12,99 €
Zwischen politischen Spannungen und der Ausbildung ihrer Schülerinnen kämpft Pauline für ihr Glück
Diedenhofen, 1911. Zwischen Pauline Martin und dem preußischen Hauptmann Erich hat sich eine tiefe Freundschaft entwickelt. Auch wenn Pauline sich manchmal nach mehr sehnt, ist eine Liebesbeziehung für sie als Lehrerin undenkbar. Noch stärker als zuvor konzentriert sie sich auf ihre Schützlinge und stellt eine zusätzliche Lehrkraft ein. Rhona O’Meally soll ihren Schülerinnen nicht nur die englische Sprache, sondern auch die irische Kultur näherbringen. Rhona sorgt für frischen Wind, hat jedoch ein gefährliches Geheimnis. Als es im Pensionat zu Diebstählen kommt und in Diedenhofen vermehrt antipreußische Schmierereien auftauchen, gerät Pauline selbst unter Verdacht. Die politischen Spannungen verhärten sich – in der Moselstadt und in ganz Europa –, und Pauline muss für ihre Zukunft kämpfen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 669
Diedenhofen, 1911. Zwischen Pauline Martin und dem preußischen Hauptmann Erich von Pliesnitz hat sich eine tiefe Freundschaft entwickelt. Auch wenn Pauline sich manchmal nach mehr sehnt, ist eine Liebesbeziehung für sie als Lehrerin undenkbar. Noch stärker als zuvor konzentriert sie sich auf ihre Schützlinge und stellt eine zusätzliche Lehrkraft ein. Rhona O’Meally soll ihren Schülerinnen nicht nur die englische Sprache, sondern auch die irische Kultur näherbringen. Rhona sorgt für frischen Wind, hat jedoch ein gefährliches Geheimnis.
Als es im Pensionat zu Diebstählen kommt und in Diedenhofen vermehrt antipreußische Schmierereien auftauchen, gerät Pauline selbst unter Verdacht. Die politischen Spannungen verhärten sich, in der Moselstadt sowie in ganz Europa. Und Pauline muss kämpfen. Für alles, was ihr wichtig ist.
Marie Pierre ist im Spannungsfeld der deutsch-französischen Grenzregion aufgewachsen. Ihre Studienzeit in Metz sowie die Geschichte ihrer Familie, die sich über Deutschland, Frankreich und Luxemburg erstreckt, inspirierten sie dazu, sich intensiv mit der Vergangenheit zu befassen. Besonders Lothringen ist sie sehr verbunden. Unter dem Namen Maria W. Peter schreibt sie historische Romane und Theaterstücke, die von der Römerzeit bis ins 19. Jahrhundert reichen und für die sie unter anderem mit dem Literaturpreis Homer ausgezeichnet wurde. Vielleicht war das Leben ihrer Großtante, die in der Zwischenkriegszeit ein Mädchenpensionat im lothringischen Bouzonville besuchte, der zündende Funke zu ihrer aktuellen Reihe.
Besuchen sie die Autorin auch auf ihrer Homepage: www.mariawpeter.de und auf www.facebook.com/mariawpeter.
MARIE PIERRE
Das Pensionat an der Mosel
Band 2
Roman
WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
Deutsche Erstausgabe 08/2024Copyright © 2024 by Marie Pierre
Copyright © 2024 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.
Redaktion: Dr. Mechthilde Vahsen
Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design unter Verwendung von Motiven von: Trevillion Images (Elisabeth Ansley), Bridgeman Images (United Archives/Carl Simon), Shutterstock.com (luck luckyfarm, Artnizu, ArtFamily, Roman Samborskyi, Khosro, AVA Bitter)
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN: 978 - 3-641-29714-5
www.heyne.de
Im Pensionat
Lehrpersonen:
Pauline Martin, Directrice, Institutsleiterin, aus Metz, deren Weltsicht mehrfach ins Wanken gerät
Eleonore Schmitt, junge Lehrerin aus dem Hannoveranischen, hinter deren steifer Fassade sich ein unkonventioneller Geist verbirgt
Rhona O’Meally, die großen Wert darauf legt, aus Irland und nicht aus England zu kommen, neue Lehrerin, die besonders englische Sprache und Literatur sowie Musik unterrichten soll, aber auch noch auf ganz anderem Weg für unerwarteten Schwung im Pensionat sorgt
Hausangestellte:
»Lisbeth« Weber, aus Woerth im Elsass, Köchin, Haushälterin und gute Seele des Pensionats
Camille Rémy, Stubenmädchen aus der Nähe von Château-Salins in Lothringen, deren Deutschkenntnisse sich langsam verbessern
Vincent Lehmann, Gärtner, aus der preußischen Rheinprovinz, der auch Hausmeistertätigkeiten verrichtet und noch immer ein Geheimnis mit sich herumträgt
Thomas Engel, der regelmäßig saubere Wäsche vorbeibringt, Vincent bei groben Arbeiten unterstützt und anstelle des preußischen Wehrdienstes völlig andere Zukunftspläne für sich hat
Die Schülerinnen:
Esther David aus dem lothringischen Sarreguemines/Saargemünd, die sich für Malerei und bildende Künste begeistert, ihre Eltern führen einen erfolgreichen Laden für Faïencerie, Porzellan und Haushaltswaren
Louise Wendling, musisch begabte Schülerin aus Straßburg, deren Vater sich für ein vom deutschen Kaiserreich losgelöstes Elsass einsetzt und den Preis dafür zahlt
Charlotte von Schwegat, Tochter eines Grubendirektors von der Saar, mit hohem Anspruchsdenken und ganz eigenen Ambitionen
Marthe Gross, die mit ihren sozialistischen Idealen nie hinter dem Berg hält, darüber hinaus aber auch eine sehr soziale Neigung hat
Ernestine Küppers, deren Familie ursprünglich aus Düsseldorf stammt, zwischenzeitlich aber im lothringischen Forbach lebt, ihr Traum ist es, einmal Journalistin zu werden
Sophie Loos aus Luxemburg, deren Interesse an der Frauenbewegung gerade neue Nahrung erhält und die sich mit Marthe und Ernestine gerne über politische Themen austauscht
Berthe Haußner, Tochter einer Lothringerin und eines bayerischen Offiziers, die ein wenig zwischen den Welten steht
Brunhilde Klawe, Büchernärrin, deren Familie ursprünglich aus Neuruppin in Preußen stammt und die regelmäßig die neueste Ausgabe der »Gartenlaube« bezieht
Albertine Schwartz aus dem lothringischen Busendorf/Bouzonville, die in ein Kloster eintreten möchte, auf Wunsch ihrer Eltern aber zunächst weiter die Schule besucht
Gelsa von Kucharski, Tochter eines im elsässischen Zabern/Saverne stationierten preußischen Offiziers, mit Heimweh nach dem Brandenburgischen
Josefa Gruber, Tochter eines verwitweten bayerischen Offiziers aus Rosenheim, der jetzt in Lothringen Dienst tut
Erna von Denningen, die ihren Besuch des Pensionats bereits nach kurzer Zeit wieder abgebrochen hat, weil sie die Aussicht auf eine baldige Ehe und Familie einem höheren Schulabschluss vorzieht
Suzette Manseaux aus Avignon, die im vorigen Schuljahr für großen Wirbel gesorgt hat und deswegen nach Hause zurückbeordert wurde, nach wie vor steht sie mit ihren ehemaligen Kameradinnen in Briefkontakt und schmiedet bereits neue Pläne
Die Herrenbesuche
Hasso von Schwegat, Charlottes Bruder, der in Bonn studiert und die Dinge gerne selbst in die Hand nimmt
Theodor Bernheim, Hassos Studienkollege aus der preußischen Rheinprovinz, auf den Charlotte ein Auge geworfen hat, der im Pensionat jedoch ganz neue Bekanntschaften macht
Carl Friedrich Barsch, Oberprimaner aus Diedenhofen, der Esther David auf dem Maskenball ein paar langweilige Stunden beschert
George Hangston, ein Mann mit Vergangenheit, der sich lieber im Hintergrund hält
In der preußischen Garnison zu Diedenhofen
Erich von Pliesnitz, preußischer Hauptmann der Infanterie, aus Posen, in der gesamten Einheit für seine unnachgiebige Strenge berüchtigt
»Franzl« Klein, sein aus der Nähe von Colmar stammender, von Hunger und Heimweh geplagter Offiziersbursche
Oberst von Tirzheim, der seine Vorurteile gegenüber Lothringern noch immer nicht ganz ablegen kann
Leutnant von Gerther, der sich beim Friedensdienst in der Garnison langweilt und beim Alkoholkonsum nicht immer das richtige Maß kennt
Leutnant Krenzer, Leutnant von Erlow, seine Kameraden, die gerne mittrinken
Feldwebel Junkes, der sich bezüglich der Integration Elsaß-Lothringens ins deutsche Kaiserreich von Skepsis geplagt sieht
Gefreiter Schulze, Gefreiter Hinrich, Ordonnanzen in der Stadtkaserne
Musketier Endres, der wegen seiner Unachtsamkeit vom gnadenlosen Hauptmann einen üblen Anpfiff kassiert
Sonstige Bewohner von Diedenhofen/Thionville
Wachtmeister Schrotherr, ein Polizist, der sich für alles und jeden verantwortlich fühlt
Witwe Schleedorn, Erichs Zimmerwirtin mit verbesserungswürdigem Kochtalent
Docteur Gaspard, Hausarzt
Madame Picou, Ladeninhaberin für Stoffe und Kurzwaren
Anne Engel, Wäscherin, Thomas’ Mutter
In Saargemünd/Sarreguemines
Jakob David, Esthers Vater, Inhaber eines erfolgreichen Warenhauses in der Kreuzstraße
Gittel David, seine Frau, Esthers Mutter, die ihn bei seiner Arbeit unterstützt
Rachel David, Esthers Großmutter aus Mulhouse/Mülhausen im Elsass, die eher traditionelle Vorstellungen vertritt
Michel und Albert David, Esthers jüngere Brüder
Madame Lavalle, Pensionswirtin mit mütterlichen Ambitionen
Sonstige Personen aus Paulines Umfeld
Roland Dulange, Bankierssohn und Paulines ehemaliger Verlobter aus Nancy, der sich zwischenzeitlich anderweitig getröstet hat
Patentante Adèle (†), der Pauline nicht nur die Liebe zum Unterrichten, sondern auch ihr Pensionat verdankt
Großtante Mathilde (†), deren Name in der ehrwürdigen Familie Martin aus bestimmten Gründen totgeschwiegen wird
Historische Persönlichkeiten, die im Roman erwähnt werden
Padraig Pearse, irischer Lehrer, Dichter und Freiheitskämpfer, nach dem irischen Osteraufstand im Jahre 1916 hingerichtet
Kaiser Wilhelm II., König von Preußen, dessen Ehre durch die unflätigen Schmierereien in Diedenhofen ein wenig angekratzt ist
Alfred Dreyfus, französischer Hauptmann jüdisch-elsässischer Herkunft, der, 1894 aufgrund von antisemitischen Vorurteilen, zahlreichen Falschaussagen und einer politischen Verschwörung degradiert und verbannt, erst 1906 rehabilitiert wurde
Sébastien Girard,
der sich als französischer Generalkonsul für die deutsch-französischen Beziehungen, besonders auch an Mosel, Saar und Blies, einsetzt, mit Respekt und Hochachtung gewidmet.
