starrte ins Innere der Kabine, glaubte nicht richtig zu sehen. Der leblose Körper eines Mannes hing schlaff wie eine übergroße Puppe quer über der offenen Toilettenschüssel, Kopf, Schulter und Arme auf der linken, die Beine auf der rechten Seite. Ein grotesker Anblick. Braig spürte, wie es in seinem Magen rumorte, schluckte.
»Eine sehr bedenkliche und – lassen Sie es mich so formulieren – unerquickliche Dislokation, wia?«, hörte er die Stimme Söderhofers. »Wie geht es Ihren Söhnen?«
Braig starrte auf die Leiche vor sich, zurrte die Plastiküberzüge zurecht, die er ebenso wie der Staatsanwalt auf Geheiß eines vor der Tür postierten Beamten vor dem Betreten der Toilette über seine Schuhe gestülpt hatte, wusste nicht, worauf die Frage zielte. Ann-Katrin, seine Lebensgefährtin, war zwar im achten Monat schwanger, allerdings mit einem Mädchen, wie die Aufnahmen der Gynäkologin zu ihrer gemeinsamen Freude eindeutig ergeben hatten. »Söhne?«, murmelte er deshalb irritiert vor sich hin.
Der Tote war gut gekleidet; ein silbergrauer Anzug, dessen Jacke größtenteils in die Toilettenschüssel hing, schmale schwarze Schuhe, eine dunkelblaue Krawatte, die jetzt senkrecht von seinem Hals herunter auf den Boden fiel. Braig sah, dass er kurz geschnittene dunkle Haare hatte, ein – soweit das in dieser ungewöhnlichen Position zu beurteilen war – breites, von dichten Augenbrauen geprägtes Gesicht und sich wohl einen Drei-Tage-Bart hatte wachsen lassen. Vom Alter her schwer einzuschätzen, wohl Anfang oder Mitte Vierzig, auf jeden Fall viel zu früh und deutlich sichtbar gewaltsam aus dem Leben geworfen. Er betrachtete die linke Schläfe des Mannes, sah eine große blutverkrustete Wunde, die bis zum Hinterkopf reichte, beugte sich über die Leiche, entdeckte auf der anderen Gesichtshälfte eine weitere, etwas kleinere Wunde. »Er wurde erschlagen«, überlegte er laut, »mit einem harten Gegenstand, wenn ich das richtig sehe.« »Eine sehr unerquickliche Dislokation. Und das ausgerechnet in unserer Liederhalle.« Söderhofer setzte zu weiteren Worten an, wurde von der eilig aufgerissenen Eingangstür und lauten Stimmen überrascht. Drei in hellgrüne Plastikoveralls gekleidete Männer betraten die Toilette, betrachteten verwundert die beiden Anwesenden, dann den Toten.
»Alle Idiote von Sindelfinge, der Sparrefantel scho wieder. Ihr hent mir hoffentlich nix agrührt«, blaffte Helmut Rössle, einer der Spurensicherer des Landeskriminalamts. Sein vorwurfsvoller Blick haftete auf der Zigarette des Staatsanwaltes, deren graublauer Rauch zur Seite stob.
»Sie halten uns wohl für Idioten, was?« Söderhofers gereizter Ton war nicht zu überhören.
»I wüsst nix, was dagegen spricht. Glimmstengelgepaffe mit feinverteilter Asche am Tatort, do erübrigt sich jedes Wort.«
Der Techniker schaute an dem Mann vorbei in die Kabine, musterte den Toten. Lars Rauleder, ein weiterer Spurensicherer klopfte Braig auf die Schulter, ließ dem dritten Neuankömmling den Vortritt. Dr. Holger Schäffler, der Gerichtsmediziner, reichte dem Kommissar die Hand und nickte dem Staatsanwalt kurz zu.
Er kennt den Mann anscheinend schon, überlegte Braig, trat dann vom Eingangsbereich der Kabine zurück. Einer nach dem anderen begutachtete ausführlich den Toten.
»Wer ist der Mann? Weißt du, um wen es sich handelt?«, fragte Rauleder.
Braig schüttelte den Kopf. »Woher? Ich bin eben erst gekommen.«
»Ihr habt ihn nicht angerührt?«
»Ich nicht«, erklärte er mit Nachdruck, schaute dann zu dem Staatsanwalt, der gerade tief inhalierte.
