Schwaben-Wahn - Klaus Wanninger - E-Book

Schwaben-Wahn E-Book

Klaus Wanninger

4,3

Beschreibung

Karl Herzog wird in seinem Auto gefunden. Tot. Mitten im idyllischen Bärensee am Rand von Stuttgart. Wem stand der beliebte Psychologe im Weg? Nur wenige Tage später stoßen Kommissar Steffen Braig und seine Kollegin Katrin Neundorf im See von Schloss Monrepos in Ludwigsburg auf ein neues, demonstrativ in seinem Fahrzeug hingerichtetes Opfer. Mussten die Männer sterben, weil sie den Erpressern einer riesigen Millionensumme nicht zu Willen waren? Oder gibt es andere Motive? Braig und Neundorf graben in der Vergangenheit der Getöteten und stoßen auf ein neues Opfer im Wasser der Rems, mitten in Waiblingen ...

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Klaus WanningerSchwaben-Wahn

Vom Autor bisher bei KBV erschienen:

Schwaben-Rache

Schwaben-Messe

Schwaben-Wut

Schwaben-Hass

Schwaben-Angst

Schwaben-Zorn

Schwaben-Wahn

Schwaben-Gier

Schwaben-Sumpf

Schwaben-Herbst

Schwaben-Engel

Schwaben-Ehre

Klaus Wanninger, Jahrgang 1953, evangelischer Theologe, lebt mit seiner Frau Olivera und dem schwäbischen Kater Mogli in der Nähe von Stuttgart. Er veröffentlichte bisher achtundzwanzig Bücher. Seine überaus erfolgreiche Schwaben-Krimi-Reihe mit den Kommissaren Steffen Braig und Katrin Neundorf umfasst mittlerweile zwölf Romane in einer Gesamtauflage von über einer halben Million Exemplaren.

Klaus Wanninger

Schwaben-Wahn

1. Auflage 2004

2. Auflage 2005

3. Auflage 2006

4. Auflage 2010

© KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim

www.kbv-verlag.de

E-Mail: [email protected]

Telefon: 0 65 93 - 99 86 68

Fax: 0 65 93 - 99 87 01

Druck: Aalexx Buchproduktion GmbH, Großburgwedel

Printed in Germany

Print-ISBN 978-3-937001-40-1

E-Book-ISBN 978-3-95441-095-8

Die Personen, Namen und Handlungen dieses Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen oder tatsächlichen Ereignissen wäre rein zufällig. Leider beruhen die Hintergründe jedoch auf Tatsachen.

1. Kapitel

Die im hellen Gelb des frühen Morgens aufleuchtende Kugel der Sonne schob sich genau in dem Moment über die Kronen der Bäume, als er den Vorplatz des Bärenschlößles erreicht hatte. Ihre gleißenden Strahlen tauchten das enge Tal des zwischen sanften Berghängen und Wiesenterrassen eingebetteten Sees in ein flirrendes Licht, rissen die schmale Senke aus ihrem Dämmer. Binnen weniger Sekunden veränderte sich die gesamte Umgebung.

Kai Dolde blieb schwer atmend stehen, gab sich dem Morgen für Morgen immer wieder aufs Neue faszinierenden Naturschauspiel hin. In den Wiesen rings um ihn herum begann es zu glitzern. Tausende von Wassertröpfchen, geboren im feuchten Niederschlag der nächtlich-kühlen Luft, blinkten im Gras und auf den Zweigen. Winzige, vom Taumel des Frühlings erst seit wenigen Tagen geweckte Knospen öffneten zaghaft ihre schützende Hülle, streckten sich verlangend dem wärmenden Licht entgegen. Scharen von Vögeln beschleunigten das Tremolo ihrer frühen Gesänge, Bienen und Insekten stoben summend in die Luft. In der Senke des schmalen Tales erwachten von Minute zu Minute immer neue Teile des Sees zum Leben: Tausende zarter Elfen aus nichts als Luft und Licht schienen auf der leicht gekräuselten Wasseroberfläche zu tanzen, millionenfach das Gleißen der Sonnenstrahlen reflektierend.

Kai Dolde wischte sich den Schweiß von der Stirn, atmete tief durch. Kurz vor sieben an diesem Morgen war er von seiner Wohnung in Botnang, einem ruhig gelegenen Stadtteil Stuttgarts aus gestartet, um durch den langsam erwachenden Wald zum Bärenschlößle zu joggen. Wie zu dieser frühen Stunde üblich, hatte er kaum mehr als eine Hand voll anderer Sportler getroffen. Die meisten wie er zu Fuß, einige wenige auf geländegängigen Fahrrädern unterwegs. Kopfnickend waren sie aneinander vorbeigesprintet. Ein kurzer Gruß, manchmal ein Aufleuchten der Augen als Zeichen des Wiedererkennens.

Dolde liebte Stunden wie diese, wenn Stadt und Umgebung noch in den letzten Zügen des nächtlichen Schlummers lagen und er in Ruhe und Frieden das Erwachen der Natur genießen konnte. Autos und Motorräder blieben hier ausgesperrt, das Areal des Rot- und Schwarzwildparks rund um die Seen vom Lärm und den Abgasen der ansonsten allgegenwärtigen modernen Pestilenz verschont. Die wenigen Läufer und Radler, die zu dieser Zeit unterwegs waren, wirkten nicht störend – erst später, wenn ihre Zahl, ergänzt von Scharen von Ausflüglern, zu einer wahren Völkerwanderung anwuchs, fiel die Gegend um das Bärenschlößle unüberhörbar dem Einfluss lachender und schreiender Massen anheim.

Bis es soweit war, hatte sich Dolde längst wieder auf den Weg gemacht: Mehr als dreißig Minuten gönnte er sich selten. Er benötigte den Lauf am Morgen, die anregende Bewegung seiner Glieder, das kräftige Durchatmen in der würzigen Luft des Waldes fast ebenso wie seine täglichen Mahlzeiten; zwang ihn das Studium der Verfahrenstechnik, dessen Abschluss er seit mehreren Monaten mit der Erstellung seiner Examensarbeit vorbereitete, doch dazu, alle Tage bis spät in die Nacht hinein an verschiedenen Computer-Bildschirmen und Analysegeräten zu verbringen.

Kai Dolde atmete tief durch, schaute hinunter ins Tal, wo die Sonnenstrahlen immer entlegenere Teile des Bärensees zu neuem Leben erweckten. Er folgte dem Spiel des Lichts mit seinen Augen, glaubte Myriaden unsichtbarer Wesen über die Wasseroberfläche schweben zu sehen. Sie tänzelten auf und nieder, hin und her, anmutig, geräuschlos und ohne jede Pause. Das gesamte Areal schien sich in eine funkelnde, glänzende Fläche zu verwandeln.

Plötzlich wurde Dolde aus seinen Träumen gerissen. Grelles Licht blendete seine Augen, mitten aus dem Wasser in die Höhe schießend. Irritiert hielt er sich die Hand über die Stirn, versuchte zu erkennen, was den blendenden Strahl verursachte. Er hatte Mühe, mehr als nur die Umrisse der steil vor ihm abfallenden Landschaft wahrzunehmen. Seine Augen passten sich erst langsam wieder an. Er blickte in die Tiefe, musterte die Oberfläche des Sees. Da erkannte er, was den grellen Strahl verursacht hatte: Eine Glasscheibe reflektierte das Licht der Sonne. Verwundert ging er weiter, suchte die Oberfläche des Sees ab. Und nun – so absurd ihm die Szenerie auch erschien – begriff er doch endlich, dass das Glas zu einem Auto gehörte, das mit seinem rückwärtigen Teil aus dem Wasser ragte: mitten im einzigartig idyllisch zwischen die sanft ansteigenden Hänge des Naturschutzgebiets gebetteten Bärensee.