Es gibt einige auf dieser eurer Erde (…) die behaupten, uns zu kennen, und die in unserem Namen ihre Taten der Leidenschaft, des Stolzes, der Bosheit, des Hasses, des Neides, der Bigotterie und des Egoismus tun, die uns und allen unseren Angehörigen so fremd sind, als hätten sie nie gelebt.
Charles Dickens
Es gab Momente, in denen Pauline Martin überzeugt war, dass es wesentlich einfacher sein musste, einen ganzen Sack Flöhe zu hüten, als ein knappes Dutzend halbwüchsiger Backfische. Besonders, wenn gerade der Frühling vor der Tür stand, die ersten Sonnenstrahlen durch den klaren Februarhimmel brachen und die jugendlichen Gemüter kitzelten. Und ganz besonders, wenn es Ereignisse gab, welche versprachen, die Schülerinnen zumindest für eine Weile von ihren Verpflichtungen zu befreien.
»Ob sie wohl nett ist?«
»Was meint ihr, spricht sie auch Deutsch?«
»Oder Französisch?«
»Und wenn wir sie nicht erkennen, dann verläuft sie sich.«
»Was für ein Unsinn! Wenn sie den Weg über das Meer und halb Europa bis hierher geschafft hat, dann …«
Pauline schüttelte den Kopf, während sie geduldig dem aufgeregten Durcheinander ihrer Schützlinge zuhörte, die sich allesamt in ihren besten Sonntagsstaat gekleidet am Bahnhof von Thionville, im offiziellen Amtsdeutsch Diedenhofen genannt, zusammengefunden hatten. Das durchaus ansehnliche, aus goldenem Jaumont-Stein errichtete Bauwerk befand sich auf der rechten Moselseite, von wo aus die Eisenbahn die lothringische Stadt, welche zudem eine preußische und eine bayerische Garnison beherbergte, mit dem Rest des deutschen Kaiserreiches verband. Obgleich Pauline die linke Moselseite mit der geschichtsträchtigen Altstadt und den malerischen Straßen und Gassen vorzog, war sie an diesem Tag nicht umhingekommen, die steinerne Brücke zu überqueren, um mit den Schülerinnen den Bahnhof aufzusuchen, um die Ankunft einer neuen Lehrerin zu erwarten. Einer Lehrerin aus dem fernen Großbritannien.
Von jeher war Pauline überzeugt, dass Sprachen nicht nur Türen zu neuen Welten öffneten, sondern auch die gegenseitige Verständigung – und somit zugleich das Verständnis – förderten. Weshalb sie in ihrer höheren Mädchenschule mit angeschlossenem Pensionat einen besonderen Schwerpunkt auf die sprachliche Bildung der Schülerinnen legte, diese selbst in Französisch, Deutsch und Englisch unterrichtete. Von nun an aber sollte ein Neuankömmling, eine englische Muttersprachlerin, Pauline und ihre derzeit einzige Kollegin Eleonore Schmitt im Fach Musik unterstützen, vor allem aber in der englischen Sprache, Geschichte und Literatur. Eine eindeutige Bereicherung ihres Instituts.
Lediglich den Zeitpunkt der Ankunft fand Pauline ein wenig schwierig, würde sie ja bereits am nächsten Tag mit der Klasse zu einer Exkursion aufbrechen. Nun jedoch blickten Pauline und ihre elf Schützlinge erst einmal neugierig in Richtung der Bahngleise, wo jeden Moment der Zug einfahren würde.
Endlich war es so weit. Dampfend und zischend schob sich eine riesige Lokomotive in das hohe Bahnhofsgebäude, mehrere Waggons hinter sich herziehend. Schlagartig verstummte das Geplapper der Mädchen, nur um im nächsten Augenblick umso heftiger wieder aufzuflammen.
»Da! Da ist der Zug!«
»In dem muss sie drin sein! Ja, ganz sicher!«
»Wer von uns sie wohl als Erste entdeckt?«
»Silence!« Obgleich Pauline nicht die Stimme erhob, waren ihre Worte laut und deutlich zu hören. »Ruhe jetzt! Hört sofort auf, derart aufgeregt durcheinanderzureden! Sonst denkt Miss O’Meally am Ende noch, sie hätte sich in der Adresse geirrt, weil sie statt einer Schule für höhere Töchter einen gackernden Hühnerstall vorfindet.«
Sofort schwiegen die Mädchen, nur das ein oder andere Kichern war zu hören, worüber Pauline jedoch wohlwollend hinwegsah. Alle stellten sich auf dem Bahnsteig auf, und Louise Wendling, die zur Begrüßung einen großen Blumenstrauß in der Hand hielt, genau in der Mitte.
»Très bien. Merci beaucoup.« Zufrieden lächelte Pauline, bevor sie sich wieder der Eisenbahn zuwandte, die zwischenzeitlich vor ihnen zum Stehen gekommen war.
Ein Schaffner trat heraus, öffnete die Türen der Personenwagen, und schon stiegen die ersten Passagiere aus.
Blau uniformierte Soldaten, vornehme Bürger, korrekt mit Anzug, Krawatte und Hut, manche davon in Begleitung einer Dame, ebenfalls in adrett sitzende Reisekleider gewandet. Dazwischen aber auch einfache Menschen, Handwerker, Hüttenarbeiter und Bergleute, wie man sie in dieser von der Schwerindustrie geprägten Region Ostlothringens häufig anzutreffen pflegte.
Aber wer davon mochte die neue Lehrerin sein? Woran würden sie sie erkennen? In diesem Moment bedauerte Pauline, die neue Kollegin nicht darum gebeten zu haben, ihr eine Fotografie von sich zu schicken.
Nach und nach leerte sich der Bahnsteig, nur noch wenige Menschen waren darauf zu sehen. Darunter eine junge Frau in einem dunkelgrünen Reisekleid, das Haar unter einem Hut in gleicher Farbe aufgesteckt. Ihr zu Füßen stand ein Koffer, in der Hand hielt sie eine große Reisetasche aus Teppichstoff. Suchend glitt ihr Blick über ihre Umgebung, bis er schließlich an Pauline und ihren Schützlingen hängen blieb. Sogleich hellte sich ihre Miene auf, sie griff nach ihrem Koffer und marschierte direkt auf die Gruppe zu.
Das musste sie sein! Erleichterung durchflutete Pauline, als sie ihrerseits einige Schritte auf die Neuankommende zuging und ihr mit der Hand ein Zeichen gab.
Wenige Augenblicke später hatte die junge Frau das wartende Grüppchen erreicht und schaute interessiert in die Runde.
»Rhona O’Meally?«, fragte Pauline, um sicherzugehen.
»Höchstpersönlich!« Ihre Stimme klang tief und bestimmt, ein weicher Akzent, ein melodischer Singsang lag darin.
Schon war Louise aus der Gruppe vorgetreten und hielt der Frau den Blumenstrauß entgegen. »Herzlich willkommen in Diedenhofen, Miss O’Meally. Ich hoffe, Sie haben Ihre Reise gut überstanden und fühlen sich bei uns bald so wohl wie bei sich zu Hause in England!« Die englischen Worte kamen abgehackt und klangen ein wenig auswendig gelernt, dennoch nickte Pauline ihrer Schülerin lobend zu.
Wohlwollender Spott lag auf den Zügen der Neuen, als sie nach kurzem Zögern ihr Gepäck abstellte und den Strauß entgegennahm. Nachdenklich betrachtete sie diesen einen Moment, bevor sie ihn sinken ließ, zunächst Louise und schließlich Pauline ansah.
»Für Ihre Willkommensgrüße danke ich aufrichtig. Sehr freundlich, dass Sie extra zum Bahnhof gekommen sind, um mich zu empfangen. In einer Sache jedoch muss ich dich verbessern, junge Miss.« Sie machte eine kurze Pause, in der sie ihre Gestalt straffte und das Kinn ein klein wenig vorschob. »Ich stamme keineswegs aus England, sondern aus Irland. Das ist etwas gänzlich anderes und sollte nie verwechselt werden.«
*
Das Zimmer, welches Pauline der neuen Lehrerin zugeteilt hatte, lag ebenso wie das ihre und das von Eleonore Schmitt im ersten Stock. Es war hell möbliert, das Fenster ging zu dem kleinen Garten hinaus, und auf dem fröhlichen Blumenmuster der Tapeten brachen sich die Strahlen der hereinfallenden Februarsonne.
Mit einem erleichterten Aufseufzen stellte die junge Irin ihre Reisetasche auf dem Tisch ab, stemmte die Arme in die Taille und blickte sich um.