Söderhofer schüttelte den Kopf. »Artikulieren Sie sich immer so impertinent?«, schimpfte er.
»Wie bitte?« Rauleder schaute von einem zum anderen, sah nur genervte Gesichter. Er winkte mit seiner Rechten ab, zeigte auf den Toten. »Dann fangen wir an.«
Braig trat zwei Schritte zurück, beobachtete die Männer, wie sie schweigend, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, mit ihrer Arbeit begannen. Ein eingespieltes Team, wusste er, mit in jahrelanger, unermüdlicher Berufsausübung erlangter Routine, infolge derer sich jeder genau bewusst ist, worauf es ankommt, um optimale Untersuchungsergebnisse zu erzielen. Die leichte Spannung, die in der Luft lag, war dennoch nicht zu übersehen: Keine flapsige Bemerkung, kein um künstliche Heiterkeit bemühtes Wort, den traurigen Anlass ihrer Begegnung zu überspielen. Die unverhoffte Anwesenheit und das herrische Auftreten des Staatsanwaltes schienen ihre Zungen gelähmt, den gewohnten Informationsaustausch der ersten auffälligen Beobachtungen gebremst zu haben. Braig sah, wie Rauleder die Leiche aus allen Richtungen fotografierte, die Kamera vor, hinter, unter, neben und über den toten Körper haltend, trat dann näher, um gemeinsam mit dem Spurensicherer die Ergebnisse dieser Arbeit auf dem Bildschirm eines Laptops zu studieren.
»Makaber, wie?« Der Techniker deutete auf die über die Toilettenschüssel gebeugte Leiche, wies auf die Verletzungen an beiden Schläfenpartien. »Wenn wir diese Verunstaltungen einmal vergessen, sieht das doch eher nach einer skurrilen Komödie als nach einem Tatort aus, oder?«
»Sie kultivieren eine seltsame Vorstellung von Humor«, schimpfte Söderhofer, eine neue Rauchwolke ausstoßend. »Überhaupt keinen Respekt vor dem Toten, was?«
Braig sah den genervten Blick, den Rauleder ihm zuwarf, musste dem Techniker insgeheim recht geben. Sah man von den üblen Verletzungen des Toten ab, was aus dieser Position und in der Umgebung allerdings schwerfiel, konnte es sich tatsächlich um die Paradeszene einer skurrilen Erfolgskomödie handeln. Ein erwachsener Mensch, abgelegt wie ein zusammengerollter Teppich auf einer Toilettenschüssel. Er überlegte, warum ihm gerade dieser Vergleich einfiel, fand keine Antwort.
»Die Verletzungen an seinen Schläfen«, unterbrach Rauleder seine Gedanken, »das ist wohl die Todesursache, ja?« Er präsentierte die Wunden mehrfach vergrößert auf dem Bildschirm, hörte das Brummen des Arztes.
»Das könnte sein, ja«, erklärte Dr. Schäffler, »aber bitte, ich habe den Mann noch nicht untersucht.«
»Jemand hat auf ihn eingeschlagen«, fügte der Spurensicherer hinzu. »Sowohl auf die linke als auch auf die rechte Seite.«
»So sieht es aus, auf den ersten Blick.«
»Wo? Hier in der engen Kabine?«
»Uf koin Fall«, meldete sich Rössle vom Boden her zu Wort, »der isch do hergschleift worde. I han die Spur von seine Schuh, eindeutig.«
»Dann ist es nicht hier in der Toilette passiert?«, fragte Braig überrascht. Er bückte sich, sah die Markierungen des Spurensicherers, die der Kollege auf den Fliesen fixierte, hörte Rössles lautes Stöhnen.
»So weit bin i no net. Jedenfalls net in der Kabine drin, des isch eindeutig.«
Braig hatte keine Schwierigkeiten, Rössles Aussage nachzuvollziehen. Für eine Auseinandersetzung zwischen zwei Menschen, sofern es sich wirklich um einen solchen Vorgang gehandelt hatte, war die Kabine viel zu eng. Es sei denn, der Täter hatte von oben, über die Trennwand hinweg, zugeschlagen. Er wollte seine Überlegung gerade zur Sprache bringen, als Rauleder den Fund eines kleinen Papiers in der Hosentasche des Toten meldete.
