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Ein Hilferuf per SMS erreicht Henrike an einem ohnehin schrecklichen Tag. Ihre berühmten Glücksschweinchen aus Marzipan soll es bald nicht mehr geben. Der Pachtvertrag ihrer Lübecker Manufaktur wird nicht verlängert. Und nun auch noch diese Nachricht von ihrem Freund Dario: "Bin entführt worden. Bitte komm!" Kurzerhand macht sich Henrike auf die weite Reise nach Kalabrien, wo zwei Familien nach Vendetta schreien, Dario verschwunden bleibt und sein älterer Bruder ganz und gar unangemessene Gefühle in Henrike auslöst. Bis Mamma Lucia eingreift und Henrike zeigt, wie eine italienische Mamma den Laden schmeißt.
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Das Buch
Mal wieder ist Dario ohne Henrike in seine italienische Heimat gereist. Und nun schickt er ihr diese SMS: »Bin entführt worden. Bitte komm!« Kurzerhand macht sich Henrike auf die weite Reise nach Kalabrien, wo zwei Familien nach Vendetta schreien, Dario verschwunden bleibt und sein älterer Bruder ganz und gar unangemessene Gefühle in Henrike auslöst. Bis Mamma Lucia eingreift und Henrike zeigt, wie eine italienische Mamma den Laden schmeißt.
Die Autorin
Brigitte Jacobi wurde in Lübeck geboren und hat nach ihrem Abitur viele Jahre als Redakteurin für Zeitungen und Zeitschriften in Norddeutschland gearbeitet. Inzwischen lebt sie mit ihren Zwillingstöchtern in Italien und hat bereits unter verschiedenen Pseudonymen viele erfolgreiche Romane veröffentlicht. Oft unternimmt sie ausgedehnte Reisen durch ihre Wahlheimat. Besonders der Süden des Landes, vor allem Kalabrien, hat es ihr angetan.
Brigitte Jacobi
Schwiegermutter all’arrabbiata
Roman
Marion von Schröder
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ISBN: 978-3-8437-1060-2
2015 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinUmschlaggestaltung und Illustration: Cornelia Niere, München
E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
Für meine eigene italienische Schwiegermutter, Mamma Concetta (1912–1992), die niemals so aufbrausend war wie Mamma Lucia, aber mindestens genauso großherzig.
Verflixte Barbie!
Kaputt. Schon wieder. Nummer sieben. Oder acht? Ich ließ meinen Blick über den mehligen Arbeitstisch gleiten und zählte zerbrochene Gliedmaßen und durchtrennte Taillen zusammen. Nummer acht, kein Zweifel. Der Duft nach gemahlenen Mandeln und Rosenwasser stieg mir schwer und süß in die Nase. Leichte Übelkeit machte sich in mir breit. Normalerweise liebte ich diesen Duft, aber jetzt rannte ich zum Fenster und riss es auf. Ein kräftiger Ostwind blies frische salzige Frühlingsluft von der Ostsee bis in meine kleine Backstube in der Lübecker Altstadt, und ich atmete ein paarmal tief durch. Dann drehte ich mich wieder zu dem Schlachtfeld um und beschloss, den Beruf zu wechseln.
Zumindest war ich kurz davor. Einen Moment lang stellte ich mir vor, wie schön es sein musste, stets gleich geformte Hackklopse zu braten oder tiefgefrorene Teiglinge zum Fertigbacken in einen Ofen zu schieben. Alles erschien mir besser, als unmögliche Kundenwünsche zu erfüllen.
Eine Marzipantorte für die Tochter des Lübecker Reeders Thorwald Feddersen? Kein Problem für mich. Ich bin schließlich Konditormeisterin.
Die dreistöckige Torte soll mit vielen winzigen Maikäfern und Glücksschweinchen aus Marzipan dekoriert werden? Aber gern – nichts leichter als das. Ich betreibe eine kleine Marzipanmanufaktur, außerdem wird mir eine gewisse Kunstfertigkeit nachgesagt, besonders bei Figuren, die zu klein für jede Form sind und frei von Hand gestaltet werden müssen.
