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Klara Schindler sitzt Ende Februar 1933 in einem Nachtklub in Kopenhagen, als der Berliner Reichstag in Flammen aufgeht. Von der KPD wird sie mit falschen Papieren nach Berlin geschickt, um herauszufinden, wer der angebliche Brandstifter Marinus van der Lubbe wirklich ist. In der Stadt dominiert die SA bereits das Stadtbild, Überfälle auf kommunistische Lokale sind an der Tagesordnung. Die KPD zieht sich in den Untergrund zurück und plant Widerstandsaktionen gegen die Nazis. Klara gerät in ein dunkles Netz von Denunzianten und Spitzeln auf der einen, von abgetauchten und verängstigten Genossen auf der anderen Seite. Eine mysteriöse Ausländerin stiftet Verwirrung und Klaras Freund Ludwig Rinke aus der Hamburger Unterwelt ist auch in Berlin aktiv. Mit Hilfe einiger dubioser Figuren deckt Klara einen genauen Tathergang auf, wie dieser Brand stattgefunden und wer in welcher Weise zur Durchführung beigetragen haben kann. Dann kommt es zum Showdown im Palais des Reichstagspräsidenten ...
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Seitenzahl: 308
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Robert Brack
UNTER DEM SCHATTEN DES TODES
Roman
Edition Nautilus
Edition Nautilus Verlag Lutz Schulenburg
Schützenstraße 49 a · D - 22761 Hamburg
www.edition-nautilus.de
Alle Rechte vorbehalten · © Edition Nautilus 2012
Originalveröffentlichung · Erstausgabe Februar 2012
Umschlaggestaltung: Maja Bechert, Hamburg, www.majabechert.de
Autorenfoto: Charlotte Gutberlet
Porträt Marinus van der Lubbe: ANP
Ein kleines Glossar der Organisationen und Presseerzeugnisse finden Sie auf Seite 222f
1. Auflage
Print · ISBN 978-3-89401-752-1
E-Book · ISBN 978-3-86438-070-9 (ePub)
ISBN 978-3-86438-071-6 (PDF)
»Damals verstand ich, warum man sagt: unter dem Schatten des Todes.«
Seghers, Transit
Im »Kabaret Malstrøm« stand an diesem Abend die Revue Den Sorte Kat auf dem Programm. Die Tänzerinnen trugen schwarze Katzenkostüme mit Schleiern, die sie nach und nach fallen ließen, bis sie nur noch spärlich bekleidet den Beifall des Publikums entgegennahmen, das zum größten Teil aus Seeleuten und leichten Mädchen bestand. Dazwischen saßen ein paar betrunkene Bürger oder Angehörige der Boheme. Ein Höhepunkt der Darbietungen auf der kleinen Bühne war der Solo-Auftritt von Svarta, einer Frau mit pechschwarzen Haaren, die am Schluss die Katzenmaske abnahm und eine leere Augenhöhle entblößte, aus der Blut zu fließen schien.
»Edogawa Rampo!«, rief ein japanischer Matrose, sprang auf, stürzte zur Bühne und warf der Tänzerin ein paar Geldscheine vor die Füße. Svarta bückte sich und hob die Scheine mit einer müden Handbewegung auf. Sie war deutlich älter als ihre Kolleginnen, sie lächelte nie und wusste, wie man schwieligen, vom Kohlenstaub verfärbten Händen auswich.
Der Matrose kam lachend an seinen Tisch zurück. Seine Begleiter prosteten ihm zu. Svarta hielt jetzt ein Glasauge in der Hand und setzte es in die leere Höhle. Das gläserne Auge blickte herrisch und kalt in den verrauchten Saal. Das andere fixierte eine Person an einem Tisch direkt vor der Bühne.
Die Frau hatte einen dunklen, kaum zu bändigenden Lockenkopf und trug einen Anzug mit Nadelstreifen. Die Bluse unter dem Jackett war nachlässig zugeknöpft, die rote Krawatte leuchtete auffällig. Sie blies den Rauch ihrer Zigarette Richtung Bühne, lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. Dann deutete sie mit einer leichten Kopfbewegung auf den freien Stuhl neben sich.
Svarta strich sich mit den Händen über die nackten Oberschenkel, als wäre ihr kalt geworden, drehte sich um und verschwand hinter dem Bühnenvorhang.
Ich muss wahnsinnig sein, dachte die Frau im Nadelstreifenanzug. Ich verliebe mich in ein Glasauge. Oder ist es das Nichts in der leeren Höhle?
Svarta schlängelte sich wie ein schläfriges Raubtier zwischen Tischen, Stühlen und herumstehenden Gästen hindurch. Hier und da rief ihr jemand etwas hinterher oder versuchte, nach ihr zu fassen. Sie trug ein enges schwarzes Kleid, das bis zum Hals zugeknöpft war.
Die Frau im Nadelstreifenanzug stand lässig auf, als die Tänzerin sich näherte, und schob den freien Stuhl zurecht.
»Wenn du willst, dass ich mich zu dir setze«, sagte Svarta, »musst du eine Flasche Champagner kaufen.«
»Ist gut.« Die Frau holte einige zerknitterte Scheine aus der Jackentasche und warf sie auf den Tisch.
Svarta winkte einem Kellner.
»Rauchst du?« Die Frau mit den dunklen Locken schob eine Blechdose über den Tisch, auf der ein rotes M in einem Kreis zu sehen war.
Svarta schüttelte den Kopf. »Nicht mehr.«
»Ich heiße Klara.«
Svarta drehte sich zum Kellner, der an den Tisch trat: »Eine Flasche.«
»Svarta ist ein Künstlername«, sagte sie an Klara gewandt. Es klang fast wie eine Entschuldigung.
»Setzen wir uns doch.«
Glattes, pechschwarz gefärbtes Haar, und sonst ist sie blass wie ein kalter Kieselstein aus dem Bach. Und ein ganzes Stück älter als ich. Die nackten Arme wie Wachs, man kann die blauen Adern erkennen, da, wo der Samthandschuh aufhört. Die Farbe des Lippenstifts passt zu meiner Krawatte. Und zur Farbe des Auges, zur Farbe beider Augen. Grün. Das Blut unter dem Glasauge war weggewischt.