»Ich hoffe, Ihr Zimmer gefällt Ihnen«, bemerkte Pauline. »Es ist unmittelbar neben meinem gelegen. Wenn Sie also irgendetwas benötigen sollten …«
Lächelnd drehte sich Miss O’Meally einmal um ihre eigene Achse, bevor sie anerkennend nickte. »Nicht schlecht, muss ich sagen. Im Gegenteil. Sehr hübsch.« Dann schaute sie Pauline an. »Vielen Dank dafür. Auch für den freundlichen Empfang. Ich hoffe, ich habe mit meiner direkten Art Ihre Schülerin nicht allzu sehr verschreckt. Bisweilen kann ich einfach nicht aus meiner Haut.«
»Louise wird es schon überleben. Etwas mehr Offenheit wird allen hier im Haus guttun«, erwiderte Pauline diplomatisch. »Zudem ist man hierzulande bisweilen ebenfalls ein wenig empfindlich … bei gewissen Fragen, die Herkunft betreffend.« Pauline dachte daran, wie heftig manche ihrer lothringischen Landsleute noch immer darauf reagierten, wenn man sie als Deutsche bezeichnete, obgleich sie dies – zumindest auf dem Papier – seit nunmehr vierzig Jahren tatsächlich waren. Besonders im französischsprachigen Teil des sogenannten Reichslandes Elsaß-Lothringen, zu dem auch ihre Heimatstadt Metz zählte, bisweilen auch abfällig Welschland genannt, brannte der Stachel der aufgezwungenen deutschen Kultur noch immer tief.
»Ich verstehe.« Wissend zog die junge Irin die Augenbrauen hoch. »Aber nun wollen wir mal!« Mit diesen Worten zog sie einen kleinen Schlüssel hervor, der sich an einer Kette um ihren Hals befand, und öffnete damit die Tasche.
Anschließend machte sie sich daran, die mitgebrachten Röcke, Blusen und Wäsche in den dafür vorgesehenen Schrank zu räumen. Bereits auf den ersten Blick erkannte Pauline, dass die Stoffe von recht einfacher Qualität, jedoch tadellos sauber und gepflegt waren.
»Einen Teil davon packe ich am besten schon in die kleine Reisetasche, wenn es morgen direkt wieder weitergeht«, meinte Miss O’Meally, und Pauline stimmte ihr zu.
Tatsächlich würden sie bereits am folgenden Tag zu einer dreitägigen schulischen Exkursion ins nahe gelegene Sarreguemines aufbrechen, oder Saargemünd, wie die lothringische Stadt im offiziellen Amtsdeutsch hieß.
Pauline war erleichtert, dass die junge Kollegin gerade noch rechtzeitig angekommen war, um das Trüppchen dabei zu begleiten.
»Das klingt sinnvoll«, bestätigte Pauline. »Und sollten Sie darüber hinaus etwas benötigen, fragen Sie unser Hausmädchen Camille. Auch für Einkäufe in der Stadt ist sicher noch Zeit.«
»Eine sehr gute Idee.« Rhona O’Meally lächelte erfreut. »Ich werde mich umzusehen wissen.«
Pauline nickte. »Bestimmt haben Sie Hunger. Das Mittagessen ist bereits vorbei, doch Lisbeth ist eine ganz hervorragende Bäckerin und hat unten in der Bibliothek eine kleine Stärkung für Sie vorbereitet.« Einladend wies Pauline zur geöffneten Tür, hinter der sich der schmale Flur erstreckte, welcher die privaten Zimmer des Lehrpersonals von den öffentlichen Räumlichkeiten trennte.
Feine Grübchen erschienen auf den Wangen der jungen Irin. »Wie könnte ich ein solches Angebot ausschlagen, wo doch mein Magen schon eine ganze Weile so laut knurrt, dass es Ihnen wahrscheinlich in den Ohren dröhnt.«
»Pas du tout. Nicht im Geringsten.« Pauline konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, als sie den Kopf schüttelte, vor der neuen Kollegin hinaus auf den Flur trat und dort einen Augenblick stehen blieb. »Auf der dem Garten zugewandten Seite der ersten Etage befinden sich die Schlafräume für das Lehrpersonal sowie ein kleines Bad. Auf der gegenüberliegenden Seite mein persönliches Bureau sowie der Salon und das Réfectoire.« Sie öffnete die Tür und wies hinein. »Der Salon wird auch als Musikzimmer genutzt, zudem als Ort für Feierlichkeiten.« Kurz musterte sie den kleinen, geschmackvoll eingerichteten Raum, der neben einigen zierlichen Sesseln und runden Tischchen mehrere Schränke, ein Grammofon mit ausladendem Trichter und ein Klavier umfasste. Die kunstvollen Teppiche und schweren Brokatgardinen gaben ihm eine elegante, gediegene Note.
»Très chic«, kommentierte Miss O’Meally in durchaus verständlichem Französisch, dessen rauchiger Akzent Pauline erneut ein Lächeln entlockte.
Sie schloss die Tür des Salons wieder hinter sich und öffnete die zu ihrem direkt daran anschließenden Bureau, Paulines persönlichem kleinem Reich. Ein Schreibtisch aus hellem Nadelholz war zu sehen, dazu mit Büchern bestückte Regale sowie Vitrinen, die neben Büsten französischer Autoren auch ein Teeservice beinhalteten. Ein kleiner runder Tisch mit drei Stühlen stand vor einem mit Spitzengardinen ausgestatteten Halberker und verlieh dem sonst eher dienstlich wirkenden Raum ein feminines Flair.
»Und dann wäre da noch das Réfectoire, der Speisesaal«, schloss Pauline ihre kleine Führung durch die Beletage und schritt zur besagten Räumlichkeit, deren Tür sie öffnete. Auch hier war es ihr gelungen, trotz der schlichten und zweckmäßigen Einrichtung, die aus einem lang gestreckten, bestuhlten Tisch, zwei Vitrinen und einer Anrichte bestand, durch feine Details, Tischdecken, Gardinen, Bilderrahmen und eine chinesisch bemalte Blumenvase für die elegante Atmosphäre zu sorgen, auf die sie in ihrer Schule großen Wert legte.
Der jungen Irin schien das nicht entgangen zu sein, denn sie nickte anerkennend. »Ich muss schon sagen, aus diesem Haus haben Sie wirklich etwas gemacht. Klein, aber fein.«
Pauline lächelte. »In der Altstadt hier ist tatsächlich alles etwas beengt, hohe, schmale Gebäude mit kleinen Zimmern. Aber es geht.« Mit den Händen wies sie durch den Speisesaal. »Hier nehmen die Schülerinnen zusammen mit den Lehrerinnen die Mahlzeiten ein, während das Hauspersonal unten in der Küche isst.«
Wortlos schritt Miss O’Meally an Pauline vorbei zum Fenster und schaute nach draußen. »Reizendes Städtchen. Ich hoffe, bald mehr davon zu sehen. Nur, hm, liegt ständig dieser Ruß in der Luft?«
Pauline bejahte. »Die Hochöfen der Carlshütte, das Eisenwerk der Gebrüder Röchling, ein wichtiger Arbeitgeber in der Region. Kohle und Stahl … Aber es gibt auch viel Natur hier, mehrere Stadtparks, die Moselpromenade. Ein wundervoller Anblick, wie der Fluss sich durch die Landschaft schlängelt, sich das Licht auf seiner Oberfläche bricht.«
Etwas Sehnsuchtsvolles trat in den Blick der jungen Irin. »Oh ja, bald wird es Frühling werden. Unterwegs habe ich schon die ersten Krokusse entdeckt.« Versonnen sah sie zu Pauline hinüber, die ebenfalls ans Fenster getreten war. »Ich habe den Frühling stets gemocht. Eine Zeit so voller Hoffnung, voller Verheißungen, wenn auch …« Sie ließ den Rest des Satzes in der Luft hängen und wandte sich wieder nach draußen, wo gerade ein kleines Grüppchen Soldaten vorbeizog.
Rhona O’Meally runzelte die Stirn. »Ziemlich viel Militär hier in der Stadt.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um besser hinausblicken zu können. »Seid ihr hier etwa besetztes Gebiet?«
Verblüfft hielt Pauline inne. Besetzt?Besetzt von den Preußen? »Ähm, wir …« Diese direkte Frage hatte Pauline derart überrumpelt, dass sie nicht wusste, was sie darauf antworten sollte. »Nun, in gewisser Weise könnte man das vielleicht so ausdrücken. In Thionville gibt es eine preußische und eine bayerische Garnison, wie in vielen Städten im Reichsland Elsaß-Lothringen. Doch besetzt … Nun …« Sie schüttelte den Kopf, als ihr keine wirklich diplomatische Antwort einfiel.
Beschwichtigend legte Rhona die Hand auf ihre Schulter. »Sie müssen mich entschuldigen, Mademoiselle. Bisweilen kann ich wirklich ganz entsetzlich unverblümt sein. Aber ich weiß, was Sie meinen. Natürlich ist Diedenhofen keineswegs eine besetzte Stadt, vielmehr eine deutsche Stadt, und das schon seit vierzig Jahren, wie man mir sagte. Und die Preußen da unten«, vage wies sie aus dem Fenster, »die sind folglich Ihre Landsleute, Ihre eigene Armee, nicht wahr?« Die Ironie in den Worten war unüberhörbar.
Pauline biss sich auf die Lippen. »Nun ja, irgendwie schon.«
Miss O’Meally hob die Augenbrauen. »Ich verstehe. Solange Sie Ihren Posten als Institutsleiterin in dieser Stadt behalten wollen, dürfen Sie natürlich nichts anderes verlauten lassen. Auch wenn es Ihnen offensichtlich keineswegs passt.« Schwungvoll wandte sie sich vom Fenster ab. »Sie müssen mir nichts erklären, ich weiß schon, wie es mit denen da«, sie wies wieder nach draußen, »so zu leben ist. Ist Ihr werter preußischer König Wilhelm, der sich zugleich deutscher Kaiser nennt, nicht auch ein Enkel unserer kürzlich verstorbenen Monarchin Victoria gewesen?« Sie rümpfte die Nase. »Von daher brauchen Sie mir wirklich nichts zu erzählen. Ich kenne dieses feine Völkchen nur allzu gut.«
Pauline musste schlucken. Zwar war sie selbst eine Freundin des offenen Wortes, die höchst selten mit ihrer Meinung hinter dem Berg hielt. Doch eine derartige Respektlosigkeit gegenüber dem amtierenden Monarchen hätte sie nie laut zu äußern gewagt. Zumindest nicht in ihrer Schule.
