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Tief unter der Schwäbischen Alb Auf der Suche nach Fossilien stößt Daniel Brahm in einer Höhle der Schwäbischen Alb auf die sterblichen Überreste einer seit wenigen Monaten vermissten jungen Journalistin. Diese war eigens aus Hamburg in das kleine Dorf auf der Alb gekommen, um dort in einem aktuellen Fall zu recherchieren. Ihre Unterlagen sind verschwunden, niemand weiß, worum es ging. Steffen Braig und Katrin Neundorf, die beiden Hauptkommissare des Stuttgarter Landeskriminalamtes, haben ihre Untersuchungen längst aufgenommen, als eine weitere Journalistin in dem kleinen Alb-Dorf verschwindet. Braig und Neuendorf versuchen fieberhaft, ihren Aufenthaltsort zu finden. Welchem finsteren Geheimnis waren die Frauen auf der Spur? Leichen aus dem Ländle sind ein Dauerbrenner. Die erfolgreiche Schwaben-Krimireihe geht bereits in die 17. Runde!
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Seitenzahl: 452
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Schwaben-Rache
Schwaben-Messe
Schwaben-Wut
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Schwaben-Angst
Schwaben-Zorn
Schwaben-Wahn
Schwaben-Gier
Schwaben-Sumpf
Schwaben-Herbst
Schwaben-Engel
Schwaben-Ehre
Schwaben-Sommer
Schwaben-Filz
Schwaben-Liebe
Schwaben-Freunde
Klaus Wanninger, Jahrgang 1953, evangelischer Theologe, lebt in der Nähe von Stuttgart. Ein großer Teil seiner Bücher entsteht in den Zügen der Bahn, auf deren Schienen Wanninger Jahr für Jahr zigtausende von Kilometern zurücklegt. Bisher veröffentlichte er vierunddreißig Bücher. Seine Schwaben-Krimi-Reihe mit den Kommissaren Steffen Braig und Katrin Neundorf umfasst mittlerweile siebzehn Romane in einer Gesamtauflage von über einer halben Million Exemplare.
Klaus Wanninger
SCHWABEN-FINSTERNIS
Originalausgabe
© 2014 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim
www.kbv-verlag.de
E-Mail: [email protected]
Telefon: 0 65 93 - 998 96-0
Fax: 0 65 93 - 998 96-20
Umschlagillustration: Ralf Kramp
Redaktion: Volker Maria Neumann, Köln
Druck: CPI books, Ebner & Spiegel GmbH, Ulm
Printed in Germany
Print-ISBN 978-3-95441-185-6
E-Book-ISBN 978-3-95441-200-6
Die Personen, Namen und Handlungen dieses Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen oder tatsächlichen Ereignissen wäre rein zufällig.
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
An kaum einem anderen Ort der Welt fanden sich dermaßen viele Überreste verstorbener Menschen und Tiere wie auf der Schwäbischen Alb. Dieses von weit über tausend Höhlen, Grotten und unterirdischen Labyrinthen zerklüftete Gebirge wies an allen Ecken und Enden Spuren frühester Besiedlung auf. Kaum eine Höhle ohne den Fund menschlicher und tierischer Knochen, selten ein Hohlraum ohne den Hinweis auf vergangenes Leben.
Natürlich war ich mir dieses außergewöhnlichen Sachverhalts bewusst, als ich mit Hacke und Spaten im rückwärtigen Teil des schmalen, leicht abschüssigen Erdreichs herumstocherte und kaum zwei Hände breit unter der Oberfläche auf die Überreste einer menschlichen Leiche stieß. Purer Neugier war es zu verdanken, dass ich mich gerade an dieser Stelle zu schaffen machte, angetrieben von der Hoffnung, an einem dermaßen abseits gelegenen Ort vielleicht auf Fossilien zu stoßen.
Weit und breit gab es keine Ortschaft, keine Straße, nicht einmal einen Weg. Gut eine halbe Stunde war ich durch dichten Wald gestolpert, als ich die schmale Öffnung im karstigen Hang entdeckte. Augenblicklich war der Forscherdrang in mir erwacht.
Ich war in gebückter Haltung mehrere Meter in die Höhle vorgedrungen, hatte Hacke und Spaten ausgepackt, den Boden mit meiner Taschenlampe ausgeleuchtet und ohne langes Überlegen damit begonnen, den Untergrund zu bearbeiten. Wie lange es dauerte, bis ich auf den toten Körper stieß, weiß ich nicht mehr zu sagen. Es mussten aber mehrere Minuten, vielleicht sogar eine viertel Stunde vergangen sein, denn trotz des kalten Herbsttages tropfte mir der Schweiß von der Stirn, als ich das seltsame Geräusch vernahm. Nicht das gewohnte Schaben und Kratzen, wenn ich mit dem Spaten in den Boden stieß, eher eine Art Schmatzen. Die Schaufel war zudem überraschend schnell und mit außergewöhnlich wenig Widerstand in die Tiefe gedrungen. War ich etwa auf eine sumpfige oder torfige Schicht gestoßen?
Überrascht hielt ich inne, zog das klobige Arbeitsgerät in die Höhe, nahm stattdessen die Hacke zur Hand. Ich bückte mich nieder, weitete den Spalt, den der Spaten gerade eingekerbt hatte, sah mich plötzlich ekelerregendem Gestank ausgesetzt. Augenblicklich zuckte ich zurück, riss meine Nase in die Höhe. Es half nichts, die stechend faulige Wolke hatte meine Lungen bereits infiziert. Ich sprang auf, schnappte nach frischer Luft, lief zwei, drei Schritte von der Grabung weg.
