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Hamburg, 1923. Klara Schindler ist neunzehn und hat ihre kleinbürgerliche Zukunft hingeschmissen, nachdem ihr Vater sie in den Armen der Klavierlehrerin erwischt hat. Nun lebt sie in einem düsteren Kellerloch in Hamburg-Barmbek, geht stempeln oder schlägt sich als Tagelöhnerin durch. Ohne Klavier, aber mit revolutionärer Begeisterung. Denn es herrschen Hyperinflation, Hunger und Arbeitslosigkeit, immer wieder wird gestreikt, und eine neue, bessere Gesellschaft scheint so dringend nötig wie greifbar. Klara begeistert mit ihrem Redetalent die Jugend für die KPD, sie selbst ist begeistert von Ketty Guttmann, KPD-Abgeordnete, Frauenrechtlerin und Journalistin. Ketty gibt eine Zeitschrift zur Organisation der Sexarbeiterinnen auf St. Pauli heraus und ist auch sonst ganz anders als die moskauhörigen Parteioberen, die Klara kennt. Klara schwärmt für Ketty, aber verliebt ist sie in Selma, die als Taschendiebin und Schein-Prostituierte wohlhabende Männer ausraubt und überhaupt keine Lust auf Fabrikarbeit hat. Ihre Lebenslust steckt Klara an. Doch in Hamburg geht der »Schnitter« um, der Prostituierte angreift. Eines Tages erwischt er auch Selma, und überhaupt scheint er seine Opfer verstärkt in Klaras Freundeskreis zu suchen. Als auch Ketty überfallen wird, ahnt Klara, in welcher Gefahr sie selbst schwebt. Der ersehnte Aufstand in Barmbek wird zur blutigen Katastrophe und Ketty flüchtet nach Moskau. Ein Jahr später kommt sie zurück, desillusioniert und voller Wut auf die deutschen Kommunisten. Klara muss sich entscheiden. Doch auch der »Schnitter« ist wieder aufgetaucht ...
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Seitenzahl: 190
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ROBERT BRACK, Jahrgang 1959, lebt in Hamburg. Er wurde mit dem »Marlowe« der Raymond-Chandler-Gesellschaft und mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet. Schwarzer Oktober ist sein vierter historischer Kriminalroman um Klara Schindler nach Und das Meer gab seine Toten wieder (2008), Blutsonntag (2010) und Unter dem Schatten des Todes (2012).
Edition Nautilus GmbH
Schützenstraße 49 a
22761 Hamburg
www.edition-nautilus.de
Alle Rechte vorbehalten
© Edition Nautilus 2023
Deutsche Erstausgabe September 2023
Umschlaggestaltung: Maja Bechert
www.majabechert.de
Porträt des Autors Seite 2:
© Charlotte Gutberlet
1. Auflage
ISBN EPUB 978-3-96054-327-5
Im Keller
1923
1924
Wieder im Keller
Anmerkungen
Ich prallte auf Stock und Stein. Ich schlug wildim Strom um mich und entdeckte Muskel und Geistund Auge an mir. Und alles, was mich umgab,war ein Urwald.
Ketty Guttmann
Sie haben mein Kellerloch verwüstet und meine Aufzeichnungen durcheinandergeworfen, mein Leben zerrissen. Die Tinte ausgekippt, den Federhalter zerbrochen. Mein Tagebuch ist zerfetzt wie meine Erinnerung.
Sie haben die Zimmertür eingeschlagen, dabei hätte ein kleiner Schubs genügt. Sie sind hereingetrampelt, haben die Kiste umgeworfen und mit gierigen Händen nach den Kladden gegriffen, die Seiten zerknickt, zerknüllt, zerrissen. Haben beiseitegeworfen, was sie nicht brauchten, und was ihnen von Wert erschien in ihre Taschen gestopft (Nachbarn haben Männer in schweren Mänteln gesehen). Ihr Schweißgeruch hängt noch in der Luft.
