Die Toten von St. Pauli - Robert Brack - E-Book

Die Toten von St. Pauli E-Book

Robert Brack

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Beschreibung

Hamburg-St. Pauli 1920. Kriminaloberwachtmeister Alfred Weber bekommt eine Nachricht aus Magdeburg: Aus der dortigen Irrenanstalt ist eine Frau verschwunden, man vermutet sie in Hamburg. Greta Wehmann sei gefährlich, wird Weber gewarnt. Gleichzeitig wird am Ufer der Elbe ein Koffer mit grausigem Inhalt angeschwemmt - die zerstückelte Leiche eines Kindes. Und sie bleibt nicht die einzige. Während sein Vorgesetzter die "Irre" aus Magdeburg verdächtigt, kommt Weber diese Lösung zu einfach vor. Und je mehr er sich Greta Wehmann annähert, umso weniger glaubt er an ihre Schuld. Doch die Last der Indizien scheint erdrückend ...

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Das Buch

1920: Die 19-jährige Greta Wehmann ist aus der Provinz nach Hamburg gekommen und zieht auf der Suche nach Arbeit durch die Straßen von St. Pauli. Wo immer sie beschäftigt wird, kommt es zu Vorfällen, an die sich Greta hinterher nicht erinnern kann. Sie erwacht aus ihren Absenzen mit blutigen Händen.

Gleichzeitig werden in der Hafengegend Kinderleichen gefunden. Zunächst in einem Kohlenkeller, dann in einer Kiste im Fleet, später treibt ein Koffer mit grausigem Inhalt bei Altona in der Elbe. Mütter haben Angst um ihre Kinder, die Armen in den Elendsvierteln fühlen sich von den Polizeirazzien gegängelt. Eigenartig aber ist, dass niemand die toten Babys als vermisst gemeldet hat.

Kriminal-Wachtmeister Alfred Weber hat den Auftrag, eine junge Frau zu suchen, die aus einer Anstalt in der Nähe von Magdeburg geflüchtet ist und deren Spur in die Hansestadt führt – Greta Wehmann. Sein Vorgesetzter mahnt ihn zur Vorsicht, das Mädchen sei eine gewalttätige Irre, in deren Vergangenheit es eine schreckliche Bluttat gegeben habe. Weber jedoch vertraut seiner Intuition, die ihm sagt: Greta Wehmann ist keine Mörderin. Doch wie soll er ihre Unschuld beweisen, wenn alle Indizien gegen sie sprechen?

Der Autor

ROBERT BRACK

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ISBN 978-3-8437-1207-1

Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch

1. Auflage Februar 2016

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2016

»In der Nacht geschah das erste einer Reihe sonderbarer Verbrechen.«

Das Cabinet des Dr. Caligari

Erstes Kapitel:

ABSCHIED

Das war doch kein Blut? Greta streckte die Hände aus und schaute sie genau an. Dann drehte sie sie um und untersuchte die Handflächen, hielt sie dicht vors Gesicht. Man wusste ja nie. In diesen Handlinien konnte sich etwas festsetzen oder zwischen den Fingern, in den kleinen Falten an den Gelenken. Immer wieder drehte sie die Hände um und starrte sie an. Diese rosige Farbe, könnte die nicht auf etwas Verdächtiges hindeuten?

Der Mann mit dem kaputten Gesicht, der neben ihr auf dem Kutschbock saß, schnalzte mit der Zunge. »Was gibt’s denn da zu sehen? Stimmt was mit Ihren Händen nicht, Fräulein?«

»Oh … da ist nichts.« Greta schob ihre Hände hastig in die Manteltaschen. Der Stoff fühlte sich rau und kratzig an. Vielleicht lag es auch daran, dass ihre Haut nach dem vielen Waschen empfindlich geworden war.

»Wenn ich so schöne Hände hätte, würde ich sie vielleicht auch andauernd anstarren«, sagte der Mann mit dem kaputten Gesicht.

»Vielen Dank«, erwiderte Greta leise und schaute sich um. Abgeerntete Felder, dazwischen Wiesen, hier und da Gerüste mit Heu zum Trocknen.