Auf was war ich da gestoßen? Modrige Pflanzenreste, eine Ansammlung übel riechender Pilze, vielleicht gar die Überbleibsel eines längst verendeten Tieres?
Es dauerte mehrere Sekunden, bis ich mich von dem widerlichen Gestank erholt hatte. Was auch immer sich dort im Boden verbarg, ich war nicht so weit durch den Wald marschiert, um mich von einer unangenehmen Duftwolke in die Flucht schlagen zu lassen. Oft genug im Verlauf meiner Suche nach Fossilien hatte ich unterirdische Schichten erschlossen, die von übel riechenden Substanzen geprägt waren. Die Natur benötigte nun einmal viele Jahre, lebende Wesen in ihre chemischen Grundbausteine zu zerlegen, gleichgültig, ob es sich um Pflanzen oder Tiere handelte.
Ich nahm meine Taschenlampe her, wandte mich wieder dem rückwärtigen Teil der Höhle zu. Bevor ich erneut zur Hacke griff, wollte ich mir erst ein genaueres Bild von der Beschaffenheit des Bodens machen. Das Tageslicht drang nur gedämpft bis zur Stelle meiner Grabung vor. Der kräftige Strahl der Lampe huschte über die Wände, die Decke, den Boden, tauchte Abschnitt auf Abschnitt in ein helles Licht. Ich sah ein winziges, schwarzes Insekt zur Seite preschen, dazu einen kleinen Käfer hinter einem Steinbrocken verschwinden. Von der linken Höhlenwand perlten einzelne Wassertropfen auf einen runden Erdklumpen.
Als ich mich dem Boden zuwandte, bemerkte ich etwa im Bereich meiner Grabung eine leichte Veränderung seiner Farbe und Struktur. In einem annähernd zwei Meter langen und vielleicht einen halben Meter breiten Streifen schien er mir dunkler und auch nicht so hart wie in der übrigen Höhle. Es handelte sich nur um eine geringe farbliche Abweichung, einen Hauch intensiverer Färbung, veranlasste mich aber, die Erde an dieser Stelle mit den Fingern meiner rechten Hand abzutasten. Langsam und vorsichtig, aber mit zunehmender Gewissheit, dass ich mich nicht täuschte. Irgendwann in der letzten Zeit war der Boden hier bearbeitet worden, von wem und weshalb, war mir nicht bekannt. Hatte sich etwa ein wildes Tier in dieser Höhle zu schaffen gemacht?
Diese Antwort schien mir von Anfang an wenig plausibel. Die gegenüber ihrer Umgebung leicht veränderte Fläche zeigte ein fast genau rechteckiges Ausmaß, machte zudem den Eindruck, als wäre sie an mehreren Stellen mit einem ungefähr faustgroßen Gegenstand, etwa einem flachen Stein, bewusst geglättet, also der ursprünglichen Form wieder angeglichen worden. Nein, das sprach nicht für die Aktivitäten eines Tieres, das deutete auf eine menschliche Hand. Einen Hobbygeologen, einen Fossiliensucher wie mich?
Ich wusste nur allzu gut, wie viele Leute mit dieser Zielsetzung in sämtlichen Regionen der Alb zu jeder Jahreszeit unterwegs waren. Heuschreckenschwärmen gleich fielen sie über einen Aufschluss, eine Höhle oder einen ganzen Berghang her, sobald sich nur das Gerücht eines angeblich bedeutsamen Fundes verbreitete. Natürlich war es möglich, dass sich auch in dieser recht abseits gelegenen Erdspalte bereits ein Hobbygeologe zu schaffen gemacht hatte. Blieb nur die Frage, wie seine Untersuchung verlaufen war.
Von Neugier angespornt machte ich mich wieder an die Arbeit. Die Taschenlampe in der Linken, die Hacke in der Rechten wühlte ich mich in den Untergrund. Ich löste einen kleinen Erdklumpen aus dem Boden, stieß mein Arbeitsgerät weiter in die Tiefe. Im gleichen Moment, als sich ein neuer Brocken löste, hatte ich den ekelerregenden Geruch wieder in der Nase, jetzt in deutlich konzentrierter Form.
Ich schnappte augenblicklich nach Luft, ließ die Hacke fallen, sprang ein Stück weit aus der Höhle. So sehr ich mich bemühte, den widerlichen Gestank loszuwerden, es wollte mir nicht gelingen. Stattdessen begann jetzt auch noch mein Magen zu revoltieren. Ich spürte, wie es in mir rumorte, stolperte mehrere Meter in den Wald, um meine Lungen von dem Gift zu befreien und sie stattdessen mit dessen würzigem Aroma zu füllen. Ich weiß nicht, wie lange ich dafür benötigte. Es muss sich aber um eine Zeitspanne von mehreren Minuten gehandelt haben, kam ich doch erst etwa einhundert Meter von der Höhle entfernt zum Stehen. Mein Gott, welch ätzenden Dreck hatte ich da inhaliert?
Ich sah den hellen Lichtstrahl auf dem breiten Stamm eines Baumes unmittelbar vor mir, bemerkte erst jetzt, dass ich immer noch meine brennende Taschenlampe in der Hand hielt. Ich holte tief Luft, löschte das Licht. Von dem ekelerregenden Gestank hatte ich mich immer noch nicht vollständig befreit, nur mein Magen schien sich wieder beruhigt zu haben. Eine dermaßen widerliche Substanz war mir noch nie untergekommen. Dass ein penetranter Gestank Menschen nicht nur beim Atmen zu schaffen machte, sondern sogar ihre Verdauung beeinträchtigte, kannte ich bisher nur aus dem Fernsehen. In etlichen Krimis war die Reaktion von Leuten, die auf eine Leiche gestoßen waren, genau so dargestellt worden. Nur dass man als Fernsehzuschauer von dieser aromatischen Beeinträchtigung zum Glück vollkommen verschont blieb. War ich etwa auf eine menschliche Leiche gestoßen?
