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Was für ein Sommer! Drückend schwüle Hitze und unverständliche politische Entscheidungen machen den Menschen zu schaffen. Während in der Landeshauptstadt Zehntausende gegen das Jahrhundertprojekt "Stuttgart 21" protestieren, fällt in Esslingen ein erfolgreicher Manager unbekannten Verbrechern in die Hände. Fast zur gleichen Zeit wird der Besitzer einer kleinen Maultaschenfabrik auf der Schwäbischen Alb von der Straße abgedrängt und stürzt in den Tod. Die Kommissare des Stuttgarter Landeskriminalamtes Katrin Neundorf und Steffen Braig stoßen im privaten wie im beruflichen Umfeld der Opfer auf undurchsichtige Gestalten und seltsame Vorgänge. Doch während sie sich mehr und mehr auf die Frage konzentrieren, ob alle Maultaschen der kleinen Fabrik wirklich nur Fleisch und Gemüse oder nicht völlig andere Materialien enthalten, wird immer deutlicher, dass die Vorgänge in Stuttgart und auf der Alb mehr miteinander zu tun haben, als es zunächst den Anschein hat. Braig und Neundorf ermitteln in ihrem 13. Fall!
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Seitenzahl: 415
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Klaus Wanninger
Schwaben-Sommer
Vom Autor bisher bei KBV erschienen:
Schwaben-Rache
Schwaben-Messe
Schwaben-Wut
Schwaben-Hass
Schwaben-Angst
Schwaben-Zorn
Schwaben-Wahn
Schwaben-Gier
Schwaben-Sumpf
Schwaben-Herbst
Schwaben-Engel
Schwaben-Ehre
Schwaben-Sommer
Klaus Wanninger, Jahrgang 1953, evangelischer Theologe, lebt mit seiner Frau Olivera und den schwäbischen Katern Mogli und Balu in der Nähe von Stuttgart. Er veröffentlichte bisher dreißig Bücher. Seine überaus erfolgreiche Schwaben-Krimi-Reihe mit den Kommissaren Steffen Braig und Katrin Neundorf umfasst mittlerweile dreizehn Romane in einer Gesamtauflage von über einer halben Million Exemplaren.
Klaus Wanninger
1. Auflage 2010
2. Auflage 2010
3. Auflage 2011
4. Auflage 2011
5. Auflage 2011
© KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim
www.kbv-verlag.de
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Telefon: 0 65 93 - 99 86 68
Fax: 0 65 93 - 99 87 01
Umschlagillustration: Ralf Kramp
Redaktion: Volker Maria Neumann, Köln
Druck: Aalexx Buchproduktion GmbH, Großburgwedel
Printed in Germany
Print-ISBN 978-3-940077-92-9
E-Book-ISBN 978-3-95441-101-6
Für Dorothee Steuer,mit Dank für die langjährige Zusammenarbeit.
Die Personen, Namen und Handlungen dieses Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen oder tatsächlichen Ereignissen wäre rein zufällig. Leider beruhen die Hintergründe aber auf Tatsachen.
Den Kopf nach vorne gebeugt standen sie vor dem Schreibtisch und starrten auf den Bildschirm des Computers. Sprach- und regungslos, vom Anblick der Szene wie gelähmt. Was ihnen hier präsentiert wurde, sprengte alles Dagewesene.
Das Gerät war neu, erst wenige Tage in Betrieb. 21,5 Zoll, Full-HD-Display, extrem dynamischer Kontrast von 60.000 zu 1, hatte Dr. Kai Dolde erklärt, als er es ausgepackt und anstelle des Vorgängermodells auf seinem Schreibtisch zurechtgerückt hatte; das sei mit das Beste, was es zur Zeit zu moderaten Preisen gab. Was immer man sich ansah – man würde glauben, unmittelbar vor Ort zu sein.
Kriminalhauptkommissar Steffen Braig hatte den von einem euphorischen Unterton geprägten Ausführungen nur mit halbem Ohr gelauscht. Technik, in welcher Form auch immer, war nicht sein Metier. Hauptsache, das Gerät funktionierte und war einfach und ohne ausgiebige Konsultationen von Handbüchern zu bedienen, mehr verlangte er nicht. Full-HD-Display, extrem dynamischer Kontrast von 60.000 zu 1 waren Begriffe, mit denen er nichts anzufangen wusste. Jetzt aber, diese bisher unvorstellbare Szene vor Augen, erinnerte er sich an Doldes Worte und musste im Nachhinein zugeben, dass der Techniker die Sache völlig korrekt beschrieben hatte: Braig glaubte tatsächlich, unmittelbar vor Ort zu sein.
Er hörte das leise Aufstöhnen seiner Kollegin neben sich, warf einen kurzen Blick zur Seite, sah das fassungslose Kopfschütteln Neundorfs. Der Kriminalhauptkommissarin, auch sie seit Jahren im Dienst des Landeskriminalamtes, ging es offensichtlich nicht anders als ihm selbst. Ein neues Zeitalter hatte begonnen, ahnte Braig, eine neue, bisher nicht bekannte Spielart der Kriminalität hatte jetzt auch hier im angeblich so friedlichen Ländle Einzug gehalten.