»Hier, wohl eine Telefonnummer.«
Braig nahm den kleinen zerknitterten Schnipsel mit seinen in Plastikhandschuhen steckenden Fingern entgegen, fragte nach einer Geldbörse und einem Ausweis.
»Nichts«, gab Rauleder nach kurzem Zögern zur Antwort. »Die Taschen sind …«, er hielt mitten im Satz inne, brachte dann ein winziges, sorgsam verschnürtes Päckchen zum Vorschein, fügte »fast leer«, hinzu.
Der Kommissar betrachtete den kleinen durchsichtigen Beutel, sah das feine weiße Pulver, das er enthielt. »Es ist doch nicht etwa …?« Er verfolgte die Bemühungen des Spurensicherers, das Fundstück zu öffnen, beobachtete den Gesichtsausdruck des Kollegen, als er von dem Material kostete.
Rauleder ließ das Pulver auf seiner Zunge zergehen, fuhr sich über die Lippe, nickte mit dem Kopf. »Doch, werter Herr Kommissar, genau das: Koks!«
»Ein Dealer?«, mischte sich Söderhofer ins Gespräch. »Sie meinen wirklich, hier in diesem Haus?« Die Ungeheuerlichkeit der Behauptung schien ihm ins Gesicht geschrieben.
»Na ja, so würde ich das angesichts dieser kleinen Menge nicht formulieren. Für mehr als den Eigenbedarf reicht das wohl kaum«, erwiderte der Spurensicherer.
»Sie sprechen aus Erfahrung, wie?«
Braig warf einen prüfenden Blick auf die angespannte Miene des Staatsanwalts, sah keinen Hinweis auf eine wie auch immer angedeutete Ironie.
»Er net, aber i«, meldete sich Rössle zu Wort. »Für mein Tagesbedarf reichts grad.«
Der Kommissar sah Söderhofers Wangen rot anlaufen, versuchte, sachlich zu bleiben. »Kein Geldbeutel, keine Papiere?«, fragte er.
»Ich habe noch einmal alles überprüft. Er trägt nicht einmal ein Taschentuch bei sich. Das Papier und der Koks steckten im hintersten Winkel seiner rechten Hosentasche,« erklärte Rauleder.
»Das heißt, der Täter hat alles an sich genommen, nur dieses Zeug übersehen.«
»Falls der Mann überhaupt etwas bei sich hatte.«
»Na ja, ein Taschentuch trägt doch wohl jeder in der Tasche. Außerdem, hier findet gerade ein Kongress statt. Du kommst doch gar nicht ins Haus, wenn du dich nicht entsprechend ausweisen kannst. Mich haben sie jedenfalls genau überprüft.«
»Das ist richtig, ja. Du meinst, es handelt sich um Raubmord. Weil der Mann etwas von Wert bei sich trug.«
»Oder, der Täter will uns genau das glauben lassen. In Wirklichkeit steckt ein ganz anderes Motiv dahinter. Er tötete sein Opfer und leert dann seine Taschen, um uns auf eine falsche Spur zu lenken und zugleich noch die Identität des Mannes zu verschleiern. Für den Anfang jedenfalls.«
»Und den Koks lässt er zurück?«
»Vielleicht hat er ihn übersehen. Er war garantiert in großer Hektik.«
»Und wenn des Zeugs gar net dem Tote ghört?«, mischte sich Rössle ins Gespräch. Er war mitten in der Toilette mit der Untersuchung des Bodens beschäftigt, winkte Braig zur Seite.
»Du meinst, der Täter …«, fragte der Kommissar, trat dann zwei Schritte zurück.
»Vielleicht wollt er sei Opfer net nur umbringe, sondern au no in a schlechtes Licht rücke?«
»Mein Gott, jetzt bleiben Sie doch auf dem Boden der Realität«, schimpfte Söderhofer, »für so a gspinnerts Zeugs ham mir wirklich koa Zeit.«
»Wir untersuchen die Verpackung auf jeden Fall auf Fingerabdrücke«, sagte Rauleder, »wenn wir Glück haben, klärt das diese Frage.«
»Und ich muss versuchen, den Mann auf andere Art zu identifizieren. Obwohl das in diesem Fall nicht so schwer sein dürfte. So ein Kongress ist doch wohl eine geschlossene Gesellschaft«.