Natürlich, das Wertvollste! Die Seiten mit den klingenden Namen, vibrierenden Sätzen, pulsierenden Worten. Die Seiten, die davon berichten, wie ich zum Leben erweckt und wieder getötet wurde. Die Seiten, die davon berichten, wie ich in dieses Kellerloch geriet, daraus befreit und wieder hineingestoßen wurde.
Aber ich will aufbegehren. Erinnerung bewahren. Worte bewahren, Namen bewahren. Wer weiß, wer eines Nachts vor der Tür steht? Sollte es geschehen, und sei es nur im Traum, will ich mich an ihre Namen erinnern: Selma, Jakob, Ketty. Andere Namen will ich vergessen, verbannen wie die von Dämonen.
Es ist nämlich so, dass man Erinnerung tatsächlich beschmutzen kann, wenn man zulässt, dass jemand die Bilder mit Dreck bewirft. Da ist ein Wille in der Welt, der mit zerstörerischer Wut alles niederwalzt, was Leben und Freiheit und Glück bedeutet. Woher kommt er? Wer hat die Stiefel erfunden, die das Gras zertrampeln? Woher stammt dieser Geist der Vernichtung, dieser Dämon, der auch in den Schädeln der Unsrigen steckt? »Allesamt ein Noskiden-Pack! Auf beiden Seiten!« Das hat Ketty gesagt, und ich habe sie nicht verstanden. Auch wenn ich nun weiß, was sie meint … es widerstrebt mir doch.
Trotzdem! Ich schreibe! Tunke eine neue Feder ins Tintenfass. Ich werde die leeren Seiten füllen, die zerrissenen zusammenfügen. Vielleicht verstehe ich dann alles besser. Vielleicht verstehe ich euch dann besser … Selma, Jakob und Ketty … Ernst und Nosch … Maria … und was ich zu Papier bringe, schreibe ich mit leuchtenden Buchstaben in meine Erinnerung. Will es allen erzählen, denn nur Dämonen leben von Geheimnissen.
Ich gebe zu, ich bin vorsichtig geworden. Neben dem Tintenfass liegt der Revolver.
Manchmal überfällt mich eine derartige Sehnsucht, dass ich das Gefühl habe, innerlich zerfleischt zu werden …
Kopfschmerzen, es ist Sonntag. Natürlich Kopfschmerzen! Weil ich die gekräuselten Lippen, die faltigen Brüste und die fleckigen Hände mit den roten Nägeln und den langen Zigarettenspitzen, den blauen Lidschatten, die gefärbten Goldlöckchen nicht mehr ertragen kann. Ich musste die Tür abschließen heute früh, als sie betrunken durch den Flur tapste, um mich endlich »zu lieeeben«, wie sie sagt, dabei war es ausgemacht, dass es dazu nicht kommt. Sie wird mich rauswerfen, heute wird es so weit sein. Oder morgen, wenn sie ihr Elend überwunden hat. Dann muss ich mir eine neue Kuh zum Melken suchen. Wie tief bin ich gesunken! Aber die Kühe haben eine Weide, und darauf wachsen zarte Scheine – doch deren Farben verbleichen Tag für Tag. Reichsmarkscheine haben die Farbe von verdorrtem Gras. Aber die Kuh hat auch eine Weide mit frischem Dollar-Grün.
Das ermöglicht uns, private Klubs und Bars zu besuchen und Champagner zu trinken, damit wir ordentlich Kopfschmerzen bekommen. Denn Goldlöckchen wiegen zwar schwer, aber nicht schwer genug, um ins Taumeln zu geraten. Was jede Nacht aufs Neue ihr Ziel ist, denn dann muss ich sie unterfassen und nach Hause schleppen. In der Freundin-Bar war es in dieser Hinsicht günstiger gewesen, denn da war bestenfalls eine Hand auf dem Oberschenkel oder Unterarm erlaubt. Ich war nur »Gesellschafterin«.
Selige Zeiten. Arme Zeiten. Jetzt bin ich eine Kurtisane. Ich muss sie verlassen. Doch zur »Freundin« kann ich nicht zurück, weil das Geld, das man dort verdient, nicht genügt.