2. Kapitel

Venedig. Die traumhaft schönen Tage mit Ann-Katrin in der Lagunenstadt sollten Steffen Braig noch lange in Erinnerung bleiben. Seine längst überfällige Beförderung zum Hauptkommissar des Stuttgarter Landeskriminalamtes und ihre – den Aussagen der Ärzte zufolge – endgültige Genesung von den jahrelangen Malaisen ihrer Schussverletzung zum Anlass nehmend, hatten sie sich acht Tage inmitten der verwinkelten Gassen und Kanäle des norditalienischen Paradieses gegönnt. Das kleine Hotel, ein typischer Adelspalast aus dem 14. Jahrhundert, lag am beschaulichen Campo San Barnaba, etwas abseits vom Hauptstrom der Touristen, ausgestattet mit allem, was einem alten venezianischen Palazzo seinen faszinierend morbiden Charakter verlieh: schiefe Wände, knarzende Treppen, infolge der hohen Luftfeuchtigkeit abblätternde Farben an Wänden und Decken.

Vom ersten Augenblick an vom Zauber der Stadt gefangen, von der Anmut der allein den Menschen und Tieren vorbehaltenen Wege und Plätze betört, hatten sie sich dem Flair eines neuen, bisher völlig unbekannten Lebensgefühls hingegeben: Bummeln, Spazieren, Betrachten, Verweilen – wann und wo immer sie wollten. Nirgendwo heulende Motoren oder in unmittelbarer Nähe quietschende Bremsen, kein nervtötendes Gehupe oder unwirtliche, von Lärm und Hektik erfüllte Straßenschluchten, stattdessen Ruhe, beschauliche Atmosphäre, saubere, von Abgasschwaden freie Luft. Sie folgten dem Gassenlabyrinth entlang abgelegener Kanäle, spazierten über unzählige schmale Brücken, rasteten auf lauschigen Plätzen, schlürften Capuccino in winzigen Cafés. Den großen Touristenströmen ausweichend streiften sie durch die menschenleeren, oft nur von spielenden Kindern oder friedlich vor sich hin dösenden Alten belebten Straßenzüge in Cannaregio oder Castello oder nutzten eines der Vaporetti, um über das Wasser der Lagune Murano, Burano oder Torcello zu erreichen – jedes Eiland ein Paradies für sich.

Und dann die Rückkehr nach Stuttgart. Der Kontrast hätte nicht schärfer, nicht ernüchternder ausfallen können. Durch Unmengen von Autos verstopfte Straßen, dröhnende Motoren, nervtötendes Hupen, Stress und Hektik in jedem Winkel der Stadt. Schon die erste Nacht in seiner Wohnung in der Hermannstraße in der Stuttgarter Innenstadt wurde zum schlaflosen Albtraum. Anfahrende, hupende, bremsende Blechkarossen, der ewig gleiche Lärmpegel von der nahe gelegenen Rotebühlstraße her – Braig fühlte sich im wahrsten Sinn des Wortes gerädert, als sein Wecker kurz vor sieben läutete.

Müde richtete er sich auf, sah, dass Ann-Katrin noch im tiefen Schlummer lag. Sie hatte noch einen Tag Urlaub; daher schälte er sich vorsichtig unter der Decke hervor, duschte und zog sich an. Er schnitt sich zwei Scheiben von dem Brotlaib ab, den sie am Abend zuvor, unmittelbar nach der Ankunft im Hauptbahnhof gekauft hatten, belegte sie mit zwei dünnen Scheiben Käse, trank zwei Tassen grünen Tee. Als er sein kurzes Frühstück beendet hatte, schrieb er seiner Freundin ein paar Zeilen auf weißes Papier, umrahmte sie mit einem großen Herz und ließ das Blatt mitten auf dem Tisch liegen.

Die Stuttgarter Innenstadt empfing ihn mit dem gewohnten unwirtlichen Bild: Blechlawinen, wohin er nur blickte.

Braig eilte die paar Meter zur S-Bahn-Station Feuersee, versuchte, sich von der Hektik nicht anstecken zu lassen. Er passierte zwei trotz des frühen Morgens bereits alkoholisierte Männer, sah die Schlagzeilen des Boulevardblattes, das der eine in Händen hielt. Erpresser fordern 100 Millionen. Polizei gründet Sonderkommission. Er folgte den Stufen in die Tiefe, wusste, worum es ging. Katrin Neundorf, seine Kollegin, hatte ihm den Sachverhalt auf den Anrufbeantworter gesprochen, ihn vor den aufreibenden Aktivitäten im Landeskriminalamt gewarnt. Big Brother und der Flughafen würden erpresst, hatte sie erklärt, Koch sei auf Zweihundert und stelle die gesamte Umgebung auf den Kopf. Er habe die Ermittlungen an sich gerissen. Auf den Hintergrund der Erpressung war sie nicht eingegangen, allein die Tatsache aber, dass Koch den Fall übernommen hatte, verhieß nichts Gutes. Der Name des Oberstaatsanwaltes weckte in Braig unliebsame Erinnerungen. Er hatte mehrfach mit ihm zu tun gehabt, zuletzt bei der Aufklärung des gewaltsamen Todes zweier junger Frauen in Waiblingen und Ludwigsburg, war dabei ebenso wie seine Kolleginnen mehrfach mit dem allzu einfach schwarz-weiß gestrickten Weltbild dieses Mannes aneinander geraten. Wenn Koch in der Sache mitmischte, standen unangenehme Tage bevor.

Braig nahm die S-Bahn bis Bad Cannstatt, folgte dann der Decker- und der Wörishofenerstraße zum LKA. Er hatte sich diesen Fußmarsch in den letzten Monaten endgültig angewöhnt, nachdem ihn sein Hausarzt bei einer Untersuchung anlässlich einer kräftigen Wintergrippe eindringlich aufgefordert hatte, endlich für mehr Bewegung zu sorgen. Jetzt, Anfang Mai, zu Beginn der warmen Jahreszeit, fiel ihm das zunehmend leichter.

Er betrat das Amt, grüßte den Kollegen am Eingang, spurtete zum Aufzug, dessen Tür gerade offen stand. Als er sein Büro erreicht hatte, hörte er Neundorfs Stimme.

»Du bist schon da?«

Er drehte sich um, sah sie aus ihrem Zimmer treten.

»Wie war euer Urlaub?« Sie gab ihm die Hand, umarmte ihn.

»Ein einziger Traum«, sagte er. »Die Zeit verflog viel zu schnell.«

»Du siehst gut erholt aus. Und braun gebrannt. Ihr hattet also schönes Wetter?«

»Sonne pur«, antwortete Braig. »Und laue Frühlingsluft. Die ganze Stadt blühte. Wir wären am liebsten geblieben.«

»Das kann ich verstehen.« Neundorf nickte mit dem Kopf. »Mir fiel es jedes Mal schwer, Abschied zu nehmen, wenn ich in Venedig war. Beim letzten Besuch ertappte ich mich bei dem Gedanken, mich nach einer Wohnung umzusehen. Für immer. Irgendwo am Rand, etwas abseits. Die Ruhe und der Friede. Keine Hektik, kein Lärm und trotzdem alle Vorteile der Großstadt. Wie geht es Ann-Katrin?«

»Sie wollte nicht mehr weg. Venedig kam gerade rechtzeitig. Ich glaube, der Aufenthalt dort war besser als jede Therapie. Vielleicht schafft sie es jetzt endgültig.«

»Gesundheitlich? Geht’s?«

»Ja, gut. Ich denke, sie hat die Verletzungen endgültig überwunden.«

»Das freut mich für euch. Ihr hättet verlängern sollen. Ohne Rücksicht auf den Laden hier.«

Braig bemerkte ihre angespannte Körperhaltung, ahnte, dass sie anstrengende Tage hinter sich hatte. »Es gab viel zu tun?«, fragte er.

»Ich wurde zum Mitglied der Sonderkommission ernannt, die Koch einberufen hat.« Sie verzog ihr Gesicht, winkte verächtlich ab. »Du in Abwesenheit ebenfalls. Ich habe dir auf Band gesprochen. Du hast es gehört?«

Er nickte, bedankte sich.