Mein Blick löste sich vom Schlachtfeld und verweilte stolz auf dem Nebentisch, wo zwanzig daumennagelgroße Käfer und ebenso viele Schweinchen in Reih und Glied neben der Torte darauf warteten, mit Zuckerguss angeklebt zu werden. Diesen Arbeitsschritt hatte ich mir für zuletzt aufheben wollen. Sobald die Dekoration für die Tortenspitze geschafft war. Bloß dass ich genau daran seit zwei Stunden scheiterte und mittlerweile von Hackklopsen und Brötchen träumte.
»Welcher Idiot hat Barbie diese Maße verpasst?«, fragte ich laut die Torte. Die antwortete natürlich nicht, sondern stand bloß dreistöckig und irgendwie nackt da. Die Maikäfer und Schweinchen hockten auch nur stumm und süß auf dem Tisch.
Eine Barbiepuppe aus Marzipan im Maßstab eins zu eins.
»Das können Sie doch, Frau Burmester, oder?«, hatte mich Reeder Feddersen knapp am Telefon gefragt.
»Selbstverständlich.«
Was hätte ich sonst sagen soll? Dass seine kleine Tochter lieber mit einer dicken Käthe-Kruse-Puppe spielen sollte, weil die sich leichter formen ließ? So ein weicher molliger Körper wäre ein Klacks für mich gewesen. Ausgeschlossen!
Thorwald Feddersen ist mein bester Kunde. Jedes Jahr zu Ostern und zu Weihnachten ordert er bei mir hundertfünfzig handgemachte Osterhasen und Weihnachtsmänner für seine Mitarbeiter. Zwischendurch nimmt er mir auch dutzendweise meine beliebten Glücksschweinchen in verschiedenen Größen ab. Nein, Feddersen musste zufriedengestellt werden. Besonders gut lief meine Manufaktur seit einiger Zeit ohnehin nicht. Zu klein mein Angebot, zu groß die berühmte Konkurrenz mit dem Holstentor in ihrem Logo. Ohne diesen Stammkunden müsste ich vermutlich demnächst schließen.
Na ja. Mit ihm auch. Gestern erst hatte ich erfahren, dass die Pacht für meine bescheidenen Räumlichkeiten zum ersten Juni erhöht werden sollte. Um das Doppelte. Der erste Juni war nur sechs Wochen entfernt, und ich hatte keine Ahnung, wovon ich diese horrende Summe in Zukunft aufbringen sollte. Ob sich das Problem von selbst löste, wenn ich den bösen Brief tief in einer Küchenschublade vergrub und dort über Nacht vergaß? Einen Versuch war es wert. Lieber das angehen, was ich gut beherrschte, zum Beispiel ein süßes Kunstwerk erschaffen plus Barbie. Irgendwie, dachte ich, würde ich das schon hinkriegen. Sooo dünn und zerbrechlich konnte eine Marzipan-Barbie doch nicht sein.
Konnte sie.
Und inzwischen war es ein Uhr Mittag. Um vier Uhr sollte ich die Torte liefern. Was bedeutete, dass mir die Zeit davonlief. Das Zuckerpüppchen musste nämlich noch mindestens zwei Stunden in meinem speziellen Ofen langsam vor sich hin trocknen. Erst danach kam es auf die Torte, und wenn alles fertig war, musste ich die Lübecker Altstadt durchqueren, von der Dankwartsgrube bis in die Gegend um die Marienkirche, wo die Feddersens in einem vornehmen Palais residierten, auf das jeder literarische Nachfahre der Buddenbrooks stolz gewesen wäre. Echte Nachfahren der Familie Mann sowieso.
Was tun? Essen oder hüpfen? Mache ich beides gern in Stressmomenten, wobei auf und ab hüpfen vorteilhafter ist, da es ein paar Kalorien verbrennt. Andererseits lagen da viele kaputte Marzipanteile verführerisch vor meiner Nase, und prompt war mir nicht mehr schlecht vor Angst.