»Du kommst also aus Deutschland«, stellte Svarta fest.
»Über Umwege.«
»Und was hat dich nach Kopenhagen verschlagen?«
Klara blies eine Rauchwolke über den Tisch und schaute Svarta direkt an. »Eine andere Katze.«
Svarta lächelte. »Wollte sie nicht mehr schnurren?«
»Nein, es war anders«, sagte Klara zögernd. »Wir passten nicht sehr gut zusammen … auch wegen der Politik …«
»Das ist doch kein Grund.«
»Sie ist Polizistin.«
Svartas Lächeln wirkte ironisch und wehmütig zugleich. »Und du, was bist du?«
»So ungefähr das Gegenteil davon.«
Svarta hob die Schultern. »Na gut. Und wo ist die Polizistin jetzt?«
»Weit weg. In London.«
… du warst das Alles für mich, Liebes, wonach meine Seele sich sehnte, ein grünes Eiland auf dem Meer … eine Quelle und ein Heiligtum, umrankt von zauberhaften Früchten und Blumen, und all die Blumen waren mein …
Der Kellner trat an den Tisch, stellte einen Eiskübel und zwei Gläser ab, entkorkte die Flasche, nahm die Geldscheine vom Tisch und ging.
»Natürlich muss ich wieder die Arbeit machen«, sagte Svarta und griff nach der Serviette, die über dem Flaschenhals lag. Klara kam ihr zuvor und hob die Flasche aus dem Eis. Für einen kurzen Moment glitt Klaras Hand über den weichen Stoff. Svarta zog ihre Hand sofort wieder zurück.
»Bitte«, sagte sie. »Aber pass auf, dass du dir die Krawatte nicht nass machst.« Sie ließ sich zurückfallen und lachte auf.
Klara starrte sie an. Es war eigenartig, ein lachendes und ein totes Auge in einem Gesicht zu sehen. Und dann dieser dumme Gedanke, das Glasauge könnte herausfallen. Hastig griff sie nach der Flasche und schenkte ein. Der Schaum quoll über den Glasrand.
Svarta hörte auf zu lachen, beugte sich vor und stoppte die herunterlaufenden Bläschen mit dem Zeigefinger. Der Samthandschuh saugte die Flüssigkeit auf.
Klara drückte die Zigarette aus und griff nach ihrem Glas. Sie stießen an und tranken.
Was wäre, wenn ich sie bitten würde, das Auge herauszunehmen, sich noch einmal dieses aus der leeren Höhle fließende Blut ins Gesicht zu schminken. Bestimmt haben schon viele Männer extra dafür bezahlt.
Svarta schüttelte den Kopf: »Denk dir nichts Falsches, ich gehe niemals mit einem mit … jedenfalls nicht von hier.« Klara zuckte mit den Schultern und griff nach der Manoli-Schachtel. Kaum hatte sie die Zigarette im Mund, näherte sich eine Hand mit Feuerzeug, schnippte es auf und eine blaugelbe Flamme brannte auf.
»Edogawa Rampo«, sagte der Japaner. »Black cat … terrible story …« Er sah Svarta an und hielt dabei Klara das brennende Feuerzeug hin. Sie schob seinen Arm beiseite und zog ihre Streichhölzer aus der Jackentasche.
»You know why man cuts out eye of cat?«, radebrechte der Matrose.
Hinter ihm stand ein Zweiter, dem er beinahe mit dem Feuerzeug den Ärmel angezündet hätte. Der Zweite schlug auf seinen Arm und der Japaner drehte sich wütend um. Sie begannen einen lautstarken Streit.
»Was will er denn?«, fragte Klara.
»Zeigen, dass er ein schlauer Bursche ist. Dass er erkannt hat, dass Die schwarze Katze eine Geschichte von Edgar Allan Poe ist. Eine dumme Geschichte … ich mag sie nicht.«
»Aber du spielst diese Rolle …«
»Willst du mich aushorchen?«
»Nein, ich will mit dir trinken.« Klara griff nach ihrem Glas und trank es aus.
»Ich auch«, sagte Svarta. »Und ich will dich aushorchen.« Zwei starre grüne Augen blickten Klara an. Ich bin jetzt schon betrunken, dachte sie. Svarta schenkte nach. Sie stießen an und tranken hastig.
»Aushorchen? Warum nicht. Du weißt bestimmt sehr genau, wie so was geht.«
Svartas rote Lippen näherten sich. Dieses verdammte grüne Auge, das lebendige, das so allein ist. Die Hand mit dem Samthandschuh legte sich auf Klaras Oberschenkel. »Erzähl mir was von dir.«
»Es gibt nicht viel zu erzählen. Ich bin heimatlos, einsam, habe zu viel Geld für diese Flasche Champagner ausgegeben … ich warte auf meinen Einsatzbefehl …«
Sie kriegt die Katze wirklich gut hin, dachte Klara, so wie sie sich anschleicht und den Buckel macht.
»Wer gibt dir denn Befehle, kleine Deutsche?«, fragte Svarta.
Klara fühlte sich schlagartig müde. »Die Revolution … ich bin eine Soldatin der Revolution …«, sagte sie matt und schrie auf, als die Krallen der Katze sich in ihren Oberschenkel bohrten.
Stühle wurden gerückt und drei Japaner saßen mit einem Mal an ihrem Tisch. Eine weitere Champagnerflasche wurde geordert und eine Flasche Schnaps. Auf der Bühne ging das Programm mit den anderen Tänzerinnen weiter.
Der Matrose, der den Namen Edgar Allan Poe wie »Edogawa Rampo« aussprach, begann mit einem weitschweifigen Vortrag über seine literarischen Kenntnisse. Seine Kumpane, die noch schlechter Englisch sprachen, steuerten gelegentlich bruchstückhafte Zoten bei. Die beiden Frauen ließen sich durch den spendierten Alkohol zum Bleiben verleiten und rückten näher zusammen. Irgendwann trug Svarta zu ihrem schwarzen Kleid die rote Krawatte, und Klara hatte sich das Jackett ausgezogen, die Ärmel der Bluse hochgekrempelt und die Samthandschuhe übergestreift.