»Du meinst, sämtliche Teilnehmer sind genau verzeichnet.«
Braig dachte an die überraschend genaue Überprüfung seines Ausweises, als er vorhin die Liederhalle betreten hatte. »Den akribischen Eingangskontrollen nach nehme ich das an. Ich denke, die Leute haben sich alle vorher angemeldet. Damit müssten ihre Namen schnell zu finden sein. Der des Opfers und der des Täters.«
Rauleder sah zu seinem Kollegen auf, pfiff laut durch die Zähne. »Natürlich, du hast recht. Wenn es eine Teilnehmerliste gibt, müsste auch der Täter darin zu finden sein.«
»Wenn Fremde wirklich keinen Zutritt haben und die Kontrollen immer so genau durchgeführt werden, ja. Ich muss mich danach erkundigen.«
»Sie wollen doch nicht alle Teilnehmer dieses Kongresses einer Investigation unterziehen?«, wandte Söderhofer ein. »Um die Identität des Opfers und den Täter zu ermitteln, wird es möglicherweise notwendig sein.«
»Das ist indiskutabel, schlagen Sie sich das aus dem Kopf.« Braig betrachtete den Mann stirnrunzelnd, überlegte, was sich hinter seinem Einwand verbergen mochte. Angst vor dem Berg an mühseliger Arbeit, die das mit sich brachte? Das brauchte wohl dessen geringste Sorge zu sein, lag der größte Anteil der Bemühungen erfahrungsgemäß doch auf Seiten der Polizei. Die federführenden Ermittler der Staatsanwaltschaft übernahmen in den meisten Fällen die Ergebnisse, die Braig und seine Kollegen ihnen präsentierten, fragten im einen oder anderen Punkt genauer nach, verlangten eventuell auch einmal nach detaillierteren Überprüfungen. Nur in Ausnahmefällen waren Staatsanwälte bisher gezwungen gewesen – so jedenfalls Braigs persönliche berufliche Erfahrungen – die Vorgehensweise der polizeilichen Ermittler grundlegend in Frage zu stellen und auf völlig neuen Untersuchungsansätzen zu bestehen. Er hoffte, dass dies auch in der vorliegenden Angelegenheit vermieden werden konnte.
Was aber bewegte den Mann zu seiner pauschal ablehnenden Haltung? Waren es Bedenken, welches Aufsehen ein solches Unterfangen in der Öffentlichkeit erregen würde, in die Wege geleitet in einem Haus dieser außergewöhnlichen Reputation? Die Angst, irgendwelche hohen Herren aus Wirtschaft und Politik aufzuscheuchen, sie – und sei es auch noch so weit hergeholt – zumindest geographisch in die Nähe eines Gewaltverbrechens zu rücken, ihre Person in einem wenig vorteilhaften Umfeld der Öffentlichkeit zu präsentieren?
Er kannte Söderhofer zu wenig, um seine Beweggründe zu beurteilen, beließ es bei einem vorsichtigen: »Ich fürchte, wir sind noch nicht so weit, das jetzt schon auszuschließen«, hoffte, den Mann damit zu einer weniger starren Haltung überreden zu können.
Dieser nahm einen tiefen Lungenzug, schien unberührt von Braigs um Ausgleich bemühte Gedanken. »Das steht außerhalb jeder Diskussion, um das prinzipiell klarzustellen. Wissens denn net, wo mir hier san?« Mit seinen letzten Worten war er wieder in ausgeprägt bayerisches Idiom verfallen, sein Gegenüber mit stieren Augen kritisch musternd.
Der Kommissar rief sich die Gerüchte, die über den Mann im Umlauf waren, in Erinnerung, seine angebliche Kriecherei gegenüber Koch, dem Oberstaatsanwalt, fürchtete, dass die Zusammenarbeit nicht ganz so einfach, wie erhofft, ausfallen würde.