Hm, lecker, so ein langes Beinchen! Und arbeiten konnte ich dank Zuckerschub auch wieder. Ich nahm mir einen weiteren Klumpen Rohmasse und verknetete ihn so lange mit Puderzucker, bis er nicht mehr klebte.
Die Tür zu meiner kleinen Backstube ging auf.
»Keine Zeit!«, rief ich, ohne hochzusehen. Barbies Köpfchen nahm unter meinen Fingern Gestalt an. Rasch schluckte ich den Marzipanklumpen in meinem Mund hinunter.
»Bist du noch nicht fertig?«, fragte mein Vater und schickte einen bellenden Husten hinterher. Wäre seine Bronchitis nicht schon seit Wochen chronisch gewesen, so hätten seine Bazillen auf der Torte nachher eine gesamte Kindergesellschaft angesteckt. Wäre mal was anderes gewesen. Mein Vater, der sich sonst vor Ansteckung durch fremde Leute regelrecht fürchtete, wäre einmal selbst der Übeltäter.
»Das siehst du doch«, erklärte ich. Meine Stimme klang nicht sonderlich freundlich, und augenblicklich meldete sich mein schlechtes Gewissen.
Papa leidet unter Langeweile. Angeblich schreibt er ja an einem Sachbuch über die Kindheit von Thomas Mann in Lübeck, aber wenn ich mal in seinen altersschwachen Computer linse, ist bis auf das Titelblatt noch nichts fertig. Statt zu schreiben, sucht er lieber meine Gesellschaft. Für mich ist das eine neue Situation, und ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll. Mein Leben lang habe ich meinen Vater bewundert, und ich war glücklich, wenn er mir einen Zipfel seiner kostbaren Zeit opferte. Meistens jedoch war ich allein, und hätte ich nicht meine Freunde gehabt, wäre ich wahrscheinlich vor lauter Einsamkeit ein entsetzlich unglücklicher Mensch geworden. Bis heute sind meine Freunde für mich meine wahre Familie.
Neuerdings jedoch tut Papa mir beinahe leid.
Merkwürdig. Er sollte wie immer auf mich mit leisem Mitleid und leiser Verachtung herabblicken, weil ich keine Akademikerin geworden bin. So gehört sich das. Verkehrte Welt.
»Ich dachte, wir können zusammen zu Mittag essen«, sagte er zwischen zwei neuen Hustenanfällen.
»Werde ich wohl nicht schaffen«, gab ich zurück.
»Schade.«
Obwohl ich den Blick auf Barbies Schwanenhals gesenkt hielt, sah ich Papa deutlich vor mir. Knapp eins neunzig groß, hager, graues schütteres Haar, randlose Lesebrille tief auf der Nase, kluger Blick. Kurz, der Inbegriff eines distinguierten Literaturprofessors, sofern er nicht gerade husten musste oder einen seiner peinlichen Ticks offenbarte.
Nein!
Nicht an Papa denken!
Meine Wadenmuskeln kribbelten bereits …
Himmel!
Dieser Tick wurde echt schlimmer. Ich war damit sogar schon mal zum Arzt gegangen und hatte ihm zum Beweis eine Runde vorgehüpft, aber der hatte nur weise gelächelt und gemeint, ich sollte mich endlich abnabeln. In meinem Alter wäre das höchste Zeit.
Ha! Leicht gesagt. Wie lässt man einen Vater allein, der mit sich selbst nichts mehr anzufangen weiß? Und wie bezahlt man eine zweite Miete, wenn man sowieso pleite ist? Außerdem, was sollte das überhaupt heißen, in meinem Alter? Frechheit! Ich schwöre, neulich bin ich noch achtzehn gewesen. Die letzten zwanzig Jahre sind irgendwie an mir vorbeigeflogen.
»Ich muss arbeiten«, murmelte ich und rammte meine Hacken in den Boden.
