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Staatsanwalt Söderhofer ist außer sich: Rolf Grobe, ein mit Aufträgen für das umstrittene Projekt Stuttgart 21 ausgestatteter Unternehmer, ist spurlos verschwunden. Wie mehrere andere Personen wurde er zuvor von einem erst kürzlich entlassenen Strafgefangenen massiv bedroht. Die Ermittlungen geraten schnell zum kriminalistischen Abtraum, als die Leiche des Vermissten und ein anonymes Bekennerschreiben gefunden werden: "Ich bin das zweite Schwein, das büßen muss. Die anderen folgen!" Der dringend verdächtige Ex-Sträfling ist nirgends aufzufinden. Ebenso wenig die übrigen Männer, denen die Drohungen gelten. Den Ermittlern Braig und Neundorf läuft die Zeit davon ...
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Seitenzahl: 396
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Klaus WanningerSchwaben-Filz
Vom Autor bisher bei KBV erschienen:
Schwaben-Rache
Schwaben-Messe
Schwaben-Wut
Schwaben-Hass
Schwaben-Angst
Schwaben-Zorn
Schwaben-Wahn
Schwaben-Gier
Schwaben-Sumpf
Schwaben-Herbst
Schwaben-Engel
Schwaben-Ehre
Schwaben-Sommer
Schwaben-Filz
Klaus Wanninger, Jahrgang 1953, evangelischer Theologe, lebt mit seiner Frau und den schwäbischen Katern Mogli und Balu in der Nähe von Stuttgart. Er veröffentlichte bisher einunddreißig Bücher. Seine Schwaben-Krimi-Reihe mit den Kommissaren Steffen Braig und Katrin Neundorf umfasst mittlerweile vierzehn Romane in einer Gesamtauflage von über einer halben Million Exemplare.
Klaus Wanninger
Originalausgabe© 2011 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheimwww.kbv-verlag.deE-Mail: [email protected]: 0 65 93 - 99 86 68Fax: 0 65 93 - 99 87 01Umschlagillustration: Ralf KrampRedaktion: Volker Maria Neumann, KölnDruck: Aalexx Buchproduktion GmbH, GroßburgwedelPrinted in GermanyPrint-ISBN 978-3-942446-31-0E-Book-ISBN 978-3-95441-103-0
Die Personen, Namen und Handlungen dieses Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen oder tatsächlichen Ereignissen wäre rein zufällig.
Mitten im Wüten der Wasserwerfer nahm er das seltsame Geräusch zum ersten Mal wahr. Verzweifelt um Luft ringend, das Gesicht in panischer Angst ins Kissen gepresst, schreckte er aus dem Schlaf. Er hatte Mühe, sich aus seiner erstarrten Haltung zu lösen, sein ganzer Körper, Arme, Brust und Beine schienen gelähmt, vom Würgegriff der gerade wieder erlebten Gewaltszenen in Beschlag genommen. Beide Teile seines Pyjamas klebten schweißnass an seinem Leib. Ihm fehlte die Kraft, sich von dem grauenvollen Geschehen zu lösen, nur langsam, allzu langsam fand er in die Wirklichkeit zurück. Das schrille Quietschen einer alten Schranktür, dem Anschein nach in unmittelbarer Nähe seines Zimmers, durchbrach die nächtliche Stille.
Er hatte geträumt, lange und intensiv, seit Wochen immer wieder dasselbe Geschehen. Der Albtraum wollte kein Ende nehmen, Nacht für Nacht. Das Wüten der Wasserwerfer, mit Schlagstöcken und Pfefferspray aggressiv angreifende Uniformierte, die verzweifelten Schreie der wehrlosen Opfer. Aus Zufall war er in den Park gekommen, seine gehbehinderte Mutter im Arm. Er hatte ihr versprochen, ihr beim Umsteigen noch einmal den Schlossgarten in all seiner Pracht zu zeigen, bevor er den Baggern zum Opfer fallen sollte. Mühsam humpelnd, Schritt für Schritt hatten sie das von unzähligen Menschen bevölkerte Gelände erreicht.