»Der Kerl hat vollends den Verstand verloren«, fuhr sie fort. »Er trommelt Gott und die Welt zusammen. Dreißig Leute bis jetzt. Nur weil er unsere Heiligtümer bedroht sieht.«

»Die Erpressung.«

»Big Brother und der Flughafen. Koch beabsichtigt allen Ernstes, die Kommission auf fünfzig Personen zu erweitern. Er fordert Leute aus allen Teilen des Ländles an. Mannheim, Karlsruhe, Freiburg, Konstanz, Tübingen, Ulm, Heilbronn. Dabei geht jetzt schon alles drunter und drüber. Das reinste Tohuwabohu. Keiner weiß, was er tun soll.«

»Worum geht es bei der Erpressung?«

»Zweimal Fünfzigmillionen.«

Braig starrte seine Kollegin überrascht an, pfiff durch die Zähne. »Dann stimmt es tatsächlich? Einhundertmillionen Euro?« Er erinnerte sich, die Summe unterwegs in der Schlagzeile eines Boulevardblattes gelesen, sie aber für maßlos übertrieben gehalten zu haben.

Neundorf nickte. »Koch und Konsorten vermuten international agierende Terrororganisationen hinter den Drohungen. Forderungen solcher Größenordnungen könnten nur aus diesen Kreisen stammen. Er hat aber keinerlei Beweise.«

»Einhundertmillionen Euro.« Braig zeigte sich noch immer beeindruckt. »Das ist aber wirklich außergewöhnlich dreist. Weshalb gerade Big Brother und Flughafen?«

»Die Höhe der Forderungen vermutlich. Wer sonst kann das bezahlen? So viel Kleingeld hat nicht jeder parat. Aber für diese Unternehmen sind selbst Fünfzigmillionen nur Peanuts. Das verdient der Konzern in weniger als einer Woche. Und beim Flughafen gibt es eine Menge aufstrebender Gesellschaften, die groß absahnen. Die machen das mit links.«

»Sind die bereit zu zahlen?«

Neundorf zuckte mit der Schulter. »Frag mich was Leichteres. Ich weiß es nicht. Koch ist auf jeden Fall dagegen. Er hat es ihnen sozusagen verboten. Präzedenzfall und so.«

»Das ist verständlich«, überlegte Braig, »wer solchen Forderungen erst einmal nachgibt, löst eine Lawine von Nachahmern aus.«

»Die Erpresser drohen mit gezielten Maßnahmen. Wenn es wirklich Terroristen sind, müssen wir mit allem rechnen.«

»Sie fordern nur Geld? Sonst nichts?«

Neundorf nickte mit dem Kopf. »Es sieht so aus, ja. Die Begründung für ihr Vorgehen allerdings ist außergewöhnlich, wobei ich nicht weiß, ob man es ernst nehmen kann. Koch jedenfalls hält es nur für vorgeschobene Phrasendrescherei. Sie verweisen auf die weltweit beobachtbaren klimatischen Veränderungen und die daraus resultierenden Folgen wie das Abschmelzen gigantischer Eisberge, die zu erwartende Überflutung vieler Länder, Dürreperioden und Verwüstung ganzer Regionen sowie das immer häufigere Auftreten von Unwettern aller Art. Bald seien ganze Völker zur Flucht aus ihrer Heimat gezwungen, weil die Erwärmung immer weitere Landstriche in Wüsten und Steppen verwandle. Die Ursachen für diese Entwicklung seien in erster Linie im anschwellenden Auto- und Flugverkehr zu suchen. Ihre Aktion ziele dahin, diejenigen zur Verantwortung zu ziehen, denen die Hauptschuld für diese sich anbahnende Katastrophe zukomme. Wenn es schon nicht möglich sei, deren unheilvolles Treiben einzuschränken, sollten sie wenigstens einen finanziellen Beitrag leisten, der den Betroffenen zugute kommen solle. Der Verkauf von Autos in alle Regionen unseres Globus und der zunehmende Luftverkehr lasse Autofirmen und Luftverkehrsunternehmen irrsinnige Summen verdienen, während die Konsequenzen ihres Tuns auf die Ärmsten der Armen abgewälzt würden. Ihre Forderungen seien nichts als bescheidene Ausgleichsmaßnahmen...« Neundorf wurde mitten in ihren Erläuterungen vom Klingeln ihres Telefons unterbrochen.

»Die haben das so ausführlich formuliert?«, fragte Braig verblüfft.

Seine Kollegin nickte bestätigend, lief in ihr Büro, griff nach dem Telefon.

»Und Koch will nicht darauf eingehen?«, setzte er nach.

»Das seien nur Ablenkungsmanöver, behauptet er. Man müsse die Sache im internationalen Kontext betrachten. Erkenntnisse der Geheimdienste belegten eindeutig die neue Strategie global agierender Terroristen: bewusste Desinformation, um über die eigentlichen Ziele hinwegzutäuschen.«

Neundorf nahm den Hörer ab, meldete sich.

Das laute Schimpfen einer kräftigen Männerstimme drang bis an Braigs Ohren. Er verstand irgendetwas von Wasser und einem Auto, das darin gefunden worden war, und dass die lokalen Beamten seit geraumer Zeit auf die Hilfe der Kollegen warteten.

»Wo soll das sein?«, fragte Neundorf.

Die Antwort des Mannes blieb Braig nicht lange verborgen.

»Im Bärensee?«, rief seine Kollegin überrascht, erklärte dann, nach zwei, drei Sekunden des Überlegens, ihre Bereitschaft zu kommen und die Ermittlungen zu übernehmen. Sie legte den Hörer auf, sah zu Braig. »Kommst du mit? Ein Toter in einem Auto im Bärensee. Die Kollegen rufen seit einer halben Stunde nach einem Untersuchungsteam, aber niemand reagiert. Koch hat alle Kräfte gebunden.«

Der Kommissar schaute sie verwundert an. »Wirklich im Bärensee?«, vergewisserte er sich. »Ich dachte, der liegt in einem Naturschutzgebiet, wo keine Autos fahren dürfen.«

Neundorf betrachtete ihn nachdenklich, fuhr sich über die rechte Wange. »Seltsam, was? Dass dort Autos erlaubt sind, ist mir auch neu.«

3. Kapitel

Der Blick auf den lang gestreckten, in ein schmales Tal gezwängten See bot eines der schönsten Panoramen, das Braig je zu Gesicht bekommen hatte. Erstaunt blieb er stehen, ließ die einzigartige Anmut der Landschaft auf sich wirken. Ihm zu Füßen der Spiegel des Wassers, eingerahmt von sanft ansteigenden, teils bewaldeten, teils mit Wiesen bewachsenen Hängen und Terrassen, darüber, auf der höchsten Erhebung, das Bauwerk des als Bärenschlößle bezeichneten Pavillons, vor wenigen Jahren nach historischem Vorbild des 1768 vom württembergischen Herzog Carl Eugen errichteten Jagdschlosses erstellt. Das schmucke Gebäude fügte sich harmonisch in die Naturlandschaft ein. Rechter Hand im Tal, direkt an den Bärensee anschließend, das lang gezogene, in eine enge Waldschlucht gezwängte Gewässer des Neuen Sees, der, wie Braig wusste, etwa einen Kilometer unterhalb, nur von einem schmalen Damm unterbrochen, vom nicht weniger idyllischen Pfaffensee ergänzt wurde. Urwald-ähnliche, unter Naturschutz stehende Baumformationen zogen sich rings um die Seen in die Höhe, im hellen Grün des erwachenden Frühlings leuchtend.

»Du bist zum ersten Mal hier?«, fragte Neundorf, die Braigs bewundernde Blicke bemerkt hatte.