Daher mein Versuch, mich als Diebin zu betätigen. Aber als ich gerade dabei war, auf dem Klosett die grünen Scheine ins Strumpfband zu schieben, sprang mir die Chefin ins Gesicht (sie hat für alle Klosetts einen Schlüssel) und warf mich raus (zwei Ohrfeigen kassierte ich obendrein!). Goldlöckchen hat mich aufgelesen, war mir gar nicht böse wegen der grünen Scheine, und nahm mich mit. Seitdem bin ich ihre »Gefangene des Herzens«, wie sie sagt.
Ich widere mich an.
Drei Tage konnte ich sie hinhalten, bis gestern, da drängte es sie: »Hinaus! Wir wollen leben!« Wieder eine neue Bar. Diesmal gemischt. Und verrucht. Mit Séparées. (So will sie es jetzt also versuchen, dachte ich. In der Öffentlichkeit, wenn es schon zu Hause nicht klappt.) Goldlöckchen ist auf die Idee verfallen, sich jugendliche Unterstützung zu holen. Ihr Plan: Die Lange mit dem kupferroten Bob und der rauchigen Stimme, der sowohl Brüste als auch Hüften fehlen und an der das Kleid wie ein Handtuch herabhängt, sollte mich bezirzen. Und dann leitet Goldlöckchen die Jugend an beim »Lieeeben« im Séparée. Die beiden diskutierten allen Ernstes über Literatur! Ich fand einen jungen Kerl, den ein Dicker mit schmaler Brust und prallem Gesäß mitgebracht hatte. Jakob war lustig. Wir hockten in der Ecke und lästerten. Jakob mit seinen blonden Locken und der spitzen Nase. Er spendierte Cocktails. Wir erfanden bürgerliche Biografien für die anwesenden Nachtvögel und lachten uns kaputt. Ich war so betrunken, dass ich schon Hoffnung hegte, Goldlöckchen und die Lange könnten zu zweit ins Séparée verschwinden. Aber da standen sie vor uns. Und der Dicke auch gleich mit. Jakob und ich taten so, als hätten wir plötzlich die Liebe fürs andere Geschlecht entdeckt. Und schon flogen wir raus.
Wir waren beide so betrunken, dass wir kaum noch stehen konnten. Wir taumelten durch Seitenstraßen und weil wir beide keinen roten Heller mehr hatten, versuchten wir, uns gegenseitig an Passanten zu verkaufen. »Darf ich vorstellen«, sagte Jakob zu einem einarmigen Offizier in Uniform, »das ist meine Zuhälterin.« Ich weiß nicht, was er daran lustig fand. Der Soldat hob den Arm. Eine Klinge blitzte auf. Und schon lagen wir blutend in der Gosse. Der Kerl beugte sich über uns. Die eine Hälfte seines Gesichts sah aus wie Pergament. Der Dolch in Form eines Kreuzes verschwand unter seinem Mantel.
Dann verloren wir uns, und ich die Orientierung. Ich suchte nach Jakob, bis ich zusammenbrach und liegen blieb. Gekotzt habe ich wohl auch.
Da hob eine Stimme mich hoch und sagte: »Wenn du hier in der Straße anschaffst, musst du organisiert sein.« Ich protestierte: »Ich bin nur eine gute Freundin!« Die Stimme: »Eins ums andere ist es das Gleiche.« Sie schleppte mich in ein Hurencafé, wo sie mich sehr ungnädig musterten. Die Stimme gehörte zu einer schmalen Person im langen Rock mit Jumper und Baskenmütze. Sie drückte mir eine Zeitung in die Hand: »Der Pranger – Organ der Hamburg Altonaer Kontrollmädchen«. Ich behauptete, damit hätte ich nichts am Hut. Sie sagte: »Du solltest dir mal einige Gedanken machen.«
»Ich bin kein Kontrollmädchen!«
»So? Und wo kommst du her?«
»Aus dem Proletariat!«
Sie lachte: »Und wo willst du hin?«
»In den Kommunismus!«
Jetzt lachten sie alle. Konnten sich kaum mehr einkriegen. Ich weiß nicht, was mich geritten hat, so dumm zu reden. Ich hatte schon Monate keine Fabrik mehr von innen gesehen.