Für den Bruchteil einer Sekunde spürte er eine Welle der Irritation, sah er sich dem Ansatz eines Zweifels ausgeliefert, diesem unübersehbar in neue Dimensionen vorstoßenden Verbrechen noch gewachsen zu sein.
Er konzentrierte sich auf den Bildschirm, versuchte, sich aus seiner emotionalen Verwirrung zu lösen: Ein Raum, genauer gesagt ein Badezimmer mit zwei am linken Bildrand gerade noch an ihren Umrissen zu erahnenden Waschbecken und einer großen Wanne mittendrin. Die Form der Wanne war nicht das Entscheidende, auch nicht die Farbe. Eine weitgehend gewöhnliche, allein durch ein an der linken Innenseite angebrachtes Gestänge etwas aus dem Rahmen fallende Badewanne, etwa zwei Meter lang, knapp einen Meter breit, aus dem üblichen, speziell für hohe Temperaturen geeigneten Werkstoff. Im Inneren an den Seiten sanft gewölbt, in hellblauer, der Idealfarbe klaren Wassers nachempfundener Tönung, außen wie der Boden davor und die Wand dahinter mit weißen Fliesen verkleidet. Rechteckige, etwa dreißig auf fünfzehn Zentimeter große, hell glänzende Fliesen.
Das Außergewöhnliche war der Inhalt der Wanne, eine teigige Masse mit graubraunen Einsprengseln, die das Behältnis etwa zur Hälfte ausfüllte. Vierzig, fünfundvierzig Zentimeter hoch den gesamten unteren Bereich bedeckend – bis auf ein schmales Oval, in dem das grotesk verzerrte Gesicht eines Menschen wenige Finger hoch aus der Masse hervorlugte. Ein unwirkliches, absurd anmutendes Bild. Wie aus einer Science-Fiction-Verfilmung: eine von einem anderen Planeten stammende Kreatur, die Existenz der Menschheit bedrohend, irrlichterte es Braig durch den Sinn.
Dieser Mensch hier in der Wanne allerdings bedrohte niemanden – er schien sich im Gegenteil selbst in höchster Gefahr zu befinden. Seine unangenehme Position hatte er auf jeden Fall nicht freiwillig eingenommen, so viel war auf den ersten Blick klar; schwer atmend rang er um Luft, warf seinen Kopf von der einen auf die andere Seite, verzweifelt bemüht, sich von der Masse zu befreien, die sich auf seinem Gesicht ablagerte. Seine krampfhaften Versuche, den Kopf aus dem hellen Schlamm zu lösen, zeigten keinen Erfolg: Sisyphos’ Bemühungen ähnlich schwappte der beige-farbene Sumpf samt seinen graubraunen Einsprengseln unablässig zurück, bedeckte seine Wangen, die Stirn, Teile des Kinns und der Ohren.
Folter, ahnte Braig, irgendjemand hatte den Mann in die Wanne geworfen und dafür gesorgt, dass ihn die unappetitlich aussehende Masse gerade noch atmen ließ – auch wenn es nicht zu verhindern war, dass er einiges davon schluckte. Was dem Ganzen aber die besondere Schärfe verlieh, war die Darbietung im Internet. Der oder die Täter hatten eine Webcam installiert und die Aufnahmen ins Netz gestellt, sie dazu noch mehreren Zeitungs- und Fernsehredaktionen zukommen lassen.
»Und das ist wirklich live?« Neundorfs Frage riss ihren Kollegen aus seinen Überlegungen. Sie war erst vor wenigen Minuten in sein Büro gekommen, hatte die Anrufe der Journalisten nicht mitbekommen.
»Rössle und Dolde sind sich absolut sicher. Ich hoffe, sie haben den Internet-Anschluss der Webcam bald identifiziert.«
»Wie wurden die Zeitungen darauf aufmerksam?«
»Sie erhielten Anrufe mit der Aufforderung, sich eine im gleichen Moment an sie gesandte Mail samt Anlage anzuschauen und dann die angegebene Internet-Adresse zu öffnen. Die ließen sich nicht lange bitten und sahen das hier vor sich.« Braig wies auf den Monitor.
»Wann war das? Wir wissen den Zeitpunkt?«
»Kurz nach zehn.« Der Kommissar sah auf seine Uhr. »Um 8.12 Uhr gingen bei uns die ersten Informationen ein. Cannstatter, Esslinger und Stuttgarter Zeitung. Wenige Minuten später die Nachrichtenabteilung des SWR und weitere Zeitungen. Acht verschiedene Redaktionen bis jetzt. Wie viele die Täter insgesamt informiert haben, wissen wir natürlich nicht.«
»Wir müssen auf jeden Fall dankbar sein, dass uns die Journalisten so schnell informiert haben. Die hätten das ja auch ausschlachten können. Für ihre Zwecke.«
»Das ging mir auch schon durch den Kopf. Dafür müssen wir wirklich dankbar sein. Sofern sie tatsächlich auf die Veröffentlichung der Bilder verzichten. Dem Opfer zuliebe.«
»Der Mann ist festgebunden, oder?« Neundorf näherte sich dem Bildschirm bis auf wenige Zentimeter, versuchte, den Inhalt der Wanne genauer zu analysieren.