»Diese uralten Bäume wollen sie …«
Gerd Weissmann hatte das ungläubig in die Umgebung gerichtete Gesicht seiner Mutter unmittelbar vor Augen, erlebte das grauenvolle Geschehen Sekunde für Sekunde wieder mit. Der plötzlich, ohne jede Vorwarnung auf sie gerichtete Strahl des Wasserwerfers, der sie mitten im Augenblick ihrer Verwunderung von den Beinen holte und ihn mitsamt der verzweifelt nach Halt suchenden alten Frau auf den harten Asphalt warf, die von der Seite her plötzlich auf sie einstürmenden, vollständig vermummten, militärisch anmutenden Gestalten. Vom Schock des Überfalls wie gelähmt, war er endlich dabei, sich wieder aufzurichten und seiner laut schreienden Mutter zu Hilfe zu eilen, als ihn der Schlag mitten ins Gesicht traf. Für den Augenblick einer Sekunde hatte er die Besinnung verloren, er taumelte zur Seite, wurde erneut von einem Knüppel niedergestreckt. Hilflos nach Luft schnappend, fiel er auf den Boden, in einem Höllenstrudel unaufhörlicher Gewalt versinkend. Er wusste nicht mehr, wie ihm geschah, sah sich wieder von den alten, längst verschüttet geglaubten Bildern eingeholt, die er in seiner Kindheit in einem wahren Albtraum exzessiver Gewalt hatte erleben müssen. Die von blinder Wut verzerrte Miene des Vaters seines Freundes, der Pesthauch des Alkohols, der dem Atem des Alten entströmte, die unaufhörlich auf den jungen Körper wie die längst auf den Boden niedergestreckte Mutter einprasselnden Schläge …
Stoßweise atmend, mit den Händen durch die Luft rudernd, von Schweißausbrüchen gezeichnet kam er Nacht für Nacht zu sich, die Träume samt den Tag verfluchend, die das alte Erlebnis wieder in ihm hatten wach werden lassen. Und jeden Morgen aufs Neue sehnte er die Möglichkeit herbei, dem Ganzen ein Ende zu setzen – so wie damals, als die alte, versoffene Bestie in einem Hagel tödlicher Schläge endgültig zu Boden gegangen war.
Erneut vernahm er das seltsame Geräusch, ähnlich dem Tapsen von Füßen auf alten Holzdielen, er versuchte, die Schatten der Traumwelt von sich zu schieben und in die Wirklichkeit einzutauchen. Es war noch dunkel, nicht einmal ein Hauch des neuen Tageslichts war zu erahnen. Er versuchte, die Umrisse des kleinen Zimmers zu erkennen, hörte jetzt deutliche Schritte im angrenzenden Raum. War sein Freund aufgestanden, um sich etwas zum Essen oder Trinken zu holen, oder war er einfach erwacht und fand jetzt nicht mehr in den Schlaf? Er dachte an die gemeinsamen Erlebnisse der vergangenen Jahre und war sich darüber im Klaren, dass schon ein Bruchteil davon genügte, die nächtliche Ruhe zu rauben.
Das Knarzen einer Türklinke riss ihn aus seinen Gedanken, katapultierte ihn in die Realität zurück. Er schob seinen Oberkörper vorsichtig in die Höhe, versuchte, sich im Zimmer zu orientieren. Das Oberteil des Pyjamas klebte an seinem Rücken, von den Schweißausbrüchen der vergangenen Stunden völlig durchnässt, Morgen für Morgen das gleiche unangenehme Gefühl. Er riss sich den Stoff vom Leib, griff nach dem Handtuch, das auf dem Nachttisch bereitlag, wischte sich die klebrige Feuchtigkeit von der Haut. Im selben Moment hörte er, wie die Außentür ins Schloss fiel. Er drückte das Tuch an seine Brust, lief zu dem kleinen Fenster, starrte in die Umgebung.