Ich schaute mich um, merkte, wie sich meine Wahrnehmung intuitiv veränderte. Der vorher scheinbar so friedliche Wald – wirkte er nicht plötzlich bedrohlich? Das leise, kaum vernehmbare Ächzen der Wipfel im sanften Wind – kündete es nicht von unbekannten Gefahren?
Ohne dass ich etwas dagegen unternehmen konnte, spürte ich plötzlich ein heftiges Ziehen in meinem Nacken. Eine kräftige Verspannung meiner Rückenmuskulatur, dazu ein deutliches Frösteln. Hinter mir, ganz nah, das wiederholte Knacken morscher Äste und Zweige.
Erschrocken drehte ich mich um, starrte in den Wald. Kein Mensch war zu sehen, nicht einmal ein Tier. Weit und breit nur Bäume und Büsche. Was war plötzlich mit mir los?
Ich atmete kräftig durch, stampfte mit dem rechten Fuß auf den Boden, um mich wieder in die richtige Spur zu bringen. In diesem Wald gibt es im Moment keinen Menschen außer mir, versuchte ich mir Mut zuzusprechen. Und ich war hierhergekommen, um wieder mal nach Fossilien zu graben. Mein Hobby, dem ich seit ein paar Monaten nachging.
Ich löste mich von dem Platz unter den Bäumen, lief wieder zur Höhle, leuchtete den Boden aus. Von einer angeblichen Leiche war nichts zu bemerken, lediglich ein ursprünglich wohl bunter, jetzt aber ziemlich verdreckter Stofffetzen ragte aus dem Spalt, den ich freigeharkt hatte. Und der widerliche Geruch – ganz war er immer noch nicht aus der Höhle entwichen.
Ich fächerte mir mit der rechten Hand frische Luft zu, bückte mich nach Hacke und Spaten. Jetzt hatte ich den penetranten Gestank noch intensiver in der Nase. So war es nicht auszuhalten. Wenn überhaupt, musste ich im Stehen weiterarbeiten, um dem Zeug nicht ganz so nahe zu sein. Ich warf die Hacke Richtung Höhleneingang, steckte mir die Taschenlampe in den Mund, um den Boden detailliert auszuleuchten. Dann griff ich zum Spaten.
Ich setzte die Schaufel zwei Hände breit neben meiner alten Grabung an, rammte sie fest in den Untergrund. Für einen Moment hörte ich wieder das seltsame Schmatzen, dann aber war ein lautes Knacken zu vernehmen. Als wäre die Kante des Spatens auf ein morsches Holz getroffen und hätte es durchtrennt. Irritiert hielt ich inne, packte den Stiel meines Arbeitsgeräts mit beiden Händen. Der Spaten steckte so tief im Untergrund, dass er sich kaum bewegen ließ. Ich drückte und rüttelte, spürte, dass er kaum merklich nachgab. Vor Anstrengung laut stöhnend verstärkte ich den Druck. Zentimeter um Zentimeter ging es vorwärts. Unter Aufbietung all meiner Kräfte zog ich die Schaufel schließlich in die Höhe. Der Schweiß schoss mir aus allen Poren, als es mir endlich gelang, das ausgehobene Material in den Lichtkegel meiner Lampe zu schieben. In gleißender Helle tauchte der Fund aus dem Dunkel.
Der Anblick traf mich wie ein Schlag. Laut schreiend ließ ich Spaten samt Taschenlampe fallen, sprang, so schnell es mir möglich war, aus der Höhle. Der grauenvolle Gestank hatte sich trotzdem bis ins Innerste meiner Lungen gebohrt.
Der Moment, als die Hand eines Menschen auf der Schaufel des Spatens sichtbar wurde, hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt wie sonst nur wenige Ereignisse in meinem Leben. Wäre nicht in derselben Sekunde der ekelerregende Gestank in sämtliche Organe meines Körpers gedrungen, hätte ich die Szene vielleicht als den makabren Höhepunkt eines spannenden Kinofilms abtun können, um zukünftigen Albträumen vorzubeugen. So aber war ich dem fast unwirklich anmutenden Geschehen in voller Intensität ausgeliefert. Das gleißend helle Licht der Lampe mitten in der düsteren Umgebung der Höhle, die vollkommen mit allen fünf Fingern erhaltene Hand eines mir unbekannten Menschen, der unsagbar widerliche, grauenvolle Gestank …
Als ich draußen vor der Höhle langsam wieder zu mir fand, war mir deshalb trotz aller Benommenheit ein Sachverhalt vollkommen klar: Ich war nicht auf die Überreste eines vor Jahrhunderttausenden verstorbenen Neandertalers oder eines ebenso archaischen Homo sapiens sapiens gestoßen, wie man es bei einer Grabung auf der Alb durchaus hätte vermuten können. Zu deutlich war der gut erhaltene Zustand der Hand zu erkennen gewesen, als dass ich zu solchen Ausflüchten hätte greifen können. Nein, die Person, deren abgetrenntes Körperteil mir gerade in so eindringlicher Weise zu Gesicht gekommen war, hatte sich noch vor gar nicht allzu langer Zeit ihres Lebens erfreut. Vor wenigen Monaten, vielleicht sogar erst Wochen noch, schätzte ich. Oder lebte sie gar noch?