»Festgebunden?« Braig hatte Schwierigkeiten, Details zu erkennen, sah sich außerstande, die Frage zu beantworten. »Das Gestänge an der linken Innenseite, ist das so eine Art Einstiegshilfe?«
»Für ältere oder behinderte Menschen?« Sie kniff ihre Augen zusammen, betrachtete die aus der hellen Masse ragenden Teile. »Das ist möglich, ja. Im Seniorenheim bei meiner Mutter habe ich diese Einrichtung schon gesehen. Eine Art Lift, der der jeweiligen Person ins Wasser beziehungsweise wieder aus der Wanne hilft.«
»Du glaubst, die Aufnahme stammt aus einem Seniorenheim?«
»Nicht unbedingt.« Neundorf schüttelte den Kopf. »Ältere Leute oder Behinderte lassen sich das manchmal auch zu Hause einbauen.« Sie wandte ihren Blick zur Seite, zog sich vom Monitor zurück. »Vielleicht ist der Mann an diesem Lift festgemacht. Gefesselt, geschnallt oder was weiß ich wie befestigt. Könnte doch sein, oder? Fragt sich nur, woraus dieses Zeug besteht, in dem er steckt. Die helle Masse. Womit haben wir es da zu tun?«
»Sieht aus wie Teig. Nudelteig oder so etwas Ähnliches, was denkst du?«
»Wäre möglich, ja. Nudelteig. Aber eine solche Menge?«
»Frag mich nicht, wer so viel von dem Zeug bei sich aufbewahrt.«
»Großverbraucher wie Wirte vielleicht«, warf Neundorf ein.
»Oder die Küche in einem Seniorenheim«, spekulierte Braig.
»Die kochen meistens nicht mehr selbst, sondern lassen sich das Essen liefern«, wehrte seine Kollegin ab, »auch wenn das natürlich passen könnte. Aber gleichgültig, womit wir es da zu tun haben, diese öffentliche Zur-Schau-Stellung ist der Vorstoß in eine neue Dimension menschenverachtender Gewalt. Müssen wir jetzt damit rechnen, alle paar Wochen mit solchen Praktiken konfrontiert zu werden?«
Braig wandte seinen Blick vom Monitor ab, massierte seine Schläfen. »Nun, bisher ging die Entwicklung nur in eine Richtung: Alles, was irgendwie machbar war, wurde auch getan. Es gibt immer genügend Verrückte und Kriminelle, die nur auf solche Gelegenheiten warten.«
»Dann sollten wir uns vielleicht auch darauf einrichten, dass nicht alle Journalisten, die von den Verbrechern informiert wurden, dieses Wissen an uns weitergegeben haben. Sondern jetzt dabei sind, das Badezimmer, in dem der Mann festgehalten wird, selbst aufzuspüren. Bevor wir dort sind. Ich denke da an bestimmte Boulevard-Akteure.«
»Das habe ich mir auch schon überlegt«, gestand Braig. »Aber im Moment sind wir hilflos. Ich hoffe nur, dass es unsere Techniker bald schaffen.«
»Auf jeden Fall ist Hass im Spiel.« Neundorf starrte auf den Bildschirm, sah die schmerzverzerrte Miene des Mannes. »Nicht nur das Opfer so zu quälen, sein Leiden auch noch publik zu machen. Der soll vollkommen erniedrigt werden.«
Das Läuten des Telefons ließ beide Kommissare aufsehen. Braig nahm das Gespräch an, ließ seine Kollegin über den Lautsprecher mithören.
»Wir haben es geschafft«, meldete Dolde sich zu Wort. »Die Aufnahmen kommen aus Esslingen.« Er nannte die Straße. »Sie liegt im Stadtteil Sulzgries. Der Anschluss ist zugelassen auf einen Roland Allmenger. Ihr müsst die Kollegen dort informieren. Der Mann braucht sofort Hilfe. Bis wir dort sind …«
»Ich kümmere mich darum«, sagte Braig. »Ihr seid bereit?«
»Sofort. Wir treffen uns unten.«
Der Platz, auf dem sie es sich jetzt wieder gemütlich gemacht hatte, war wirklich ideal. Auf zwei Seiten von einem wuchtigen, etwa fünfzehn Meter hohen Felsen umgeben, der sie vor unerwünschten Blicken schützte, nach links und halbrechts und vor allem zum Tal im Vordergrund hin dagegen offen, sodass sie einen Großteil dessen, was dort vor sich ging, optimal vor Augen hatte. Die Bäume und Sträucher rings um den Felsen tauchten den Platz jetzt am späten Abend in einen dämmrigen Halbschatten, sodass sie den gleißenden Strahlen der gerade untergehenden Sonne nicht schutzlos ausgesetzt war, was dem Platz zusätzliche Pluspunkte als Beobachtungsposten verlieh.