»Das sehe ich. Aber hör auf, so viel Marzipan zu essen, wenn du Probleme hast. Das ist ungesund.«
Mist! Er hatte mich doch noch beim Kauen und Schlucken erwischt. Papa machte sich nicht nur um seine eigene, sondern auch um meine Gesundheit große Sorgen. Seit einiger Zeit fand ich überall in unserer gemeinsamen Wohnung wie zufällig hingelegte Zeitungsartikel über Cholesterinwerte, hohen Blutdruck und neue Wunderdiäten. Das waren so Momente, in denen ich mir fest vornahm, endlich auszuziehen. Nur brachte ich es nie übers Herz. Ein Teil von mir freute sich sogar über seine Fürsorge. Fast konnte ich mir einbilden, dass Papa mich aus ganzem Herzen liebte. Daran hatte ich immer so meine Zweifel gehabt. Er war nie der Typ Vater gewesen, der mit seiner Tochter kuschelte, selbst wenn er sich mal Zeit für mich genommen hatte. Eher der Typ, der mit intellektueller Distanz mehr schulische Leistung einforderte und seine Enttäuschung kaum verbergen konnte, als ich nach dem Realschulabschluss ein Handwerk erlernte. Damals warf er mir vor, ich würde aus reinem Trotz so handeln. Zum Teil stimmte das sogar. Der Gedanke, mich noch auf Jahre hinaus mit ihm messen zu müssen, ohne jemals an ihn heranzureichen, war mir verhasst gewesen. Aber ich träumte auch schon lange davon, Konditorin zu werden. Vielleicht weil mich der Duft nach frisch gebackenem Kuchen durch die ersten glücklichen Jahre meiner Kindheit begleitet hatte.
Ich spürte seinen Blick auf mir ruhen und wünschte mir nicht zum ersten Mal, ich hätte wenigstens Wohnbereich und Arbeitsplatz besser trennen können. Der Eingang zu meiner Backstube befand sich direkt neben unserer Wohnungstür. Das alte Klinkerhaus mit dem spitzen Giebel war eben sehr schmal. Seit Papa letztes Jahr emeritiert hat, kommt er gern und häufig in die Backstube, sucht Gesellschaft, gibt mir gute Ratschläge, schaut mir bei der Arbeit zu und macht mich nervös. Die NSA ist nichts dagegen. Vielleicht sollte ich eine Marzipanbombe herstellen und sie Papa vor die Tür stellen.
Uff! Schluss jetzt! Ich musste weiterarbeiten, und zwar ungestört.
»Versprochen«, murmelte ich in seine Richtung. »Ich esse nichts mehr.«
»In Ordnung. Aber fang auch nicht an rumzuhüpfen. Das ist ebenfalls ungesund, besonders auf vollen Magen.«
Es reizte mich, ihn darauf hinzuweisen, dass seine eigenen merkwürdigen Angewohnheiten um einiges schlimmer waren. Aber ich würde mich hüten. Das konnte zu einem langen Disput führen, und Papa ist um einiges wortgewandter als ich. Es würde ja doch nur darauf hinauslaufen, dass er sich über meine Arbeit lustig machte. In seinen Augen tat ich nichts, was jede durchschnittlich begabte Hausfrau nicht auch erledigen konnte, und ich hatte es schon lange aufgegeben, ihn vom Gegenteil überzeugen zu wollen. Papa lebte nun mal ganz in seiner intellektuellen Welt, da war nichts zu machen. Deswegen war er kein schlechter Mensch. Nur einer, der seine Tochter herzlich wenig kannte und der glaubte, sie müsse manchmal viel essen und hüpfen, um die Enttäuschung über eine verpasste Karriere auszugleichen.
Völliger Quatsch, ehrlich!
Fest presste ich die Lippen aufeinander.
Nur kein Streit. Nicht jetzt.
Als Papa die Tür wieder hinter sich geschlossen hatte, stieß ich heftig die Luft aus. Mir fiel erst jetzt auf, dass ich den Atem angehalten hatte. Einen tiefen Seufzer schickte ich gleich hinterher. Dann machte ich mich daran, Barbies Minibrüste zu formen.