»Und wie willst du da hinkommen?«
»Mit der Kraft meiner Feder!« Nie war ich blöder als in jener Nacht.
»Wie heißt du?«
»Klara!«
»Ich bin Ketty. Komm mal bei uns vorbei, wenn du wieder nüchtern bist. Wenn du schreiben kannst …«
Dann war sie weg und die anderen Organisierten schmissen mich raus, weil ich ihnen nicht gefiel. Oder vielleicht auch, weil ich nach Erbrochenem stank.
»Pass auf, dass der Schnitter dich nicht holt!«, gaben sie mir mit auf den Weg. Ich verstand noch nicht, was sie damit meinten.
Ich hatte einen Schlüssel und schlich in Goldlöckchens Wohnung. Durch die halboffene Tür ihres Schlafzimmers konnte ich hören, dass sie die »Lieeebe« gefunden hatte – kehliges Gurren und rauchiges Stöhnen. Ich zog mein schäbiges Kleid an, auch den Mantel, denn es hatte angefangen zu regnen, setzte mir die alte Strickmütze auf, so schräg wie Ketty ihr Beret, und holte den Tornister mit meinen Habseligkeiten aus dem Schrank. Dann schlich ich davon. (Im Davonschleichen bin ich gut.)
Ich nahm eine der ersten Ringbahnen und fuhr und fuhr und fuhr. Irgendwann, mein Magen rumorte, stieg ich aus. Flurstraße. Die ging ich entlang. Dorthin, wo die Fabriken sind. In einem Café aß ich ein Hörnchen, trank eine Tasse Bohnenkaffee. Stapelte die letzten bleichen Scheine und reichte sie der weißbeschürzten Kellnerin. In der Sparkasse wechselte ich ein paar grüne Scheine. Ging durch Seitengassen. Stieg über Kisten und Kartons, Haufen von Unrat. Fragte nach einem Zimmer. So fand ich mein Kellerloch.
(Wenn das der Bibliothekar wüsste, dieser verlogene Sozialdemokrat, der mich zum Lob seiner verstorbenen Frau, meiner Mutter, in höhere Sphären heben wollte als Pianistin, als leuchtendes Beispiel angeblicher Emanzipation – »Freiheit verdienst du dir durch Fleiß und Arbeit, Klara!« –, und mich dann in den Armen der Klavierlehrerin ertappte.)
Ich habe mal ein Buch gelesen über New York. Darin wurden Straßenschluchten beschrieben, in denen die heiße Lebensgier tobt und Dampfschwaden die Luft schwängern. Im Vergleich dazu lebe ich in einer Gletscherspalte. Es ist Sommer, aber in unseren Hinterhof, der kein Hof ist, sondern eine Schlucht, dringt kein Quäntchen Sonne. Der Boden hier ist immer glitschig. Es herrscht eine hässliche, gemeine Kälte, und was wir einatmen, mag man kaum Luft nennen, es ist eine Ausdünstung der leprösen Wände. Wer hier wohnt, sucht tagsüber das Weite, aber abends und nachts spüren wir im kalten Dunst von Kartoffeln und Rüben und stinkendem Kohl den Gletscher der Verzweiflung, der über unsere Mietskaserne ragt und von dem die Kälte nach unten sinkt. Die Kälte, die uns arm macht, die uns hungern lässt. Magere Kinder, hustende Arbeiter, zitternde Greisinnen, Frauen in schmutzigen Kitteln, die manchmal heimlich losgehen, um in den Mülltonnen der Nachbarstraßen nach verzehrbaren Resten zu stöbern. Mir ist, als hörte ich tagein, tagaus das leise Wimmern des gepeinigten Proletariats.
Und doch wird gekämpft! Trotz allen Siechtums, schwach sind wir nicht! So sage ich mir, aber ich gehöre doch noch gar nicht dazu. Denn zum Menschsein gehört die Arbeit, und zum Proletsein die Fabrik.