Der einzig wirklich nennenswerte Nachteil war das unaufhörliche Gekribbel und Gekrabbel winziger Insekten und Fliegen, die sich hier überall auf dem Boden, den Halmen und Gräsern wie auch in der Luft tummelten, den an dieser Stelle ungewohnten, jungen Menschenkörper offensichtlich als hochinteressantes Forschungsobjekt erkundend. Sie hatte sich jedenfalls kaum niedergelassen, ob sitzend, liegend, auf den Rücken oder den Bauch gebreitet, als sie es schon krabbeln, jucken, beißen spürte.
Natürlich hatte sie längst Gegenmaßnahmen ergriffen, die Attacken der unübersehbaren Tiermeute abzuwehren, vorgestern schon, gleich, nachdem sie den Platz entdeckt und für sich in den späten Abendstunden in Beschlag genommen hatte – war das doch ein weiterer unbezahlbarer Vorteil dieses abgelegenen Areals: Sie hatte in aller Ruhe ihren Tabaksbeutel vorgezogen, sich eine Zigarette gedreht und den Spaß genossen, die Fliegenschwärme und dichtbevölkerten Graspartien ihrer Umgebung in dichte Rauchwolken zu tauchen. Keine keifende Stimme, nirgendwo eine jener abgewrackten Gestalten jenseits der Dreißig, die den angeblich um ihre jugendliche Gesundheit besorgten starken Macker heraushängen ließen und sie, zuerst schimpfend, und wenn das nichts half, drohend von ihrem Nikotin geschwängerten Zeitvertreib abzubringen suchten. Nichts von all dem Generve, dafür nur Ruhe, himmlische Ruhe und – vielleicht bildete sie sich das aber auch nur ein – bedeutend weniger Fliegen, Käfer, Insekten auf ihr und um sie herum.
Selbstverständlich war es nicht bei der einen Zigarette geblieben, hatte sie vielmehr die Gelegenheit genutzt, den Inhalt des Tabaksbeutels fleißig zur Insektenbekämpfung zu verwenden. Sie durfte nur nicht vergessen, sich zum Abschluss ihrer Aufenthalte hier oben das Gesicht und die Arme mit einer guten Handvoll Blätter der zahlreichen würzig duftenden Pflanzen einzureiben und sich kurz vor dem Betreten des Heims zwei, drei Pfefferminzbonbons in den Mund zu schieben, um sich unnötiges Gemotze zu ersparen. Die zwei, drei Stunden hier oben, allein mit ihren Gedanken, dem Tabaksbeutel, ihrem Handy, ab und an auch einer Flasche Bier aus dem Dorfladen entschädigten für das nervige Zusammensein mit all den dummen, unerfahrenen Gören und das hirnlose Gelaber, das sie samt ihren abgewrackten, alten Tussen fast ununterbrochen von sich gaben. Sicher, sie meinten es nicht so, Theresa hatte es ihr oft genug versichert: »Die haben im Gegensatz zu dir halt noch keine Ahnung vom richtigen Leben. Du bist doch schon fast eine erwachsene Frau.« Dennoch war es nur schwer zu ertragen.
Sie hatte den Vorschlag, die ersten vierzehn Tage ihrer Ferien hier in diesem Sommercamp zu verbringen, nur mit allergrößtem Widerwillen und allein Theresa zuliebe angenommen, hatte von ihr noch vor der Abreise die Zusicherung erhalten, auch nach ihrer Rückkehr weiterhin bei ihr wohnen zu dürfen. »Du brauchst keine Angst zu haben, Laura, dass ich dich auf diese Tour aus dem Haus schaffen will«, hatte Theresa ihr versichert, »wirklich nicht. Aber für dich ist es doch eine Chance, mal eine andere Umgebung als immer nur Stuttgart und auch neue Leute kennen zu lernen. Leute deines Alters. Nicht nur immer diese alten, schon halb im Jenseits schwebenden Gestalten, wie sie hier bei mir aus und ein gehen. Und dass du anschließend wieder bei mir wohnst – mein großes Ehrenwort. Mogli kann ohne dich doch gar nicht mehr leben, er wird kaum die vierzehn Tage deiner Abwesenheit verkraften.«
Sie erinnerte sich noch genau, wie Theresa ihrem laut schnurrenden Kater bei diesen Worten über den Kopf strich, hatte ihrem Vorschlag dann zugestimmt, auch wenn dieser Impuls nicht aus ihrem tiefsten Inneren gekommen war. Wenn Theresa ihr das Ehrenwort gab, weiter bei ihr wohnen zu dürfen, dann konnte sie ihr voll vertrauen, ohne jedes Wenn und Aber. Theresa war anders als die anderen, trotz ihres seltsamen Berufs und der vielen Tattergreise und abgetakelten Hexen, mit denen sie allzu oft zu tun hatte. Ein Ehrenwort aus ihrem Mund, das hatte Hand und Fuß, soviel war ihr inzwischen klar – ganz im Gegensatz zu all den unzähligen Ehrenworten, die sie sich schon von ihrer Mutter und deren jeweiligem Freund hatte anhören müssen. »Das ist garantiert die letzte Flasche in dieser Woche, mein Ehrenwort«, hatte die besoffene Kuh oft genug, halb im Delirium versunken, von sich gegeben, den letzten Tropfen Hochprozentiges gierig aufsaugend. Das große Ehrenwort war noch nicht lange verklungen, als sie schon wieder zu dem Schrank schlurfte, in dem sie ihre Alkoholvorräte gerade versteckte, und nach der nächsten Flasche griff.