Er löste sich aus seiner Starre, atmete kräftig durch. Das würzige Aroma junger Blüten und harzigen Holzes lag in der Luft. »Nein. Nicht zum ersten Mal«, sagte er, »aber es ist lange her. Und dass es so schön ist, hatte ich nicht in Erinnerung.«

Sie waren den Weg vom alten Forsthaus an der Mündung der Mahdental-Straße in die Magstadter Straße hochgelaufen, eilten durch den lichten Wald. Als sie den Bärensee in seiner vollen Länge vor sich liegen sahen, bot sich ihnen ein absurdes, fast unwirkliches Bild: Das Heck eines Autos ragte aus dem Wasser. Braig blieb stehen, starrte auf die surreal anmutende Szenerie.

»Es ist kaum zu fassen!«, schimpfte Neundorf neben ihm, die Hand auf der Stirn. »Wer fährt hier einen Karren ins Wasser?«

Braig zuckte mit der Schulter, sah, dass sich der Wasserspiegel leicht bewegte. Ein in der Sonne glänzender, mehrere Meter breiter Ölfilm breitete sich rings um das Auto aus.

»Ölschlieren«, sagte er, »das Wasser ist schon verschmutzt.«

»Die werden sich freuen«, erklärte Neundorf, »mitten im Naturschutzgebiet.«

Sie folgten dem Weg abwärts, sahen eine aufgeregte Menschenmenge auf dem Damm zwischen den beiden Seen stehen, die neugierig die Bemühungen zweier Männer verfolgten, unweit des Autos ein Schlauchboot-artiges Gefährt ins Wasser zu lassen. Vielstimmige Kommentare schwirrten durch die Luft.

»Selbschtmord? Nie ond nimmer!«

»Der war scho längscht dot, bevor die den ins Wasser gschmisse hent.«

»Blödsinn! Der isch jämmerlich in dem Karre versoffe!«

Zwei uniformierte Beamte hatten alle Hände voll zu tun, darauf zu achten, dass das mit rot-weißen Bändern abgesperrte Gelände am Ufer nicht betreten wurde.

Braig und Neundorf drängten sich durch die Menge, stellten sich den Kollegen vor.

»Endlich!«, seufzte der Jüngere der beiden Männer, ein kräftiger, rotbackiger Mittdreißiger, »wir haben schon fast die Hoffnung aufgegeben, dass noch jemand kommt.«

»Tut mir Leid«, antwortete Neundorf, »bedankt euch beim Herrn Oberstaatsanwalt. Der hat nur noch ein Thema: Erpressung durch internationale Terroristen.«

Der uniformierte Beamte nickte mit dem Kopf. »Das sollte kein Vorwurf sein. Aber so geht das jetzt seit fast einer Stunde.« Er zeigte auf die Meute der Neugierigen, die ihre Unterhaltung wissbegierig verfolgten.

Neundorf winkte verständnisvoll ab, schaute zu dem Fahrzeug im Wasser. Es handelte sich um einen E- Klasse Mercedes mit grauer Lackierung. Ob sich Menschen darin befanden, war von ihrer Position aus nicht zu erkennen. »Das Auto war besetzt?«

Der Schutzpolizist nickte. »Ein Mann. Sie sehen es nur von dort vorne.« Er zeigte zum Damm. »Er muss tot sein. Sein Körper liegt auf dem Boden vor den Vordersitzen. Ihre Kollegen versuchen gerade, das Auto zu erreichen.«

Braig lief zu der Stelle, die der Beamte angedeutet hatte, schaute zu dem Fahrzeug über den See. Der Blick durch die Beifahrerscheibe bestätigte es: Das schmale, mit einer dunkelgrauen Hose bekleidete Hinterteil eines Menschen war zu erkennen, etwa in der Mitte zwischen den beiden Vordersitzen in die Höhe ragend. Kopf, Arme und Beine der Person mussten im Wasser stecken, dessen Oberfläche fast bis ans Armaturenbrett reichte.

»Sieht böse aus, was?«, schimpfte Neundorf, die ihrem Kollegen gefolgt war.

Braig nickte mit dem Kopf. »Ein grauenvoller Tod.«

»Wenn er so starb, wie es aussieht, allerdings.«

Er hörte bekannte Stimmen, sah Helmut Rössle auf einem Schlauchboot-artigen Gefährt vorsichtig zu dem Auto im Wasser paddeln. Der Kriminaltechniker kniete in gebückter Haltung auf der leicht schwankenden Unterlage, tauchte ein schmales Ruder abwechselnd links und rechts in den See. Hinter ihm wartete Lars Rauleder am Ufer, das Seil, an dem das Schlauchboot befestigt war, in Händen. Seine Hosen waren nass bis weit übers Knie. Um ihn herum lagen mehrere Werkzeuge, dazu ein großer Rucksack samt Stahlkoffer, scheinbar wahllos im Gelände verstreut.

Braig ging auf Rauleder zu, grüßte.

»Alle achtzig Deifel von Sindelfinge, die Dame und Herre Kommissare sind au schon hier«, schimpfte Rössle vom See her. Er hatte das Auto erreicht, hielt alle Einzelheiten mit einer digitalen Kamera fest.

»Tut mir Leid«, entschuldigte sich Neundorf, »wenn du dich beschweren willst, wende dich an Koch.«

Rössle richtete sich schwerfällig auf, versuchte, die Kamera aufs Innere des Fahrzeugs zu richten. Das Boot schwankte leicht, ließ ihn straucheln. Er fluchte leise, bemühte sich um Gleichgewicht, fotografierte direkt durch die Scheibe. »Bitte, dut mir oin Gfalle: Erwähnet den Kotzbrocke net mehr«, maulte er laut, »die Sauerei hier isch schlimm genug so früh am Morge.« Er bückte sich vorsichtig nieder, hielt die Szene in mehreren Bildern fest.

»Wie sieht’s in dem Auto aus?«, rief eine neugierige Stimme aus der gaffenden Menge.

Rössle reagierte nicht, setzte seine Arbeit fort.

»Eine Person?«, fragte Braig.

Der Techniker hob die Hand, hielt bestätigend den Daumen hoch.

»Ihr seid schon länger hier?«, fragte Neundorf.

Rauleder wischte sich die Haare aus der Stirn. »Eine halbe Stunde vielleicht. Wir wollten es zuerst nicht glauben. Ein Auto mit einem Toten im Bärensee. Wir dachten, da will uns jemand an der Nase rumführen. Aber dann kam ein zweiter Anruf. Es ist gar nicht so einfach, da ranzukommen. Wir versuchten es zuerst direkt.« Rauleders Blick wanderte nach unten zu seiner nassen Hose. »Keine Chance. Dann holten wir das Boot. Das ist zwar umständlich, aber so ersparen wir uns wenigstens ein Vollbad.«

»Wer hat das Auto entdeckt?«

Rauleder zog ein Blatt Papier aus seiner Tasche, reichte es der Kommissarin. »Ein Herr Dolde. Die Kollegen haben seinen Namen und die Adresse notiert. Der Mann hatte es eilig, ist aber den ganzen Morgen unter einer dieser Nummern zu erreichen. Er studiert.«

»In Stuttgart?«

Der Techniker nickte. »Er steht kurz vor seinem Examen, war heute Morgen zum Joggen hier, wie jeden Tag. Mehr weiß ich nicht. Ihr müsst ihn anrufen.«

Neundorf nahm das Papier, bedankte sich. Sie blickte zum See, sah, wie Rössle mit dem Boot um das Fahrzeug herumpaddelte und dabei eine Aufnahme nach der anderen schoss. »Wie kam das Auto ins Wasser? Habt ihr euch schon umgesehen?«

Rauleder zeigte auf das Areal unmittelbar hinter ihnen, das ringsum mit rot-weißen Plastikbändern vor unerlaubtem Zutritt geschützt war. »Wir haben noch nichts genauer überprüft. Zuerst muss der Tote aus dem Fahrzeug. Aber wie die Sache ablief, ist trotzdem schon weitgehend klar. Die Spuren dort vorne sind eindeutig. Frische Abdrücke von Autoreifen und Schuhen. Du kannst sie von hier aus erkennen.«

»Ihr habt nicht suchen müssen?«

»Die Absturzstelle dort vorne ist kaum zu übersehen. Die Böschung ist abgeschliffen, das Gras und das Moos wie abrasiert. An den Kanten hängen die Reste der Pflanzen, die dort wuchsen.«

Neundorf legte die Hand über die Augen, betrachtete die Fläche. An der Kante unmittelbar über dem See baumelten Moos- und Grasbüschel, die nur noch von dünnen Wurzeln gehalten wurden. Das Auto musste dort über die Böschung gerutscht und dann kopfüber in den See gefallen sein, falls das von dieser Entfernung aus richtig zu beurteilen war.