Ein schönes Gespann gaben wir ab. Professor Doktor Hoimar Burmester und seine Tochter Henrike. Noch ein paar Jahre, und wir werden in der Altstadt als die wunderliche kleine Familie gelten, sozusagen eine moderne Version des Dorftrottels mit seinem Nachwuchs. Man wird uns grüßen, hinter unserem Rücken tuscheln und uns ansonsten aus dem Weg gehen. Die Kinder werden vielleicht fragen, warum der alte dünne Mann wie ein Storch im Salat über den Bürgersteig stakst und warum die kleine dicke Tochter so aussieht, als wollte sie gleich in die Trave springen, während sie wild auf und ab hopst.
Halt! Moment mal!
Papa hat vielleicht ein ganz kleines bisschen Angst vor Schmutz und Krankheitserregern und hebt deswegen sehr sorgfältig seine Füße, aber ICH BIN NICHT DICK!
Hübsch gerundet, maximal. Und klein, ja, das stimmt schon. Ich komme da ganz nach meiner Mutter, mit einer dichten mittelbraunen Mähne und seelenvollen Augen. Der Ausdruck stammt übrigens von meinem Freund Dario. Seelenvoll. So etwas Romantisches kann nur einem Italiener einfallen, glaube ich.
Unglücklicherweise war es Dario, der die kleine Szene am vergangenen Freitag herbeiführte. Ich unternahm mit Papa einen Spaziergang am Fluss, damit er mal aus dem Haus kam, und erhielt eine SMS, als ich sehr dicht am Kai stand. Daraufhin hüpfte ich eine Runde, um den Stress abzubauen. Aber selbstverständlich wollte ich nicht ins Wasser springen. Ich liebe mein Leben. Meistens jedenfalls. Außerdem kann ich schwimmen.
Er müsse dringend nach Hause fliegen, schrieb Dario. Tausend Küsse und bis bald. Kein Thema, könnte man meinen. Bloß dass mein Freund sehr oft nach Hause fährt und dass dieses Zuhause von Lübeck gut tausendfünfhundert Kilometer entfernt liegt.
Luftlinie.
Ich hatte mich so sehr auf ein gemeinsames Wochenende gefreut. In dem Moment half nur hüpfen. So war das und nicht anders. Kein Mensch würde deshalb die Burmesters verurteilen. Oder?
Falls meine Phantasie gleich mit noch mehr Horrorvisionen aufwarten wollte, war sie gewarnt. Ich ließ ihr nämlich nicht alles durchgehen.
Währenddessen hatten meine Finger weitergearbeitet, und plötzlich war sie fertig. Barbie Nummer neun.
Und sie war heil!
Kritisch beäugte ich mein Werk. Na ja, die Taille war ein bisschen dicker geraten. Offenbar war ich in Gedanken bei meiner eigenen Leibesmitte gewesen. Andererseits hätte Barbie in Originalmaßen keine Chance, die Torte zu zieren, selbst wenn sie so liegen blieb wie jetzt. Aber sie musste ja noch aufgestellt werden. Okay, dafür bekam sie eine Stütze in Form eines besonders schönen und großen Glücksschweinchens aus meinem Sortiment. Dann verbreiterte ich Barbies Taille noch ein bisschen mehr. Sicher war sicher.
Und schließlich griff ich zu einem optischen Trick. Marzipan-Barbie bekam mit Lebensmittelfarbe einen schwarzen Blazer verpasst. In der Mitte stand er über einem ebenfalls aufgemalten pinkfarbenen Shirt ein wenig offen und sorgte so für den Effekt einer wunderbar schmalen Taille.
Den Trick wendete ich auch gern bei mir selbst an, in textiler Form. Ich ging einfach mal davon aus, dass fünfjährige Kinder darauf nicht achten würden. Und mit etwas Glück war Barbie sowieso aufgegessen, bevor jemand mir auf die Schliche kommen konnte.
Ab damit in den Ofen.