Nein, mit Theresa war das anders, das stand außer Zweifel, auch wenn sie kaum jünger war als ihre Mutter. Zwei Jahre, um es genau zu sagen, achtunddreißig die eine, vierzig die andere. Laura sah die Szene noch genau vor sich, als sie sich kennen gelernt hatten. Vor sechs oder sieben Monaten, nicht lange vor Weihnachten. Oh nein, wie peinlich das damals gewesen war! Den Kopf in den Boden stecken und niemals mehr auftauchen – wäre es möglich gewesen, sie hätte sich auf diese Tour davongestohlen.
Ihre Mutter war wieder einmal nicht nach Hause gekommen, nicht gegen achtzehn, nicht gegen neunzehn, nicht gegen zwanzig Uhr. Was das bedeutete, war ihr sofort klar. Sie hatte die »freundliche Einladung«, wie die Alte das immer umschrieb, eines ihrer angeblichen Freunde angenommen und sich nach Schichtende zu einem kleinen Umtrunk einladen lassen, entweder bei einem dieser Typen zu Hause oder in einer ihrer Stammkneipen. Wohin das führte? Zu immer demselben Ende. Gelang es ihrer Tochter nicht rechtzeitig, sie aus den Fängen ihres jeweiligen Mitsäufers zu befreien, war die Alte kaum noch fähig, sich zu bewegen. Laura musste sich beizeiten auf den Weg machen und die Mutter nach Hause schleifen, sonst war alles zu spät.
Auf einem dieser mühsamen Nach-Hause-Wege waren sie Theresa begegnet. Laura schimpfend, verbittert, bis zur letzten Körperzelle erfüllt von Wut auf ihre stockbesoffene Mutter. Die Alte lallend, torkelnd, mit wüsten Schimpfworten um sich werfend, ihre ungezogene Tochter im Visier, die ihr kein, aber auch gar kein Vergnügen gönnen wollte. Plötzlich, mitten auf der Straße war es passiert. Die Alte war stehen geblieben, allen hupenden, lärmenden Autos zum Trotz, hatte heftig gewürgt und sich dann auf die Fahrbahn übergeben. Ein Teil der Kotze war auf dem Blech des unmittelbar vor ihr zum Stehen gekommenen Wagens gelandet. Und dann, mitten in dem Geschrei und Gehupe der wütenden, unvermittelt zum Halten verurteilten Autofahrer, war plötzlich Theresa aufgetaucht, hatte die Alte am Arm genommen und auf den Gehweg geführt.
Laura war überrascht stehen geblieben, hatte die fremde Frau verwundert betrachtet. War das wirklich wahr, was sich hier vor ihren Augen abspielte? Eine Person, die nicht wie alle anderen auf die würgende, am ganzen Leib zitternde Alte einbrüllte oder mit erhobenen Fäusten aus ihrem Auto sprang und auf sie losging, sondern ihr half, die tobende Meute um sich herum überhaupt nicht beachtend?
Theresa hatte ziemlich schnell begriffen, wie es um sie und ihre Mutter stand, das war Laura schnell klar gewesen. Eine ständig trinkende, völlig überforderte allein erziehende Frau mit ihrer minderjährigen Tochter. Wahrscheinlich gehörte es zu Theresas Job, die Lebenssituation bestimmter Menschen ohne langes Nachdenken zu erspüren. Oder es gab in diesem Stadtteil Stuttgarts einfach zu viele Existenzen dieser Kategorie.
Sie hatte sie jedenfalls nicht ausgefragt, weder sie noch ihre Alte, war stattdessen mit ihnen nach Hause gegangen und hatte ihr geholfen, die von allzu viel Alkoholgenuss Gezeichnete ins Bett zu bringen.
Neugierig hatte Laura auf die kleine Karte mit ihrem Namen und ihrer Anschrift geschielt, die sie ihr hinterlassen hatte. »Sie sind … Pfarrerin?« Sie wusste noch sehr gut, wie überrascht sie war, als sie das gelesen hatte.
»An der Kirche dort vorne, keine fünfhundert Meter von eurer Wohnung.«
Sie hatte zustimmend genickt, lief sie seit ihrem neusten Umzug doch jeden Tag auf ihrem Schulweg an dem Gebäude vorbei.