»Bitte entschuldigen Sie!« Rhona zog ein zerknirschtes Gesicht. »Jetzt habe ich es schon wieder getan und Sie verschreckt.« Wie zur Versöhnung hielt sie Pauline die Hand hin. »Ich hoffe, Sie geben mir trotzdem noch eine Chance und werfen mich nicht gleich hochkant aus Ihrer Schule?« Der koboldhafte Charme, welcher der Irin dabei in den Augenwinkeln stand, erschwerte es Pauline, ernst zu bleiben.
»Solange Sie versprechen, derartige Äußerungen nicht meine Schülerinnen hören zu lassen. Und auch niemanden vom Personal. Hierzulande kann man mit dem, was man sagt, nicht vorsichtig genug sein.«
Miss O’Meallys Händedruck war überraschend fest, als Pauline die ihr dargebotene Hand ergriff. Dann drehte sie sich rasch um und trat auf den Flur, um nach unten zur Bibliothek zu gehen.
Als sie die Treppe hinunterging, glaubte sie eine leise Stimme zu vernehmen: »Nicht nur hier, Liebchen, nicht nur hier.«
Am späten Nachmittag desselben Tages glich das vornehme Pensionat für höhere Töchter einem Taubenschlag. Die Türen der Schlafzimmer in der zweiten Etage standen offen, und die elf Schülerinnen, die diese meist zu zweit bewohnten, waren dabei, ihre Koffer für die dreitägige Exkursion nach Sarreguemines zu packen. Eine bedeutende Industriestadt an der Grenze zwischen Lothringen und der preußischen Rheinprovinz, welche in Deutschland und Frankreich gleichermaßen für ihre gehobene Faïence-Kunst bekannt war.
Pauline, deren erklärtes Ziel es war, ihre Schützlinge zur Selbstständigkeit zu erziehen, bemühte sich, bei den Reisevorbereitungen der Mädchen so wenig wie möglich einzugreifen, und würde sich lediglich zum Abschluss vergewissern, dass nichts Wichtiges fehlte. Dennoch blieb sie in der Nähe, lugte hin und wieder in einen der Räume und gab hilfreiche Ratschläge.
»Packt nicht zu viel ein. Wir sind ja nur wenige Tage dort. Die wahre Kunst besteht nicht darin, die Koffer vollzustopfen, sondern geschickt auszuwählen. Vorab zu überlegen, was man wirklich gebrauchen kann.«
Nachdenklich fiel ihr Blick auf den großen Spiegel, der sich an einer Wand im Flur befand. Sie betrachtete die schlanke, wohlproportionierte Figur, die sie darin sah, in einem knöchellangen altrosa Rock, mit einer weißen, eng auf Figur geschneiderten Bluse darüber. Ihr kastanienfarbenes Haar war zu einer schlichten Frisur aufgesteckt. An einer dünnen Goldkette um ihren Hals schimmerte ein zierliches Doppelkreuz, ein sogenanntes Lothringer Kreuz, eines der Wahrzeichen ihrer Heimat.
»Ich weiß gar nicht, was ich einpacken soll!«, jammerte Charlotte. »Ich glaube, ich habe nichts Richtiges anzuziehen. Schon gar nichts, was für dieses Provinznest, in das wir fahren werden, passend wäre.«
Langsam wandte sich Pauline von ihrem Spiegelbild ab und betrat das Zimmer, welches Charlotte von Schwegat mit ihrer Mitschülerin Esther David bewohnte. »Eine Einstellung, die ich leider nicht teilen kann. Die wahre Dame von Welt weiß stets, wie sie aufzutreten hat. Ganz gleichgültig, wo sie sich gerade befindet.«
Statt einer Antwort rollte Charlotte nur abwehrend mit den Augen und fuhr dann fort, den Inhalt ihres Kleiderschranks zu durchforsten.
»Und du, Esther, bist du froh, so bald nach den Weihnachtsferien wieder nach Hause zu kommen?« Die Angesprochene, ein aufgewecktes dunkelhaariges Mädchen, welches Pauline von Beginn an durch eine interessante Mischung aus Schüchternheit und messerscharfem Verstand aufgefallen war, strahlte. »Oh ja, Mademoiselle. Eine schöne Überraschung. Besonders, da ich ja diesmal in den Osterferien nicht heimfahren kann, weil meine Eltern dann in Thüringen sind, bei Mutters Cousine, die ihr Kind erwartet.«
Ebenfalls lächelnd legte Pauline Esther die Hand auf die Schulter. »Wie schön, das freut mich für dich.«
Esthers Familie lebte in Sarreguemines und betrieb dort einen kleinen, aber sehr erfolgreichen Laden für Faïence, Porzellan und andere Haushaltswaren. Um das Selbstbewusstsein des Mädchens zu stärken, hatte Pauline es dazu aufgefordert, zusammen mit Fräulein Schmitt, die unter anderem Geografie an der Schule unterrichtete, eine kleine Führung auszuarbeiten, bei der die Schülerinnen das Wichtigste dieses an der Mündung von Blies und Saar gelegenen Städtchens erleben konnten.
Und obgleich derartige schulische Exkursionen immer mit sehr viel Arbeit und Vorbereitungen verbunden waren, freute sich Pauline darauf. Es war ihr wichtig, dass ihre Schützlinge ihren Horizont erweiterten und zudem das Land, in dem sie lebten, besser kennenlernten: das wunderschöne, wenn auch zutiefst zerrissene Lothringen.
Ein Knarren von der Treppe her ließ Pauline sich umwenden, und sie erkannte, dass ihre jüngere Kollegin auf dem Weg zu ihr nach oben war. Eleonore Schmitt war eine große Stütze in ihrem Pensionat, eine junge Frau, die sie von Tag zu Tag mehr zu schätzen lernte. Auch wenn sie mit den streng zurückgekämmten, schmucklos am Hinterkopf zusammengesteckten dunkelblonden Haaren, den stets dunklen Kleidern und der schwarz umrandeten Brille auf den ersten Blick wie eine spröde alte Jungfer wirkte, verbargen sich dahinter ein wacher Geist und ein ausgeprägter, trockener Humor.
»Ich hoffe, es geht gut voran mit dem Packen, Mademoiselle«, sagte sie mit einem Lächeln, als sie die oberste Etage erreicht hatte und das allgemeine Treiben begutachtete. »Wenn Sie möchten, kann ich Sie hierbei für eine Weile ablösen. Lisbeth braucht unten in der Küche Ihre Hilfe. Es geht um Fragen für den Reiseproviant, die sie gerne mit Ihnen geklärt hätte.«
»Oh ja, vielen Dank.« Erleichtert, für einen kurzen Moment dem allgemeinen Trubel entkommen zu können, schritt Pauline Richtung Treppe. »Die neue Kollegin, Miss O’Meally, ist gerade in der Stadt, um noch einige Dinge für die Reise zu besorgen. Ich überlasse die Meute hier dann so lange Ihrem wachsamen Auge.«
Ein kurzes Auflachen war die Antwort, und schon war Pauline die beiden Etagen nach unten ins Erdgeschoss geeilt, wo auf der einen Seite die Salle de Classe, der Klassenraum, sowie die hauseigene Bibliothek, auf der anderen Seite der Hauswirtschaftstrakt mit der Küche lagen.
Bereits von Weitem schlug ihr der Geruch von gerösteten Zwiebeln, Butter und gebratenem Fleisch entgegen, und Pauline spürte, wie ihr das Wasser im Mund zusammenlief.
»Es duftet wieder einmal wunderbar, Lisbeth«, sagte sie statt einer Begrüßung, als sie die Küche betrat. Die bereits grauhaarige, etwas korpulente Elsässer Köchin stand mit vorgebundener Schürze und aufgekrempelten Ärmeln am Herd und schmeckte gerade mit einem großen Löffel die Sauce ab. Das Hausmädchen Camille, in schwarzem Kleid, weißer Schürze und gestärktem Häubchen, war derweil damit beschäftigt, die fertig zubereiteten Speisen in Schüsseln, Schalen und Terrinen umzufüllen, bevor diese dann im Speisesaal, im Réfectoire, in der ersten Etage serviert werden würden.
»Jesses Maria, so viel Arweit!«, schnaubte Lisbeth, als sie mit dicken Topflappen den schweren Bräter vom Feuer zog und Camille Anweisung gab, das Fleisch herauszunehmen und in dünne Scheiben zu schneiden.
»Nach dem Abendessen werden Camille und ich damit beginnen, den Reiseproviant vorzubereiten. Sicher brauchen Sie ein paar belegte Brote für die hungrige Meute.«
Pauline, die nicht verhindern konnte, dass beim Anblick all dieser Köstlichkeiten ihr Magen zu knurren begann, besonders als sie einen Schokoladenpudding entdeckte, üppig verziert mit eingelegten Kirschen und einem Sahnehäubchen, stimmte ihr zu. »Vielen Dank, das kann nicht schaden.«
Camille schickte sich bereits an, die erste Schüssel nach oben zu tragen, und mit einem Lächeln hielt Pauline ihr die Tür auf.
»Merci, Mademoiselle«, sagte diese schüchtern, doch hatte Pauline den Eindruck, dass das junge Mädchen, das sie vor etwa zwei Jahren mehr aus Mitleid eingestellt hatte, weniger verhuscht und ängstlich wirkte als noch vor einem halben Jahr. Auch schien sie nicht mehr ganz so mager zu sein, ihre Wangen wirkten fülliger und rosiger. Und während sie aus dem französischsprachigen Teil des annektierten Lothringen stammte, aus der Nähe von Château-Salins, und bei ihrer Ankunft hier in der Schule fast nur Französisch gesprochen hatte, wiesen auch ihre Deutschkenntnisse in letzter Zeit merkliche Verbesserungen auf.
»Gut, und wie macht sich die Neue?«, fragte Lisbeth, während sie vorsichtig mit einem Schaumlöffel perfekt geformte Kartoffelklöße aus dem Topf in eine Schüssel füllte. »Ich hoffe ja wirklich, Mamsell, dass Sie auf diese Art ein wenig Entlastung finden. Die ganze Arbeit nur auf vier Schultern verteilt …« Sie schüttelte den Kopf.