Ich wagte kaum, darüber nachzudenken, ob man den Verlust einer Hand überhaupt überleben konnte. Vorausgesetzt, die Operation wurde von einem Chirurgen im Krankenhaus durchgeführt, war dies angesichts der Fortschritte der Medizin heute sicher kein großes Problem mehr. Die Tatsache allerdings, dass ich die Hand hier in dieser Höhle ausgegraben hatte, sprach wohl kaum für diese Version ihrer Herkunft. Wieso sollte ein Arzt auch auf die Idee kommen, eine komplette Hand zu amputieren? Nein, das passte nicht zusammen. Eher noch die Variante einer erbitterten Auseinandersetzung unter Kriminellen …
Ich erinnerte mich, irgendwann davon gelesen zu haben, dass Mafiakiller ihren Opfern die Hände abgehackt hatten, um sie daran zu hindern, jemals wieder ein normales Leben führen zu können. Warum sie die Hand dann allerdings hier in einer Höhle vergraben sollten …
Nein, je länger mir diese Gedanken durch den Kopf jagten, desto klarer wurde mir, wie abstrus sie allesamt waren. Und zugleich kam mir eine Beobachtung wieder in den Sinn, die ich wenige Minuten zuvor gemacht hatte, als ich die Höhle mit meiner Lampe ausgeleuchtet hatte. In einem annähernd zwei Meter langen und vielleicht einen halben Meter breiten Streifen war mir der Boden dunkler und auch nicht so hart wie in der übrigen Höhle erschienen. Ich hatte diesen Bereich mit meiner rechten Hand vorsichtig abgetastet und war zu dem Ergebnis gekommen, dass der Untergrund an dieser Stelle irgendwann in letzter Zeit bearbeitet worden sein musste. In einer Länge von annähernd zwei Metern und einer Breite von einem halben Meter, wiederholte ich mir den Sachverhalt. Und mittendrin hatte ich die Hand ausgegraben!
Langsam, aber mit zunehmender Gewissheit, wurde mir klar, was das bedeutete. In der Höhle vor mir lag nicht nur der Körperteil, den ich zutage gefördert hatte, hier war die komplette Leiche eines Menschen begraben. Annähernd zwei Meter auf einen halben Meter. Die Mühe, eine so große Fläche auszubuddeln, hatte man sich nicht einer kleinen Hand wegen gemacht. Das Areal war für den gesamten Körper eines Menschen bearbeitet worden.
Mir wurde siedend heiß, ich spürte, wie mir trotz der Kälte der Umgebung der Schweiß aus den Achseln schoss. Hier, in dieser Höhle vor mir, hatte man vor gar nicht langer Zeit einen Menschen verscharrt. Eine Frau?, überlegte ich, als ich mir die Proportionen der Hand vergegenwärtigte.
Für den Augenblick einer Sekunde sah ich die Hand wieder auf der Schaufel meines Spatens aus dem Dunkel tauchen. Eine kleine, zierliche Hand mit schmalen, filigranen Fingern. Wesentlich kleiner als meine eigenen Hände. Ob sie immer so zierlich ausgesehen hatte oder erst durch den Tod so miniaturisiert worden war? Die Hand einer Frau, das passte.
Dann lag hier ein weiblicher Körper im Boden?
Gleich, ob Mann oder Frau, es gab einen weiteren Tatbestand, der mir die Brisanz meines Fundes von Anfang an klar werden ließ: Die Tote war nicht freiwillig, sondern durch den gewaltsamen Akt eines anderen gestorben. Schließlich war kein Lebewesen imstande, sein Leben im eigenen Grab auszuhauchen und seinen toten Körper anschließend mit einer dicken Erdschicht zu bedecken. Ich hatte, ob mir das genehm war oder nicht, die sterblichen Überreste eines Menschen ausgegraben, der von einem anderen getötet worden war. Durch einen Unfall? Bei einer handgreiflichen, aus der Kontrolle geratenen Auseinandersetzung? Oder gar durch einen Mord? War ich etwa auf das Opfer eines Mörders gestoßen?
Eiskalte Gänsehaut lief mir über den Rücken, als ich mir das durch den Kopf gehen ließ. Ein Unbekannter, der einen Menschen ermordet und hier, in dieser Höhle …
Weshalb hier, an diesem so weit abseits gelegenen Ort?
Die Gänsehaut auf meinem Rücken verdichtete sich zu ungewohnter Intensität, als ich mich mit der Antwort auf diese Frage konfrontiert sah. Der einzigen Antwort, die mir plausibel schien: Der Mörder hatte sein Opfer an dieser Stelle vergraben, weil es für ihn wichtig war, das Verbrechen möglichst lange, vielleicht sogar für immer zu verheimlichen. Und genau diesem Vorhaben war ich jetzt voll in die Quere gekommen.
Ich benötigte eine Weile, um zu begreifen, was das bedeutete: Ich hatte gerade alles dafür getan, mich selbst in größte Gefahr zu bringen.
Erschrocken starrte ich in den Wald. Was, wenn der Mörder mich beobachtet, meine Grabung heimlich verfolgt hatte? Hinter mir, nur wenige Meter entfernt, hörte ich das Knacken morscher Äste und Zweige. Ich drehte mich um, sah nur Bäume und Büsche.
