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In der aufgeladenen politischen Situation Anfang der 30er Jahre will Jennifer Stevenson die Hintergründe eines Skandals aufklären. Zwei Polizistinnen sind angeblich freiwillig in den Tod gegangen. Hielten sie die Machtkämpfe innerhalb der "Weiblichen Kriminalpolizei" nicht aus oder wurden sie ermordet? Die Nachforschungen führen Jennifer Stevenson von Hamburg nach Pellworm, wo die Leichen gefunden worden sind. Bald wird ihr klar, dass sie nicht die einzige Fremde auf der Insel ist ... Der Roman erzählt die wahre Geschichte eines Hamburger Polizeiskandals aus dem Jahr 1931, dessen Umstände nie aufgeklärt wurden.
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Seitenzahl: 279
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Robert Brack, Jahrgang 1959, lebt in Hamburg. Er wurde mit dem »Marlowe« der Raymond-Chandler-Gesellschaft und dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet. Zuletzt erschienen in der Edition Nautilus drei Romane über die politischen Verhältnisse in der Weimarer Republik: Und #das Meer gab seine Toten wieder beschreibt einen Polizeiskandal aus dem Jahr 1931, Blutsonntag befasst sich mit den Ereignissen im Juli 1932 in Altona, Unter dem Schatten des Todes beschreibt die Hintergründe des Reichstagsbrands 1933 in Berlin. Mit Die drei Leben des Feng Yun-Fat kehrt der Autor in die Gegenwart zurück und knüpft an seine drei Lenina-Rabe-Kriminalromane Lenina kämpft, Haie zu Fischstäbchen und Schneewittchens Sarg an. Weitere Abenteuer von Rabe & Adler sollen folgen.
Editorische Notiz: Der vorliegende Roman behandelt einen wahren Kriminalfall aus dem Jahr 1931 und versucht, die Hintergründe eines Hamburger Polizeiskandals aufzuklären. In Chroniken und Dokumenten sowie Büchern zur Polizeigeschichte der Hansestadt wird der Fall nur am Rande erwähnt oder fehlerhaft und unvollständig dargestellt. Die tatsächlichen politischen und persönlichen Umstände, die zum Tod von zwei Hamburger Polizistinnen, zur Amtsenthebung ihrer Vorgesetzten und der Auflösung der Abteilung »Weibliche Kriminalpolizei« führten, wurden von offizieller Seite nie vollständig aufgedeckt. Die hier beschriebene Ermittlung ist zwar fiktiv, hält sich aber weitestgehend an die vom Autor recherchierten Fakten. Zitierte Zeitungsartikel und Briefe sind im Originalton wiedergegeben. Wichtige Alltagsdetails wurden so korrekt wie möglich nachempfunden und historische Personen so dargestellt, wie es ihrer tatsächlichen Rolle im beschriebenen Fall entspricht.
Edition NautilusVerlag Lutz SchulenburgSchützenstraße 49 aD-22761 Hamburgwww.edition-nautilus.deAlle Rechte vorbehalten© Edition Nautilus 2008Umschlaggestaltung:Maja Bechert, Hamburgwww.majabechert.deTitelmotiv »Getting Aboard«,© Getty Images /Fox Photos / StringerAutorenfoto Seite 2:Charlotte GutberletFotos Seite 218:Robert BrackOriginalveröffentlichungErstausgabe Juni 2008Print ISBN 978-3-89401-574-9E-Book ePub ISBN 978-3-86438-003-7
PROLOG: VERWEHTE GESTALTEN
ERSTER TEIL: IM RÄDERWERK
– Kapitel 1 –
– Kapitel 2 –
– Kapitel 3 –
– Kapitel 4 –
– Kapitel 5 –
– Kapitel 6 –
– Kapitel 7 –
– Kapitel 8 –
– Kapitel 9 –
– Kapitel 10 –
– Kapitel 11 –
– Kapitel 12 –
– Kapitel 13 –
– Kapitel 14 –
– Kapitel 15 –
– Kapitel 16 –
ZWEITER TEIL: DIE SENSE SINGT
– Kapitel 17 –
– Kapitel 18 –
– Kapitel 19 –
– Kapitel 20 –
– Kapitel 21 –
– Kapitel 22 –
– Kapitel 23 –
– Kapitel 24 –
– Kapitel 25 –
DRITTER TEIL: DIE TOTSCHLÄGER UND DIE ABGÖTTISCHEN
– Kapitel 26 –
– Kapitel 27 –
– Kapitel 28 –
– Kapitel 29 –
– Kapitel 30 –
– Kapitel 31 –
– Kapitel 32 –
– Kapitel 33 –
EPILOG: EINE FRAUENSACHE
NACHBEMERKUNGEN
DANKSAGUNGEN
Wie schön wäre es, hier mit dir zu sterben? Unter dem weiten Himmel, am Ufer des endlosen Meeres. Wer würde uns holen? Die Wellen? Wer sonst? Die Erde tut sich nicht von allein auf. Und hier, in diesem Teil der Welt, bietet sie wahrhaftig keine zuverlässige Heimstatt. Allzu gierig nagen die Fluten an der mürben Scholle. Und der Himmel? Wer sollte von dort herabsteigen? Nur Möwen. Jemand sprach von Möwen. »Die sind wie Geier. Haben Sie mal eine Leiche gesehen, über die sich die Möwen hergemacht haben? Wie die aussieht? Erst gehen sie an die Augen …« Mich schauderte, als ich das hörte.