»Ich heiße Theresa Räuber. Wann können wir beide uns mal ausführlicher unterhalten?«
Drei Tage später hatte sie sie in dem alten, unmittelbar an die Kirche angrenzenden Haus besucht. So abgewrackt und vergammelt es von außen wirkte – das Innere, jedenfalls der Teil im ersten Obergeschoss, der unter Theresas Regie stand, hatte sie doch gewaltig überrascht. Viele kräftige Farben, wohin sie auch sah: Bunt bemalte, in der Form abstrakter Bilder gestaltete Wände, in hellem Rot und Grün gemusterte Vorhänge und Teppiche.
»Haben Sie das etwa selbst gemalt?«, hatte Laura impulsiv gefragt.
»Zusammen mit meiner Freundin, ja. Sie hat das Talent, nicht ich.«
Sie hatte ihr einen Cocktail angeboten, Mexican Lover aus Limettensaft, Orangensaft und Eistee Pfirsich, alkoholfrei, wie sie mit einem Augenzwinkern bemerkt hatte, war ohne langes Geplänkel auf ihre Mutter zu sprechen gekommen. »Bekackt, wie das läuft, was?«
Laura hatte sich selbst gewundert, wie wenig Widerstand sie diesem Anwurf entgegengebracht, wie schnell sie sich zu ihrem ganz alltäglichen Elend bekannt hatte – ganz im Gegensatz zu ihrem sonst üblichen Verhalten. »Bekackt, genau. Sie schafft es nicht ohne.«
»Jeden Tag?«
Sie hatte nur mit dem Kopf genickt.
»Und ihr Job? Sie muss keine Angst um ihn haben?«
»Sie haben sie schon zwei Mal verwarnt, weil sie morgens betrunken aufkreuzte. Beim nächsten Mal ist sie fällig.«
Sie hatte ihr erzählt, dass das so lief, seit ihr Vater vor drei Jahren kurz vor Weihnachten einer anderen Frau wegen von einem Tag auf den anderen ausgezogen war und seither weder etwas zahlte noch von sich hören ließ. Ihren Job als Filialleiterin einer Drogeriekette hatte ihre Mutter nicht lange danach wegen immer häufigerer Fehlzeiten verloren, seither war sie in einem großen Getränkemarkt damit beschäftigt, die Bestände des Ladens auf dem Laufenden zu halten.
»Sie sitzt also direkt an der Quelle«, hatte Theresa die Situation sofort begriffen.
Keine vier Wochen später, Weihnachten und der Jahreswechsel waren gerade vorbei, hatte sich die Alte regelrecht ins Koma getrunken. Zwei Tage und zwei Nächte war sie nicht mehr aus ihrem Suff erwacht. Theresa hatte Laura ins Katharinenhospital begleitet, ihre Mutter danach auf eine Entziehungskur eingeschworen.
»Und was ist mit Laura?«, hatte die Alte gejammert. »Ich kann doch mein Kind nicht allein lassen.«
»Sie kommt zu mir. Im Pfarrhaus ist Platz genug.«
Seither wohnte sie mit dem Einverständnis des Jugendamtes in Theresas Gästezimmer, einem etwa vier auf sechs Meter großen Raum, den sie sich gemeinsam nach und nach gemütlich eingerichtet hatten. Er lag zwar der verkehrsreichen Straße zugewandt, bot dadurch aber den großen Vorteil, dass man von seinem Fenster aus das Geschehen draußen und in der schräg gegenüber gelegenen Kneipe sehr gut verfolgen konnte. Stundenlang hatte Laura bäuchlings auf ihrem Bett gelegen und das Treiben der Angestellten wie der Gäste verfolgt. Die Chefin des offiziell als »Bistro« firmierenden Lokals erschien Tag für Tag ebenso wie ihre beiden blutjungen Bedienungstussen aufgebrezelt bis zum Gehtnichtmehr. Mit den Hintern wackelnd wie ein Papagei im Cannabisrausch tänzelten die Weiber durch die Kneipe, ihren meist männlichen Gästen schaumgekrönte Biergläser und üppig ausgestattete Pommes- und Bratwurstgerichte kredenzend.
Jedes Mal, wenn sie sich auf das Treiben in dem Lokal konzentrierte, glaubte sie, eine Seifenoper im Fernsehen zu verfolgen. Die Aufmachung der Bedienungstussen und ihrer Chefin ähnelte dem leibhaftiger Nutten im Puff – so jedenfalls hatten sich solche Weiber in einer Realityserie präsentiert, die sie im Vorjahr wochenlang im Vorabendprogramm verfolgt hatte. Und der schwarz gewandete Typ mit seinem breiten Goldkettchen, der ihren Beobachtungen nach fast jeden Abend vor dem Tresen hockte und die Tussen fast unablässig hinten und vorne betatschte – wenn es sich bei dem um keinen Zuhälter handelte, wusste sie auch nicht weiter.