Ach was, versuchte ich mich zu beruhigen, du bist ein erwachsener Mensch, verhalte dich entsprechend. Als ob der Mörder sich hier in unmittelbarer Nähe seines Opfers aufhalten würde! Was für eine idiotische Idee! Du hast die Hand eines Menschen gefunden, ob dir das passt oder nicht, es ist nun mal passiert, jetzt zieh endlich die Konsequenzen und melde es der Polizei.
Impulsiv griff ich nach meinem Handy, zog es aus der Tasche. Den Gedanken, alles stehen und liegen zu lassen und mich schnellstmöglich davonzumachen, verwarf ich binnen einer Sekunde. Sowohl meine Hacke als auch mein Spaten lagen noch in der Höhle, und dazu hatte ich garantiert weitere eindeutig identifizierbare Spuren hinterlassen. Jetzt einfach davonzulaufen …
Ich schaltete das Gerät ein, wählte den Notruf 110.
Keine Reaktion.
Ich starrte aufs Display, bemerkte erst jetzt, dass das Handy keine Verbindung hatte. Kein Netz? Mein Gott, war ich so weit abseits der menschlichen Zivilisation, dass ich nicht einmal Hilfe herbeirufen konnte?
Nervös schaute ich mich um, sah, dass das Gelände rechts von mir steil anstieg. Ich kämpfte mich zwischen den dicht beieinanderstehenden Stämmen hindurch in die Höhe, versuchte es nach wenigen Minuten aufs Neue. Wieder vergeblich.
Das darf nicht wahr sein, schimpfte ich vor mich hin. In welchem Funkloch bin ich denn da gelandet?
Plötzlich hatte ich eine Stimme am Ohr. »Polizeieinsatzstelle Albstadt. Wie können wir Ihnen helfen?«
Ich war so überrascht, dass es endlich geklappt hatte, dass mir die Worte fehlten. »Ich, äh, also …«
»Ja? Mit wem spreche ich? Nennen Sie mir zuerst mal Ihren Namen.«
»Meinen Namen? Ich stehe hier mitten im Wald und bin gerade auf die Hand eines Menschen gestoßen und Sie wollen …«
»Wie bitte? Die Hand eines Menschen?«
»Genau, ja.«
Für einen Moment blieb es ruhig. »Ich habe richtig verstanden, ja?«, fragte der Beamte dann. »Eine menschliche Hand?«
»Die Hand eines Menschen, ja«, bestätigte ich.
»Jetzt nennen Sie mir doch Ihren Namen, und dann sehen wir weiter.«
»Grohm«, stellte ich mich vor. »Daniel Grohm.«
»Und Sie wohnen wo?«
Ich seufzte laut, gab ihm dann meine Adresse und wartete ungeduldig darauf, ihm endlich mein Anliegen zu schildern. Er ließ mich reden, unterbrach mich kein einziges Mal.
»Und es ist alles genau so abgelaufen, wie Sie es mir gerade erzählt haben?«, erkundigte er sich am Schluss meiner Ausführungen.
»Aber ja. Weshalb …«
»Wo sind Sie jetzt, Herr Grohm?«
»Ich stehe mitten im Wald. Etwas oberhalb von der Höhle. Unten hatte ich kein Netz.«
»Wo ist das ganz genau? Wie kommen wir am schnellsten dorthin?«
Ich versuchte, ihm die ungefähre Lage zu beschreiben, verhaspelte mich mehrmals. Schließlich war ich mir selbst nicht genau darüber klar, wo die Höhle lag. Dem Geräusch nach schien er sich schriftliche Notizen zu machen.
»Das ist nicht einfach zu finden«, meinte er dann. »Etwa drei bis vier Kilometer von Stempflingen, Richtung West, Südwest. Ich gebe es an mehrere Beamte durch, mal sehen, welches Team den Weg als Erstes findet. Und Sie bleiben in der Nähe der Höhle und machen sich bemerkbar, sobald Sie die Kollegen hören, ja?«
Ich sagte es ihm zu, steckte das Handy in die Tasche. Wie lange es wohl dauern würde, bis die Polizisten eintrafen? Wer konnte wissen, wo die sich gerade aufhielten, wahrscheinlich unzählige Kilometer entfernt.
Ich spürte, wie mir kalt wurde, kletterte langsam den Hang abwärts. Die Höhle war von hier aus nicht zu erkennen, ein dicht bewaldeter Felsvorsprung verdeckte die Sicht. Während ich vorsichtig über die dicken Wurzeln der Bäume stieg, überlegte ich, welche Mühe sich der Mörder gemacht haben musste, die Leiche an diesem abgelegenen Ort zu verstecken. Er hatte garantiert Stunden dafür benötigt, die Tote durch den Wald zu transportieren und solange im harten Boden der Höhle zu graben, bis der Hohlraum ausreichte, die Leiche darin zu verstauen und sie wieder mit einer ansehnlichen Schicht aus Geröll und Erde zu bedecken. Anschließend hatte er sich gezwungen gesehen, den Boden wieder zu glätten, ihm die alte Gestalt und Konsistenz zu geben sowie das gesamte dem Untergrund entnommene Material aus der Höhle zu schaffen, um ja keinen Verdacht zu erregen. Das alles ohne jede technische Hilfe und mit dem Gebot, so wenig Lärm wie irgend möglich zu verursachen, um ja keine Neugierigen anzulocken.
Oder hatte er die Frau erst an Ort und Stelle getötet? War er vielleicht in der Nähe der Höhle mit ihr in Streit geraten? Hatte er den Wunsch geäußert, intim zu werden, sie aber hatte sich geweigert? Daraufhin hatte er die Frau vergewaltigt, irgendwo im Wald, sie dann ermordet und im Boden verscharrt, um nicht als Täter überführt werden zu können?