Klara verlor den Überblick. Als der Japaner sich gerade in einer labyrinthischen Beschreibung der »Tatsachen im Fall Valdemar« erging, glaubte sie einen Geist zu sehen. Ein großer, kräftiger Mann prostete ihr vom Tresen her mit einem Cocktailglas zu. Ein stämmiger Kerl mit breiten Arbeiterhänden, in feinster Abendgarderobe, eingerahmt von zwei Blondinen in Pelzmänteln. Ein Gesicht, das ständig verwischte, wenn sie es zu fixieren versuchte. Als ihm der Hut vom Kopf rutschte, war sie überzeugt, dass sie sich geirrt hatte. Der Mann hatte dichtes braunes Haar, das ihr völlig unbekannt war. »Ich möchte dich darauf aufmerksam machen, dass ich nur noch bis Mitternacht leben werde«, stöhnte Klara ihrer neuen Freundin ins Ohr.
»Oh, da hast du aber Glück«, entgegnete Svarta, und Klara spürte die kühle Haut an ihrer heißen Wange. »Mitternacht ist schon vorbei.«
Die letzte Vorstellung war längst beendet. Die Lampen wurden heruntergedreht, man konnte kaum noch etwas erkennen. Der Mann mit den Blondinen war verschwunden.
Die Japaner drängten zum Aufbruch. Klara fühlte sich so träge wie lange nicht. Was wollen diese Matrosen denn, warum sind sie so ungemütlich? Tatsächlich schoben die drei Asiaten sie jetzt zum Ausgang, es blieb kaum genug Zeit, den Mantel richtig zuzuknöpfen, was ohnehin nicht einfach war mit den klammen Fingern, oder bin ich etwa betrunken? Die Matrosen schubsten ihre Eroberungen durch die Tür und packten sie fürsorglich an den Armen. Draußen lag Neuschnee, darunter war es glatt.
Als sie vor einer Bruchbude ankamen, über dessen Eingang ein schiefes Schild mit der Aufschrift Hotel hing, sagte Svarta: »Da gehe ich nicht rein« und wiederholte den Satz in verschiedenen Sprachen.
Der Mann, der Klara gestützt hatte, schob sie gegen die Hauswand. Sie blieb apathisch stehen. Sie bemerkte, dass die beiden anderen Matrosen wie Polizisten neben Svarta standen und sie festhielten. Svarta warf ihr einen ängstlichen Blick zu: »Klara, komm! Wir gehen.« Sie versuchte sich loszureißen, was nicht gelang.
»Ich schlafe jetzt … wecken Sie mich nicht … lassen Sie mich sterben«, lallte Klara. Sie spürte, wie der Japaner an ihr zerrte. Die Tür zum Hotel stand jetzt offen, eine schmale steile Treppe war im Schein einer matten Funzel zu erkennen. Klara bewegte sich nicht. Der Japaner schlug auf sie ein. Svarta schrie auf, glitt aus und fiel in den Schnee.
Benommen merkte Klara, dass sie geohrfeigt wurde. Der Japaner umarmte sie grob und wollte sie ins Haus tragen. Es gelang ihm, sie hochzuheben, und Klara sah, wie die beiden anderen Matrosen Svarta mit den Fäusten bearbeiteten, während sie versuchte, von ihnen fortzukriechen.
»Hört auf damit«, sagte sie mit tonloser Stimme.
Der Japaner schleuderte sie durch die Tür, und sie prallte gegen die steile Treppe. Mit einem triumphierenden Schrei warf er sich auf sie und riss an ihren Kleidern.
Über seine Schulter hinweg beobachtete Klara verwundert, wie die beiden Matrosen durch die Luft flogen. Erstaunlich, wie stark Svarta war. Schmerzensschreie waren zu hören und dann liefen die Kerle davon.
Ihre Bluse war schon zerrissen, als endlich Svartas Schatten in der Tür auftauchte, den Japaner wie ein Stück Vieh packte, hochhob und auf die Straße warf. Dort stand eine zweite Svarta und trat ihm wütend ins Gesicht.
Der Japaner wälzte sich im Schnee, sprang auf und rannte davon.
»Alles in Ordnung, Klara?«, fragte eine Stimme, die ihr entfernt bekannt vorkam. Der Mann, den sie vorhin im »Malstrøm« gesehen hatte, zog sie auf die Beine.
»Keine Schmerzen … ich sterbe.«
»Klara Schindler, du stirbst nicht, du bist bloß stockbesoffen. Soll ich dich tragen, oder geht’s auch so?«
»Wer ist das?«, fragte Svarta misstrauisch. »Auch ein Soldat?« »Das mit Sicherheit nicht.«
»Polizei?«
»Das Gegenteil ist der Fall, verehrte Dame.«
»Ludwig Rinke«, stieß Klara mühsam hervor, »wieso trägst du neuerdings ein Toupet?«
Rinke strich sich mit der Hand über den Haarschopf: »Die Engel fanden’s hübsch, aber das ist jetzt wohl hinfällig.«
»Wo hast du denn deine Leibgardistinnen gelassen?«
»Sind weggelaufen, als sie erfahren haben, dass sie gerade meinen letzten Heller verprasst haben.«
»Oh, das tut mir leid.«
»Künstlerpech. Jetzt hocken sie im ›Grand Hotel‹, und wenn die Rechnung kommt, müssen sie ihre Mäntel verscherbeln.«
»Wenn er ein Künstler ist«, sagte Svarta, die dem Gespräch nicht ganz folgen konnte, »darf er mitkommen.«
»Künstler ist er auf gewisse Weise. Jedenfalls kann er sehr einfühlsam sein, wenn es darum geht, Geldschränke zu öffnen.«
»Ich mag einfühlsame Männer«, sagte Svarta, »aber ich habe nur ein Bett.« Sie lehnte sich gegen Klara. Beide zitterten. Es war furchtbar kalt.
Ludwig Rinke hob seinen Hut vom Boden, klopfte den Schnee ab und setzte ihn auf. »Ich möchte euch nicht zur Last fallen. Ich könnte auch auf dem Fußboden schlafen.« »In der Küche gibt es eine Holzbank, die einiges aushält.« »Er hat einen ruhigen Schlaf«, sagte Klara.