Heute, am Sonntag, fand ein kleiner Junge die Kralle in der Ecke hinter den Mülleimern. Der Einbeinige mit der Drahthand lag da, den Kopf auf einen Ziegelstein gebettet, und starrte nach oben zu dem Spalt, hinter dem der Himmel sein könnte. Der Ziegelstein verschwand, noch bevor die Leiche abgeholt wurde, Ziegelsteine kann man immer gebrauchen.
Mir wird manchmal übel vor Hunger. Ich wollte stempeln gehen, aber ich konnte nicht genügend Papiere vorweisen. Wenn ich den Vermieter nicht mit grünen Scheinen im Voraus bezahlt hätte, wäre ich obdachlos wie Kralle.
Ich wohne im »Junkerflügel«. So genannt, weil der Vermieter behauptet, einem böhmischen Adelsgeschlecht zu entstammen. Er hat einen Zettel neben das Mieterverzeichnis im Treppenhaus gehängt: »Es ist verboten, Nägel in die Wände zu schlagen oder Löcher zu bohren!« Sein Argument: Das Mauerwerk wird porös und zerbröselt, die Wände stürzen ein. Sie bröseln auch so schon in meinem Kellerloch. Und ständig rieselt Ruß aus meinem Ofen, obwohl ich ihn nicht benutze, jetzt im Sommer. Der Junker wohnt in Winterhude in einer Villa, heißt es. Er trägt Manchesterhosen, Wolljacke und Gummistiefel. Die sind aus der hiesigen Fabrik, der Barmbeker Gummiwaren-Compagnie. Bevor er in sein Automobil steigt (das immer drei Ecken weiter, nahe der Hamburger Straße, steht, um keinen Neid zu erwecken), zieht er die Jacke aus und ein Jackett über das Hemd mit angeklebter Fliege. Er erhöht von Woche zu Woche die Miete, »weil ich leben muss«, wie er sagt.
Auch ich muss leben. Schrubbe Teller und Töpfe in einer Fischbraterei an der Hamburger Straße. Dorthin kommen die Herrschaften von der Uhlenhorst, wenn sie einmal »volkstümlich« speisen wollen. Wir Tellerwäscherinnen kriegen nichts ab. Gestern hat eine von den Alten heimlich Fischköpfe in einen Sack gepackt. Als sie meinen Blick bemerkte, murmelte sie was von »Suppe auskochen«. Ein paar Mädchen kriegen Reste vom Koch, wenn er sie betatschen darf. Eine hat ihm Senf in die Augen geschmiert, als er sie ruppig anging im Kühlraum. Sie wurde entlassen. Es herrscht ein Männerregiment. Ich klaue ab und zu eine Scheibe Brot.
Ich streiche um das Parteibüro am Roten Platz herum wie eine Katze, die jemand verjagt hat. Warum gehe ich nicht hinein? Bin ich nicht Mitglied? Ich lese die ausgehängte »Volkszeitung«: Die Hochseefischer streiken immer noch, Unruhe im Hafen, 130.000 deutsche Industriearbeiter im Ausstand. Aufruf zum Antifaschistischen Kampftag. Die Regierung Cuno wankt. Nur eine Arbeiter- und Bauernregierung kann Deutschland noch retten!
Sie haben mich rausgeschmissen. Wegen der Scheibe Brot. »Mach die Bluse auf«, sagte der Oberkellner, »dann leg ich noch eine dazu.« Die Ohrfeige kommt mich nun teuer zu stehen. Fünf Tage Arbeit, drei Tage Lohn, der Rest wird einbehalten – wegen »Eigentumsdelikt«, sagt der Chef, der seine Wampe bestimmt nicht dem Ablutschen der Gräten verdankt.
Der Junker hat meinen letzten grünen Schein bekommen. Immerhin habe ich mein Kellerloch bis Ende August sicher.