Haben die beiden daran gedacht, als sie sich auf das grüne Bett der Salzwiese jenseits des schützenden Deichs legten? Und wir? Wir wollen doch nicht als Möwenfraß enden, oder? Und überhaupt, warum denn sterben? Es wäre an der Zeit zu leben! Wenn du wolltest … nein, wenn ich wollte …
Es ist nicht der rechte Ort, an so etwas zu denken. Es ist viel zu kalt. Eisige Böen peitschen die kahlen Äste. Mich friert, meine Finger werden steif. Wartest du denn überhaupt auf eine Nachricht von mir?
»Das reife Feld, wer heimst es ein,
wer nimmt ihm seine Bürde ab?
Wer bringt’s zur Ruh im Abendschein,
bereitet ihm sein Wintergrab?«
So schrieb es der Dichter dieser Insel. Und so haben es die beiden Unglücklichen, die hier den Tod fanden, gelesen. Es ist ihr Buch. Die Wirtin aus der Pension, in der sie ihre letzte Nacht verbrachten, hat es mir gegeben. »Mehr haben sie nicht zurückgelassen. Sind nur Gedichte.«
Ein kleines, schmales Büchlein mit einem Blumenornament auf dem Einband. Bemalte Pappe, nichts weiter. Dünne bedruckte Seiten. Eine Widmung. Bemerkenswert daran ist, dass es zwei Widmungen sind, in zwei verschiedenen Handschriften: »Für Thesy!« und »Für Maria!«, geschrieben mit derselben Tinte, derselben Feder, wie es scheint. Das erste Gedicht trägt den Titel »Die zwei Sensen«:
»Und all die Blumen fallen mit,
die weiß und rot und gelb und blau,
erzittern vor dem Schnitterschritt,
wenn er beginnt im Morgengrau.«
Warum haben sie das Buch nicht mitgenommen? Sie haben doch sonst alles wohlgeordnet hinterlassen, sogar sich selbst – nebeneinanderliegend auf dem Vorland, ihr Handgepäck ordentlich abgestellt, zwei weiße Tücher über die Gesichter gebreitet. Wegen der Möwen? Es ist alles mehrfach beschrieben worden, aber niemand hat davon berichtet, ob sie sich an den Händen hielten. Gift, ja Gift, davon sprach man, auch von einer Pistole, vom Ertrinken, von Fesseln, aber nicht von den Händen, und ob sie während der letzten Sekunden einander festhielten. Haben sie die Grenze gemeinsam, im gleichen Moment überschritten, oder ging Thesy voran, so wie sie es immer tat, und zog Maria mit sich?
Und haben sie an die Fluten gedacht, an den unbändigen Sturm und die entfesselte Naturgewalt, die zwei Tage darauf die Insel überfiel? Bestimmt nicht. Es war ein strahlender Sommertag, als sie am Morgen fortgingen. Das Unwetter brach erst später los, »rauschende, schwarze, langmähnige Wogen kamen wie rasende Rosse geflogen«. Wäre es nicht besser gewesen, das Meer hätte sie verschlungen? Jetzt liegen sie in der Erde, auf demselben Friedhof, nur leider nicht nebeneinander. Im Tod getrennt. Das ist traurig.
Aber möglich wäre doch, dass alles ganz anders geschehen ist. Dieser Gedanke kommt mir immer wieder. Wie können zwei Menschen so lange an einer Stelle gleich hinter dem Deich liegen, ohne dass jemand sie bemerkt und etwas unternimmt? Wer sonnt sich denn tagelang in gleicher Pose am selben Ort? Vollständig bekleidet mitten im Sommer in der Julihitze? Und später, als der Sturm losbrach, hat da niemand an sie gedacht, an die beiden Frauen, die ihre Pension verlassen hatten, an den Strand gingen und nicht mehr zurückkamen?
Was, wenn sie gar nicht die ganze Zeit dort gelegen haben? Wenn jemand sie weggeholt und später wieder hingebracht hat?
Wer und warum, fragst du? Gibt es nicht genügend dunkle Gestalten in dieser Geschichte? Bin ich nicht auf der Flucht vor ihnen? Ach, ich wünschte, du wärst jetzt hier. Dann müsste ich mich nicht fürchten.
Vor ihm. Womöglich ist der, der mich sucht, schon auf der Insel. Wie soll ich mich vor ihm in Sicherheit bringen? Das Schiff fährt erst morgen früh.
Ich wage gar nicht, mir auszudenken, was geschieht, wenn er mit mir den Dampfer betritt. Jetzt im Winter kommen kaum Besucher auf die Insel. Es ist durchaus möglich, dass niemand außer uns zum Festland aufbricht. Wir wären die einzigen Passagiere an Bord!
Oder was soll ich tun, wenn er mir im Hotel auflauert? Er kann ganz ruhig im Gastraum sitzen, Bier trinken und warten, bis ich hereinkomme, um mir meinen Schlüssel zu holen. Die Zimmernummer hat er vielleicht schon erfragt …
Ich werde nicht öffnen, wenn es klopft!
Und wenn mir etwas geschieht? Dann musst du weitermachen! Klara, ich setze all meine Hoffnung auf dich, siehst du? Wenn ich mich nicht geniere, werde ich diese Zeilen in einen Umschlag stecken und am Postamt abgeben. Dann erfährst du alles.
Dort hinten kommen zwei verwehte Gestalten über den Deich, der frostige Wind zerrt an ihren Mänteln … Meine Hände sind starr, ich kann kaum noch schreiben …
Vor allem roch es nach verbrannter Kohle. Überall Rauch, vermischt mit Nebel, Eisbrocken trieben im schwarzen Wasser, Schneeflocken wirbelten durch die Luft. Durchdringendes Sirenengeheul, doch die Stadt im Dunst blieb unbeeindruckt von unserer Ankunft. Was bildeten wir uns auch ein? Ein zweiter Blick auf den Hafen zeigte uns die massigen Umrisse viel größerer Schiffe. Zwei Schlepper halfen beim Wenden zwischen Frachtern, Fähren und Barkassen. Wir fügten uns bescheiden zwischen zwei Ozeanriesen ein und machten an der Überseebrücke fest. Willkommen in Hamburg.