Svarta hob eine Braue, aber nur die über dem Glasauge. »Na gut, gehen wir.«
Hier und da traten die ersten Arbeiter und Arbeiterinnen aus den Häusern, um zur Frühschicht zu gehen. An einer Straßenecke wurde gerade ein Kiosk geöffnet. Die wichtigsten Zeitungen lagen stapelweise im Schnee. Klara und Svarta gingen eilig vorbei. Rinke blieb abrupt stehen und zerrte ein Ekstra Bladet aus dem verschnürten Paket. Die Frauen merkten, dass er nicht mitgekommen war, und drehten sich um.
Ludwig Rinke hob die Zeitung hoch, damit sie die Schlagzeile lesen konnten: REICHSTAG BRENNT IN BERLIN!
»Unsinn! Lange werden die nicht durchhalten, und dann kommen wir!« Der Mann, der Klara in den Internationalen Seemannsklub bestellt hatte, schmiss Messer und Gabel auf den Teller, den er gierig leer gegessen hatte. Er trug einen groben Wollpullover unter dem Anzug und dicke Socken in den Schnürstiefeln. Seine Hände waren groß, aber gepflegt, die Uhr am Handgelenk sah teuer aus. Er war mal Heizer gewesen, jetzt arbeitete er als Gewerkschaftsfunktionär und organisierte die Vermittlung von Seeleuten. Sein Einfluss ging weit über den Hafen hinaus.
Sie saßen in einem Hinterzimmer mit drei gedeckten Tischen. Niemand sonst war anwesend.
Klara war zu spät gekommen. Daran war die schwarze Katze schuld, aber sag das mal dem Genossen, dem du als zuverlässiger Komintern-Kurier empfohlen worden bist.
»Ich lege Wert auf absolute Zuverlässigkeit«, hatte er sie angeblafft, als sie sich gleich nach ihrer Ankunft in Kopenhagen bei der Internationale der Seeleute und Hafenarbeiter gemeldet hatte. Ein Genosse in der Parteizentrale hatte sie an Eriksen verwiesen, weil der die internationalen Kontakte koordinierte, aber er schickte sie fort, er hätte keine Arbeit für sie. Als sie völlig deprimiert in ihrer Pension ankam und überlegte, ob sie den Parteiausweis zerreißen sollte, tauchte ein fescher Matrose auf und übergab ihr einen Zettel. Bleib, wo du bist! Halte dich zur Verfügung!, stand darauf, in hastig gekritzelten Druckbuchstaben.
Der junge Matrose salutierte und rannte davon. Klara spürte Glück und Widerwillen zugleich: Jetzt bist du wieder in der Truppe und wartest auf Befehle. Zwei Tage später brachte ein Bote ein Päckchen mit einer Broschüre der Transportarbeitergewerkschaft auf Dänisch. Auf Seite 15 fand sie einige Geldscheine.
Und dann kam wochenlang nichts. Eriksen meldete sich nicht, niemand nahm Kontakt mit ihr auf. Mehr als einmal machte sie sich auf den Weg zum Seemannsklub, setzte sich an einen Tisch im Restaurant im Souterrain und bestellte aus der in mehreren Sprachen abgefassten Karte einen »Billigen Frokostteller« oder trank ein Bier. Einmal stürmte Eriksen durch das Lokal und bemerkte sie. Wenig später kam der Kellner und erklärte ihr auf Englisch, dass ihre Anwesenheit in diesem Haus nicht ratsam sei.
Klara fluchte auf Eriksen, auf die Partei, auf den Seemannsklub, die Gewerkschaft, die ganze gottverdammte Internationale und ihre Geheimniskrämerei und ließ den letzten Rest Disziplin fahren, der ihr noch geblieben war. Da niemand sie brauchte, streifte sie nachts ziellos durch die Gassen des Hafenviertels. Schließlich wurde das »Kabaret Malstrøm« ihr fester Anlaufpunkt, nicht zuletzt, weil sie überzeugt war, an diesem Ort der Dekadenz so weit wie möglich von den Leuten entfernt zu sein, die sie so schäbig behandelten, womöglich gar vergessen hatten.
Darin hatte sie sich getäuscht. Eriksen wusste sehr genau, wo sie sich die ganze Zeit herumgetrieben hatte, und machte ein paar Witze auf ihre Kosten, bevor er mit der ernsten Miene eines Politkommissars auf die Vorkommnisse in Berlin und Deutschland zu sprechen kam.
»Die Nazis werden sich nicht lange halten. Die können grölend und prügelnd durch die Straßen ziehen, aber den Staat haben sie in kürzester Zeit ruiniert.« Er schaute sie auffordernd an.
Klara wusste nichts darauf zu erwidern. Sie sah die Zeitungen, die durcheinander auf dem Tisch lagen. Der brennende Reichstag war auf fast allen Titelblättern der internationalen Presse zu sehen. Bisher wusste sie nicht viel darüber, nur das, was Rinke am frühen Morgen, nachdem sie todmüde in Svartas Wohnung angekommen waren, bruchstückhaft aus dem Artikel des Ekstra Bladet übersetzt hatte. Svarta hatte sich geweigert, sich mit dem Ereignis zu befassen, sie wollte schlafen.
Eriksen schob energisch den Teller beiseite. »Du wirst nach Berlin gehen, Genossin. Ich hoffe, dich hält hier nichts? Wenn du nur halbherzig dabei bist, sag es lieber gleich.«
Berlin? Das war wie ein Peitschenhieb.
»Was sollte mich hier halten?« Vielleicht gibt es jetzt ein Loch an der Stelle, wo mein Herz war. Aber ich kann ja zurückkommen und es wieder ausfüllen. Oder ich finde in Berlin etwas, womit ich es ausstopfen kann. Mit ein bisschen Fingerfertigkeit, Nadel und Zwirn kriegen wir das wieder hin, sagte Mutter immer. Vernähte Herzen gibt es so viele auf der Welt.
Eriksen schlug mit der Hand auf die Zeitungen. »Sie haben einen Holländer festgenommen. Die Nazis behaupten, er hätte in unserem Auftrag gehandelt. Er und andere Genossen. Torgler wurde beschuldigt und ist zur Polizei gegangen … weiß der Teufel, warum er das gemacht hat.«
»Torgler? Der Abgeordnete?«
»Hast du die Zeitungen nicht gelesen?«, fragte Eriksen ungeduldig.