Heute musste ich an die Warnung der Kontrollmädchen denken. Denn es ist von einem »Schnitter« die Rede. Ein Mädchen wurde gefunden. »Eine, die auf Abwege geraten ist«, eine »Gefallene«. Es geht jemand um mit einem Messer, sagen die geschwätzigen Nachbarinnen und lachen: »Bleibt euren Männern treu, wenn euch das Leben lieb ist!«
Ich gehe zum Lesen in die Bücherhalle. Ich brauche Ablenkung, denn da ist immer wieder dieses Gefühl, als würde tief in mir drin ein Tier nagen und mir alles Gefühl wegfressen. Ich muss neue Gedanken in mein Gehirn, in meine Seele pflanzen. Denn letzte Nacht träumte ich, der Bibliothekar lauert mir auf am Straßenrand, in der Hand das erhobene Kreuz. Die Schuld, die er mir eingepflanzt hat, so dachte ich in Todespanik, will er mir mit einem Dolch herausschneiden. Ich erwachte mit klopfendem Herzen. Jetzt denke ich: Ist das nicht eigenartig? Bücher sollen mir helfen gegen die Angst vor dem Bibliothekar!
In einem Schuhgeschäft in Winterhude die ausgetretenen Latschen gegen Segeltuchschuhe eingetauscht. Der junge Verkäufer machte mir schöne Augen und dachte wohl an ein ruhiges Plätzchen hinter den Kulissen. Erst als ich durch die Tür flitzte, rief er »Halt!«.
Auf dem Amt heißt es, sie hätten keine Arbeit für mich, aber ich soll mich jeden Tag melden. Es fehlt noch die Bescheinigung meines letzten Arbeitsplatzes, dann gibt es vielleicht Stempelgeld.
Nora, die Mutter von Theo, dem Jungen, der die Kralle gefunden hat, hat Krämpfe. Sie wohnt über mir und schreit. Der Mann ist Lokomotivführer und abgedampft. Sie ist schwanger. Sie sagt: »Wenn das Kind da ist, werde ich es verkaufen.« Die Krämpfe kommen nicht von der Schwangerschaft, sondern vom Hunger. Ich bin losgegangen, um etwas zu besorgen. Es ist gar nicht so schwer, bei einem Grünhöker oder einem Feinkostladen was einzustecken. Bäcker sind schon schwieriger, weil du das Brot nehmen und dann loslaufen musst – wehe es steht ein Spießer in der Tür und hält dich fest!
Vor dem Aushang mit der »Volkszeitung« sprach mich ein Arbeiter an. Schwielige Hände, rundes Gesicht, freundliche Augen unter der Schirmmütze, abstehende Ohren. Sonst vor allem: Muskeln. Nicht stämmig, aber kräftig. Er überragte mich. Dann neigte er sich mir entgegen wie ein Baum und fragte: »Arbeiterin?« In seinen Taschen steckten Stapel von Flugzetteln. Seine Hose hatte viele Taschen. Ich sagte: »Erwerbslos.« Er zog einen Zettel aus der linken Tasche: »Versammlung morgen drei Uhr nachmittags bei Köppen.« Ich bedankte mich. »Man kann der Partei beitreten«, sagte er noch. »Bin ich schon«, entgegnete ich. Da glotzte er mich an, als wäre ich sein Schätzchen. Dass ich noch nie Beitrag gezahlt habe, unterschlug ich. Er ging weiter, um seine Zettel zu verteilen. Die in der rechten Tasche waren für die Arbeitenden, die in der linken für die Erwerbslosen. Ab und zu schaute er heimlich zu mir rüber. Wie soll man da in Ruhe Zeitung lesen? Ich hab mich schleunigst aus dem Staub gemacht.
Nora kriegt nur noch Haferschleim herunter. Wenn ich nicht aufpasse, stibitzt der Sohnemann ihre Portion, weil ihm ein Teller nicht genug ist. Ich sollte zur Fürsorge gehen, damit die was unternehmen. Nora ist nur noch Haut und Knochen und dazwischen ein Ballon mit ihrem »Kapital«, wie sie sagt. Sie weint viel.