Eine Ankunft im Morgengrauen. Allein in der Fremde. Eine Mission.
Kein Grund, pathetisch zu werden, Jenny. Es war viel zu frostig für große Gefühle und dein Koffer zu schwer für tiefschürfende Gedanken.
»Siehst du«, sagte die kleine Anna, die neben mir über die Reling spähte, »jetzt sind wir nicht mehr grün im Gesicht.«
»Was für ein Glück.«
»Ja, grau siehst du viel besser aus. Tschüss, ich muss jetzt gehen.«
Ein flüchtiger Händedruck, ein angedeuteter Knicks und weg war sie.
Ein Blick über die Bordwand. Die ersten Passagiere betraten vorsichtig die Gangway. Es sind immer die Ängstlichen, die zuerst das Schiff verlassen.
Ich griff nach dem Koffer und ging von Deck.
Draußen auf dem Ponton fühlte ich mich klein als Teil des Auflaufs winziger Menschen neben den hoch aufragenden schwimmenden Stahlwänden. Ein langer eiserner Steg führte an Land.
»… man erwartet Sie gegenüber der Brücke … am Zeitungsstand unter der Hochbahn …«
Automobile fuhren vor und nahmen die wohlhabenden Reisenden auf. Jenseits der Hochbahn eine Tramhaltestelle, dahinter reckten sich mehrstöckige Häuser mit spitzen Giebeln in die Höhe. Ich stellte den Koffer ab, schlug meinen Mantelkragen hoch und schaute mich um. Die Frau im Zeitungsstand rauchte eine Pfeife und musterte mich argwöhnisch. Über mir rumpelten Waggons über die Eisenbrücke. Ein Mann trat auf mich zu, streckte die Hand aus. Er trug nicht mal einen Mantel, nur ein armseliges Jackett, darunter ein schmutziges Baumwollhemd, die Hosen so kurz, dass man die nackten Beine sah.
»Es tut mir leid, ich habe kein deutsches Geld.« Er stolperte vorbei, mit unbewegtem Gesicht. Einer von sechs Millionen Arbeitslosen in Deutschland an diesem Tag, dem 29. Februar, der das Jahr des Elends 1932 um vierundzwanzig Stunden verlängerte.
Ich erkannte die Frau an ihrem Hut. Natürlich trug sie keine Uniform, ihre Dienststelle war aufgelöst worden, es gab keine weiblichen Streifenbeamten mehr, aber der Hut erinnerte mich an meine Kolleginnen in England. Einen solchen Hut trägt eine Frau sonst nicht.
»Good morning«, sagte sie unbeholfen. »My name is Berta Winter.«
»Guten Morgen, Frau Winter. Ich bin Jennifer Stevenson von der International Policewomen’s Association. Ich freue mich, Sie kennenzulernen.«
Wir schüttelten uns die Hand.
»Oh, Sie sprechen Deutsch«, stellte sie erleichtert fest.
»Ein bisschen.«
»Ich bin die Einzige bei uns, die etwas Englisch beherrscht … deshalb hat man mich … Lernt man denn bei der englischen Polizei Fremdsprachen?«
»Nein. Eine Tante hat es mir beigebracht. Sie kam aus Hamburg.«
»Ach, dann sind Sie sozusagen eine Landsmännin?«
»Nein, nur die Tante.«
»Ach so.« Sie schaute auf meinen Koffer, offenbar unschlüssig, ob sie ihn tragen sollte. »Wir könnten die Straßenbahn nehmen, nur zwei Stationen … oder …«
»Zu Fuß wäre mir angenehm. Ich kann etwas Bewegung gebrauchen.«
Sie trat auf den Koffer zu. »Soll ich den …?«
»Nein, nein, ich glaube, das schaffe ich schon.« Ich hob mein einziges Gepäckstück an, um zu zeigen, dass es mir keine Mühe bereitete. Sicherlich war ich die Stärkere von uns beiden, wenn auch etwas kleiner als meine deutsche Kollegin, die schmal und schlank gebaut war, weshalb die schweren Schnürstiefel an ihren Füßen und der plumpe Hut nicht recht zu ihr passen wollten.
Berta Winter drehte sich um. Mein Blick fiel auf die Zeitungsverkäuferin. Sollte ich mich verabschieden? Immerhin hatte sie mich die ganze Zeit unverhohlen angestarrt. Ohne die Pfeife aus dem Mund zu nehmen, sagte sie: »English papers heb wi ook.« Und stieß eine Rauchwolke aus.
Ich dankte mit einem Kopfnicken und folgte meiner Gastgeberin über die Fahrbahn, durch größere Straßen und verwinkelte Gassen, bis wir vor einem schmalen, vierstöckigen Fachwerkhaus standen.
»Oben unterm Dachboden«, sagte Berta entschuldigend. »Groß ist es leider nicht. Aber ich kann uns Kaffee machen. Aus echten Bohnen.«
»Das gefällt mir gut.«
Über eine steile Stiege gelangten wir in ihre Wohnung. Einige Wände hatten Dachschrägen.