»Ihr habt Abdrücke von Schuhen entdeckt?«, griff Braig die Aussage des Technikers auf.

Rauleder wickelte das Seil langsam auf, weil Rössle mit seiner wackligen Unterlage wieder zurückpaddelte, hob seine Hand abwehrend hoch. »Ich will euch nicht zu viel versprechen. Wir haben das Gelände noch nicht detailliert untersucht. Bisher reden wir nur von ersten Eindrücken. Aber die Abdrücke von Schuhen, genau an der Stelle, wo das Auto über die Erde schrammte, sind nicht zu übersehen. Frische Abdrücke.«

»Wie viele sind es?«

»Zwei. Ein linker und ein rechter Schuh. Der Größe und der Anordnung nach von derselben Person.«

»Das bedeutet ...« Braig wurde mitten in seiner Überlegung von Rössle unterbrochen, der das Ufer erreicht hatte und auf den Rucksack am Boden deutete, aus dem ein schmaler Werkzeugkoffer ragte.

»Do isch oiner ausgstiege«, erklärte der Techniker, »bevor der Karre ins Wasser naghagelt isch.«

»Dort vorne?«

Rössle nickte. »Zwoi bis zwoiahalb Meter vor der Kante.«

»Ihr seid euch sicher?«

Der Techniker warf ihm einen mürrischen Blick zu, sparte sich jeden Kommentar. Braig wusste, wie exakt, ja penibel der Kollege arbeitete. Rössle beanspruchte zwar oft mehr Zeit, zu einem Ergebnis zu gelangen, als den fast ständig unter Zeitdruck leidenden, nach vorzeigbaren Resultaten lechzenden Kommissaren lieb war, seine Untersuchungen jedoch führte er mit einer Präzision und Zuverlässigkeit durch, die bisher – Braig konnte sich nicht an eine einzige Ausnahme erinnern – jedem kritischen Einwand standgehalten hatten. Zudem gab er prinzipiell keine voreiligen Verlautbarungen von sich, von deren Haltbarkeit er nicht überzeugt war. Jahrelange berufliche Erfahrung und eine – wie die meisten Kollegen urteilten – dabei erworbene außergewöhnlich schnelle und treffsichere Auffassungsgabe hatten Rössle zu einer wichtigen Stütze der Spurensicherung des Stuttgarter LKA werden lassen. Zeigte er sich ausnahmsweise so schnell auskunftsbereit wie im vorliegenden Fall, konnte man darauf vertrauen, dass er sich seiner Sache absolut sicher war. Was er über die Schuhabdrücke auf der Fläche hinter ihnen geäußert hatte, würde er in wenigen Stunden nach akribischen Untersuchungen detailliert beweisen können, wusste Braig. Jede Fragestellung bezüglich der Sicherheit seiner Aussagen erübrigte sich somit.

Der Kommissar verfolgte Rauleders Bemühungen, seinem Kollegen den Rucksack mit dem Werkzeugkasten zu überreichen, sah, wie Rössle sich die Gurte überstreifte und das dunkelgrüne Behältnis vor seinem Bauch befestigte.

»Um es noch genauer zu sage«, erklärte der Techniker, »die Abdrück von dene Schuh zielet zuerscht Richtung See und zwar direkt nebe dene Reifespure. Und dann beschreibet se uf oimal en Boge und führet zurück, landeinwärts. Sind die Grosche gfalle?« Er straffte den Gurt des Rucksacks, richtete sich vorsichtig auf.

»Zuerst Richtung See, dann landeinwärts?«, wiederholte Neundorf. Sie betrachtete Rössle aufmerksam, überlegte.

Er nickte mit dem Kopf, versuchte Halt zu finden. Das Schlauchboot schwankte heftig.

»Auf welcher Seite des Autos?«

Der Techniker verharrte auf der Stelle, deutete rückwärts auf den See. »Der Karre liegt mit seinem Vorderteil im Wasser. Also isch er vorwärts neighagelt, nehm i mol a. Oder?«

»Ich wüsste nichts, was dagegen spricht. Du bist der Experte.«

»Experte?« Rössle brummte ungehalten vor sich hin. »Alle Idiote von Sindelfinge, du schwätzsch a Zeugs.« Er veränderte vorsichtig seine Haltung, bückte sich, nahm das Ruder auf. Wasser schwappte ans Ufer. »Links«, sagte er dann, »von dem Auto aus links.«

»Neben der Fahrertür?«

»Genau da.«

»Das bedeutet, der Fahrer des Wagens stieg aus, bevor das Fahrzeug ins Wasser stürzte«, überlegte Braig. »Er stieg aus und lief davon. Ja?«

»I war net dabei«, erwiderte Rössle, »aber dene Spure nach ...« Er rutschte mit den Knien weiter nach vorne, deutete ein vorsichtiges Nicken an.

»Vorsätzlich also«, meinte Neundorf, »Mord.«

Der Techniker streckte seine Arme weit von sich, zuckte mit der Schulter. »I woiß net, was i sage soll. Aber so Leid es mir tut, es sieht nach Arbeit aus, ja.« Er winkte Rauleder, ihn zu begleiten, reichte ihm die Hand.

Der Kollege kniete vorsichtig neben Rössle nieder, balancierte den schwankenden Untergrund aus. Das Boot wackelte, ließ noch mehr Wasser ans Ufer schwappen. Braig trat zwei Schritte zurück, verfolgte die mühsamen Versuche der beiden Männer, festen Halt zu finden.

»Das Autokennzeichen«, sagte Neundorf, »wir sollten überprüfen, wem das Fahrzeug gehört.«

»Haben wir schon erledigt«, antwortete Rauleder, »hier.« Er griff in seine Hosentasche, reichte seiner Kollegin ein zusammengefaltetes Blatt. »Ich habe den Namen und die Anschrift notiert.«

Sie nahm das Papier entgegen, bedankte sich. »Daimler-Benz, E-Klasse. Karl Herzog, Wilhelm-Haspel-Straße, Sindelfingen.« Neundorf las den Text samt Autokennzeichen und Telefonnummer laut vor.

»Ihr habt schon angerufen?«, fragte Braig.

»Alles können wir nicht erledigen. Einen kleinen Rest ...«

»Ist schon gut. Vielen Dank.« Er war sich bewusst, dass es ihre eigene, nicht aber die Aufgabe der Techniker war, den Namen und die Adresse des Fahrzeughalters zu ermitteln.

»Uf jeden Fall gucket mir jetzt nach dem Tote«, sagte Rössle. Er wartete, bis beide sicheren Halt gefunden hatten, tauchte sein Paddel ins Wasser, steuerte das Boot vom Ufer weg.

Braig verfolgte die Bemühungen der Kollegen, sah, wie sie auf das Auto zuhielten und sich dann am Griff der Fahrertür zu schaffen machten, der nur wenige Zentimeter über die Wasseroberfläche hinausragte. Sie zogen sie ein Stück weit auf, benötigten dafür nur wenige Minuten. Das Wasser kam leicht in Bewegung, ließ zuerst das Boot, dann auch den Wagen schwanken. Die Männer legten eine kurze Pause ein. Die Menge auf dem Damm verfolgte das Geschehen mit lauten Kommentaren.

»Lebt der Kerl noch oder isch er he?«

»Wie viele Tote sind’s?«

Rössle richtete sich vorsichtig auf, fotografierte den Innenraum durch den geöffneten Spalt. Plötzlich zuckte er zusammen.