Eine halbe Stunde später war die Torte mit Maikäfern und Glücksschweinchen dekoriert. Jetzt galt es zu warten, bis ich die Puppe aus dem Trockenofen nehmen konnte. Sollte ich nach nebenan in die Wohnung gehen? Ein bisschen mit Papa plaudern? Ach nein, keine Lust. Dann würde ich zwangsläufig wieder anfangen, über unsere Beziehung nachzudenken. Hunger auf Mittagessen hatte ich auch keinen. Irgendwie waren noch einige Barbie-Gliedmaßen in meinem Mund gelandet. Also setzte ich mich erschöpft in mein winziges Büro und schaute mir das Auftragsbuch an.
Hätte ich besser sein lassen. War nicht besonders sinnvoll, auf eine leere Seite zu starren. Im Frühjahr und Sommer ist Marzipan traditionell nicht so gefragt, aber gar nichts? Nach der Torte für Feddersen keine weitere Bestellung? Vielleicht hatte ich vergessen, etwas einzutragen. Sorgfältig studierte ich sämtliche Zettel, die auf dem Schreibtisch und im Papierkorb lagen.
Nichts.
Null.
Abgesehen von meinem marzipanvollen Magen fühlte ich mich auf einmal leer und ausgebrannt.
Essen war jetzt unmöglich, und so sackte ich nur auf dem Stuhl zusammen.
Nach einer Weile hob ich den Kopf, straffte die Schultern und reckte das Kinn vor. Meine beste Freundin Ariane Fischer hat dafür einen Ausdruck, der wie der Titel eines Autorenfilms klingt: »Die Unverwüstlichkeit der Henrike B«. Alle anderen in unserer Clique stimmten ihr darin zu, und ich fühlte mich jedes Mal geschmeichelt, wenn sie so über mich redeten. Tatsächlich bin ich nicht der Typ, der so leicht aufgibt, und daran, so schwor ich mir an diesem Sonntagnachmittag, würde ich mich auch diesmal halten.
Bisher war ich noch immer durchgekommen.
Meine Backstube stand kurz vor dem Bankrott? Ich würde einen Weg finden, um wieder ins Geschäft zu kommen.
Mein Vater empfand weder Liebe noch Respekt für mich? Keine große Neuigkeit und daher kein Grund, sich verrückt zu machen.
Mein Freund war wieder mal ohne mich nach Kalabrien gereist? Hm. Ein ganz kleines bisschen fiel ich erneut in mich zusammen.
Ganz so unverwüstlich bin ich eben doch nicht.
Der Trockenofen klingelte genau zur rechten Zeit. Ich eilte in die Backstube und platzierte die Barbie oben auf der Torte, samt Glücksschwein als Ständer.
Stolz trat ich einen Schritt zurück und betrachtete ausgiebig mein Werk, bevor ich daranging, es vorsichtig in eine Pappschachtel zu heben. Alles ging glatt, und kurz darauf war ich auf dem Weg zu Feddersen. Es war einfacher, zu Fuß zu gehen, als mich mit meinem kleinen Lieferwagen durch die Lübecker Altstadt zu kämpfen. Zum Glück zeigte sich das Aprilwetter von seiner freundlichen Seite. Der Wind hatte nachgelassen, und eine kräftige Sonne schien vom blauen Himmel. Die hohe Schachtel trug ich vorsichtig vor mir her und schielte immer nur um sie herum, um bloß nicht zu stolpern oder irgendwo gegenzulaufen.
Auf halber Strecke signalisierte mir mein Smartphone mit einer zackigen Melodie den Eingang einer SMS. Die ersten Takte der italienischen Nationalhymne verrieten mir, dass die Nachricht von Dario kam. Hatte ich selbst so eingestellt. Da ich sonst keine italienischen Freunde hatte, wusste ich auf diese Weise sofort, wer es war.
Da stand ich nun, ganz klein neben altehrwürdigen Patrizierhäusern in ihrer imposanten Backsteingotik, mit einer großen pinkfarbenen Schachtel auf den Armen und wünschte mir eine dritte Hand. Ob ich einen Passanten um Hilfe bitten sollte?