Ich gebe zu, ich war auf St. Pauli. Gestern, am Sonnabend, bin ich den ganzen Weg dorthin gegangen wegen einer fixen Idee. Ketty! Habe mir meine Strickmütze auf eine bestimmte Art schief auf den Kopf gesetzt und bin losgelaufen. Aber je näher ich kam, umso unwohler wurde mir. Ich dachte an Goldlöckchen. Wie einfach es doch sein kann, satt zu werden. Zum Glück (Pech?) war ich viel zu früh. Die Bars waren geschlossen oder leer, rochen nach kaltem Zigarettenrauch und ranzigem Bier. Ein Kerl trat mir in den Weg, eine Hure keifte mich an, ein Türsteher in roter Uniform wackelte mit dem Monokel und fragte: »Suchst du Arbeit?«
Da erst merkte ich, dass ich ein anderes Ziel hatte. Ich machte kehrt. Neuer Steinweg. Das hatte ich mir gemerkt. Redaktion »Der Pranger«. Ich kann schreiben, Ketty! (Bestimmt kann ich das.)
Was für eine Enttäuschung: Ein schlaksiger Kerl mit verkniffenem Mund und Nickelbrille paffte eine Zigarette hinter dem Schreibtisch. Ich hatte nicht damit gerechnet, einen Mann dort anzutreffen. »Ketty ist nicht hier. Sie spricht für die Partei in Bergedorf.« Er musterte mich. Mir kam es vor, als würde er mich durchschauen, etwas entdecken, das mir peinlich war.
An ein Brett an der Wand war ein Flugzettel geheftet: »Der ›Pranger‹ warnt! Mädchen und Frauen, hütet euch! Ein Frauenhasser geht um! Nicht genug, dass wir terrorisiert werden von der Doppelmoral der Bürger und Staatsschergen – jetzt treibt ein Schnitter sein Unwesen. Haltet die Augen auf! Gebt aufeinander acht! Schützt euch gegenseitig! Wir sind besonders gefährdet! Hinweise bitte sofort an die Redaktion.« Ich bekam eine Gänsehaut.
»Komm zur Sprechzeit«, sagte er und reichte mir eine Ausgabe der Zeitung, »dann ist sie hier.«
Er grinste säuerlich: »Pass auf dich auf. Der Schnitter ist ein Moralist.« Er hält mich für ein Kontrollmädchen.
Da musste ich an den Bibliothekar denken, an die Schnitte, die er mir zugefügt hat, und ein Grausen überfiel mich. Ich wurde ganz starr und taub. Bis der Kerl vor mich trat und laut rief: »He! Wach auf!« Ich sprang auf und eilte wortlos davon.
Das ist es!, denke ich jetzt, während ich dies schreibe: Der schlaksige Kerl erinnert mich aus irgendeinem Grund an den Bibliothekar. Sind es die Augen? Der Mund? Der bohrende Blick!
Ich bin nur knapp den Tschakos entronnen. Man wird übermütig. Das Kleid mit den Punkten, der Sommermantel, eine Baskenmütze – alles in Winterhude organisiert. Es ist nicht schwer, Klamotten zu stehlen, wenn du olle Fetzen hast, die du im Laden lassen kannst. Aber zwei Packungen Pumpernickel, eine Tüte Haferflocken und eine mit Äpfeln unter dem Mantel waren dann doch zu viel. Der Höker schrie: »Haltet sie fest!« Und schon trillerte ein Tschako, der in der Nähe stand. Ich rannte über die Straße. Noch ein Tschako. Rüber zum Gehweg. Trillerpfeifen. Zu viele Passanten. Ausgestreckte Arme. Aufgerissene Augen. Hässliche Missgunst. Grabschende Hände. Eine Matrone zerrte an meinem Mantel. Ich taumelte. Ein feister Bourgeois mit Homburg krallte sich an meinem Oberarm fest. Zum Glück kam die Tram den Tschakos in die Quere.