Theresa gegenüber freilich hielt sie sich mit solchen Vermutungen zurück, hatte die Frau doch genug abartiges Geschwätz am Hals. Die Seitenwand von Lauras Zimmer war erst vor ein paar Jahren eingezogen worden, um aus einem großen zwei kleine Räume zu machen, sie hatte es ihr noch nicht lange erzählt, die Gewissheit im Blick, dass Laura – ob sie wollte oder nicht – oft genug Ohrenzeuge von dem wurde, was nebenan gesprochen wurde. Vertraulich, wie Theresa betonte. Manchmal nahm die Pfarrerin ihre Besucher mit in ihr Wohnzimmer, vielleicht weil sie Lauras Ohren doch etwas fürchtete.
Voll Psycho, was die arme Frau sich alles anhören musste! Vom Gejammer darüber, dass Theresa das wöchentliche Treffen des Frauenkreises am Donnerstagabend schon wieder versäumt hatte bis zur Beschwerde, dass sie letzte Woche von einem ungenannt bleiben wollenden Zeugen in der Begleitung eines fremden Mannes in einer Wirtschaft im Stuttgarter Westen beobachtet worden war.
»Noi, Frau Pfarrer, also so goht’s net!«
Wie hält die arme Frau das nur aus, fuhr es ihr ein ums andere Mal durch den Kopf, wenn sie – die Musik abgestellt, um besser meditieren und zuhören zu können – mit einem Ohr an der Wand, die Augen auf das Treiben in der Kneipe gegenüber gerichtet, das Palaver nebenan wieder verfolgte, wie schafft sie es nur, fast immer ruhig zu bleiben?
Ein Mal, etwa zwei Wochen nachdem Laura ins Pfarrhaus gezogen war, hatte Theresa sie zu einem Gespräch mit einer der alten Hexen gebeten, die sie alle paar Tage in absolut dringender, um keine Sekunde aufzuschiebender Angelegenheit aufsuchten. Die Augen vor Neugier weit aufgerissen war die schon deutlich angegammelte Zicke auf sie zugestürmt und hatte sie ausgiebig von oben bis unten gemustert, Theresas vorstellenden Worten kaum Beachtung schenkend.
»Das ist Laura, meine neue Mitbewohnerin und das ist die liebe Frau Staible aus unserer Gemeinde.«
»Soso«, hatte die seltsame Tussi gegrummelt, »wisset Se, junges Fräulein, mir dätet jo scho gern wisse, wer do in oserem Pfarrhaus alles raus ond noi goht.«
»Bisher hat sich leider noch keine Gelegenheit ergeben, Laura vorzustellen«, war Theresa beschwichtigend auf den Vorwurf eingegangen, »aber jetzt wissen Sie ja Bescheid, Frau Staible.«
»Aber die andere wellets au wisse.«
»Na ja, ich denke, dafür werden Sie schon sorgen.«
Wie Theresa es schaffte, im Umgang mit all den verschrobenen Gruftis so freundlich zu bleiben, war Laura ein Rätsel. Sie jedenfalls hätte das nicht gekonnt. Manchmal war sie nahe dran, mit ihren Fäusten an die Wand zu schlagen, wenn sie wieder einmal mitbekam, was der Pfarrerin so vorgejammert wurde …
Zwei nicht allzu weit entfernte Stimmen rissen sie aus ihren Gedanken. Gerade hatte sie es sich gemütlich gemacht, den Kopf zurückgelehnt und den ersten Zug aus ihrer frisch gedrehten Zigarette inhaliert … Erschrocken richtete sie sich auf, sah zwei Männer keine zweihundert Meter von ihr entfernt Hand in Hand über die Wiese schlendern. Lachend, scherzend, einander nicht aus den Augen lassend.
Voll Psycho, zwei Schwule! Hier in der Pampa, irgendwo auf der Schwäbischen Alb, am Ende der Welt. So was hatte sie noch nicht mal in Stuttgart erlebt.
Sie suchte hinter einem dichten Hartgrasbüschel Deckung, blies den Rauch vorsichtig zur Seite. Die beiden Männer, Gruftis weit jenseits der Zwanzig, blieben am Rand eines kleinen Felsens stehen, der vor ihnen aus dem Gelände ragte, blickten hinunter ins Tal. Die roten Ziegeldächer des kleinen Orts waren zu erkennen, der sie nur um wenige Meter überragende Turm der Kirche, das graue Band der Straße, auf dem sich ab und an ein Fahrzeug zeigte. Laura sah, wie einer der Männer dem anderen sorgsam über die Haare fuhr, kicherte leise. Wahnsinn, die sind ja richtig verknallt! Wie ein junges Liebespaar!