»Nur überflogen. Ich hatte noch keine Zeit.«
»Zum Donnerwetter! Du gehörst zum Kurierdienst. Das Erste, was du machst, wenn du aufgestanden bist – die Zeitungen lesen!«
»Ich bin gerade erst aufgestanden.«
»Du hast die Nacht woanders verbracht.« Eriksen schnaubte missbilligend.
»Ich hab mich gleich auf den Weg gemacht.«
»Weißt du, wie oft ich in deiner Pension anrufen musste?« Eriksen hob drohend die Hand.
»Ich weiß, wie ich nach Berlin komme, ich brauche keinen Zeigefinger …«, entgegnete Klara müde.
»Nichts weißt du!«
Warum ist er nur so aufgebracht? Ich mag nicht befehligt werden, schon gar nicht in diesem Ton, das ist ja lächerlich.
»Mit dem Nachtzug über Hamburg geht es sehr schnell.« Das klang wie von einer braven Schülerin aufgesagt, ärgerte sie sich.
»Nein, falsch! Da haben sie tausend Möglichkeiten, dich abzufangen. Wir werden ein Schiff für dich finden.«
»Auch gut.«
Er liebte es zu kommandieren, und es gefiel ihm nicht, dass bloßer Gehorsam für sie nicht in Frage kam. Es war an seinem Gesicht abzulesen. Die Augen gekniffen, die Lippen gepresst, die Zähne verbissen. Als müsste er sich durch einen Schneesturm kämpfen. Dabei war es nur der Rauch ihrer Zigarette, der ihm entgegenschlug.
»Die Nazis wollen uns die Schuld zuschieben … noch in der Nacht haben sie losgeschlagen. SA und Polizei haben Hunderte Genossen verhaftet. Hitler geifert gegen uns, Goebbels brüllt Lügen in die Welt, und Göring hetzt die Bluthunde.«
Klara fühlte sich ausgelaugt und stellte enttäuscht fest, dass es ihr scheinbar egal war, von hier fortzugehen. Sogar willkommen. Die sogenannte Heimat hatte auf einmal eine ungeahnte Anziehungskraft. Sie kramte in ihren Taschen nach der Manoli-Schachtel.
Als sie das halb abgebrannte Streichholz ausschüttelte und den vom verkohlten Rest aufsteigenden Rauch anschaute, dachte sie: Vielleicht ist man ja so ein Streichholz, nur einmal zum Brennen geeignet und danach … man kann es mit einer Flamme noch einmal kurz zum Glühen bringen, vielleicht sogar mehrere Male, aber das Feuer wird nicht so stark sein, dass es dich verbrennt, nicht mal eine Brandblase, nur ein bisschen Ruß an der Fingerspitze ist alles, was von der Leidenschaft zurückbleibt.
»Freut mich, dass eine Zigarette dich so aufheitern kann«, sagte Eriksen abfällig. »Was die Brandstiftung betrifft …«
»Sie werden es selbst gewesen sein«, warf Klara ein und blies ihm den Rauch ins Gesicht.
»Natürlich sind sie es selbst gewesen, aber wer laut genug geifert, übertönt die Wahrheit. Und deshalb müssen wir dagegenhalten. Und da kommst du ins Spiel, dieser Holländer …«
»Welcher Holländer?«
Eriksen stockte, sein Gesicht verdüsterte sich erneut.
»Ich sagte doch gerade, sie haben einen Holländer verhaftet! Van der Lubbe heißt er … Wir kennen ihn nicht, aber er soll einen Parteiausweis gehabt haben, Propagandamaterial …« »Ein Provokateur«, warf Klara ein.
»Vielleicht nur ein Schwachsinniger … es heißt, er sei schon tagelang brandschatzend durch Berlin gezogen, aber SA und Polizei ließen ihn gewähren. Na, klingelt’s da bei dir nicht?«
»Wenn es so offensichtlich ist, was schert es uns dann?«
»Es sei das Fanal zum kommunistischen Aufstand gewesen, brüllen die Faschisten. Sie behaupten, sie hätten Pläne gefunden. Sie haben Lager eingerichtet, sie karren unsere Genossen mit Lastwagen hin und pferchen sie ein.«
»Und da soll ich …?«
»Dieser Spinner, so behauptet die rechte Presse, war Mitglied der holländischen Partei. Aber unsere Genossen dort sagen, sie haben ihn rausgeworfen, und jetzt gehört er zu den Radenkommunisten.«
»Was?
»Linkssektierer, Anarchisten.«
Was kümmert es uns, wenn ein Anarchist im Reichstag zündelt, dachte Klara. Mit einem Mal war sie wieder müde. Und unkonzentriert. Noch bevor die Zigarette aufgeraucht war, nahm sie sich eine neue und musste leise auflachen, als sie feststellte, dass ja in der Zündholzschachtel noch viele Hölzer lagen. Wenn das Schicksal es will, bleibt dein Vorrat noch länger erhalten. So traurig wie das Mädchen mit den Schwefelhölzern musst du nicht enden. Und jetzt hast du auch noch eine Zigarette zu viel in den Händen.
»Entschuldige, Genosse, ich bin übernächtigt«, sagte sie lächelnd.
Durch die hoch gelegenen, schmalen, von außen vergitterten Souterrainfenster drang die Sonne und schnitt schräge Pfeile in den aufsteigenden Zigarettendunst.
Eriksen beugte sich vor, die Ellbogen rutschten über die Bilder vom brennenden Reichstagsgebäude. »Hier kommst du ins Spiel. Wir wissen, dass du Kontakte zu Anarchisten hast. Die kannst du jetzt zum Nutzen der Partei aktivieren.«
Klara war erstaunt.
Er überschätzt mich. Er überschätzt meine Möglichkeiten. Aber zurück nach Deutschland, zurück in den Kampf, vielleicht in die entscheidende Schlacht ziehen, dabei sein, wenn die Faschisten geschlagen werden und das Proletariat sich erhebt, ist das nicht tausendmal mehr wert als Treibgut zu werden, Versuchungen nachzugeben? Disziplin! Nicht vom Kurs abkommen, auch wenn der lockende Gesang der Sirene süße Träume weckt – oben am Mast weht die rote Fahne, und die Mannschaft hält Kurs.