»Es ist ein Zimmer zu viel da … meine Mutter ist im letzten Jahr verstorben …«
Sie zeigte mir eine schlicht eingerichtete Küche, ein Wohnzimmer, das sie erst aufschließen musste, ein Schlafzimmer mit einem düster wirkenden mächtigen Doppelbett und eine Kammer, in der kaum mehr als Tisch, Stuhl, Bett und Kommode Platz fanden. Es ging nach hinten hinaus und hatte nur ein sehr kleines Fenster. An der sonst kahlen Wand ein Bild mit Blumen. Über dem Tisch ein schmales Regal mit Büchern. »Eigentlich war das immer mein Zimmer … aber jetzt …«
Ich stellte meinen Koffer ab. »Es ist schön.«
»Sicher etwas eng.«
Ich trat ans Fenster. Unten im Hinterhof waren lange Bretter aufgeschichtet, Arbeitsgeräte standen herum. Ich hatte das Firmenschild einer Tischlerei am Nebenhaus bemerkt.
»Wenn die da unten zu laut hämmern, muss man schreien, dann kuschen sie schon«, sagte Berta und hob unvermittelt meinen Koffer hoch, um ihn auf das Bett zu werfen.
»Danke«, sagte ich erstaunt.
»Ich mach uns mal einen Kaffee. Die Toilette ist eine halbe Treppe tiefer. Der Schlüssel liegt oben auf dem Türrahmen, damit sich die Kinder nicht andauernd einschließen …«
»Gut, vielen Dank.«
Der Kaffee, den sie mir dann in ihrer kleinen Küche servierte, war bestimmt der Beste, den ich je getrunken hatte. Leider blieb es bei diesem einen Mal.
Wir unterhielten uns über dies und das. Ich erzählte ein bisschen von Tante Elsi, die von meinem Onkel Jack, einem schottischen Matrosen, nach Glasgow gebracht worden war. Er hatte versprochen, mit ihr nach Amerika auszuwandern. Aber dann sind sie in Schottland geblieben. Er trank und sie »verdorrte so langsam«, wie sie sich ausdrückte. Dass sie vom »Hamburger Berg« stammte, wie sie St. Pauli immer nannte, verschwieg ich Berta, obwohl ich annehmen durfte, dass wir als Kolleginnen keine Vorurteile kannten.
»Für Tante Elsi ist Hamburg die schönste Stadt der Welt. Und Glasgow die Hölle«, erzählte ich.
»Warum kommt sie dann nicht zurück?«
»Sie ist verheiratet und mittellos …«
»Sklaverei«, sagte Berta.
»Sie hat mich erzogen, nachdem meine Mutter starb. Seit ich in London bin, schicke ich ihr Briefe. Aber es kommt nie einer zurück.«
»Vielleicht hätten Sie sie mitnehmen sollen.«
Du hast es nicht bemerkt, Berta, aber was du da gesagt hattest, rührte mich sehr. Warum bin ich nie selbst auf diesen Gedanken gekommen?
Nach einer Weile kamen wir endlich auf den Grund meiner Reise zu sprechen.
»Es ist doch längst zu spät«, sagte Berta. »Unsere Dienststelle ist aufgelöst.«
»Mag sein, aber warum?«
Sie legte das Messer beiseite, mit dem sie sich ein Butterbrot geschmiert hatte.
»Warum? Aber wisst ihr das in England denn noch nicht? Zwei unserer besten Polizistinnen haben … sind ums Leben gekommen!«
»Selbstmord, heißt es.«
»Dann wisst ihr es also doch.«
»Ja, sicher, aber warum wird eine ganze Dienststelle aufgelöst, wenn zwei Beamtinnen sich umbringen?«
»Weil es nicht mehr ging! Unsere Chefin steht doch unter Anklage! Sie darf die Abteilung nicht mehr leiten. Und wer sollte es sonst tun? Thesy, also Therese Dopfer, war ihre Stellvertreterin, aber sie ist ja nun tot. Erst hat der Forster von der Sitte die Leitung übernommen. Aber dann wurden alle auf verschiedene Abteilungen verteilt.«
»Das ist es ja eben, was uns wundert. Josephine Erkens, die international anerkannte Expertin, die Bahnbrechendes auf dem Gebiet der weiblichen Kriminalpolizei geleistet hat, wurde ihres Amtes enthoben und einem Disziplinarverfahren unterzogen. Warum?«
Berta sah mich unglücklich an, vielleicht war ich zu aufbrausend geworden.
»Das … das weiß ich nicht.«
»Macht man sie für den Tod ihrer Untergebenen verantwortlich?«
»Ja … nein … ich weiß nicht. Sie hatte doch immer Scherereien mit den Vorgesetzten.«
»Nur weil eine Beamtin Konflikte mit ihren Vorgesetzten hat, wird doch nicht eine ganze Abteilung aufgelöst!«
Berta blickte verlegen um sich, schaute durchs Fenster in den stahlgrauen Himmel. Aus Schornsteinen quoll gelber Qualm und stieg träge nach oben. Sie zog ein Taschentuch aus dem Ärmel ihres dunkelblauen Kleids, schnäuzte und tupfte sich die Augenwinkel.