Das Gelände lag in nächtlicher Ruhe vor ihm, nichts schien verändert. Der Garten herbstlich verfärbt, zwar noch mit intensivem Bewuchs, die Äste und Zweige der Bäume und Büsche jedoch teilweise schon ihres Laubs beraubt. Am Rand des schmalen Wegs, der zur Straße führte, Stapel dünner Äste und Stämme, Berge von Holz, das Hellner dort für den Winter lagerte. Er wandte den Blick zur Seite, sah eine kräftige, nach vorne geduckte Gestalt zur Gartenpforte huschen. Auch wenn er sich noch so klein zu machen suchte, er erkannte ihn sofort: Götz Hellner, sein Freund, in dessen altem, etwas vergammelten, kleinen Haus er hier für wenige Tage als Gast logierte.
Er schielte zu seinem Arm, sah, dass es gerade drei Uhr war, mitten in der Nacht, wusste nicht, was das zu bedeuten hatte. Wieso schlich Hellner sich um diese Zeit aus dem Haus?
Eine Windböe fuhr durch den Garten, wirbelte Blätter und kleine Zweige in die Höhe. Büsche, Stauden und Äste wogten hin und her. Weissmann starrte zur Gartenpforte, sah Hellner darüberklettern und auf die Straße verschwinden. Er wusste, wie abgespannt und verbittert der Mann zur Zeit war, hatte schon kurz nach seiner Ankunft erschrocken das Ausmaß seiner Verstimmung zur Kenntnis genommen. So hatte er den Freund seit ihren gemeinsamen Kindertagen kaum erlebt. Machte ihm die berufliche Veränderung dermaßen zu schaffen?
Er wusste um den Stress des Mannes, kannte den Moloch aus Lügen, gesetzeswidrigen Machenschaften und Intrigen, denen Hellner seit seinem Wechsel nach Berlin ausgesetzt war. Sie trafen sich oft genug in der Hauptstadt, tauschten ihre Erfahrungen bis ins Detail aus. Nie zuvor hatte Hellner es so sehr bereut, seine alte Tätigkeit aufgegeben zu haben. Das sei mit Abstand die schönste Zeit seines Lebens gewesen, hatte er ihm wieder und wieder versichert, warum nur war er nicht in Reutlingen geblieben?
Junge, wissbegierige Leute aus allen Teilen der Welt um sich, vorurteilsloser Austausch von Informationen, Gespräche, Diskussionen mit Experten aus sämtlichen Kontinenten, Kolloquien, Konferenzen, Tagungen – so hatte er es geschildert. Dazu der enge Verbund mit der real existierenden Welt, die Ausarbeitung konkreter Konzepte zur Gesundung und Stabilisierung kleiner und großer Betriebe – mit vollem Engagement hatte Hellner dafür gekämpft, Arbeitsplätze zu erhalten, oft sogar, neue zu schaffen. Und unzählige Male war es ihnen gelungen. Für ihn war die Tätigkeit als Dozent an der Reutlinger Hochschule zur Erfüllung geworden. Woche für Woche hatte er seine Arbeit an der ESB Business School, der betriebswirtschaftlichen Fakultät der Hochschule, genossen. Doch dann der unselige Entschluss, nach Berlin zu wechseln, sich in die Fänge des dortigen korrupten Geflechts zu begeben …
Weissmann spürte seine Erschöpfung, fühlte sich zu müde, noch länger über all das nachzudenken. Ohne Licht zu machen, tastete er sich vorsichtig zu seinem Bett zurück. Was immer Hellner beabsichtigte, es ging ihn nichts an. Der Mann musste mit seinen nächtlichen Exkursionen selbst zurechtkommen. Schließlich war er kein kleines Kind mehr, das einen Aufpasser benötigte.