»Also nehme ich Kurs auf Berlin«, sagte sie ruhig.
Eriksen schaute auf seine Armbanduhr. »Ein Koffer mit Papieren und einem Dossier sind schon in deinem Hotel. Du wirst als Journalistin reisen. Als Auslandsreporterin der Times. Dein Londonaufenthalt wird dir von Nutzen sein.« Er warf ihr einen kleinen Schlüssel hin. Dann zog er umständlich ein Bündel Geldscheine aus der Hosentasche, zählte den Betrag ab, den sie ihrer Zimmerwirtin schuldig war, und hielt ihr die Scheine hin wie einen Veilchenstrauß.
Und wenn ich abgelehnt hätte?
»Du musst alles über diesen van der Lubbe herausfinden. Wo er herkommt, mit wem er in Berlin zu tun hatte, was er dort getrieben hat. Alles. Und so schnell wie möglich. Wir haben viele Kräfte mobilisiert, um der Nazi-Propaganda entgegenzutreten. Die Truppen sammeln sich, und du marschierst voran als Kundschafterin!«
Hieß es nicht die ganze Zeit, wir seien schon auf dem Posten? Und jetzt sammeln und dann erst marschieren? Klaras Blick fiel auf die Streichholzschachtel, die sie noch immer in der Hand hielt. »Wie haben die den Reichstag denn angezündet?«
»Der Holländer sagt, mit Kohlenanzündern.«
Klara musste lachen. Eriksen stimmte ein. Und so lachten sie gemeinsam, aber aus verschiedenen Gründen.
Als sie in ihrer Pension ankam, stand ein ramponierter dunkelgrüner Lederkoffer im Zimmer. Die Inhaberin des Etagenhotels eilte herbei und wirkte arg verunsichert. Ein »rüpelhafter Mann in Arbeitskleidung«, dessen Manieren zu seiner Aufmachung »leider nur allzu gut« gepasst hätten, habe sie angeschnauzt und verlangt, dass sie Klaras Zimmer öffne. Er habe den Koffer abgestellt und sich neugierig umgeschaut. Sogar den Schrank und das Bett habe er untersucht. »Aber von der Polizei kann er nicht gewesen sein, Polizisten benehmen sich anders. Außerdem sprach er nur sehr schlecht Dänisch.«
Klara versuchte sie zu beruhigen, doch erst bei der Ankündigung, dass sie noch heute Abend abreisen müsse, wirkte die Zimmerwirtin erleichtert und nahm gierig die Geldscheine entgegen, die sie ihr hinhielt.
Nachdem sie gegangen war, schloss Klara mit dem Schlüssel, den Eriksen ihr gegeben hatte, den Koffer auf. Auf den ersten Blick schien er leer zu sein. Dafür war er aber eindeutig zu schwer. Im doppelten Boden, im Deckel und hinter dem Futter am Rand fand Klara einen deutschen Reisepass und einen britischen Presseausweis, außerdem einige Briefe, die dokumentierten, dass sie für die Times arbeitete und den Auftrag hatte, über kulturelle Themen aus der Reichshauptstadt zu berichten. Zwei Exemplare der Times von gestern und vorgestern und ein Manchester Guardian von letzter Woche sollten ihre Glaubwürdigkeit stützen, ebenso ein paar britische Pfundnoten. Die beiden mit Gummibändern zusammengehaltenen Reichsmark-Bündel zählte sie hastig durch. Das Geld dürfte für die nächsten zwei Wochen ausreichen, wenn sie in der Reichshauptstadt nicht vom rechten Weg abkam.
Klara nahm alles heraus und versteckte die ebenfalls gefälschten Papiere, die sie bislang benutzt hatte, den echten Mitgliedsausweis der KPD, Bezirk Wasserkante, und einige persönliche Aufzeichnungen im doppelten Boden. Dann räumte sie den Schrank aus und legte ihre Kleider in den Koffer. Er war nicht mal zur Hälfte gefüllt. Sie nahm die beiden Handtücher ab, die neben dem Waschbecken hingen, faltete sie und legte sie dazu. Nach einer Weile nahm sie die Tücher wieder heraus und hängte sie zurück.
Sie legte sich aufs Bett, griff nach der arg zerlesenen deutschen Übersetzung von Stendhals Rot und Schwarz, die sie in einem Antiquariat in London für einen Schilling gekauft hatte, und stellte fest, dass sie sich nicht konzentrieren konnte. Schlafen war ebenfalls unmöglich. Sie grübelte vor sich hin. Sollte sie Svarta Auf Wiedersehen sagen? Adieu für immer. Wieder so ein überflüssiger trauriger Moment.
Sie wurde unruhig. Nicht wegen Berlin. Das war ein Auftrag. Einen Auftrag erledigt man. Tatsächlich war sie dankbar. Zurück in die Heimat, das war doch allemal besser, als sich von den Samtpfoten einer einäugigen Katze einfangen zu lassen. Krallen hatte die auch und fauchen konnte sie sowieso.
Klara sprang aus dem Bett, zog sich den Mantel über, die Schirmmütze ins Gesicht, griff nach dem Lederkoffer und ging. In einem Laden für gebrauchte Kleider gab sie das wenige dänische Geld, das sie jetzt noch übrig hatte, für eine Bluse, eine Strickjacke und einen Tweedrock aus, dazu dicke Wollstrümpfe, die bis über die Oberschenkel reichten. Als sie den Laden verließ, war ihr Koffer besser gefüllt. Einen anderen Grund, sich diese Sachen zu kaufen, gab es ja nicht.
Auf Umwegen, widerstrebend, näherte sie sich Svartas Wohnung, zögerte lange, ehe sie die Treppe hinaufstieg, und noch länger, bevor sie anklopfte.
»Ist offen«, kam der Ruf von drinnen.
Svarta und Ludwig Rinke saßen in der Küche und spielten Schach. Sie im Morgenmantel, auf hinreißende Art ungekämmt, er im Unterhemd, mit herabhängenden Hosenträgern, ohne Toupet. Svartas Lächeln verhieß Ekstase und Melancholie. Sie streckte den Arm aus und legte ihn um Klaras Hüfte.
»Der König ist ein Filou«, sagte sie.
»Aber die Dame blieb standhaft«, sagte Rinke, ohne aufzusehen.