»Nun, um ehrlich zu sein, hatte ich bisher noch keine Gelegenheit, sie wirklich kennenzulernen. Eine weit gereiste, durchaus selbstbewusste junge Frau, würde ich sagen. Und da sie zudem nicht nur Englisch, sondern auch Musik unterrichtet, kann das nur von Vorteil sein.«
Es kostete Pauline Mühe, ihren Blick von den beiden Blechen abzuwenden, auf denen frisch gebackene Apfelkuchen zur Abkühlung standen.
»Von ihren pädagogischen Fähigkeiten werde ich mich allerdings erst nach unserer Rückkehr überzeugen können. Ab morgen sind wir ja ein paar Tage weg, und danach …«
Ihr Blick ging durch das Küchenfenster, das in den Garten führte. »Wo wir gerade von ihr sprechen, dahinten scheint sie von ihren Erledigungen zurückzukommen. Zumindest ist sie pünktlich, das muss man ihr lassen. Bien …« Pauline rieb sich die Hände. »Dann können wir gleich mit dem Abendessen beginnen, ich lasse die Mädchen rufen.«
*
Es quietschte leise, als Rhona das schmiedeeiserne Tor öffnete, welches von der Rückseite in den Garten führte. Tatsächlich hatte sie Mademoiselle Martins Rat befolgt und in der Stadt noch rasch einige Besorgungen für die morgige Exkursion erledigt. Leider war ihr dabei zu wenig Zeit geblieben, um mehr als einen ersten flüchtigen Eindruck von ihrer neuen Wirkungsstätte zu bekommen. Aber dazu wäre nach ihrer Rückkehr aus Saargemünd sicher ausreichend Gelegenheit.
Der stramme Marsch durch die Stadt hatte die Februarkälte aus Rhonas Knochen vertrieben, trotzdem war sie froh, bald wieder im Warmen zu sein.
Feine Atemwölkchen bildeten sich um ihren Mund, als sie eilig den Garten durchquerte, der um diese Jahreszeit noch im Dornröschenschlaf lag und recht kahl aussah.
Dennoch konnte man bereits jetzt sehen, dass die Beete schön angelegt waren, eine sorgfältige Hand darüber wachte. Seltsam starr wirkten die unbelaubten Äste der beiden Bäume, die ein kleines Gartenhäuschen flankierten. Vor einer gemauerten Mariengrotte flackerte eine Kerze in einem Windlicht.
»Guten Abend.« Eine sonore männliche Stimme ließ Rhona aufschauen. »Haben Sie sich mit unserer schönen Stadt etwas vertraut gemacht? Jetzt im Winter mag sie ein wenig trist wirken. Aber im Sommer, da kann ich Ihnen verraten …«
Rhona erblickte einen in Stiefel und Wolljacke gekleideten jungen Mann, der mit freundlichem Lächeln auf sie zukam. Blondes Haar lugte unter einer Schiebermütze hervor. Sie schätzte ihn auf Anfang bis Mitte zwanzig. Er streckte ihr die Hand entgegen. »Ich glaube, wir sind uns noch nicht vorgestellt worden. Ich bin Vincent Lehmann, der Gärtner des Pensionats, der ganz nebenbei auch noch die anfallenden Hausmeistertätigkeiten verrichtet. Willkommen in Diedenhofen.«
Ohne zu zögern, ergriff Rhona die Hand, schwielige Finger empfingen die ihren, sein Händedruck war warm und fest. Sympathisch.
»Rhona O’Meally«, stellte sie sich vor, obgleich dem Mann diese Tatsache bekannt sein dürfte. »In der Tat ein interessantes Städtchen. Doch wird es eine Weile dauern, bis ich mich hier zurechtfinde.«
Ein feines Lächeln umspielte die Mundwinkel und die ausdrucksvollen tiefblauen Augen des jungen Mannes. Sehr forsch für einen einfachen Hausangestellten, wie Rhona fand, aber nicht unangenehm. Ganz im Gegenteil. Da war etwas an ihm, das …
»Gleich ist Zeit fürs Abendessen. Der Duft von Lisbeths Kochkünsten zieht schon bis hinaus in den Garten. Sie werden natürlich zusammen mit den höheren Töchtern im Réfectoire speisen, während unsereiner mit der Küche vorliebnehmen muss.« Er zwinkerte spitzbübisch. »Deshalb verabschiede ich mich jetzt. Doch wenn Sie irgendwo Hilfe benötigen, eine knarrende Fußbodendiele oder ein hängender Fensterladen, sollten Sie wissen, dass Sie mich jederzeit hier finden können.« Mit der Hand zeigte er auf das kleine, aber sehr gepflegt wirkende Gartenhäuschen mit weiß getünchten Wänden, vor dem eine schmiedeeiserne Bank stand.
Wirklich alles sehr nett hier. Sauber. Gepflegt. Ruhig. Rhona nickte. »Sehr erfreut, Herr Lehmann. Bei Bedarf werde ich gerne auf Ihr Angebot zurückkommen.«
Dienstbeflissen tippte er sich an die Mütze. »Immer gerne doch, Miss.«
Als Rhona an ihm vorbei durch den Hintereingang das Haus betrat, spürte sie, dass sie sich besser fühlte als seit Wochen und dass etwas von der Anspannung von ihr abgefallen war.
Ob es ihr hier in Lothringen gelingen würde, ihre eigene, zutiefst gespaltene Heimat hinter sich zu lassen, und alles, was dort geschehen war?
*
»… Was wir aus deiner gütigen Hand empfangen haben. Amen.«
Kaum war das Tischgebet beendet, griffen die Hände von elf Schülerinnen und drei Lehrerinnen nach den Servietten, falteten diese auseinander und legten sie sich auf den Schoß. Ein deutlich hörbares Klirren und Klappern begann, als sich alle reihum aus den bereitgestellten Schüsseln, Platten und Terrinen bedienten. Obgleich es, wie stets bei Tisch, äußerst gesittet zuging, spürte Pauline die stumme Spannung, die mühsam unterdrückte Neugierde, die über der Tafel lagen.
Zu Ehren der neuen Lehrerin, welche den ganzen Tag über noch keine warme Mahlzeit bekommen hatte, und weil es am folgenden Tag auf große Fahrt ging, fiel das Abendessen an diesem Tag etwas üppiger aus als sonst.
Mit der Hand gab Pauline ein Zeichen, dass Gespräche erlaubt seien. Eine Entscheidung, die zugleich der neuen Kollegin die Möglichkeit geben sollte, sich ungezwungen mit allen vertraut zu machen.
»Miss O’Meally?« Das 15-jährige, ein wenig füllige Mädchen, welches sofort das Wort ergriffen hatte, obgleich sie noch einen Bissen im Mund hatte, schluckte hastig, ehe sie fortfuhr. »Miss O’Meally, können Sie uns schon sagen, welche Bücher wir in diesem Jahr mit Ihnen lesen werden?« Vorfreude und Interesse hatten sich auf dem rundlichen Gesicht der Schülerin ausgebreitet, welche neugierig die Antwort der irischen Lehrerin abwartete.
»Brunhilde Klawe«, kommentierte Pauline, »unsere kleine Leseratte. Sie verschlingt alles, was ihr an gedrucktem Papier zwischen die Finger gerät. Am liebsten, wenn es um strahlende Helden und wilde Abenteuer geht. Ich bin sicher, sie wird sich auch als große Stütze Ihres Literaturunterrichts erweisen.«
Die so Belobigte errötete ein wenig und spülte ihre Verlegenheit mit einem Schluck Limonade hinunter.
Aufmerksam sah die Irin zu ihr herüber. »Das freut mich zu hören, Brunhilde. Nun, für die ersten Wochen habe ich einen Klassensatz Bücher von zu Hause mitgebracht. Eine Lektüre mit einem jungen Helden, in der es tatsächlich um wilde, spannende Abenteuer geht. Oliver Twist von Charles Dickens. Habt ihr schon einmal von ihm gehört?«
Oliver Twist. Pauline hob die Brauen. Eine interessante Auswahl zum Einstieg. Sie konnte sich vorstellen, dass diese Lektüre tatsächlich auf die Begeisterung der Mädchen stoßen würde. Wahrscheinlich wesentlich mehr als eine Tragödie von Shakespeare, zumal dessen altertümliche Ausdrucksweise die sprachlichen Fähigkeiten ihrer Schülerinnen überfordern würde.
»Oh, das wäre schön. Haben Sie noch mehr mitgebracht? Zeitungen vielleicht? Oder Material zu Ihrer Heimat Irland? Das wäre sicher spannend. Besonders, da die politische Situation in Ihrem Land durchaus, hm, schwierig zu nennen ist. Ich habe darüber gelesen, und nun …« Das junge, hochgeschossene Mädchen, welches das Wort an sich gerissen hatte, stockte, als es die überraschte Miene der irischen Lehrerin bemerkte. »Bitte entschuldigen Sie, wenn die Frage zu forsch gewesen ist. Doch finde ich die Ereignisse in Ihrem Land wirklich interessant. Und vielleicht besteht ja die Möglichkeit, im Geografieunterricht …« Beinahe entschuldigend hob sie die Achseln. Wieder sah sich Pauline genötigt, einige erklärende Worte hinzuzufügen.
»Ernestine hegt den Wunsch, einmal als Journalistin für ein Magazin oder eine Zeitung zu schreiben. Wie Brunhilde ist auch sie eine Freundin des gedruckten Wortes, weniger jedoch im Bereich der historischen Literatur, als vielmehr in Sachen des aktuellen Tagesgeschehens.« Pauline verbiss sich ein Schmunzeln. Tatsächlich war Ernestine erst zu Beginn des Schuljahres neu hinzugekommen, ein recht unprätentiöses Wesen, mit bestechend klarem Verstand und treffenden Schlussfolgerungen. Zwar fragte sie sich, ob ihr Vater, ein aus Düsseldorf stammender Verwaltungsbeamter, der im grenznah gelegenen Forbach einen Posten ergattert hatte und sich aufgrund der gesundheitlichen Schwäche seiner Frau nicht in der Lage fühlte, seine heranwachsende Tochter zu erziehen, sich mit deren doch recht eigenwilligem Berufswunsch anfreunden würde. Doch konnte sich Pauline vorstellen, dass Ernestine, wenn es dieser gelänge, sich ihren Traum zu erfüllen, tatsächlich eine hervorragende Journalistin werden würde.