»Es ist alles so schrecklich schiefgelaufen. Dabei hatte es wunderbar angefangen.« Sie seufzte. »Es war, wie wenn man unter Freunden arbeitet. Zuerst waren wir ganz wenige, nur fünf Beamte, Frau Erkens und Thesy und Maria Fischer und zwei Männer. Und wir Angestellten – ich habe als Schreibkraft angefangen. Wir hatten die schönste Dienststelle im ganzen Stadthaus. Blumen am Fenster, Blumen auf den Schreibtischen, in der Ecke Kinderspielzeug, Bilderbücher, Stofftiere, Puppen. Wenn Frauen mit Kindern kamen, haben wir uns gekümmert und ihnen was zum Spielen gegeben. Wir haben nicht nur Anzeigen aufgenommen oder Protokolle geführt, wir haben junge Mädchen beraten und Frauen in Not geholfen. Es ging ja nicht nur um Verbrechen … Jeder konnte sich mit jedem besprechen, auch mit den männlichen Beamten. Es herrschte ein großer Gemeinschaftsgeist. Einmal in der Woche gab es großen Kaffeeklatsch.« Sie lächelte wehmütig. »Und Frau Erkens und Thesy Dopfer waren ein Herz und eine Seele. ›Mein Goldschatz‹ hat Frau Erkens immer zu ihr gesagt. Aber irgendwann war dann alles anders. Da sind sie dann aufeinander losgegangen wie die Furien.«
»Aber das kann doch nicht über Nacht gekommen sein.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Es ist einfach passiert und jetzt ist es eben vorbei. Und ganz bestimmt ist Frau Erkens nicht unschuldig an alledem.«
»Ich habe Frau Erkens in London auf einer Tagung kennengelernt. Dort machte sie einen überaus liebenswerten, ernsthaften und kompetenten Eindruck. Sie hat viel Beifall bekommen.«
»Dann hast du dich eben auch von ihr blenden lassen!«, stieß Berta wütend hervor und hielt sich vor Schreck die Hand vor den Mund. »Entschuldigen Sie bitte.«
»Ist schon gut. Aber ich glaube, wir können ruhig beim Du bleiben.«
Berta lächelte zaghaft. »Nur unter einer Bedingung: Ich muss nichts mehr zu dieser furchtbaren Sache aussagen. Die anderen wissen auch viel besser Bescheid.«
»Ich darf doch gar keine Aussagen offiziell aufnehmen. Aber ich habe die Absicht, eine Menge Fragen zu stellen, und wäre dir sehr dankbar, wenn du mich jetzt zur Polizeizentrale bringen könntest.«
Ich stand auf, nun hatte ich es eilig. Auch nach zwei Butterbroten hatte ich noch Appetit, zu Hause war ich ein anderes Frühstück gewöhnt. Möglicherweise kamen wir auf dem Weg an einer Schlachterei vorbei, wo die berühmten deutschen Würste verkauft wurden.
»Vielleicht erwartet man mich ja schon«, fügte ich hinzu, um mein Hungergefühl zu kaschieren.
»Das glaube ich eher nicht«, sagte Berta.
Bis zur Polizeizentrale im Stadthaus war es nicht weit. In einer kleinen Sparkassenfiliale konnte ich deutsches Geld eintauschen. Dann betrat ich zum Erstaunen von Berta einen Fleischerladen und kaufte zwei Wiener Würstchen. »Immer mit fettigen Händen zum Dienst«, lästerten meine Kolleginnen in London manchmal.
Berta war recht einsilbig. Vielleicht war ihr der Gefühlsausbruch am Küchentisch peinlich. Im Stadthaus führte sie mich über Treppen und Korridore zum Büro von Dr. Schlanbusch, dem stellvertretenden Polizeipräsidenten, dem vier Jahre lang die Abteilung der Frauenpolizei unterstellt gewesen war. Der Vorstand der International Policewomen’s Association hatte ihm mein Kommen angekündigt.
Mit jedem Schritt schien Berta langsamer zu werden. Ich machte einen Scherz über die endlosen Flure, unter denen wir auch in London zu leiden hätten, aber sie erwiderte nichts. Schließlich blieb sie stehen, klopfte an eine Tür und trat beiseite. Es war klar, dass sie nicht mit hineingehen wollte.
Eine Frauenstimme rief: »Ja, bitte!«, und ich trat ins Vorzimmer. Eine hübsche Blondine, ein bisschen älter als ich, schaute von ihrer Schreibmaschine auf. Ich stellte mich vor. »Good Morning«, sagte sie lächelnd. Dann hielt sie ratlos inne. Ich beeilte mich, deutsch zu sprechen.
Sie stand auf. In ihrem grauen Kostüm machte sie einen sehr adretten Eindruck. »Herr Dr. Schlanbusch ist wie immer in Eile. Aber ich will mal sehen, ob er schnell Zeit für Sie hat.« Ich hatte mir eigentlich mehr erhofft als nur ein kurzes Gespräch, erwiderte aber nichts. Es war besser, nicht gleich zu hohe Forderungen zu stellen. Die Blonde klopfte an die Tür zum Nebenzimmer, man hörte ein herrisches »Herein!«, und ich bemerkte, wie sie sich duckte, als sie die Klinke drückte. Sie nannte leise meinen Namen.
»Soll reinkommen!«
Und schon stand ich vor seinem Schreibtisch. Dr. Schlanbusch erhob sich. Recht schmale Schultern für seine Körpergröße, aber breite Hände. Offenbar war er sich unschlüssig, ob er sie mir reichen sollte und entschied sich dann, es nicht zu tun. Stattdessen sah er mich nur fragend an.
»Die Dame spricht deutsch«, versicherte die Sekretärin.
»Nun gut.« Er musterte mich eher nachlässig und trat hinter dem Schreibtisch hervor. »Sie haben eine weite Reise gemacht. Sie werden enttäuscht sein. Die Dienststelle, die Sie in Augenschein nehmen wollen, existiert nicht mehr.«
»Das ist doch der Grund, weshalb man mich geschickt hat.« »Man hat Sie geschickt?« Er hüstelte, ging an mir vorbei und tat so, als würde er im Aktenschrank nach etwas suchen.
»Ich bin im Auftrag der International Policewomen’s Association hier. Der Polizeisenator hat uns brieflich Unterstützung zugesagt.«
»Ah!«, rief er gequält und fügte leise hinzu: »Da hat Schönfelder sich wieder von den Blaustrümpfen breitschlagen lassen.« Er warf einen Blick durch die offen stehende Tür zu seiner Sekretärin, die diesen Ausspruch wohl mithören sollte. Sie tat so, als ginge sie das alles nichts an, und wandte sich wieder ihren Papieren zu.