»Respekt vor unseren Leistungsträgern ist Ihnen anscheinend nicht geläufig. Die Damen und Herren hier, wissens denn net, wen Sie hier vor sich ham?« Söderhofer hatte seine Stirn in Falten gelegt, starrte zu Braig hinüber, den Kopf nach vorne gestreckt. »International Leadership, die Creme de la Creme! Die lassen sich vom Airport direkt hierher chauffieren. Akademiker, stellen Sie sich das vor, ausnahmslos Akademiker. The world’s leading management von Los Angeles bis Shanghai. Mir ham ein agreement of understanding über alle Kontinente weg, dass die hier am besten aufghoben san. Das Meeting findet in unserer Metropolregion statt. Ein globaler Event ohnegleichen! Die opinion leaders des gesamten Globus hier bei uns in Stuttgart, mitten im Herz Europas. Wissens, wie lange unsere Politiker dafür gekämpft ham? Mir können doch jetzt net wie ein Elefant im Porzellanladen dahertrampeln und alles daniedermachen. Das Renommee unserer Metropolregion, wollens denn gar koane Rücksicht nehmen? Jetzt kommens doch net mit irgendwelchen erbärmlichen Quisquilien und entlarvens Ihre fehlende Qualifikation! Mir ham uns zum Herz Europas entwickelt, verstehens, was das bedeutet? Die ganze Welt schaut auf uns und unsere Stadt!«
Braig musterte die angespannte Miene des Mannes, wusste nicht, wie er dessen substanzloses Geschwätz einordnen sollte. Er starrte ihn nur an, hauchte ein verlegenes: »Ah, ja« als Antwort.
»Sottiche Idiote gibt’s net amol in Sindelfinge«, hörte er Rössles Stimme vom Boden her.
Er wusste, dass es wichtig war, einen kühlen Kopf zu bewahren, versuchte, vorerst jeder Konfrontation aus dem Weg zu gehen. Der Anlass, dessentwegen sie sich hier zusammengefunden hatten, war gravierend genug. Ein Mensch war mit äußerster Brutalität aus dem Leben gerissen worden – von einer Person, die sich von dieser mörderischen Tat wohl etliche Vorteile versprach. Diesem Verbrecher auf die Schliche zu kommen, ihn dingfest zu machen, ehe etwaige Hinweise auf seine Identität verwischt waren, musste als das Gebot der Stunde gelten. Dem hatte vorerst volle Priorität zuzukommen, alles andere – persönliche Animositäten ebenso wie unterschiedliche Einschätzung der Sachlage – hatte zurückzustehen.
Er sah Söderhofer mit hochroter Miene vor der Eingangstür der Toilette stehen, wusste, dass er das gemeinsame Vorgehen versachlichen, die emotional angespannte Atmosphäre entschärfen musste. »Gut. Dann bitte ich zuerst einmal um eine kurze Zusammenfassung unserer bisherigen Erkenntnisse.« Er wandte sich in die Richtung des Gerichtsmediziners, wartete, bis der zu einer Antwort ansetzte.
»Was ich sagen kann, sieht folgendermaßen aus«, erklärte Dr. Schäffler. »Der bisher unbekannte Tote trägt kurze dunkle Haare und einen modischen Drei-Tage-Bart; er hat ein breites Gesicht mit einer kleinen Nase und auffallend buschigen Augenbrauen. Sein Alter schätze ich auf Mitte Vierzig, plus/minus fünf Jahre. Er trägt einen, wie mir scheint, teuren silbergrauen Anzug, Größe 94, ein weißes Hemd mit schwarzen Längsstreifen. Die Krawatte ist dunkelblau oder anthrazit, das kann ich bei diesem Licht hier nicht genauer definieren, seine Schuhe, Größe 43, sind schwarz und in Vollleder gearbeitet. An beiden Schläfen finden sich blutverkrustete Wunden als Folgen von Schlägen oder einem Aufprall auf einen harten Gegenstand. Links befindet sich die größere, wohl schwerwiegendere Verletzung. Eintritt des Todes vor etwa einer Stunde, also gegen 9.30 Uhr. Mehr kann ich zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht sagen.«
Braig bedankte sich für die Ausführungen des Gerichtsmediziners.
»Und? Welche Strategie ziehen Sie jetzt ins Kalkül?«, fragte Söderhofer.
Braig musste nicht lange überlegen. »Ich werde mit dem Mann sprechen, der den Toten gefunden hat. Und dann mit den Veranstaltern des Kongresses. Vielleicht kennt dort jemand unser Opfer.«
»Diese Idee scheint mir plausibel. Ich werde Sie begleiten. Anschließend werden wir uns einem gemeinsamen Brainstorming unterziehen. Als Team …« Er wies auf die Männer am Boden, wurde vom Läuten seines Handy überrascht. Der Staatsanwalt zog sein Mobiltelefon vor, gab Braig ein Zeichen, einen Moment zu warten, nahm das Gespräch an.