Und obgleich sich das Mädchen ihren Platz in der bereits zusammengewachsenen Gemeinschaft der Schülerinnen erst hatte erkämpfen müssen, konnte sie sehr schnell eine Freundschaft mit Marthe Gross schließen, die ihr Interesse an politischen und gesellschaftlichen Fragen teilte. Wenn auch unter ein wenig anderen Vorzeichen, war Marthe doch die Tochter eines bekennenden Sozialisten, weshalb sie einen sehr konkreten Blick auf aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen hatte. Auch mit Sophie Loos verstand sie sich gut, einer Luxemburgerin, deren puppenhaftes Gesicht mit den blauen Augen und dem hellbraunen Haar nicht erkennen ließ, wie leidenschaftlich sie sich für die Rechte von Frauen und Mädchen ereifern konnte.
»Das freut mich wirklich zu hören, Ernestine. Es ist immer schön, wenn jemand, besonders ein junger Mensch, dazu bereit ist, den eigenen Horizont zu erweitern. Sehr gerne werde ich aus meiner Heimat berichten. Ich verspreche, dass es nicht langweilig werden wird. Irland hat viel zu bieten.«
»Auch Pferde?«, mischte sich nun Gelsa ins Gespräch. »Irgendwo habe ich mal gehört, dass Irland auch für seine hervorragenden Pferdezuchten bekannt ist.« Das brünette Mädchen mit den ein wenig herben Zügen legte das Besteck nieder, während sie auf die Antwort wartete. Lächelnd stellte Pauline sie vor: »Das ist Gelsa von Kucharski. Ihr Vater ist preußischer Offizier bei einem Infanterieregiment im elsässischen Zabern. Zuvor hat er Dienst bei den Dragonern getan. Von daher die Liebe zu Pferden.«
»Oh ja«, bestätigte Gelsa. »Richtig schade, dass er nun bei der Infanterie ist. Auch wenn er seinen Hengst Ivan mitnehmen konnte. Es ist ja schon etwas anderes. Zumal dort in Zabern …« Sie unterbrach sich und schien zu überlegen, fuhr dann jedoch fort: »Es ist doch schon etwas anderes als daheim.«
Pauline horchte auf. Dass Gelsa sich in Elsaß-Lothringen nicht zu Hause fühlte, hatte sie ihr gegenüber noch nie verlautbaren lassen. Aber natürlich musste für das junge Mädchen, das im Brandenburgischen aufgewachsen war, vieles ungewohnt oder gar befremdlich sein. Zumal die Angehörigen des preußischen Militärs von der einheimischen Bevölkerung oft nicht gerne gesehen waren.
Und obgleich auch Pauline selbst die Anwesenheit der deutschen Regimenter als einen Dorn im Fleisch sah, kam sie nicht umhin, Mitleid mit ihrer Schülerin zu empfinden.
Eleonore Schmitt ließ das Besteck sinken. »Leider hatte ich bisher noch keine Gelegenheit, Ihre wunderschöne Heimat zu besuchen.« Ihr Tonfall drückte Bedauern aus. »Doch habe ich schon einiges darüber gelesen.«
Miss O’Meally schmunzelte. »Ich fürchte, Beschreibungen reichen nicht aus, um auch nur einen kleinen Eindruck von all den Wundern zu bekommen, die Irland zu bieten hat.«
»Das glaube ich gern. Ich habe von den verschiedenen Felsformationen gehört, die es auf Ihrer Insel, aber auch vor der Küste im Meer zu bestaunen geben soll. Mich interessiert ja, wie derartige Gebilde zustande kommen.« Begeistert leuchteten ihre Augen hinter den Brillengläsern auf. Obwohl ihr nach außen hin strenges Auftreten etwas anderes suggerieren mochte, im Herzen war Eleonore Schmitt eine Abenteurerin mit einem stark ausgeprägten Faible für Geografie und Geologie, die bei den Mädchen sehr beliebt war. Sie stammte aus dem Hannoveranischen, aus recht einfachen Verhältnissen. Weshalb ihr größere Reisen bisher verwehrt geblieben waren.
»Eine gute Frage, die schon seit Jahrtausenden die Fantasie meiner Landsleute anregt.« Miss O’Meally machte eine ausladende Geste. »Man erzählt sich, es seien Riesen gewesen, die diese Felsformationen schufen. Mythische Gestalten, die …«
»Ist es wahr, dass die Iren alle Säufer sind?« Die schneidende Stimme, welche der Lehrerin ins Wort fiel, gehörte zu Charlotte von Schwegat, die offensichtlich des Geredes über geografische und zoologische Besonderheiten ebenso überdrüssig geworden war wie der Tatsache, beim Gespräch nicht selbst im Mittelpunkt zu stehen. »Ich habe einen Artikel in einer Zeitung gelesen, dass man in Irland …«
»Charlotte! Ich muss dich doch sehr bitten!«, unterbrach Pauline das Mädchen. »Wie kannst du nur derart deine Manieren vergessen? Erst einer Lehrerin ins Wort fallen und dann solche Beleidigungen von sich geben. Ich bin empört. Zutiefst.«
Ein Ausdruck, der irgendwo zwischen Erschrecken und Trotz lag, machte sich auf Charlottes Gesicht breit. »Also das verstehe ich jetzt nicht«, gab sie schließlich in gekränktem Tonfall zurück. »Erst sagen Sie, wir sollen uns stets eine eigene Meinung bilden, und wenn wir das tun, dann ist es auch nicht in Ordnung!«
Pauline spürte, wie die Entrüstung in ihr aufkochte. Ihre Worte, ja ihr hehres Erziehungsziel ihr derart im Mund herumzudrehen, machte es ihr schwer, ihre sonst übliche Contenance aufrechtzuerhalten. »Es ist ein großer Unterschied, Charlotte«, erklärte sie kühl, »im richtigen Augenblick seine eigene Meinung zu vertreten oder völlig grundlos jemanden zu brüskieren. Noch dazu einen Gast. Von daher …« Sie machte eine bedeutungsvolle Pause. »Von daher solltest du dich bei Miss O’Meally für deine Dreistigkeit entschuldigen.«
»Entschuldigen?« Charlottes Augen wurden riesig. Sie wirkte, als hätte man sie dazu aufgefordert, in Lumpen gekleidet am Kirchenportal um Almosen zu betteln. »Ich soll mich wirklich entschuldigen? Für eine harmlose Frage?«
»Für ein höchst unangemessenes, rüdes Benehmen«, verbesserte Pauline. »Ein Auftreten, das keineswegs von freier Meinung zeugt, sondern lediglich von …«
»Lassen Sie es gut sein, Mademoiselle!«, war es nun Rhona, die das Gespräch unterbrach. »Wir Iren sind aus hartem Holz geschnitzt. Da bedarf es weitaus mehr als der ungezogenen Bemerkungen eines unreifen Görs, um mich zu treffen. Dennoch vielen Dank für Ihre Unterstützung.«
Mit diesen Worten nahm sie die Mahlzeit wieder auf, als sei nichts geschehen.
Charlottes Gesicht indes war zornesrot angelaufen, doch enthielt sie sich eines weiteren Kommentars.
Während sich eine ungewohnte Stille über den Abendbrottisch senkte, konnte Pauline sich einer gewissen Befriedigung nicht erwehren.
Im Gleichklang hallten die Schritte der Soldaten in den genagelten Stiefeln auf den Pflastersteinen wider. Dumpf und dröhnend, obwohl sie leichten Fußes unterwegs waren. Keineswegs in die Schlacht, sondern lediglich vor die Tore der Stadt, um sich bei einem kleinen Marsch zu ertüchtigen. In den vergangenen Tagen hatten die ersten Vorboten des Frühlings Einzug in Lothringen gehalten. Überall sprossen lilafarbene Krokusse aus der kühlen Erde, immer wieder lugte die Frühlingssonne hinter den Wolken hervor, erwärmte den Boden und die Gemäuer der Stadt. Hauptmann Erich von Pliesnitz war versucht, ein kleines Lied anstimmen zu lassen, um auch die Stimmung seiner Männer zu heben. Der Respekt gegenüber der einheimischen Bevölkerung, häufig Lothringer, welche die Anwesenheit des hier stationierten preußischen und bayerischen Militärs noch immer als Affront empfanden, ließ ihn jedoch davon absehen.
Aufgeregt durcheinanderschnatternde Stimmen drangen an sein Ohr, jugendliche Stimmen, die dennoch laut genug waren, um das Dröhnen der Stiefel zu übertönen. Als Erich aufsah, bemerkte er eine Schar ordentlich in Mantel und Hut gekleideter junger Mädchen in Richtung Bahnhof spazieren, die Stiefel fest geschnürt, jeweils eine Reisetasche in der Hand. Gediegene großbürgerliche Eleganz. An der Spitze des kleinen Trüppchens ging eine rothaarige Dame, die er nie zuvor gesehen hatte. Ohne im Marsch innezuhalten, runzelte Erich die Stirn.
Erst beim zweiten Hinsehen bemerkte er eine andere junge Frau, welche den Abschluss der Gruppe bildete. Ein eng geschnittener Mantel, der ihr knapp bis zu den Knien reichte und den Blick auf einen helleren Rock freigab, umgab ihre schlanke Figur. Das kastanienfarbene Haar hatte sie unter einem ein wenig schräg sitzenden Hut aufgesteckt. Und das ebenmäßige Gesicht …
Unwillkürlich fiel Erich aus dem Tritt. Pauline Martin!
Ein seltsames Ziehen fuhr durch seinen Körper, wie von selbst ging sein Blick zu ihr hin. Mit einem Mal spürte er, wie warm es um diese Jahreszeit doch bereits war.
Mademoiselle Martin, die Leiterin des privaten Mädchenpensionats, welches sich unweit des Luxemburger Platzes in der ehrwürdigen Altstadt von Diedenhofen befand. Eine Frau von großer Zielstrebigkeit und höchst eigenwilligem Charakter, wie er hatte feststellen müssen. Im vergangenen Sommer erst hatte er ihre Bekanntschaft gemacht, unter recht unerquicklichen Umständen. Hatte doch eine ihrer Schülerinnen ein unerlaubtes Techtelmechtel mit einem seiner untergebenen Offiziere begonnen und sich dadurch in ernste Schwierigkeiten gebracht.