»Die I.P.A. sorgt sich sehr um das Schicksal von Frau Josephine Erkens. Darüber hinaus sind wir bestürzt über die Entwicklungen in Deutschland und fragen uns, wie es zur Auflösung der Frauenpolizei kommen konnte. Die Hamburger Abteilung galt doch bis vor Kurzem international als vorbildlich.«
»Man sorgt sich in England um unsere Polizei?« Schlanbusch tat weiter so, als sei die Suche nach einem Ordner in seinem Schrank wichtiger als das Gespräch mit mir.
»Frau Erkens hat eine Pionierleistung vollbracht, sie gilt als Kapazität auf ihrem Gebiet, da ist es doch naheliegend, dass …«
»Pionierleistung, gewiss doch«, sagte er zerstreut. »Natürlich, Sie haben ganz Recht. Es ist durchaus verständlich, dass Sie sich dafür interessieren. Nur kann ich Ihnen leider nicht helfen.« Er zog eine Akte aus dem Schrank und klemmte sie unter den Arm. »Sie wenden sich am besten direkt an Herrn Senator Schönfelder.«
»Aber es war doch Ihre Abteilung, Herr Doktor …«
»Sie sprechen zu Recht in der Vergangenheit, Fräulein Stevenson. Da meine dienstlichen Verpflichtungen, im Gegensatz zu denen von Frau Erkens, dennoch nicht beendet sind, muss ich mich jetzt leider um wichtigere Angelegenheiten kümmern.« Er deutete ins Nebenzimmer, um mir den Vortritt zu lassen.
Die Blonde schaute mich mitleidig an. Einen Moment lang war ich fassungslos. Wie konnte er mich derart abkanzeln? Ich war doch die offizielle Abgesandte einer bedeutenden internationalen Organisation!
»Sagen Sie Campe Bescheid, dass ich auf dem Weg bin«, sagte Schlanbusch zu seiner Sekretärin, die sofort zum Hörer griff.
Zu Hause hieß es immer, »schick Jenny hin«, wenn es darum ging, besonders harte Nüsse zu knacken. Aber hier, im fremden Land …
»Das trifft sich gut«, sagte ich eifrig. »Herrn Campe wollte ich ohnehin aufsuchen.«
Schlanbusch, der schon das Vorzimmer durchquert hatte, wandte sich noch mal um: »Fräulein Stevenson, wenn ich bitte Ihren Dienstgrad erfahren dürfte!«
»Inspector Stevenson, Sir.«
»Fräulein Inspektor, ich möchte Sie dringend bitten, sich Ihrem Rang entsprechend zu benehmen. Sollten Herr Polizeipräsident Campe oder ich die Notwendigkeit sehen, Sie sprechen zu wollen, werden wir Ihnen das mitteilen! Ansonsten kann ich Ihnen nur raten, sich persönlich an den Senator zu wenden. Er trägt die politische Verantwortung.«
Er verließ das Büro und durchmaß mit weit ausholenden Schritten den Korridor, bevor er um die nächste Ecke verschwand.
Die Sekretärin war rot geworden und stammelte: »Das tut mir leid, Fräulein Inspektor.«
»Bei uns geht’s auch nicht anders zu.«
»Kann ich Ihnen weiterhelfen?«, fragte sie.
»Wer kommt denn als Nächstes hinter Schlanbusch in der Hierarchie?«
»Dr. Blecke ist sein Stellvertreter. Sein Büro ist gegenüber.«
»Danke.«
Ich war noch keine zwei Schritte aus Schlanbuschs Vorzimmer getreten, als Berta Winter neben mir auftauchte.
»Fertig?«, fragte sie.
Bis jetzt hatte ich doch noch gar keine Gelegenheit gehabt anzufangen.
»Ich klopfe mal dort drüben an.«
»Ach so.« Berta blieb stehen.
Ich hätte nichts dagegen gehabt, dass sie mich begleitet. Aber sie zog es vor, weiter im Hintergrund zu bleiben.
Dr. Blecke sprang von seinem Schreibtisch auf, als er hörte, wo ich herkam, und schüttelte mir die Hand. Er war noch recht jung, konnte kaum dreißig Jahre alt sein. Seine Hände waren glatt und manikürt, das Haar allerdings war schon etwas schütter geworden. In fehlerfreiem Englisch bot er mir einen Stuhl an, rückte sich einen zweiten zurecht und machte Konversation. Auf das eigentliche Thema kam er nicht zu sprechen. Wenn ich versuchte, es anzuschneiden, lenkte er ab und fragte mich über meine Arbeit in London aus. Er wand sich wie ein Aal, bis ich es andersherum versuchte. Ich bat ihn, mir einen Termin bei Senator Schönfelder zu verschaffen.
»Ausgeschlossen!«, sagte er. »Sie sind zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt in die Stadt gekommen. In acht Wochen wird die Bürgerschaft neu gewählt!«
Er begann, mir die schwierigen Machtverhältnisse in der Stadt auseinanderzusetzen, klagte über den wachsenden Einfluss der Kommunisten und Nationalsozialisten und die vielen gewalttätigen Kundgebungen. Irgendwie gelang es mir dann doch noch, das Gespräch wieder auf das eigentliche Thema zu lenken.
»Der Fall Erkens?«, sagte er. »Hier geht es doch nur noch um beamtenrechtliche Aspekte. Es handelt sich um ein ganz gewöhnliches Disziplinarverfahren …«
Wieso dann trotzdem die ganze Abteilung aufgelöst werden musste, wollte ich fragen, da wurde die Tür aufgerissen, und die blonde Sekretärin aus Schlanbuschs Büro hastete herein. »Entschuldigen Sie bitte, Herr Dr. Blecke, aber es ist …«
»… hoffentlich dringend.« Blecke rückte amüsiert die Brille zurecht.