Mir fehlte die Konzentration, mir die Details vorzustellen. Gleich, wo immer er sein Verbrechen verübt hatte, sein Ehrgeiz, die Leiche zu verstecken, hatte irrsinnige Anstrengungen und Nervenkraft erfordert. In jeder Sekunde seiner langwierigen Tätigkeit hatte er damit rechnen müssen, von irgendjemand beobachtet zu werden. Von Fossiliensuchern oder Gesteinssammlern wie mir etwa …
Wahrscheinlich hatte er sein Opfer bei Nacht begraben, bei völliger Dunkelheit und ohne jedes künstliche Licht, um genau dieser Gefahr zu entgehen.
Ich war den Abhang inzwischen so weit hinuntergeklettert, dass ich die Höhle wieder im Blickfeld hatte, als mir dieser Gedanke kam. Nichts hatte sich verändert, der Eingang der schmalen Erdspalte lag friedlich zwischen den Stämmen der Bäume. Ich blieb stehen, malte mir die Szene aus, wie der Mörder hier mitten in der Nacht im stockdunklen Wald umherschlich, über Wurzeln und heruntergefallene Zweige stolperte und bei jedem Geräusch, das er verursachte, ängstlich zusammenzuckte. Wie hatte er die Leiche transportiert? Hatte er den toten Körper hinter sich hergezogen?
Wohl kaum, sagte ich mir selbst. Die Spur, die er dadurch verursacht hätte, wäre wohl selbst einem Blinden aufgefallen.
Was aber dann? War er, das Opfer über der Schulter, durch die Nacht marschiert?
Eine Flut wirrer Gedanken schwirrte mir durch den Kopf. Wie auch immer er den langen Weg bewältigt hatte; hier angekommen, war er noch längst nicht am Ziel gewesen. Jetzt hatte er in völliger Dunkelheit dem steinharten Boden der Höhle zu Leibe rücken und das Grab ausschaufeln müssen …
Was war das nur für ein Mensch, der all das auf sich genommen hatte, um das von ihm begangene grauenvolle Verbrechen zu verheimlichen?
Das große Reh tauchte im gleichen Moment aus dem Dickicht auf, als ich mich mit diesen Gedanken plagte, keine fünfzehn Meter von mir entfernt. Es war wohl genauso überrascht wie ich selbst, wandte mir nur kurz seine Aufmerksamkeit zu. Bis ich mich dazu aufraffen konnte, das Tier genauer in Augenschein zu nehmen, war es bereits wieder fast lautlos verschwunden.
Rehe und andere Waldbewohner waren in diesen Gefilden keine Seltenheit, das hatte ich in den letzten Wochen bei meinen einsamen Streifzügen durch die Umgebung zur Genüge erfahren. Jedes Mal aufs Neue überraschte mich jedoch die Anmut und Friedfertigkeit dieser Tiere. Was für ein Kontrast zu jenem gewalttätigen Verbrecher, dem ich mit meiner willkürlichen Grabung jetzt auf die Schliche gekommen war!
Hoffentlich läuft der mir nie über den Weg, ging es mir durch den Kopf.
Es sollte nicht allzu viel Zeit vergehen, bis mir schmerzlich bewusst wurde, wie sehr ich mich in dieser Annahme getäuscht hatte …
Eine Ewigkeit schien vergangen, als ich endlich Stimmen hörte. Sie kamen aus zwei verschiedenen Richtungen, die eine von links, die andere von rechts, beide aus größerer Höhe. Es handelte sich um eine Frau und einen Mann, die sich durch lautes Rufen miteinander verständigten; kaum hatte eine der beiden Personen ein paar Worte von sich gegeben, schallte die Antwort wie ein Echo zurück. Ich merkte, dass sie näher kamen, machte mit lautem: »Hallo, hallo!« auf mich aufmerksam. Kurz darauf sah ich einen uniformierten Polizeibeamten keine fünfzig Meter über mir aus dem Wald auftauchen.
Er schien mich sofort entdeckt zu haben, denn gerade als ich meinen Arm hob, um ihm zu winken, hörte ich ihn schon rufen: »Herr Grohm?«
Ich antwortete mit einem kräftigen: »Ja!«
Wenige Minuten später waren beide, ein Polizeiobermeister namens Frenzel und seine Kollegin, eine Frau Älble, bei mir angelangt. Beide reichten mir die Hand und stellten sich vor. Ich berichtete ihnen in kurzen Worten von meiner Entdeckung, führte sie dann direkt zur Höhle. Alles lag noch genauso an Ort und Stelle, wie ich es verlassen hatte. Meine Hacke und der Spaten, unmittelbar daneben die Hand. Ich blieb in gebührender Entfernung vor der Höhle stehen, überließ ihnen die nächsten Schritte.
Beide schienen erfahrene Beamte zu sein. Sie stülpten sich Plastiküberzüge über Hände und Schuhe, näherten sich erst dann dem Eingang. Frenzel zog sein Handy aus der Tasche, schoss unzählige Fotos vom Innenraum der Höhle, dem Boden, meinen Arbeitsgeräten, der Hand. Dann erst stakste seine Kollegin mit vorsichtigen Schritten zu dem ungewöhnlichen Fundstück und nahm es vorsichtig auf.