In der Küche war es heiß, der Ofen summte. Klara goss sich aus einer Blechkanne Kaffee in eine Tasse, warf ihren Mantel auf die Holzbank und setzte sich. Sie schaute zu, wie Svartas rechter nackter Fuß aufgeregt über ihre linke Wade strich, während sie verbissen über die nächsten Spielzüge nachgrübelte.
Schließlich war Rinke matt gesetzt.
»Das passiert mir höchst selten«, sagte er missgelaunt.
»Ich hatte Glück«, sagte Svarta.
»Ich reise noch heute Abend nach Berlin«, sagte Klara.
Kaum etwas änderte sich in Svartas Gesicht, aber jetzt las man darin: Ja, natürlich, so wie immer.
Wie gelingt ihr das nur, mich mit ihrem toten Auge zu fixieren. Ist das ihre Art, Freunde zu strafen?
»Lebensmüde?«, fragte Ludwig.
»Parteiauftrag.«
»Also ein Himmelfahrtskommando.« Er schüttelte den Kopf. »Wo du sowieso schon von der Polizei und den Nazis gesucht wirst. Und ich dachte, ich hätte dich von diesem Wahn kuriert.«
»Die Sache des Proletariats ist kein Wahn.«
»Die schicken dich in die Höhle des Löwen.«
»Die Nazis sind keine Löwen, das sind Schakale.«
»Meinetwegen, aber jetzt fallen sie über deine Leute her.« »Das kann nicht lange dauern. Dann kommen wir«, sagte Klara trotzig.
»Er will doch auch nach Berlin«, warf Svarta ein. Ihr Gesicht war ein einziger Zwiespalt, aufgeteilt in Regionen der Zuneigung und der Gleichgültigkeit.
»Ich habe geschäftlich dort zu tun«, sagte Rinke.
»Dann rede nicht so einen Unsinn von der Höhle des Löwen.«
»Was habe ich denn zu fürchten? Wer interessiert sich in dieser Situation für einen gemeinen Einbrecher? Mein Vorteil ist, dass ich keiner Organisation angehöre. Ich bin praktisch unsichtbar.«
»Das ist eine gute Idee.« Svarta sah ihn auffordernd an und winkte Klara zu sich.
Rinke schüttelte bedauernd den Kopf. Klaras Finger fuhren durch Svartas pechschwarze Haare. Seufzend stand er auf. Wenig später erschien er wieder in der Tür, knöpfte sich den Mantel zu und zog sich den Hut gerade, der jetzt, wo er kein Toupet mehr trug, tiefer saß.
»Falls du in Berlin die Hilfe eines Unsichtbaren brauchst: Johann Caspar Schmidt, postlagernd, Amt am Alexanderplatz.« Er gab Svarta einen Handkuss, boxte Klara leicht gegen die Schulter und verschwand mit einem anzüglichen Grinsen.
»Also ist er doch ein guter Freund«, stellte Svarta fest.
»Er hat mir geholfen, aus Hamburg zu flüchten, als ich dort fort musste.«
»Warum?«
»Ich hatte versucht, einen Mörder zu richten, der im Polizeidienst steht.«
Svarta schwieg.
»Wir sind im kalten Schornstein eines Dampfers als blinde Passagiere nach England gefahren«, fuhr Klara fort. »Wir haben viel diskutiert. Er will die Revolution, aber nur für sich. Er redet wie ein Philosoph, aber ich verstehe ihn nicht.«
»Ich dich auch nicht.«
»Ich funktioniere ganz normal, wie alle anderen. Aber ich mag keine Krallen.«
»Da hast du aber Pech …«
Später, als Klara ihr verbot, sie zum Hafen zu bringen, war kaum noch zu erkennen, welches von Svartas grünen Augen lebte.
Der Stückgutfrachter »Horizont 2« mit Kurs auf Rostock hob und senkte sich, mal gleichmäßig, mal unberechenbar. Am schlimmsten waren die Momente, wenn er sich senkte, statt wie erwartet aufzusteigen. Die Ostsee, ein Ort, an dem sie einmal als Backfisch Urlaub gemacht hatte, wo das Wasser im Sommer zumeist träge an den Strand platschte, entpuppte sich als eigenwilliges Naturelement. Zumindest für sie, die Landratte. Klara saß in der Messe und versuchte, sich über ihr Unwohlsein hinwegzutäuschen, indem sie rauchte. Es funktionierte halbwegs.
Das Geschirr in der Kombüse schepperte leise. Der Kapitän der »Horizont 2« setzte sich zu ihr an den Tisch, der Smutje brachte zwei Grog.
»Bist ein bisschen bleich um die Nase«, sagte er.
»Ich bin von Natur aus blass.«
»Wenn wir in Rostock ankommen, vielleicht geht es dann schon los.«
»Was?«
»Generalstreik.«
Der heiße Grog wärmte Klaras kalte Hände.
»Wir haben Kisten mit Flugblättern. Die gehen mit dir an Land. Auch andere Schiffe haben Propagandamaterial. Die deutschen Hafenstädte werden sich zuerst erheben, wie damals im November. Aber diesmal ist es wirklich das letzte Gefecht.«
»Dein Wort in Thälmanns Ohr, Genosse.«
»Und du, was ist deine Aufgabe?«, fragte er neugierig.
»Ich werde bestimmt nicht die Jeanne d’Arc spielen.«
»Sondern?«
»Schweigen«, sagte Klara und zündete sich eine Zigarette an. Der Kapitän stellte noch einige unbeholfene Fragen. Vergeblich. Schließlich stand er auf. Er war unzufrieden. »Ich weiß ganz gern, was gespielt wird auf meinem Schiff.«
»Hier auf dem Schiff gar nichts.«
Er musterte sie verkniffen. »Na gut. Um sechs musst du bereit sein«, sagte er mit schnarrender Stimme. »Wird sicher kein Vergnügen. Die Sache muss zügig vonstatten gehen.« Und schroff fügte er hinzu: »Wenn du kotzen musst, dann tu’s jetzt!«
Damit verließ er die Messe.
Schweigen und spionieren, dachte Klara, das ist von nun an meine Aufgabe. Sie schloss die Augen und gab sich den Bewegungen des Schiffs hin.