Der Kommissar glaubte, nicht richtig gehört zu haben. Dass Staatsanwälte die Arbeit der Polizei Schritt für Schritt begleiteten, war absolut unüblich, entsprach weder den Gewohnheiten noch den gesetzlich verordneten Vorschriften. Ihre Aufgabe war es, das Vorgehen der Ermittler auf juristische Legitimität zu überprüfen, eventuellen Gesetzesverstößen vorzubeugen oder diese mit sofortiger Wirkung zu unterbinden. Im Allgemeinen waren die Beamten der Staatsanwaltschaft dermaßen mit Arbeit eingedeckt, dass sie sich schon von der Zeit her nicht um jeden einzelnen Schritt der Polizeitätigkeit kümmern konnten.
Söderhofers Absicht, ihn zu begleiten, mutete Braig deshalb seltsam an, auch wenn er keinerlei Handhabe hatte, es zu verhindern. Der die jeweilige Untersuchung begleitende Staatsanwalt galt juristisch als der Leitende Ermittler, dem sich jeder Kriminalbeamte zu fügen hatte.
Natürlich lief das nicht immer reibungslos ab, kam es ab und an zu – teils heftigen – Auseinandersetzungen. Gesetze waren schließlich nicht immer so formuliert, dass ihre Überschreitung sofort offensichtlich wurde. Zudem erwies sich ihre Einhaltung in der Praxis oft weit schwieriger als dies in theoretischen Überlegungen zu erkennen war. Polizisten hatten es nun einmal oft nicht mit Leuten zu tun, die sich so schematisch und marionettenhaft vorhersehbar verhielten wie es auf den Papieren der Staatsanwälte verzeichnet war. Zwischen der Praxis des polizeilichen Alltags und der Theorie der staatsanwaltlichen Aktenordner klafften oft größere Lücken als zwischen den Gipfeln der höchsten Himalaja-Giganten. Wenn einer dieser Herren tatsächlich bereit war, seinen Schreibtisch zu verlassen und freiwillig in die Abgründe der praktischen Ermittlungsarbeit abzutauchen, musste man ihn da nicht mit offenen Händen aufnehmen?
Braig wusste dennoch nicht, ob er über Söderhofers Ansinnen besondere Freude empfinden sollte. Er hörte die laute Stimme des Staatsanwalts, mit der dieser seinem Gesprächspartner antwortete, bemerkte, wie sich der Mann verstohlen nach allen Seiten umsah.
»Jawohl, Herr Oberstaatsanwalt, genau, diese Effizienzoptimierung werden wir realisieren.«
Braig verfolgte das untertänige Kopfnicken Söderhofers, mit dem der seine Aussage bekräftigte, sah, wie der Mann sein Gespräch beendete und das Mobiltelefon wieder wegsteckte, bemerkte dessen aufgeregte Miene.
»Ich bedaure sehr, dass ich Ihnen meine Hilfe im Moment nicht länger zur Verfügung stellen kann.« Der Staatsanwalt unterbrach seine Ausführungen, starrte auf seinen Zigarettenstummel. »Nolens volens«, fuhr er dann fort, »werden Sie den Progress der Investigation vorerst selbst realisieren müssen.« Er streckte seinen linken Arm in die Höhe, warf einen prüfenden Blick auf seine Armbanduhr. »Was die Evaluation dieser Sache hier betrifft: Punkt 12 Uhr erwarte ich Ihr detailliertes Briefing. Sie haben meine Nummer.« Er nickte dem Kommissar freundlich zu und verließ die Toilette.
Braig atmete tief durch, fühlte sich spürbar erleichtert.
»Ihr detailliertes Briefing. Punkt 12 Uhr«, hörte er Rössles den Staatsanwalt nachäffende Stimme, genau in dem Moment, als die Tür ins Schloss fiel. »Zum Glück sind mir den überkandidelte Großkotz los. Dem hent se net nur oi Mol ins Hirn gschisse.«
Als alles vorbei war, fand sie endlich langsam zur Ruhe. Wochen-, ja monatelang hatte sie intensiv darüber nachgedacht, ob und wenn ja, wie es zu bewerkstelligen wäre, ob sie es wirklich riskieren und wie sie es zu einem glücklichen Ende bringen könne. Tage der Hoffnungs- und Mutlosigkeit hatten sich aneinander gereiht, Stunden der Verzweiflung und Resignation hatten ihr jeden Mut geraubt. Ohnmacht und Depression schienen ihr Schicksal. Nacht für Nacht hatte sie wach gelegen, sich schwerfällig im Bett hin- und her gewälzt, erst nach langen, von ausschweifenden Gedanken geprägten Stunden zu einem unruhigen, von wirren Träumen begleiteten Schlaf gefunden, jeder Zoll ihres Körpers angefüllt von dem Bewusstsein, dass es keine Gerechtigkeit gab, nicht auf dieser Welt, nicht in diesem Land, nicht in den Hirnen und Händen der Mächtigen, die diese Gesellschaft regierten.