»Oh nein, die ist echt!«, hörte ich ihre Stimme. Sie drehte sich um, lief mit gerümpfter Nase ins Freie. Ihr verkniffener Gesichtsausdruck sprach Bände. »Wir benötigen die Profis«, sagte sie laut. »Der Gestank ist eindeutig.«
Ich hörte, wie der Beamte die entsprechenden Informationen fernmündlich weitergab und dann eine Straßenkreuzung mehrere Kilometer von Stempflingen entfernt als Treffpunkt vorschlug. »Dort hole ich Sie ab«, erklärte er. »Den Rest müssen wir gemeinsam zu Fuß quer durch den Wald. Es geht leider nicht anders.«
Wir warteten mindestens eine weitere Stunde, Polizeiobermeisterin Älble und ich, bis die Spezialisten endlich eintrafen. Ihr Kollege war längst wieder in den Wald verschwunden, um die erwähnte Straßenkreuzung aufzusuchen, hatte den Weg, wie er später berichtete, nur mit Mühe gefunden. Sie hatten mir zwar angeboten, nach Hause zu gehen und dort auf den Besuch des Kommissars zu warten, waren auf meine Bereitschaft, an Ort und Stelle zu bleiben, aber mit unübersehbarer Dankbarkeit eingegangen.
Die Spezialistentruppe bestand aus drei Männern, einem Kommissar und zwei Technikern. Sie schleppten mehrere Koffer mit sich, kämpften sich schwer atmend die letzten Meter den steilen Hang abwärts.
»Alle achtzig Deifel von Sindelfinge, des machet ihr koi zwoites Mal mit mir!«, keuchte einer der Spurensicherer, der sich als Helmut Rössle vorstellte.
Sein Kollege, ein Dr. Kai Dolde, reichte mir lächelnd die Hand. An den anderen Mann gewandt sagte er: »Wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst endlich Sport treiben!«
»Sport! Die Tour heut reicht für die nächste zehn Jahr! Und nachher müsset mir wieder zurück!«
Ich trat ein paar Schritte zur Seite, wartete, bis sie sich die Höhle und die Hand genauer angesehen hatten, war dann froh, endlich mit dem Kommissar sprechen zu können. Obwohl ich fast die ganze Zeit unermüdlich hin und her gelaufen war, um mich einigermaßen warmzuhalten, fror ich am ganzen Körper.
Der Kommissar, ein auffallend großer Mann Ende Vierzig namens Braig, bedankte sich für meine Bereitschaft, ihm hier vor der Höhle Rede und Antwort zu stehen.
»Tut mir leid, dass Sie eine Weile warten mussten«, entschuldigte er sich. »Aber der Weg hierher …« Er schaute zu seinen beiden Kollegen, die dabei waren, ihre Koffer auszupacken und verschiedene Gerätschaften am Eingang der Höhle abzulegen. »Sie haben die Hand gefunden?«, wandte er sich dann wieder an mich.
»Die habe ich gefunden, ja«, antwortete ich.
Der Kommissar nahm die inzwischen in einem Plastikbehälter deponierte Hand auf, wandte seinen Blick dann dem überraschend gut erhaltenen Körperteil zu. Eine schmale, feingliedrige Hand mit allen Fingern, am Stumpf vom Arm abgetrennt. »Die dürfte von einer Frau stammen«, meinte er, »oder?«
»Auf jeden Fall«, mischte sich Dr. Dolde ins Gespräch. »Die ist zu klein für einen Mann.«
»Was ist mit dem Rest der Leiche?« Braig musterte mich prüfend.
»Keine Ahnung«, sagte ich.
»Sie haben nur die Hand entdeckt.«
»Die Hand, ja. Und dann rannte ich auf und davon. Was glauben Sie, wie schockiert ich war.«
»Das kann ich mir gut vorstellen«, erklärte er. »Sie haben hier in dieser Höhle gegraben. Darf ich fragen, wieso?«
»Ich war auf der Suche nach Fossilien«, antwortete ich wahrheitsgemäß.
Wenige Schritte von uns entfernt leuchtete plötzlich ein heller Lichtschein auf. Erstaunt blickte ich zur Seite, sah, dass die beiden Techniker am Eingang der Höhle eine kleine Lampe aufgebaut hatten. Ein überraschend heller Strahl tauchte den Innenraum in ein grelles Licht. Alles war bis ins Detail zu erkennen. Als hätte ich die Höhle zum ersten Mal vor Augen, starrte ich zu ihr hin. Es war deutlich zu sehen, dass sich der etwa drei Meter breite, gerade einmal mannshohe Spalt nach wenigen Metern schlauchartig verengte und in die Tiefe abzufallen schien. Die Wände wie die Decke bestanden aus grauem Fels, der Boden schien zumindest im vorderen Bereich von dunkelbrauner Erde bedeckt. Weiter hinten, kurz vor der Stelle, wo die Seitenwände aufeinander zuliefen, waren Einkerbungen in den Boden zu erkennen, unmittelbar daneben ein etwa zwanzig Zentimeter breites und fast ebenso tiefes Loch.
»Die Hacke und der Spaten.« Die Stimme des Kommissars riss mich aus meinen Betrachtungen. »Sie gehören Ihnen?«
Ich nickte. »Die führe ich immer mit. Der Boden ist zu hart. Ohne die geht es nicht.«
Plötzlich glaubte ich, wieder den ekelhaften Geruch in der Nase zu haben. Angewidert wandte ich mich von der Höhle ab.
»Es riecht«, sagte der Kommissar. »Nach Verwesung.« Er schien meine Reaktion bemerkt zu haben, zeigte zur Seite in die Richtung der Bäume. »Wenn Sie wollen, gehen wir ein paar Schritte von der Höhle weg. Vor allem, wenn die Kollegen nachher anfangen zu graben.« Braig zog einen kleinen Notizblock aus seiner Jacke, suchte eine freie Seite. »Tut mir leid, dass ich Ihnen keinen Platz anbieten kann, wo es warm ist und es wenigstens einen Kaffee gibt. Aber die Umstände hier …« Er ließ den Satz offen.