»Der isch he, sonscht dätet die net erscht noch mit der Kamera rumfuhrwerke«, rief eine kräftige Stimme.

Braig sah, wie der Techniker den Fotoapparat wegsteckte und angestrengt ins Innere des Autos starrte, sich dann leise mit seinem Kollegen unterhielt. Beide Männer tauschten die Position, nun steckte Rauleder den Kopf durch die Öffnung, richtete sich dann kopfnickend wieder auf. Mit ernsten Gesichtern paddelten sie vorsichtig zurück.

»Der ist ohne Zweifel tot«, sagte Rauleder, als sie das Ufer fast erreicht hatten, »sein Gesicht liegt vollkommen im Wasser. Wir dachten, ihr wollt es euch sicher ansehen, bevor wir ihn holen?«

Braig nickte, ließ sich gemeinsam mit Neundorf auf das Boot helfen.

»I bleib da«, erklärte Rössle, »vier Leut sind zu viel.«

Der Kommissar kniete sich hin, versuchte auf dem schwankenden Untergrund Halt zu finden. Er fühlte sich an die leicht schaukelnden Vaporetti erinnert, in denen er in den letzten Tagen in Venedig mehrfach unterwegs gewesen war. Schon beim Einsteigen hatte man die sanfte Bewegung des Schiffes gespürt. Hatte es dann abgelegt und größeres oder belebtes Gewässer wie den Canale di San Marco oder die Lagune erreicht, war es in ein gleichmäßiges, rhythmisches Schwingen verfallen.

Braig spürte nasse Kälte auf seiner rechten Hand, fühlte sich abrupt aus seinen Träumen gerissen. Der Mercedes war nur noch wenige Zentimeter von ihnen entfernt. Rauleder tauchte das Ruder mit kräftigen Stößen ein und steuerte auf die halb geöffnete Fahrertür zu.

Der Mann war schon eine ganze Weile tot, das war sofort zu erkennen. Seine Glieder hingen steif im Wasser, das im vorderen Teil des Innenraums hin und her schwappte. Braig streckte sich vorsichtig vor, musterte den Körper des Toten. Er war schlank, nicht allzu groß, steckte in einem hellgrauen Anzug. Ursachen für sein Ableben waren nicht sofort zu erkennen. Erst als Braig seinen Kopf fast bis auf die Oberfläche der Brühe hinunterbeugte, bemerkte er die Zerstörung der rechten Gesichtshälfte. Er stützte sich an der Außenseite des Fahrzeugs ab, versuchte dies genauer zu betrachten. Sofort wurde ihm bewusst, was er da vor sich sah. Zu oft hatte er es schon vor Augen gehabt. Er wollte es nicht glauben, spürte, dass er zitterte. Er verlor den Halt, rutschte nach vorne weg. Wasser schwappte ihm ins Gesicht, an den Hals, rann kalt die Brust und den Rücken hinunter. Er drückte sich an dem Auto hoch, kam auf die Knie.

»Und?«, fragte Neundorf, »was ist?«

Er wischte sich die Flüssigkeit von der Stirn, rieb sich über Brust und Bauch. Er wollte es immer noch nicht glauben, brachte nur mit Mühe Worte hervor. »Rechts«, stammelte er, »sein Gesicht.«

Neundorf beugte sich nach vorne, betrachtete den Toten, auch sie richtete sich nur langsam wieder auf. Braig sah, dass sie sehr bleich war. »Der wurde erschossen«, sagte sie leise.

Er nickte, sah Rauleders zustimmende Miene. »Verrückt, was?«

»Wer?«

Braig wusste nicht, was er antworten sollte.

Neundorf deutete auf den Innenraum des Fahrzeugs. »Versuchen wir es gleich?«, fragte sie.

Rauleder hustete verlegen. »Wäre es nicht besser, wir übernehmen das?« Er deutete ans Ufer, wo Rössle mit dem Auspacken verschiedener Utensilien beschäftigt war.

Braig nickte seinem Kollegen zu, drückte sich von dem Auto weg, um das Boot in Fahrt zu bringen. »Was ist mit dem Arzt? Habt ihr einen angefordert?«

»Sofort«, erklärte der Techniker, »sobald wir den Toten entdeckt hatten.«

Sie kletterten wieder an Land, warteten, bis Rössle und Rauleder den Mann aus dem Fahrzeug geborgen hatten. Der erste Eindruck, den sie von dem Toten gewonnen hatten, verfestigte sich jetzt vollends. Es handelte sich um eine schlanke, etwa 1,75 Meter große Person, vielleicht vierzig bis fünfundvierzig Jahre alt, soweit das bei dem Zustand der Leiche zu beurteilen war. Er trug schwarze Schuhe mit auffallend hohen Sohlen und Absätzen, einen grauen Anzug und ein ursprünglich wohl weißes Hemd, das jetzt von einem schmutzigen Schleier überzogen war. Sein Gesicht war auf der rechten Seite im Bereich unterhalb der Schläfe stark deformiert, der Einschusskanal einer kleinkalibrigen Waffe deutlich zu sehen. Es gab wohl kaum einen Zweifel: Man hatte den Mann erschossen und dann mitsamt dem Auto ins Wasser katapultiert.

Braig fand keine Zeit, sich noch länger über die verrückte Hinrichtungsart zu wundern, weil sich der Arzt in diesem Moment schwer atmend durch die Masse der neugierigen Gaffer kämpfte und direkt auf sie zukam.

»Schönen guten Morgen, die Damen und Herren.« Dr. Martin Keil stellte seinen schwarzen Lederkoffer ab, nickte allen zu. Er wirkte bullig, schien um die sechzig. Sein Gesicht glühte vor Anstrengung, er schnaufte schwer. »Ich konnte nicht früher«, entschuldigte er sich. Seine Stimme klang rauchig und verschnupft wie immer, wenn Braig mit ihm gesprochen hatte. »Verkehrsunfall in Vaihingen. Die Verrückten sterben nicht aus. Jagt so ein Kerl mit seinem Sportwagen die Robert-Koch-Straße entlang, verliert die Gewalt über den Karren und rast voll auf den Gehweg. Zwei schwerverletzte Kinder, die dort auf dem Weg zur Schule waren.« Er schüttelte sich, als wolle er die Bilder verscheuchen. »Der Junge starb mir unter den Händen weg. Elf Jahre jung. Wegen so einem verkommenen Schwein.« Er schob seine Krawatte zur Seite, zog ein Stofftuch aus seiner Hosentasche. »Aber das ist unser Alltag. Ich weiß, Ihnen geht es auch nicht besser. Was steht an?« Dr. Keil wischte sich mit dem Tuch übers Gesicht, tupfte sich den Schweiß von der Haut.

»Männliche Leiche«, sagte Neundorf, »aus dem Auto dort.« Sie deutete auf den Toten, den sie hinter einer schmalen Zeltplane, die ihn vor neugierigen Blicken schützen sollte, am Ufer abgelegt hatten.

»Wie kommt die Kiste in den See?«, fragte der Arzt. »Sind jetzt alle dem Wahnsinn verfallen?«

»So langsam könnte man es glauben«, antwortete Neundorf, »wir haben noch keine Ahnung.«

Dr. Keil machte sich an seinem Koffer zu schaffen, bückte sich dann zu dem Toten nieder. »Sie haben seine Papiere?«, fragte er.

»Karl Herzog, 1958 in Waiblingen geboren«, erklärte Neundorf. »Gemeldet in Sindelfingen. Wir haben ihn mit dem Bild auf seiner Kennkarte verglichen. Er scheint es zu sein. Mehr wissen wir noch nicht. Wir warten auf Ihren ersten Befund.«

Rauleder hatte die Geldbörse und den Ausweis des Mannes sofort nach dessen Bergung aus seiner nassen Jacke gekramt, sie an die Kommissare weitergereicht.