»Ja, das Büro von Senator Schönfelder hat angerufen …« Sie blickte auf mich, unschlüssig, ob sie weitersprechen durfte, und strich sich nervös den Rock glatt. »Frau Erkens …«
»Ja?«
»… ist in den Hungerstreik getreten.«
Dr. Blecke starrte sie eine Weile schweigend an, runzelte die Stirn und schüttelte ganz sachte den Kopf. »Diese Frau ist eine wahre Zumutung.«
Die Sekretärin beugte sich vor und senkte die Stimme: »Außerdem ist da noch …«
Sie brach ab. In der Tür erschien eine merkwürdige Gestalt. Zuerst hielt ich sie für einen jungen Mann, aber es war eine Frau in Anzug und Herrenmantel, mit einer Schiebermütze, unter der schwarze Locken hervorquollen.
»Wo ist Schlanbusch?«, fragte sie mit rauchiger Stimme.
Dr. Blecke sprang auf. »Was wollen Sie denn hier? Scheren Sie sich raus! Auf der Stelle!«
Die junge Frau grinste. Recht überheblich, wie mir schien.
Mit einem Aufschrei sprang die Sekretärin zur Tür, knallte sie zu und blieb wie ein Wachposten davor stehen. Es wirkte so linkisch, dass ich beinahe gelacht hätte.
»Danke«, sagte Dr. Blecke ernst. »Miss Stevenson, ich fürchte, ich kann jetzt nichts weiter für Sie tun. Unter den gegebenen Umständen muss ich Sie bitten zu gehen …«
Als ich in den Flur trat, war der Lockenkopf mit der Schiebermütze verschwunden. Nur Berta Winter stand brav da und wartete auf mich.
»Weißt du, wo Frau Erkens wohnt?«, fragte ich.
»Nicht genau.«
»Dann versuch doch bitte, es herauszufinden.«
Berta blieb unschlüssig stehen. Aber ich hatte schon etwas über die hiesigen Verhältnisse gelernt.
»Welchen Dienstgrad hast du, Berta?«
»Kriminalobersekretärin.«
»Als Inspektorin bin ich dir übergeordnet. Also finde jetzt die Adresse heraus, ja?«
Vor der Haustür stand ein Polizeiposten. Auf dem Gehweg wartete ein gutes Dutzend Personen, Männer mit hochgeschlagenen Mantelkrägen. Ihr dampfender Atem vermischte sich mit Zigarettenrauch. Wir wurden gemustert, taxiert, argwöhnisch beäugt, man versuchte, uns einzuordnen.
Der Polizist fragte, ob wir im Haus wohnten. Berta Winter zeigte ihre Polizeimarke und erklärte, wer ich sei. Er schien das nicht ganz zu verstehen und zögerte, uns einzulassen. Als sie meinen Dienstgrad nannte, nahm er Haltung an, als sie den Namen Dr. Schlanbusch erwähnte, öffnete er die Tür und ließ uns ins Treppenhaus.
Wir kamen nur bis vor die Wohnungstür. Auch hier wieder ein Polizist.
»Die Klingel ist abgestellt. Klopfen nützt nichts.«
Über dem Briefschlitz ein Messingschild: J. Erkens, Reg.-Rat. »Aber die Dame ist extra aus England gekommen«, versuchte Berta Winter sich für mich einzusetzen. »Sie gehört zur internationalen Vereinigung der Polizistinnen. Frau Erkens ist dort Mitglied. Sie wird sicherlich ein großes Interesse haben, mit der Inspektorin zu sprechen.«
Dieser Polizist war nicht so leicht zu beeindrucken. »Die Ärztin hat jeden Besuch untersagt. Wenn Sie zu lange klopfen oder zu laut, muss ich einschreiten. Frau Regierungsrätin Erkens muss das Bett hüten. Sie ist geschwächt.«
Wir klopften an die Tür, aber es tat sich nichts.
»Wer ist sonst noch bei ihr?«
Der Polizist schwieg.
»Sind Sie ihre Leibgarde oder ihr Gefängniswärter?«, fragte ich.
»Ich bin hier, um Aufruhr zu vermeiden.«
»Wo sehen Sie denn Zeichen für einen Aufruhr?«
»Die Presseleute draußen. Die Meute war schon hier oben. Wir haben sie rausgeschafft.«
»Zu zweit?«
Er schaute demonstrativ nach oben. Ich folgte seinem Blick und entdeckte ein Stockwerk höher vier weitere Köpfe mit Tschakos, die auf uns herabblickten.
»Ihre Chefin wird ja gut bewacht«, sagte ich zu Berta.
»Sie ist nicht mehr meine Chefin«, entgegnete sie barsch.
Wir stiegen nach unten. »Bezeichnend, dass sie nur Männer zu ihrer Bewachung eingeteilt haben«, stellte ich fest.
Berta schwieg. Wir traten nach draußen, und wieder nahm der Posten Haltung an.
Die Reporter sahen uns und rückten auf uns zu. Aber es war allen klar, dass wir in der kurzen Zeit nicht viel erreicht haben konnten.
»Auch wieder Männer. Im Belagern sind sie wirklich gut«, sagte ich.
Berta schaute mich verständnislos an.