»Horizont 2«, was für ein eigenartiger Name, wenn man mal darüber nachdenkt. Aber du musst ihr vertrauen, deine Wahrnehmung an ihre Bewegungen anpassen, ihr eine Chance lassen, dich in ihre Obhut zu nehmen. Sie tanzt über die Wogen, lässt sich sanft in die Wellentäler fallen, nimmt dich mit nach unten und hebt dich wieder empor. Und wenn dir schwindelt, was ist schon dabei? Letzte Nacht war es nicht viel anders. Auf festem Grund. Und gefährlich war es auch.
Sie öffnete die Augen, als zwei Mitglieder der Besatzung die Messe betraten.
Noch mehr Grog.
Ein Dritter brachte Nachrichten vom Funker. Die Führer der deutschen Arbeiterparteien ließen sich widerstandslos verhaften oder tauchten ab. Wo bleibt der Generalstreik, fragten die Seeleute.
Die Gewerkschaften hätten Hitler ein Angebot gemacht.
Keiner glaubte das.
Was für eine verrückte Idee.
Noch mehr Grog.
Sie ließ sich den Weg zum Funker zeigen. »Gib mal durch: Nachrichten für mich im Zweifelsfall postlagernd Alexanderplatz.« Dann legte sie sich für einige Stunden in die Koje einer winzigen Kabine, die offiziellen Gästen der Reederei oder, wie in ihrem Fall, inoffiziellen der Besatzung vorbehalten war.
Das Wasser war schwärzer als der Himmel. Kurz vorm Morgengrauen kletterte Klara über eine Strickleiter vom Deck der »Horizont 2« nach unten auf einen Fischkutter, der sich hob und senkte und manchmal bedrohlich weit vom Frachter entfernte. Dann klaffte unter ihr eine Lücke, in der kabbelige Wellen schäumten, und ein bisschen sah es aus, als wollte das Meer nach ihr schnappen. Lieber schaute sie angestrengt nach oben. Neben ihr wurden einige mit Flugblättern und Propagandabroschüren gefüllte Kisten und ihr Koffer herabgelassen. Der Motor der Seilwinde jaulte leise vor sich hin.
»Darf ich mal«, sagte der Fischer, als sie unten ankam und schon wieder bedrohlich über dem kalten, bleckenden Wasser hing. Er packte sie an den Hüften und hob sie an Bord. Zwei andere zerrten die Kisten und den Koffer aus der Plane, die sofort wieder hochgezogen wurde.
Kutter und Frachter entfernten sich voneinander. Keine Abschiedsworte, keine Gesten.
Positionslichter waren zu sehen, Schattenrisse von größeren und kleineren Schiffen näher und weiter entfernt, die Silhouetten der Kräne im Überseehafen. Auf dem Deck des Kutters stapelten sich Kisten mit Fisch. Zwei Fischer waren damit beschäftigt, die Netze zusammenzulegen. Klara spürte das Klopfen des Motors unter den Sohlen.
»Runter in die Kombüse!« Der Fischer nahm den Koffer und stieg die steile Treppe hinab.
Ein enger Raum, in dem Herd, Geschirrschrank und ein Tisch mit Stühlen untergebracht waren. Das Ofenrohr endete unterhalb einer offenen Luke. Kein Feuer im Herd. Es war eiskalt.
Der Steuermann hob den Koffer hoch. »Mehr hast du nicht?«
Klara schüttelte den Kopf.
»Dich sollen wir im Stadthafen abliefern. Wir sind spät dran.« Er zog ein kleines Stück Pappe aus der Tasche. »Hier deine Fahrkarte. Wenn du den Zug nicht schaffst, nimmst du den nächsten. Wäre aber riskant. Die SA kontrolliert den Bahnhof. Die spielen jetzt Polizei. Hast du gute Papiere?« Klara nickte.
»Ein bisschen auffällig, wie du so herumläufst.«
»So sehe ich immer aus.« Klara holte die Zigarettenschachtel aus der Manteltasche.
»In Berlin kannst du das machen, aber in Rostock fällst du auf.«
»Ich hab noch was zum Umziehen im Koffer.«
»Ist deine Sache, aber …«
Sie steckte die Zigaretten wieder weg und stand auf. »Ich zieh mich um.«
Der Fischer nickte und kletterte an Deck.
Klara holte den Tweedrock und die Wollstrümpfe aus dem Koffer. Dann die Brille, die sie nie trug, aus Eitelkeit, so ein rundes Ding mit schwarzem Rand, billig, hatte ihr ein Optiker in London aufgeschwatzt. Sie fand sich lächerlich damit, und viel besser konnte sie damit auch nicht sehen. Aus dem schmalen Spiegel über dem Ausguss schaute sie eine Person an, die sie entfernt an ein Mädchen erinnerte, das nie gerne Röcke getragen hatte und Wollstrümpfe schon gar nicht. Der Fischer kam wieder runter. »Los jetzt. Wenn wir längs gehen, springst du auf die Schute. Wir halten nicht an. Den Koffer nehme ich und werfe ihn hinterher. Ein Genosse erwartet dich oben am Kai.«
Klara folgte ihm an Deck.
Eine hohe Hafenmauer, der Kutter steuerte auf die Schute zu, Klara sprang und landete auf einem Haufen Kohle, der Koffer segelte durch die Luft und blieb neben ihr liegen. Sie packte ihn, schaute sich um, sah, wie der Kutter einen Bogen beschrieb und eilig verschwand. Der Schein einiger Laternen und die beginnende Dämmerung halfen ihr, sich zu orientieren.
Eine eiserne Leiter führte nach oben. Aber wie klettert man hinauf mit einem Gepäckstück in der Hand?
Irgendwie ging es. Der Kopf eines jungen Kerls mit Pudelmütze tauchte auf, eine derbe Hand schnappte sich den Koffer.
Als sie oben ankam, schnürte er den Koffer auf dem Gepäckträger fest. Klara rutschte auf der vereisten Kaimauer aus. »Und du willst nach Berlin?«, fragte er heiser.
»Wenn ich den Zug noch kriege.«
»Dass du eine Frau bist, ist gut.«
Na ja, dachte Klara, wie man’s nimmt.
»Setz dich auf die Stange. Uns hält keiner an.« Er lachte.