»Das wird eine Weile dauern«, sagte der Arzt. Er schnaufte immer noch heftig, fing plötzlich an, laut zu schimpfen. »Warum sagen Sie das nicht gleich!« Er sah mit vorwurfsvollem Blick zu ihnen hoch. »Das haben Sie doch selbst bemerkt!«

»Wir waren genauso überrascht«, erklärte die Kommissarin, »damit hatte niemand von uns gerechnet.«

»Also, dann brauchen Sie auf meine Expertise nicht mehr zu warten. Ein Schuss mit Todesfolge unterhalb der rechten Schläfe.« Er starrte zu ihnen hoch, deutete auf den See. »Wozu dann diese Veranstaltung?«

Neundorf zuckte mit den Schultern. »Wir wissen nicht mehr als Sie.«

»Ja, natürlich.« Dr. Keil wandte sich wieder dem Toten zu. »Und jetzt wollen Sie wissen, wie viele Stunden das her ist.« Er wartete ihre Antwort nicht ab, ergänzte seine Feststellung. »Das dauert. Ich muss erst überprüfen, inwieweit das Wasser Einfluss auf die Leichenstarre hatte.«

Neundorf trat zur Seite, wandte sich an Braig. »Kümmern wir uns zuerst um den Mann, der das Auto entdeckte?«

»Sobald wir einen ersten Befund über die Todeszeit haben?«

»Vielleicht können wir uns den auch telefonisch geben lassen. Dann steht Dr. Keil nicht so unter Druck.«

Braig nickte, zog sein Handy aus der Tasche. »Du hast den Namen und die Nummer?«

Neundorf reichte ihm das Papier, hörte, wie ihr Kollege mit einem Herrn Dolde sprach und sich den Weg zu dem Universitätsgebäude beschreiben ließ, in dem der Student arbeitete. Braig kündigte ihren Besuch für die nächste halbe Stunde an. Sie sah seinen fragenden Blick, mit dem er sich nach ihrem Einverständnis erkundigte, signalisierte ihre Zustimmung.

»Das wird nicht lange dauern. Die Uni liegt gleich um die Ecke. Anschließend fahren wir nach Sindelfingen und verständigen die Angehörigen des Toten, ja?«, setzte er hinzu. Braig ließ sich die Handy-Nummer des Arztes geben, verabschiedete sich von ihm und den Kollegen.

Sie verließen das Seeufer, kämpften sich durch die Menschenmenge, die mit angestrengten Mienen auf neue Informationen wartete. Braig kam es vor, als habe sich ihre Anzahl seit seiner Ankunft vor einer guten halben Stunde mehr als verdoppelt.

»Ond, was isch mit dem Dote?«

»Isch er in dem Auto ersoffe?«

»Wer hat den do neigfahre?«

Er winkte den beiden uniformierten Beamten zu, die mit stoischer Ruhe jedes Vordringen in eine der abgesperrten Zonen unterbanden, schob einen älteren Mann mit vor unverhohlener Neugier rot angelaufenen Wangen zur Seite, der ihn am Weitergehen hinderte.

»Des waret die terroristische Erpresser«, zischte der Rotbackige, »die die Hundertmillione verlanget. Seht ihr net, dass des en Daimler isch, der do im Wasser liegt?«

Braig roch den alkoholgeschwängerten Atem des Mannes, gab keine Antwort. Er glitt an der hageren Gestalt vorbei, überlegte, was den Mann so früh am Tag schon veranlasst haben könnte, zu Bier oder Schnaps zu greifen. Terroristische Erpresser? Auf diese Idee zu verfallen, benötigte es in der Tat eines drastisch hohen Alkoholpegels. Er wartete, bis Neundorf bei ihm angelangt war, und stieg den sanft ansteigenden Waldweg hoch.

»Verrückt, was?«, sagte sie. »Hattest du damit gerechnet?«

»Nie und nimmer. Ich verstehe nicht, was das soll.«

»Als hätte der Schuss in den Kopf nicht gereicht. Wer macht so was?«

»Der Mörder muss von irrsinnigem Hass getrieben sein. Ein Tod ist ihm nicht genug.«

»Warum fuhr er das Auto ins Wasser? Sein Opfer war tot. Wozu dann noch diese Sache hier?«

»Er wollte Aufsehen erregen«, überlegte Braig, »der Tote sollte nicht unbemerkt aus dem Leben scheiden.«

»Eine Art Demonstration? Ist es das?«

»Eine perverse Demonstration der Gewalt. Als wollte der Täter seine Macht und seine Skrupellosigkeit beweisen.«

»Wem? – Beweisen? Uns allen oder einer bestimmten Person?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete der Kommissar. »Vielleicht ist er krank und will in die Medien. Aufsehen erregen und berühmt werden. Die Journalisten werden sich freuen, wenn sie die Details erfahren.«

Neundorf nickte mit dem Kopf, stimmte ihm zu. »Das wird ein großes Fest. Aber ob das zur Erklärung des Tathergangs reicht?«

Sie hörten das aufgeregte Geschrei mehrerer Leute, die ihnen entgegenkamen, beeilten sich, die Gruppe zu passieren.

»Was isch?«, kreischte ein Mann. »Wirklich en Doter im See?«

Sie gaben keine Antwort, starrten auf den Boden.

»Ha, so was Ofreundliches!«, schallte es hinterher.

»Ich hoffe nur, es dauert nicht zu lange, bis wir den Mörder finden«, sagte Braig, »sonst ›Gute Nacht‹.« Er deutete zurück auf die Menschenmenge hinter ihnen.

Sie vernahmen das Aufheulen eines Automotors irgendwo vor ihnen, hörten ihn in westlicher Richtung verschwinden.

»Eine Frage haben wir uns noch nicht gestellt«, fiel es Neundorf ein.

Braig kickte einen morschen Ast zur Seite, der vor seinen Füßen lag, wandte sich seiner Kollegin zu. »Nämlich?«

»Wie kam das Auto zum See? Der gesamte Rotwildpark hier steht unter Naturschutz. Alle Zugänge sind mit Schranken geschützt, die Wege für Autos gesperrt.«

Braig verstand, was sie meinte. »Wir müssen uns erkundigen, wo eine Zufahrt dennoch möglich ist. Am besten beim Forstamt, die wissen garantiert Bescheid. Anschließend müssen die Techniker ran. Ein unerlaubt in den Park eingedrungenes Fahrzeug wird wohl irgendwo Spuren hinterlassen haben. Mit viel Glück finden wir Zeugen, denen das Auto auffiel. Vielleicht nicht nur das Auto, sondern auch sein Fahrer.«

Sie hatten den höchsten Punkt des Weges erreicht, liefen jetzt steil abwärts. Die Motoren nicht weit entfernt vorbeijagender Autos dröhnten durch den Wald. Braig spürte, wie ihm Schweißperlen den Rücken hinunterrannen, öffnete seine Jacke. Er sah auf die Uhr. Zwanzig vor zehn. Die Temperatur musste die Zwanzig-Grad-Marke längst überschritten haben. Welche Jahreszeit stand im Kalender – war es nicht erst Anfang Mai? Der noch etwas unberechenbare Frühlingsmonat, bekannt für seine ersten lauen Lüfte, sonnige Stunden, aber auch noch kühlen Nächte, die letzten kalten Winde?

»Es ist überraschend warm«, sagte Neundorf.

Braig atmete tief durch, nickte.

»Ich fürchte, wir gehen wieder einem heißen Sommer entgegen«, stöhnte seine Kollegin. Sie hatte ihre Jacke ausgezogen, trug sie unter dem Arm.