»Na ja, so ist das eben mitten im Wald.« Ich winkte ab. »Ich bin es gewohnt. Fossilien finden sich nun mal in der freien Natur. Sie werden ja nicht allzu viele Fragen haben, oder?«
»Nein, ich denke, das geht schnell«, erklärte der Kommissar. »Ich möchte mir nur die genaueren Umstände notieren, wie Sie auf den Leichenteil stießen.« Er machte ein paar Schritte zur Seite, trat an einen großen Felsbrocken, legte seinen Notizblock auf dessen äußerer Kante ab. »Sie wohnen in Stempflingen, haben Sie erzählt, richtig?«
Ich nickte, nannte ihm meine volle Adresse.
»Sie sind zu Fuß hierhergekommen?«
»Quer durch den Wald, ja.«
»Wie weit ist das? Ungefähr, meine ich.«
Ich überlegte. »Drei, vier Kilometer vielleicht. Offen gesagt, auf die Entfernung habe ich überhaupt nicht geachtet.«
»Sie waren schon oft in der Höhle?«
»In dieser Höhle hier?«
Braig musterte mich prüfend. »Ja.«
»Nein«, antwortete ich. »Ich wusste nicht einmal, dass es hier eine Höhle gibt.«
»Wie bitte? Sie wussten nichts von der Existenz dieser Höhle?«
»Nein. Das war Zufall, dass ich sie entdeckt habe.«
Der Kommissar warf mir einen misstrauischen Blick zu. »Sie wohnen nur wenige Kilometer entfernt und sind passionierter Fossiliensammler. Und dann wollen Sie mir erzählen, Sie kennen diese Höhle nicht?«
»Na ja, das klingt jetzt vielleicht seltsam.« Verlegen suchte ich nach einer Antwort. »Aber ich wohne noch nicht lange hier. Und dann …«
»Wie lange?«, hakte Braig nach.
»Das ist gerade mal ein halbes Jahr. Im Mai kam ich her und jetzt haben wir November.«
»Wo haben Sie vorher gewohnt?«
»In Norddeutschland«, erklärte ich.
»Wo genau?«
»In Hamburg. Warum wollen Sie das so im Detail wissen?«
Der Kommissar machte sich Notizen, schaute dann von seinem Block auf. »Weil ich überrascht bin, dass Sie als Fossiliensammler, wie Sie sich mir vorhin selbst vorgestellt haben, diese Höhle nicht kennen wollen. Wo Sie doch nur ein paar Kilometer entfernt wohnen.«
»Erst seit einem halben Jahr. Das habe ich extra erwähnt.«
»Na ja, auch in einem halben Jahr kommt man ab und an mal aus dem Haus und schaut sich seine Umgebung an. Vor allem als Fossiliensammler.«
»Das tue ich auch, soweit mir die Zeit reicht. Aber hierher bin ich noch nie gekommen.«
Braig musterte mich mit misstrauischem Blick, schien sich dann zu besinnen. »Na gut, lassen wir das. Sie können mir also leider nicht sagen, ob Sie die Höhle in irgendeiner Weise verändert vorfanden gegenüber früheren Besuchen.«
»Nein, das tut mir leid.«
»Damit hätten wir nämlich einen ersten Hinweis darauf gehabt, wann diese Hand oder, falls da noch mehr im Boden liegt, wann diese Körperteile hier vergraben wurden.« Er zögerte einen Moment, setzte dann zu einer neuen Frage an. »Haben Sie Kontakt zu anderen Fossiliensammlern, die hier öfter unterwegs sind?«
»Andere Fossiliensammler?« Ich schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Oder kennen Sie jemanden aus Ihrer Gemeinde, der häufig im Freien unterwegs ist, spazieren geht, wandert oder joggt? Einen Freund, einen Nachbarn oder sonst eine Person?«
»In Stempflingen?«
»Ja. Sonst gibt es hier in der Nähe ja keinen Ort, oder?«
»Na ja, die liegen alle etwas entfernt, das stimmt.«
»Wie steht es nun mit anderen Leuten hier draußen?«
»Ich kenne niemand. Tut mir leid.«
Der Kommissar musterte mich deutlich gereizt, seufzte laut. »Sie sind also meist allein unterwegs.« Der vorwurfsvolle Unterton seiner Stimme war nicht zu überhören.
Was geht das die Polizei an?, überlegte ich. Wieso maßt der sich an, mein Verhalten zu beurteilen? Hat der auch nur einen blassen Schimmer, wie übel es mir in den vergangenen Jahren erging?
Sichtbar verstimmt blickte ich zu ihm auf. »Ich habe noch nicht gehört, dass es verboten ist, allein unterwegs zu sein«, blaffte ich ihn an.
Wie lange ich an diesem Nachmittag benötigte, wieder nach Hause zu kommen, konnte ich später nicht mehr sagen. Auch der Weg, auf dem ich mich durch das unwirtliche Gelände kämpfte, war mir nicht im Gedächtnis geblieben. Irgendwie querfeldein, durch dichten Wald und über steile Hänge auf und ab, so wie die Landschaft um das Dorf herum eben beschaffen war. Ich wusste nur noch, dass ich mich nicht besonders wohl fühlte und mehr benommen als mit klarem Bewusstsein von der Höhle wegeilte.
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