Und mir half Fortuna in ihrer männlichen Gestalt. Blonde Locken, spitze Nase, Nadelstreifen (ja, wirklich! Weste inklusive, und Krawatte!) – Jakob. »Kusinchen«, sagte er tadelnd zu mir. »Was machst du denn hier mit diesem Herrn?« Beäugte den Homburg und runzelte die Stirn: »Oder müssen wir fragen, was der Herr mit dir macht?« Ich wand mich gehörig und stöhnte, um zu signalisieren, dass mir Gewalt angetan wurde. Neugierige Blicke. »Na«, sagte Jakob und schaute über die Kreuzung, »zum Glück eilt der Arm des Gesetzes herbei.« Und zum Homburg: »Vergewaltigung einer Minderjährigen, mein Herr, das wird haarig!« Der Kerl war verblüfft und ließ mich los. Die Tram rumpelte vorbei. Die Tschakos näherten sich trillernd. Die beiden Pumpernickel-Päckchen fielen zu Boden. Der Homburg glotzte nach unten. Jakob gab ihm einen Stoß und er kippte über den Bordstein. Jakob bückte sich, hob die Päckchen auf und warf sie auf die Tschakos. »Vorsicht! Granaten!« Sie duckten sich. Jakob packte meinen Arm und zog mich weg. Wir rannten. Seitengasse, Durchgang, Bretterzaun, Lücke, Hinterhof, noch ein Zaun, Kellertür, Hausflur, Tür, Luft, Sonne, »Trottoir« (wie Jakob sich ausdrückte).
»Hör mal, minderjährig bin ich aber nicht!«
Er beäugte mich. »Achtzehn?«
»Einundzwanzig!«
Er lachte. »Wer’s glaubt.« Hat mich durchschaut, der dumme Junge.
»Gehen wir zu dir«, sagte er. »Meine Liebste hat mich vorläufig vor die Tür gesetzt.«
»Deine Liebste? Ich dachte, du bist …«
»Ja, ja, aber sie ist meine Busenfreundin … oder wie sagt man? Wir teilen uns ein Zimmer.«
(Das klang zweifelhaft in meinen Ohren.)
»Immer wenn sie obenauf ist, wird sie ein bisschen zickig. Ich glaube, es ist das schlechte Gewissen. Sie stammt aus einer schwerwiegend christlichen Familie schwedischer Lutheraner, wenn du verstehst? Man wird in der Wiege schon auf Schuld gebettet.«
»Die Prostitution ist eine notwendige soziale Institution der bürgerlichen Gesellschaft, ebenso wie Polizei, stehendes Heer, Kirche, Unternehmerschaft.« (Mit diesem Bebel-Zitat hatte ich meine Schande als »Gesellschafterin« kaschiert.)
»Wem sagst du das, meine liebe Augustine. Aber falsch geraten. Sie ist keineswegs im Horizontalen tätig.«
»Sondern?«
»Vertikal. Als Schlangenbeschwörerin.«
»Aha.« Ich nickte wissend. (Ich mochte seine Art, Unsinn zu reden.)
In meinem Kellerloch angekommen, verzog er keine Miene. Ich ging zu Nora und kochte ihr den Haferschleim. Theo war nach der Schule zu Nachbarn gegangen. Er ist neun Jahre und macht, was er will. Jemand hatte Nora Zwieback gebracht. »Wenn der Vater käme und den Jungen holte«, sagte sie, »dann könnte ich Schluss machen.«
Aus irgendeinem hässlichen Grund wurde sie mir unerträglich.
Jakob blieb über Nacht. Er sah plötzlich verschämt aus und sagte: »Ich weiß, wie wir ein sinnloses Techtelmechtel vermeiden können.« Er begann sich auszuziehen und schaute mich auffordernd an: »Na, los doch!« Wir tauschten unsere Kleider.
»Siehst du«, sagte er, nachdem er in meinem Kleid vor dem winzigen Spiegel posiert hatte und sich zu mir umdrehte: »Keine Gefahr. Denn du willst dich doch nicht dir selbst an den Hals werfen, oder?«
Sowieso nicht, dachte ich.