Sie hatten sie betrogen, sie ausgetrickst und niedergemacht mit einer Skrupellosigkeit, die jedes Vergleichs entbehrte, einer kaltblütigen Ansammlung von Lügen, die sie nicht einmal ihren verruchtesten Feinden zugetraut hätte. Wie ein Tsunami war es über sie hereingebrochen, eine Riesenwelle, die alles unter sich begrub, im Bruchteil von Sekunden alles überrollte und unwiederbringlich zerstörte. Die Arbeit, die Anstrengung, die Mühe ihres Lebens, unzähliger Jahre, – nichts hatte gezählt, überhaupt nichts gegolten, als null und nichtig hatten sie es abgetan, einfach achtlos zur Seite geworfen. Sie war ihnen, ihrer Gier nach Macht und Geld, in die Quere geraten, hatte sich ihnen entgegengestemmt statt von Anfang an zu kuschen und ihnen die Fußsohlen zu lecken und war deswegen zermalmt worden wie der frisch auf den Untergrund ausgebreitete Asphalt unter einer Walze. Und beinahe hätten sie ihr Ziel erreicht, sie mundtot gemacht, wehrlos, erniedrigt, gebrochen, wie so viele andere in diesem angeblich so sozial ausgerichteten System, bis ihr plötzlich die Idee gekommen war, die alles verändert, ihr neue Kraft und frischen Mut vermittelt hatte und sie endlich wieder zu der Person hatte werden lassen, die sie einst gewesen war: Die selbstbewusste, fleißige, aber auch kämpferische und wagemutige Frau, die sich von solch verkommenen Typen und Institutionen nicht einfach unterbuttern ließ.
Was den Ausschlag gegeben hatte, sich nicht damit abzufinden, nicht liegen zu bleiben und den Dreck zu fressen, den sie ihr zugedacht hatten, wusste sie heute noch so gut wie damals, als sie es zum ersten Mal gehört hatte. Ausgerechnet in der Kirche war es gewesen, als die Pfarrerin den Text zitiert hatte, den Text, der ihr neuen Mut verschafft, die Gedanken an Wiedergutmachung, Rache, Vergeltung in ihr hatte wach werden lassen. War das die Lösung, der Weg heraus aus ihrer aussichtslosen Situation?
Sie hatte die Pfarrerin um das Original des Wortlauts gebeten, das Blatt freudig entgegengenommen, sich aufrichtig dafür bedankt. Wochenlang hatte sie spekuliert, lange nachgedacht, Nacht um Nacht darüber gebrütet. Bis ihr endlich klar geworden war, dass das und genau das die richtige Lösung war, ihr Wiedergutmachung zu gewähren, – der Weg, ihr wenigstens einen Teil von dem, was sie ihr geraubt hatten, zurückzugeben. Nur einen Teil, aber wenigstens den. Auch wenn der nicht legal, den Gesetzen des Landes entsprechend war.
Sollte sie sich deshalb davon abhalten lassen? Sollte sie deshalb darauf verzichten, ihre Idee zu verwirklichen? War die Illegalität des Vorgehens Grund genug, von der Sache abzulassen?
Sie musste nicht lange nachdenken, darauf eine Antwort zu finden. Was sie ihr angetan, wie sie sie in den Dreck geworfen hatten, spottete jedem Anstand, jeder Moral. Ihre Skrupellosigkeit, ihre verlogene Scheinheiligkeit schrie zum Himmel.
Nein, so oft sie jetzt im Nachhinein auch darüber nachdachte, es hatte nur eine Antwort gegeben: Sie hatte es tun müssen. Sie hatten es nicht anders gewollt. Es war die einzige Sprache, die sie verstanden.
Deshalb bereute sie nichts, nicht eine einzige Sekunde.
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