Dabei waren sie beide, Mademoiselle Martin und Erich, sich gezwungenermaßen nähergekommen, als es gesellschaftlich akzeptabel, ja schicklich gewesen wäre zwischen einer jungen lothringischen Lehrerin und einem preußischen Offizier.
Seit einer kurzen Begegnung im Dezember hatte er die junge Frau nicht mehr gesprochen. Und nun …
Einen Moment zögerte er, Pflicht und Neigung gegeneinander abwägend. War er doch gerade im Dienst und auch Mademoiselle in Begleitung.
Andererseits sollte er nach der langen Zeit vielleicht doch ein wenig nach dem Rechten sehen. Wer konnte schon sagen, was sich in dem französischen Mädchenpensionat seither wieder zusammengebraut hatte?
Mit einer knappen Geste wies er den Feldwebel an, die Compagnie weiterzuführen, während er selbst stehen blieb, um seinen gesellschaftlichen Verpflichtungen Genüge zu tun und der Institutsleiterin seinen Gruß abzustatten.
*
»Guten Tag, Mademoiselle.« Eine klangvolle männliche Stimme ließ Pauline aufhorchen. Sie war so tief in Gedanken versunken gewesen, dass sie zwar vage den Trupp preußischer Soldaten bemerkt hatte, der ihren Weg kreuzte, nicht jedoch den Offizier, der diesen anführte. Erst als Letzterer direkt vor ihr zum Stehen gekommen war, erkannte sie, um wen es sich handelte:
Erich von Pliesnitz.
Ihr Puls beschleunigte sich ein klein wenig. Der preußische Hauptmann, der im vergangenen Jahr dafür gesorgt hatte, dass die Eigenmächtigkeit einer ihrer Schülerinnen nicht in der Katastrophe geendet hatte. Der Mann, dem sie ebenfalls verdankte, dass der gute Ruf ihrer Schule trotz der Vorkommnisse weitestgehend unbeschädigt geblieben war.
Capitaine impitoyable, wie er hinter vorgehaltener Hand genannt wurde, Hauptmann Gnadenlos, der in ganz Thionville im Ruf stand, ein strenger Ausbilder und unerbittlicher Vorgesetzter zu sein. Ein Mann, mit dem sie sich in der Vergangenheit so manche Auseinandersetzung und manch hitziges Wortgefecht geliefert hatte.
Und mit dem sie dennoch mehr Gemeinsamkeiten teilte, als es auf den ersten Blick erscheinen mochte – oder irgendjemand auch nur ahnen durfte …
Sie sah ihn an, und für den Bruchteil eines Herzschlags spürte sie ein verräterisches Kribbeln in sich aufsteigen, ein Gefühl von Wärme, welches sie jedoch geflissentlich ignorierte.
Erich von Pliesnitz war bei Weitem kein Mann, den man als gut aussehend im herkömmlichen Sinne bezeichnen konnte. Er wies etwas Herbes, etwas Bodenständiges auf. Und doch war da etwas an den leicht ergrauten Schläfen, dem kantigen Gesicht mit den dunklen, durchdringenden Augen, denen nichts zu entgehen schien, das auf eigentümliche Weise faszinierend auf Pauline wirkte.
Zumindest, wenn er nicht gerade allzu grimmig dreinblickte. Was allerdings höchst selten der Fall war und sie zudem auch nicht zu kümmern hatte. Eigentlich …
»Hauptmann von Pliesnitz«, sagte sie daher mit einem knappen Nicken. »Wie ich sehe, vergnügen Sie sich gerade wieder damit, Ihre Männer im Dienst für Kaiser und Vaterland zu schikanieren.«
Ein leises Kichern aus den Reihen der Mädchen war die Antwort. Und mit verschwörerischem Unterton in der Stimme fügte sie hinzu: »Preußische Männer. Sicher lieben sie eine solch raue Behandlung.«
Die Miene des Hauptmanns veränderte sich, ein Aufblitzen stahl sich in seine Augen. Doch konnte Pauline nicht mit Sicherheit sagen, ob es sich dabei um Verärgerung oder Amüsement handelte. Sein Blick glitt über ihre Schülerinnen, die der ganzen Szenerie mit größtem Interesse folgten.
»Und Sie, Mademoiselle«, entgegnete er prompt, »lassen Sie Ihre Mädchen mal wieder an der langen Leine? Noch immer keine Disziplin im ehrenwerten Institut für höhere Töchter?«
Das erneute Aufkichern schien seine These zu bestätigen.
»Wir unternehmen eine kleine Reise, eine schulische Exkursion«, verbesserte Pauline würdevoll, ohne auf seine Bemerkung einzugehen. »Nach Sarreguemines. Dort besuchen wir die berühmten Faïencerien und bleiben für ein paar Tage vor Ort, um den Mädchen die Schönheiten der Region zu zeigen.«
»Ein paar Tage also?« Schwang da wirklich etwas wie Enttäuschung in der Stimme des Hauptmanns mit?
»Wie lange genau?«
Mit den Fingerspitzen schob sich Pauline eine Haarsträhne aus der Stirn. »Nur drei Nächte. Zu Karneval müssen wir wieder zurück sein. Im Pensionat haben wir eine kleine Gesellschaft für die Mädchen geplant, einen Kostümball, und von daher …«
Pauline glaubte nun eindeutig Amüsement in den dunklen Augen ihres Gegenübers zu erkennen. »Oh, oh, das wilde Treiben der tollen Tage, wie es in Papistenkreisen so gerne gefeiert wird und das uns Preußen schon im Rheinland zur schieren Verzweiflung getrieben hat.« Er hob die Brauen. »Sehen Sie nur zu, dass sich diesmal keines der Mädchen in Schwierigkeiten bringt.«
»Ausgeschlossen«, antwortete sie spröde, während ihr mit aller Heftigkeit die Ereignisse des vergangenen Jahres ins Gedächtnis kamen. »Nur eine kleine, gesittete Feier, die es den Schülerinnen erlaubt, sich ein wenig auf gesellschaftlichem Terrain zu bewegen. Rein pädagogisch natürlich«, fühlte sie sich genötigt, hinzuzufügen. »Aus diesem Grund werden auch junge Herren zugegen sein, um den Mädchen Gelegenheit zu geben, den angemessenen Umgang mit dem männlichen Geschlecht einzuüben.«
Wieder ein Kichern aus den Reihen der Mädchen. Paulines Unbehagen wuchs. Sie sollte das Gespräch hier auf offener Straße schnellstmöglich beenden, bevor noch ein falscher Eindruck entstand.
»Junge Herren, soso …« Warm glitzerten von Pliesnitz’ Augen. Entgegen ihrer gerade getätigten Überlegung lag Pauline plötzlich eine Einladung auf der Zunge, welche sie im letzten Moment gerade noch herunterschluckte.
Nicht auszudenken, welch einen Skandal das auslösen würde. Eine Lehrerin, die zu einer schulischen Veranstaltung in männlicher Begleitung erschien, noch dazu in der eines preußischen Offiziers. Hors de question! Völlig ausgeschlossen.
Im Gegensatz zu ihren Schülerinnen, die sie zu geschliffenen jungen Damen, und mehr noch, zu guten Ehefrauen erziehen musste, besaß Pauline nicht das Recht, sich mit einem Mann an ihrer Seite zu zeigen. Als Lehrerin im deutschen Kaiserreich war sie einem Leben in makelloser Tugendhaftigkeit verpflichtet. Um jeden Preis. Aber dennoch …
Wieder flog ihr Blick zu von Pliesnitz hinüber. Für einen flüchtigen Moment lag das Unausgesprochene zwischen ihnen, das sich nicht in Worte fassen, aber auch nicht leugnen ließ. Etwas, das sich seit den Ereignissen des vergangenen Jahres seinen Weg gebahnt hatte, und nun …
Er machte einen weiteren Schritt auf sie zu, seine in dunkle Lederhandschuhe gehüllte Rechte hob sich ihr entgegen, als wollte er ihr diese reichen.
Dann jedoch zog er sie hastig zurück, schlug stattdessen die Hacken zusammen und deutete eine Verbeugung an. »Bitte entschuldigen Sie mich, ich muss zu meinen Männern aufschließen.«
Der Augenblick der Vertrautheit war vorbei, ein leises Gefühl des Bedauerns machte sich in Paulines Brust breit. »Bien sûr.« Sie nickte. »Zucht und Ordnung, selbstverständlich. Und wir haben einen Zug zu erwischen. Noch einen guten Tag, mon capi… Herr Hauptmann.«
Rasch wandte sie sich um und gab den Schülerinnen Anweisung, den Weg fortzusetzen. Trotz der Kühle des Februartages fühlten sich ihre Wangen warm an.
»Wer war das denn?«, fragte Miss O’Meally in ihrer üblichen Unverblümtheit.
Pauline unterdrückte ein Räuspern. »Ein alter Bekannter, Hauptmann von Pliesnitz, der im vergangenen Jahr unserer Schule einen großen Dienst erwiesen hat.« Sie wich dem Blick der Irin aus.
»Der Schule, aha«, entgegnete diese leise, und aus den Augenwinkeln bemerkte Pauline, dass der Hauch eines Lächelns ihre Lippen umspielte. »Mir erschien es so, als gälte sein Interesse mehr der Leiterin besagter Schule als der Einrichtung selbst.«
»Tss …« Kopfschüttelnd wandte sich Pauline ab und beeilte sich, die Brücke zu betreten, die zum rechten Moselufer führte. »Was man sich nicht alles einbilden kann.«
Hinter ihr ließ Rhona ein leises Lachen vernehmen. Eine leichte Gänsehaut überlief Pauline ob der fast unheimlichen Menschenkenntnis der neuen Kollegin. Und plötzlich fühlte sie sich wie ein beim Naschen ertappter Backfisch.
Es wurde Zeit, dass sie endlich den Bahnhof erreichten.
*
Das Rattern und Rauschen der Lokomotive hatte etwas Beruhigendes und zugleich Anregendes. In schnellem Tempo glitt die noch karge Februarlandschaft Lothringens an Louises Augen vorbei.