»So wie letztes Jahr?«

Er sah, wie sie mit der Schulter zuckte, dachte voller Schrecken an die stickigen, fast unerträglichen Juni-, Juli- und Augustwochen zurück. Über Monate hinweg hatte die Hitze das Land im Griff gehabt, drückende Schwüle, wie er sie in dieser Ausprägung und Länge nie zuvor erlebt hatte, war zum Albtraum fast aller zur Arbeit verpflichteten Bürger geworden. Kaum ein Tag ohne Temperaturen knapp unter vierzig Grad Celsius, blauer Himmel, ewig strahlende Sonne, weit und breit keine Schatten spendende Wolke am Himmel. Nie zuvor hatte sich Braig mit solcher Inbrunst nach einem kräftigen Tiefausläufer gesehnt, mit intensiven Niederschlägen und frischer Luft. Blumen, Sträucher, Wiesen waren vertrocknet, in mehreren Regionen des Landes Wald in Flammen aufgegangen. Landwirte hatten trotz aufwändiger künstlicher Bewässerung nur Bruchteile der sonst üblichen Erntemengen erzielt, ältere und kranke Menschen waren in auffällig hoher Zahl den ungewohnten Temperaturen erlegen; bis weit in den September hinein.

Braig betrachtete die Schranke, die kurz vor der Einmündung des Weges in die Mahdentalstraße die Hälfte der Fahrbahn versperrte. Es handelte sich um ein stabiles, rot-weiß lackiertes Metallrohr, das mehrere Risse und Kratzer aufwies. Die Außenkante war mit schmutzigen Schlieren verschmiert.

»Irgendein grauer Farbton?«, fragte Neundorf.

Braig hielt vorsichtig Abstand, starrte auf das Rohr. Er sah den Schmutz am oberen Rand der Außenkante, bemerkte ein Glitzern an dessen unterer Begrenzung. Er trat einen halben Schritt zur Seite, kniete nieder, starrte auf den Metallrahmen. »Grau«, sagte er, »da ist ein Hauch grauer Farbe. Wir müssen sofort die Techniker rufen.« Er wandte sich von der Schranke ab, betrachtete den Wegessaum, bewachsen mit Gras und dürren Sträuchern. Die Pflanzen sahen mitgenommen aus, an mehreren Stellen waren sie von unbekannter Gewalt niedergedrückt und teilweise sogar entwurzelt. Zwei Sockel, der eine aus morschem Holz, der andere aus stabilem Beton, grenzten den Weg von einem schmalen Graben ab.

»Der Boden ist sehr trocken«, sagte er, »wenn heute Nacht hier jemand versucht haben sollte, mit einem Auto an der Schranke vorbeizukommen, ist das jetzt nur noch schwer zu erkennen. Rössle und Rauleder müssen sich darum kümmern, bevor ganze Heerscharen an den Eingängen zum Park vorbeigetrampelt sind.«

4. Kapitel

Kai Dolde war ein freundlicher junger Mann Ende zwanzig. Er hatte kurze dunkle Haare, ein schmales Gesicht, machte mit seiner randlosen Brille und den seine Gesprächspartner aufmerksam musternden Augen einen aufgeweckten Eindruck. Seine schlanke, sportliche Figur unterstützte nachhaltig die Schilderungen seiner ausführlichen täglichen Jogging-Touren durch den Rot- und Schwarzwildpark rund um den Bärensee. Braig und Neundorf hatten ihn am Eingang zu dem von Dolde beschriebenen Unigebäude getroffen, wo er auf sie gewartet hatte, waren mit einem freundlichen Händedruck von ihm begrüßt und dann zu einer Sitzgruppe im ersten Obergeschoss des Hauses geführt worden, wo er ihnen die Umstände seines außergewöhnlichen Fundes bis ins letzte Detail schilderte. Der Kommissar sah keinen Grund, den Bericht des jungen Mannes anzuzweifeln.

»Ja, die aufgehende Sonne. Ohne sie hätte ich das Auto nicht entdeckt. Weshalb auch? Ich war ja nicht unterwegs, um den Bärensee zu untersuchen. Normalerweise komme ich nicht runter ans Wasser. Ich laufe den Königsweg bis zum Bärenschlößle, lege dort eine kurze Pause ein, mit Lockerungsübungen und Atemtechniken und so und sprinte dann die Schlößlesallee zurück. Den See schaue ich mir nur von oben an. Aber heute blendete mich dann plötzlich dieses grelle Licht ...«

»Um wie viel Uhr war das? Wissen Sie es noch?«

Kai Dolde überlegte nur kurz. Er legte den Kopf auf die Seite, schaute auf einen imaginären Punkt an der Wand. »Vierzehn nach sieben«, sagte er dann. »Plus minus zwei, drei Minuten. Ich kann nur genau sagen, zu welcher Zeit ich die Person in dem Auto entdeckte. Oder besser die Umrisse dieser Person.«

»Ja?« Braig und Neundorf warteten gespannt auf seine Erklärung.

»Sieben Uhr neunzehn«, betonte Dolde, fügte dann mit kräftiger Stimme hinzu: »Ich zog routinehalber meine Uhr aus der Tasche, um mich selbst zu vergewissern, wie spät es war. Genau in dem Moment, als ich die Person bemerkt hatte.«

»Waren noch andere Leute zu der Zeit dort unterwegs?«

Der Student winkte mit der Hand ab. »Unten am See, nein. Der erste Mann, der mir dort begegnete, tauchte erst zehn Minuten später auf. Ein Herr Leube, Bernhard Leube. Er joggte den nördlichen Uferweg am Neuen See entlang, kam um sieben Uhr sechsundzwanzig bei mir an. Ich zeigte ihm das Auto und den Toten und er wartete dann mit mir, bis Ihre Kollegen auftauchten. Ich habe sie sofort nach der Entdeckung mit meinem Handy informiert.«

Braig nickte, wusste von den Beamten der Schutzpolizei, dass die erste Mitteilung über den Fund des Autos um sieben Uhr zweiundzwanzig eingegangen war.

»Sie kennen diesen Herrn Leube?«, fragte Neundorf.

Dolde winkte wieder mit seiner rechten Hand ab. »Nein, woher denn? Ich notierte mir nur seinen Namen und die Adresse, weil ich dachte, es wäre für Sie vielleicht von Interesse.«

Die Kommissarin pfiff durch die Zähne. »Vielen Dank. Das ist sehr freundlich von Ihnen. Wenn alle Leute so aufmerksam wären, hätten wir es bedeutend leichter.« Sie nahm ein Blatt, das der Student ihr reichte, ließ sich die darauf verzeichneten Namen erklären.

»Hier, diese Personen kamen später noch dazu. Links finden Sie die Uhrzeit, wann sie unten am See eintrafen, daneben habe ich notiert, woher und womit sie gekommen sind. Per Fahrrad oder zu Fuß. Und hier stehen Name und Adresse.«

»Herzlichen Dank. Das erspart uns viel Arbeit.«

Neundorf und Braig überflogen die Liste, sahen, dass es sich um insgesamt acht Leute handelte, allesamt Männer. Sie waren von Büsnau, von Botnang oder vom Unigelände am Pfaffenwald gekommen, bis auf zwei Radfahrer alle zu Fuß unterwegs.

»Ab dem Zeitpunkt, als Ihre Kollegen eintrafen, habe ich dann nichts mehr notiert«, erklärte Dolde, »nicht, weil ich keine Lust mehr hatte, sondern weil ich den Beamten genau erklären musste, wie ich das Auto entdeckt hatte. Daher war es mir leider nicht mehr möglich, auf neu eintreffende Passanten zu achten. Ob Ihre Kollegen ...«

»Danke«, fiel Braig ihm ins Wort, »wir werden uns danach erkundigen. Wichtiger als die Tatsache, wer anschließend noch dazukam, ist mir die Frage nach Personen, denen Sie begegneten, bevor Sie auf das Auto aufmerksam wurden. Kam Ihnen vom See her zufällig jemand entgegen?«

Dolde fuhr sich mit der Hand über die rechte Wange, setzte seine Brille ab, schwenkte sie zwischen Daumen und Zeigefinger nervös hin und her. »Das habe ich mich auch schon die ganze Zeit gefragt«, sagte er zögernd, mit deutlich gedämpfter Stimme. »Das Davor ist wahrscheinlich entscheidender als das Danach