Es war spät geworden am Abend zuvor. Der sportliche Erfolg ihres Sohnes Johannes, unglücklicherweise an einem Dienstag erzielt, war von seinen Freundinnen und Freunden ausgiebiger gefeiert worden als Katrin Neundorf und ihr Partner Thomas Weiss es erwartet hatten. Hätte der 14-Jährige seinen Titel als erfolgreichster Teilnehmer im Badminton bei Jugend trainiert für Olympia im Bereich des Regierungspräsidiums Stuttgart an einem Freitag erzielt, niemand hätte einen Einwand formuliert, die Party aufs nahe Wochenende zu verlegen, nicht einmal ein Donnerstag hätte Anlass zu dieser Ablehnung gegeben. Der Dienstag aber …
»Ihr glaubt doch nicht, dass ich bis zum Samstag warte? Sechs Tage? Was denken die Jungs denn da von mir?«
Weder der Einwand Neundorfs, dass es sich von Dienstag bis Samstag um eine Zeitspanne von vier und nicht von sechs Tagen handelte, noch der Hinweis darauf, dass man die Feierlichkeiten angesichts des folgenden Sonntags nicht am frühen Abend schon würde zu einem Ende bringen müssen wie unter der Woche, wurden als stichhaltiges Argument akzeptiert.
»Ich habe nun mal am Dienstag gewonnen. Und weil wir weder am Donnerstag noch am Freitag eine Klassenarbeit schreiben und auch niemand ein Referat oder eine GFS halten muss, gibt es überhaupt keinen Grund, nicht am Mittwoch zu feiern. Nur keine Angst, am Donnerstagmorgen sind wir alle wieder fit.«
Um sich langwierige Auseinandersetzungen zu ersparen und weil Thomas Weiss versprochen hatte, sich den Mittwochnachmittag und -abend auf jeden Fall freizuhalten, waren sie schließlich bereit gewesen, einzulenken. Mit 14 Jahren flog das Leben bei Weitem noch nicht so schnell dahin wie später, wusste Neundorf aus ihrer eigenen Kindheit, in diesem Alter konnte das Warten von Dienstag bis Samstag tatsächlich zu einer mehrere Ewigkeiten dauernden Zeitspanne ausarten.
Unmittelbar nach dem Ende des Nachmittagsunterrichts waren die ersten Gäste deshalb eingetrudelt, in bester Stimmung und, was die männlichen Besucher anbetraf, mit einem Appetit, als hätten sie gerade mehrere Hungerjahre hinter sich. Thomas Weiss war jedenfalls unermüdlich damit beschäftigt, immer neue Pizzen in den Ofen zu schieben und Berge von Spaghetti mit Soße zu begießen. Endlich, kurz vor Mitternacht, war auch der letzte Besucher satt und nach langwierigen Diskussionen von einem restlos erschöpften Elternteil in Empfang genommen worden. Die Wohnung im Waiblinger Ameisenbühl befand sich in einem erdbebenähnlichen Zustand. Gegen zwei Uhr hatten Neundorf und Weiss die offenkundigsten Missstände beseitigt.
Der Anruf zehn nach sechs riss die Kommissarin deshalb um Stunden zu früh aus dem Schlaf. Sie wälzte sich zur Seite, starrte auf das Ziffernblatt des Weckers, griff dann mit missmutigem Stöhnen nach dem Hörer. »Ja?«
»Hm, es ist so, Frau Neundorf, also, wir haben …«
Trotz der kurzen Nacht benötigte sie nur wenige Sekunden, um zu sich zu kommen. Die weniger erfreulichen Seiten ihres Berufs waren ihr inzwischen zur Genüge vertraut. Seit fast zwei Jahrzehnten arbeitete sie beim Landeskriminalamt in Stuttgart, derzeit in der Position einer Kriminalhauptkommissarin. Mitten in der Nacht, am Wochenende oder – wie jetzt – am frühen Morgen seiner beruflichen Pflichten erinnert zu werden, vermochte da keine allzu großen Adrenalinschübe auszulösen. Es sei denn, sie hatte das umständliche Gestammel eines bestimmten Kollegen in der Leitung.
»Um was geht es, Stöhr?«, blaffte sie den Mann deshalb an. »Sagen Sie es kurz und knapp.«
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