Fasziniert und zugleich ein wenig melancholisch starrte sie nach draußen, wo die Wiesen, noch brachliegenden Felder und kahlen Bäume ineinander verschmolzen. Der Himmel mit der Erde.
Ein malerisches Fleckchen Erde, dieser östliche Teil Lothringens. Ebenso wie Louises elsässische Heimat, mit dem er zwangsvereint worden war, stand er jedoch seit nunmehr vier Jahrzehnten unter der deutschen Knute, hin- und hergerissen zwischen Anpassung und Widerstand, wirtschaftlichem Aufschwung und kultureller Entfremdung.
Ein Zustand, der neben Akzeptanz auch weiterhin die unterschiedlichsten Facetten der Rebellion hervorbrachte: vom stummen Abwarten über Abschottung bis hin zu offenem Aufbegehren.
So wie Louises Vater, der sich in der Vergangenheit immer wieder aufs Heftigste mit der deutschen Verwaltung angelegt, alles getan hatte, um mehr Autonomie für das Reichsland Elsaß-Lothringen zu erreichen, Vorträge, Reden, Flugblätter … Bis dann eine seiner letzten Aktivitäten eine zu viel gewesen war. Er wurde festgenommen und zu Festungshaft verurteilt.
Eine Tatsache, die Louise aus Angst vor sozialer Ausgrenzung und Stigmatisierung stets geheim gehalten hatte. Wer in der besseren Gesellschaft wollte schon etwas mit der Tochter eines Zuchthäuslers zu tun haben? Gleichgültig, wie nachvollziehbar und selbstlos dessen Absichten auch gewesen sein mochten. Aufgrund der wirren Ereignisse des vergangenen Sommers war ihr Geheimnis dann jedoch offenbar geworden. Und es war nicht zuletzt Mademoiselle Martins Feinfühligkeit und Engagement zu verdanken, dass Louise trotz dieser Blöße keinerlei Ausgrenzung oder Abwertung innerhalb des Pensionats zu spüren bekam.
Und nun … Louises Herz pochte bei diesem Gedanken. Einige Tage zuvor hatte sie ein Brief erreicht, der sie darüber in Kenntnis setzte, dass die geplante Entlassung ihres Vaters abgesagt, seine Strafe um zwei Monate verlängert worden war. Nach allem, was Louise verstanden hatte, ging es um irgendwelche politischen Schriften, die ihr Vater während der Haft verfasst und nach draußen hatte schmuggeln lassen. Irgendetwas, das mit den Verhandlungen zu diesem neuen Gesetz zu tun haben musste, das in Berlin gerade so erbittert diskutiert wurde.
Louise fröstelte es.
Stand doch das Schicksal dieses seltsamen, direkt dem deutschen Kaiser unterstellten Gebildes, des Reichslands Elsaß-Lothringen, an einem nie da gewesenen Wendepunkt. Die Rufe nach mehr Selbstverwaltung, nach einem eigenen Landtag, einer eigenen Verfassung wurden auch in gemäßigten, selbst altdeutschen Kreisen immer lauter. Und derzeit schien sich tatsächlich etwas zu bewegen.
Es blieb also zu hoffen.
Hoffnung … Unwillkürlich umklammerte Louise den Fensterrahmen, während die Landschaft vor ihren Augen verschwamm. Hoffnung und Aufbruch.
Resigniert schüttelte Louise den Kopf. Sie vermisste ihren Vater, und sie vermisste ihr Elternhaus in Straßburg, auch wenn ihre Mutter nicht mehr lebte und die beiden jüngeren Geschwister unter der Obhut ihrer nörglerischen Tante standen. Und obgleich es ihr im Pensionat von Mademoiselle Pauline wirklich gut gefiel.
Zu Hause war aber immer noch zu Hause. Und Lothringen nicht das Elsass.
»Ach, Lieschen, jetzt komm! Was stehst du da herum und träumst.« Die Stimme von Brunhilde, welche im Institut das Zimmer ihr gegenüber bewohnte, ließ Louises Gedanken wieder in das Hier und Jetzt zurückkehren. Als sie sich umwandte, sah sie, wie die Kameradin ihr ein üppig belegtes Wurstbrot hinhielt. »Hier, willst du ein Stück? Du siehst so mitgenommen aus, dass man meinen möchte, du könntest eine Stärkung gebrauchen.«
Louise lächelte, verlegen darüber, bei ihren Träumereien ertappt worden zu sein.
Manche Dinge ließen sich nicht mit Essen allein aus der Welt schaffen. Wobei, mitunter konnte es auch nichts schaden, und in diesem Moment spürte Louise, dass ihr Magen tatsächlich ein wenig knurrte.
So nahm sie dankbar die Gabe entgegen, setzte sich wieder an ihren Platz zwischen zwei ihrer Kameradinnen und genoss das Gefühl der Freundschaft, den Geschmack des Brotes auf der Zunge und den Anblick der rasch an ihr vorbeiziehenden Landschaft.
»So viele Geschäfte! Wie wunderbar!« Begeistert klatschte Josefa Gruber in die Hände und tat sich sichtlich schwer damit, gesittet wie eine junge Dame auszuschreiten. Stattdessen blieb sie allenthalben stehen und drückte ihre Nase an den Fensterscheiben der Läden platt. »Ich hoffe, mein Taschengeld reicht für die drei Tage! Oh, schaut nur, dahinten!«
»Galanteriewaren!«
»Eine Putzmacherin!«
»Und ein Schmuckhändler! Oh nein! So viel Geld habe ich ja gar nicht!«
Die Begeisterung, die aus dem Gewirr der jungen Stimmen herauszuhören war, überstieg bei Weitem die in herkömmlichen Unterrichtsstunden. Pauline lächelte verständnisvoll, während sie, die Reisetasche fest gepackt, dem kleinen Grüppchen, das gerade das Bahnhofsgebäude von Sarreguemines verlassen hatte, voranschritt.
Überall in der Stadt wurde gebaut, eine Stadt im Wachstum. Und ähnlich wie in Thionville hing der Geruch von Rauch in der feuchten Luft, der von den zahllosen Fabrikschornsteinen herrührte. Gerade passierten sie eine mächtige Baustelle, an der ein feudales Gebäude aus Jaumont-Stein errichtet wurde, das neue Kaiserliche Landgericht, wie Fräulein Schmitt auf Rückfrage durch einen Passanten erfuhr.
Kurz darauf gelangten sie in eine breite Straße mit mehrstöckigen Wohn- und Geschäftshäusern, ausgestattet mit malerischen Erkern, Balkonen und breiten Markisen sowie allerlei verlockenden Auslagen hinter den Fensterscheiben.
Saargemünd war in der Tat eine wohlhabende Stadt. Ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt, Industriestandort und Umschlagplatz für die unterschiedlichsten Waren. Direkt an der Grenze zwischen dem Königreich Preußen und dem Reichsland Elsaß-Lothringen gelegen, an der Mündung der Blies in die Saar, florierten Handel und Produktion gleichermaßen und sorgten für Wohlstand der einheimischen und der hinzugezogenen Bevölkerung. Eines der wenigen positiven Dinge, welche die erzwungene Vereinigung mit dem deutschen Kaiserreich gebracht hatte. Wenn auch zu einem hohen Preis.
Mit einem energischen Kopfschütteln wischte Pauline diesen schmerzhaften Gedanken beiseite. Es half nichts, immer nur wehmütig zurückzuschauen, wie ihre Eltern es so gerne taten. Stattdessen hatte sie im Laufe der Jahre eine andere Möglichkeit gefunden, Geschichte und Kultur ihrer lothringischen Heimat zu bewahren und an kommende Generationen weiterzugeben: als Lehrerin in ihrer Schule. Und so war es keineswegs ein Zufall, dass sie ausgerechnet Saargemünd als Ziel ihrer kleinen Reise ausgesucht hatte.
»Ich hoffe, es gibt hier auch eine Buchhandlung.« Freude blitzte hinter Brunhildes Brillengläsern auf. »Ich habe noch etwas von dem Geld übrig, das Papa mir zu Weihnachten geschenkt hat, und da könnte ich …«
»Bücher, Bücher, immer nur Bücher!« Charlotte rollte entnervt die Augen. »Interessiert dich denn nichts anderes auf der Welt als dieses langweilige Zeug?«
»Gar nicht langweilig!« Von dem strammen Fußmarsch ein wenig außer Atem, keuchte Brunhilde empört auf. »Wie kannst du nur behaupten, dass Bücher langweilig seien. Das sagt auch nur jemand, der …«
»Friedlich, Kinder!« Marthes ein wenig herbe Stimme unterbrach die beiden Streithennen. »So wie es aussieht, findet hier in der Stadt jeder etwas für seinen Geschmack. Die einen was für die schönen Künste, die anderen für die schnöden Eitelkeiten. Ist ja mächtig was los hier.« Sie nickte anerkennend.
»Für eine Kleinstadt vielleicht. Macht sicher die Nähe zu Preußen. Aber auch hier: überall dieser Ruß und Staub. Puh!« Theatralisch rümpfte Charlotte ihre spitze Nase.
»Das liegt an der Industrie, die es hier gibt.« Fräulein Schmitt, mit Leib und Seele Lehrerin für Geografie, hatte sich gründlich vorbereitet, um die Mädchen mit ihren Kenntnissen zu versorgen. »Neben den weltberühmten Faïencerien werden hier auch andere Tonwaren produziert, ebenso wie Schamotte-, Ziegel- und Pflastersteine. Aber auch Samt und Seidenplüsch werden in Saargemünd hergestellt, um nur einiges zu nennen. In den nächsten Tagen werden wir uns ein paar der Fabrikationsstätten ansehen, und dann …« Die Reaktion, welche auf diesen kleinen wirtschaftlichen Exkurs folgte, fiel deutlich verhaltener aus als diejenige auf die glänzenden Auslagen hinter den Schaufenstern. Wieder musste sich Pauline ein Lächeln verkneifen, verspürte sie doch großes Verständnis für ihre Schülerinnen, welche so begierig darauf waren, das staubige Klassenzimmer für ein paar Tage hinter sich zu lassen und stattdessen die Nase ein wenig in den Wind zu halten.