»Ich hab keine Spiegel mehr zu Hause«, sagte der Mann. »Musste immer weinen, wenn ich hineingeschaut habe. Hab sie alle abgehängt. Sogar zerschlagen. Und dabei nicht bedacht, dass jeder Mensch dem anderen ein Spiegel ist. Ich sehe es in ihren Augen. Das trifft mich immer wieder hart. Deswegen bin ich froh, dass ich meistens nur mit meinen Pferden zu tun habe.« Er ließ die Peitsche knallen, als der Braune langsamer wurde. »Denen ist es wohl egal, wie ich aussehe. Wer weiß schon, was ein Pferd sieht, wenn es einen Menschen anschaut.«

Er griff in die Innentasche seiner zerschlissenen Uniformjacke. Da, wo mal die Rangabzeichen aufgenäht gewesen waren, konnte man noch die losen Fäden sehen. Er holte die Schnapsflasche hervor. Nahm einen großen Schluck, stöhnte auf und steckte sie wieder ein.

»Wer mich zum ersten Mal anguckt, kriegt es meist mit der Angst zu tun. Das hab ich schon tausendmal erlebt. Nur bei Ihnen, Fräulein, da war das anders. Sie sahen aus, als wären Sie froh, mich zu sehen, also das hier.« Er tippte mit dem Zeigefinger gegen seine verunstaltete Gesichtshälfte und fügte leise und mehr zu sich selbst hinzu: »Hab ich noch nie erlebt … dass jemand erleichtert war, meine Fratze zu sehen …« Und lauter sagte er: »Sie sind ein Phänomen, Fräulein, ein Phänomen.« Er griff erneut in die Jackentasche und nahm einen Schluck aus der Pulle.

Ja, dachte Greta, er hat recht, ich bin wirklich ein Phänomen.

Der Kopf des Kutschers sank herab, und er verfiel wieder in diesen stummen Halbschlaf, den Greta schon kannte. Sein Körper schaukelte im Rhythmus der Pferdehufe hin und her.

Phänomenal war es allerdings nicht, was ich mir geleistet habe in den letzten Monaten, überlegte Greta weiter. Und wie man das, was sich eben zugetragen hat, mit einem Wort beschreiben soll, weiß ich auch nicht. Für alle anderen ist es bestimmt einfach nur »schlimm«. Schlimm! Dieses blöde Wort, das ich schon so oft gehört habe!

Wieder stieg die bekannte Wut in ihr auf.

Aber warum hatten sie auch ausgerechnet den Kaplan zu ihr schicken müssen? Jeder andere Idiot wäre ihr lieber gewesen, aber ausgerechnet der Kaplan mit dem aalglatten Gesicht war heute Morgen aufgekreuzt. Hatte ihr seine bleichen, feingliedrigen Hände hingehalten und wollte sie zurück auf den Pfad der Tugend und ins Reich Gottes führen, sie vor der Hölle und dem Fegefeuer bewahren. Dieser Blödmann, den sie leider viel zu spät durchschaut hatte!

Sie war diesem Kaplan einmal kurzzeitig verfallen gewesen. Zur Zeit der Firmung und danach. Hatte sich ganz unangebrachten Gefühlen hingegeben und eine Weile ein wohliges Kribbeln empfunden, wenn er ihr mit seinen schmalen Händen die Hostie auf die Zunge gelegt hatte. Wie sollte man so etwas beichten, ausgerechnet dem, der die Ursache war? Na gut, das war jetzt längst vorbei. Aber wie schlimm wäre diese Sache heute Morgen wohl geworden, wenn sie noch in ihn verknallt gewesen wäre?

Das hätte er nicht überlebt!

So allerdings war es auch kein Spaß für ihn gewesen.

Armer Kaplan. Sie schaute ihre Hände an. Kein Blut zu sehen, oder? Wieso musste er ihr auch mit der Hölle drohen, dieser dumme Mensch!

Es war ohnehin eine Frechheit gewesen, so unvermittelt gleich nach dem Frühstück hinter ihr aufzutauchen, ihr eine Hand auf die Schulter zu legen, so dass sie zusammenzuckte. Er drehte sie zu sich herum wie eine Spielzeugpuppe und nannte sie bei dem Namen, den sie nicht mehr haben wollte. In gewisser Weise sprach er also mit einer anderen Person, nicht mit der, die sie jetzt in Wirklichkeit war. Er konnte ja nicht ahnen, dass es da eine neue gab, die sich aus der alten herausgeschält hatte wie eine Schlange nach der Häutung.

»Lass uns doch im Garten spazieren gehen«, sagte er. »Sie haben es erlaubt.«

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