Sie hatte schon vieles gesehen, was zwei Menschen so miteinander anstellen konnten. Freiwillig und unfreiwillig. Seit mehreren Jahren schon. Oft genug zu Hause, wenn ihre Mutter wieder einen ihrer »Freunde«, wie sie die Wichser oft genug beschönigend beschrieb, mit in die Wohnung geschleppt und sich dort, beide mehr oder weniger vom Suff gezeichnet, bei offener Schlafzimmertür von ihm hatte bespringen lassen – ein widerliches, von allzu lautem Geschrei und Gestöhne begleitetes Schauspiel, das Laura einmal, sie erinnerte sich noch genau an den Moment, mit einem halben Eimer Wasser unterbrochen hatte. Schrill kreischend hatte die Alte den Kerl von sich gestoßen und war aus dem Bett gesprungen, Gott und die Welt lauthals verfluchend. Laura hatte dem vor sexueller Gier sabbernden Kerl den Eimer an den Kopf geknallt, war dann voller Wut und Ekel aus der Wohnung gerannt und erst spät, lange nach Mitternacht wieder nach Hause zurückgekehrt. Der neue Freund war verschwunden, die Alte hatte die Nacht laut schnarchend auf dem Boden vor dem Bett verbracht.
Szenen wie diese hatte sie zudem zur Genüge auf dem Bildschirm verfolgt. Spätabends oder mitten in der Nacht, wenn sie wieder einmal vergeblich in der Hoffnung auf das späte Auftauchen der Alten wach geblieben war. Besonders beeindruckend war ihr das nie vorgekommen, eher seltsam und nicht ganz nachvollziehbar, weshalb um diese akrobatisch-gymnastischen Verrenkungen so viel Federlesens veranstaltet wurde, sich Weiber wie Männer zudem so sehr darum bemühten, einen Sparringspartner aufzutun. Aber fast immer waren das Angehörige verschiedener Geschlechter gewesen, nur selten Schwule oder Lesben.
Voll Psycho, wie die aneinander hingen! Sie starrte nach vorne, sah die Liebkosungen des kleineren Mannes, der seinem fast einen Kopf größeren Partner sanft über dessen dunkle Locken strich. Wenn das Theresa sehen könnte …
Im selben Moment fiel es ihr ein. Sie griff nach ihrer Tasche, hatte das Handy in der Hand. Wie weit waren die Männer von ihr entfernt? Einhundert, zweihundert Meter? Eher an die zweihundert. Ob man das erkennen konnte? Oder war es bereits zu dunkel?
Sie hielt das Gerät vor ihr rechtes Auge, erschrak. Die beiden Schwulen hatten sich wieder in Bewegung gesetzt, schlenderten den Hügel aufwärts, geradewegs auf ihr Versteck zu. Ob die sie entdeckt hatten?
Sie duckte sich hinter das Hartgrasbüschel, spürte ihr Herz klopfen. Was wollten die Männer – eine unliebsame Beobachterin aus dem Weg räumen?
Ein stechender Schmerz fuhr ihr durch die linke Hand, ließ sie leise aufschreien. Verdammt, die Zigarette! Sie drückte das glimmende Monstrum in die Erde, blies den Rauch vorsichtig zur Seite. Noch schienen sie sie nicht geortet zu haben, noch führte ihr Weg nur grob in ihre Richtung, und falls sie nicht …
Die Männer blieben stehen, schauten sich um, hinunter ins Tal. Nein, die hatten anderes im Sinn als einer verborgenen Voyeurin, oder wie man das nannte, nachzuspüren. Sie sah, wie der Kleinere dem Großen wieder über das Haar fuhr, verfolgte die Szene durchs Objektiv ihres Handy. Sechzig, siebzig Meter, weiter waren die nicht mehr entfernt. Sie schob das Gerät an dem Grasbüschel vorbei, nahm ihr Zielobjekt ins Visier. Die Männer waren voll im Bild. Der Kleinere, wie er dem anderen zärtlich durch die Locken strich, der Große, den Kopf des Freundes an der Brust. Und alles auf ihren Chip gebrannt. Wahnsinn, einfach Wahnsinn!
Als Braig und Neundorf endlich in Esslingen angelangt waren, hatten Rössle und Dolde den Mann gemeinsam mit zwei Beamten der örtlichen Schutzpolizei bereits aus der Wanne befreit. Es handelte sich um eine Wohnung im ersten Obergeschoss eines am Hang gelegenen, von akkurat kurz geschnittenem Rasen und einem weißen Holzzaun von der Straße abgesetzten, feudal aufgemachten Zweifamilienhauses in einer exklusiven, teuren Wohnlage, deren Schild von einem Roland Allmenger kündete. Derselbe Name, wusste Braig, auf den auch der gesuchte Internet-Anschluss zugelassen war. Er musterte die Tür, bemerkte Spuren gewaltsamen Eindringens.
»Wer ist dafür verantwortlich? Sie haben sie so vorgefunden?« Er wandte sich an den uniformierten Kollegen, der den Zutritt zur Wohnung bewachte, streifte sich wie seine Kollegin auch einen Schutzanzug über.
Der Beamte hob abwehrend seine Hände. »Nein, die Tür war ordnungsgemäß verschlossen. Keinerlei Einbruchsspuren. Die Zerstörungen stammen von uns. Wir hatten die ausdrückliche Weisung, schnellstmöglich …«
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