In diesem Moment entdeckte ich ein Gesicht in der Gruppe, das mir bekannt vorkam. Ein hübsches Gesicht, wie ich jetzt feststellte, auch wenn es recht burschikos eine Zigarette paffte. Flüchtig betrachtet war sie von den Männern kaum zu unterscheiden. Aber es war die junge Frau mit den schwarzen Locken, die im Stadthaus nach Schlanbusch gefragt hatte. Sie drängte sich zwischen den anderen hindurch, um zu uns zu gelangen. Man ließ sie gewähren.
»Wer sind Sie eigentlich?«, fragte sie, als sie mir gegenüberstand.
Berta trat einen Schritt zurück und suchte Schutz hinter meinem Rücken.
Die Frau mit der Schiebermütze war ein bisschen größer als ich, aber kleiner als die meisten der umstehenden Männer.
»Mein Name ist Jennifer Stevenson. Ich bin Polizeiinspektorin aus London.«
Und schon hatten die meisten Reporter ihre Notizblöcke und Bleistifte gezückt. Sie nicht. Sie warf dem neben ihr stehenden untersetzten Kollegen einen abschätzigen Blick zu, als könne sie nicht glauben, dass es etwas Wichtiges zu stenografieren gab.
»Darf man fragen, was Sie hier zu suchen haben?«
»Diese Frage gebe ich gern an Sie zurück.«
Sie zog an ihrer Zigarette und paffte mir den Rauch ins Gesicht. »Wir tun unsere Arbeit. Wir suchen nach der Wahrheit … oder was wir dafür halten …«, sie deutete auf den kleinen Dicken neben sich, »… oder was wir dazu machen«, sie zeigte auf einen hageren Mann mit dünnem Oberlippenbart, der verächtlich auf sie herabsah.
»Sie werden es schon noch lernen«, sagte er.
»Was denn bitte?«
»Dass Röcke besser zu Frauen passen als Hosen.« Er deutete zum Haus von Frau Erkens. »Man sieht ja, was geschieht, wenn Frauen Männerrollen übernehmen. Sie brechen zusammen. Frau Erkens ist das beste Beispiel. Da können Sie sehen, wohin es führt. Sie werden genauso enden.«
»Sie haben wirklich eine reizend ungelenke Art, vom wahren Sachverhalt abzulenken«, entgegnete sie.
»Der wahre Sachverhalt«, erklärte der Dicke neben ihr, »ist ja wohl, dass es sich bei der Weiblichen Kriminalpolizei um eine Art Selbstmörderklub gehandelt hat. Erst gehen zwei ins Wasser, und dann fängt die dritte an, sich totzuhungern.«
»Ich würde mal eher sagen, dass es sich bei der Schönfelder-Polizei um einen Mörderklub handelt«, rief sie laut aus.
Der Dicke lachte vor sich hin: »Jetzt geht das wieder los.«
»Ich verbitte mir derart beleidigende Bemerkungen!«, sagte ein anderer Mann, der als einziger unter den Reportern keinen Hut, sondern eine Mütze trug – genau wie die streitlustige junge Frau. »Bei den Todesfällen auf Pellworm im letzten Jahr handelte es sich eindeutig um Selbsttötungen.«
»Na bravo, Genosse Einfalt, du hast wohl den geheimen Obduktionsbericht gelesen?«
»Es gibt doch keinen geheimen Obduktionsbericht!«
»Nee? Also gibt es gar keinen.«
»Was spielt denn das für eine Rolle? Ich kann eins und eins zusammenzählen. Im Übrigen ist die Sache längst ad acta gelegt.«
»Unter den Teppich gekehrt! Hat es eine polizeiliche Ermittlung gegeben? Nein! Wurden die Widersprüche aufgeklärt? Nein! Wurden die Hintergründe aufgedeckt? Nein!«
»Welche Hintergründe denn?«
»Die wahren Motive, warum die beiden Frauen auf Pellworm ermordet wurden!«
»Ermordet? Sie machen sich ja lächerlich.«
»Lächerlich machen sich die Abgeordneten Ihrer Partei im Polizeiuntersuchungsausschuss der Bürgerschaft. Lächerlich machen sich Schönfelder und Campe, die die ganze Zeit verzweifelt versuchen, die Wahrheit zu vertuschen. Und das Ergebnis dieser feigen Politik ist, dass wir jetzt bald ein drittes Opfer zu beklagen haben! Und wer lacht sich ins Fäustchen? Dr. Schlanbusch und seine Hintermänner, die in Wahrheit die Polizeibehörde unter Kontrolle haben.«
»Jetzt machen Sie aber mal einen Punkt!«
»Der Punkt, Genosse Sozialfaschist, ist, dass …«
»Nehmen Sie das zurück!«
»Nein.«
»Doch! Auf der Stelle!«
Der Dicke neben mir lachte: »Die Volkszeitung und das Echo. Wie Hund und Katze, hm?«
»Was ist denn mit den beiden?«
»Enttäuschte Liebe, könnte man sagen.«
»Wohl eher Inzucht«, kommentierte der Hagere, »die beiden kommen doch aus demselben Stall.«
»Nimm es zurück!«, schrie der Mann mit der Mütze und hob drohend die Faust.
»Na los!«, rief die Frau. »Auf Arbeiter einschlagen, das könnt ihr doch! Auf Arbeiterinnen, das wäre ja noch mal eine Steigerung!«
Wer weiß, wie der Streit geendet hätte, wenn nicht im zweiten Stock ein Fenster aufgegangen wäre.
»Frau Erkens will eine Erklärung abgeben!«, rief eine ältere Dame mit dünner Stimme den Reportern zu. Vielleicht war das ja die Ärztin, die sich um sie kümmerte.
Alle rannten zur Haustür, schoben den Polizisten beiseite und drängten ins Treppenhaus. Ich wollte schon hinterher, da hielt die Frau mit der Schiebermütze mich zurück.