»Können Sie mal kurz die Torte halten, damit ich nachschauen kann, ob mein Freund mich noch liebt/in Kalabrien glücklich werden will/ein Mädchen aus seiner Heimat heiraten möchte/mal eben per Kurznachricht mit mir Schluss macht?«
Hm. Keine gute Idee. Möglicherweise ließ der Passant dann vor Schreck mein Meisterwerk fallen.
Sorry, Dario, du musst warten. Und wehe, du willst mich für eine mediterrane Schönheit verlassen. Dann komme ich persönlich nach Pietralucca und steche dir die Augen aus!
Huch!
Ich erschrak mal eben kräftig über mich selbst. Ich liebe meinen Freund, und ich könnte ihm niemals etwas antun. Schon gar nicht seine wundervollen olivschwarzen Augen ausstechen. Und in sein kalabrisches Heimatdorf würde ich auch nicht fahren. Nicht ohne Einladung. Und auf die warte ich schon seit langem vergebens. Keine Ahnung, warum Dario mich noch nie mitgenommen hat. Eine gute Ausrede ist stets zur Hand. Mal ist seine Oma krank, und es wäre kein schöner Urlaub für mich. Sagt er. Mal muss er wichtige berufliche Dinge mit seinem älteren Bruder klären, und ich würde mich nur langweilen. Behauptet er.
Irgendwas war immer, und jedes Mal stiegen heftige Zweifel an seiner Liebe in mir hoch. Andererseits – wenn er mit mir zusammen in Lübeck ist, habe ich den besten und liebevollsten Partner, den ich mir nur wünschen kann, und alle meine Freundinnen beneiden mich um meinen toll aussehenden Latin Lover.
Blöd nur, dass ich selbst mich nicht mehr beneide. Wenn ich so allein in meiner Backstube vor mich hin werkele, frage ich mich von Zeit zu Zeit, ob ich Dario noch aus vollem Herzen liebe.
So wie damals, vor vier Jahren, als er die Eisdiele seines Onkels übernommen hatte und mir mit einem strahlenden Lächeln ein Kakaoherz auf mein Bananensplit malte. Der süditalienische Blitz schlug ein, und seitdem bin ich glücklich.
Meistens.
Manchmal.
Nicht mehr?
Mannomann!
Die Sache ist kompliziert, und je schneller ich auf die vierzig zugehe, desto komplizierter wird sie. In spätestens zwei Jahren will ich verheiratet sein und ein Kind haben. Es steht schlecht um meinen Plan, und mein Kinderwunsch kann nicht mehr besonders lange warten.
Ach, diese ganze Grübelei tat mir nicht gut.
Dario war seit Freitag schon wieder in Italien. Ganz plötzlich. Und dieses Mal hatte er mir noch nicht einmal einen echten Grund genannt, so kurz war seine Nachricht gewesen. Ob etwas mit seiner Mutter war? Seiner geliebten mamma Lucia? Ich konnte nur Vermutungen anstellen, also ließ ich es lieber und ärgerte mich über ihn.
Ein Teil von mir war vermutlich auch eifersüchtig auf diese italienische Familie mit dem klangvollen Namen Serravalle, die groß und bunt ist und immer zusammenhält. Mehr oder weniger jedenfalls. Dario liebt es, mir von seiner famiglia zu erzählen, und ich kann gar nicht genug davon bekommen. Man hat sich gern und man hasst sich, und ständig droht irgendeine Katastrophe. Sofern ich seine Geschichten glauben will. Manchmal habe ich so meine Zweifel am Wahrheitsgehalt seiner Erzählungen, aber ich finde es schön, Dario zuzuhören und mich dabei in seine Arme zu kuscheln. Seine Stimme ist dann tief und sehnsuchtsvoll, seine Finger streichen mir durchs Haar – ganz so, als ob ich dazugehören würde. Zu seiner Famiglia, zu ihm. Nur dass er mich noch nie mit nach Kalabrien genommen hat, das nagt eben an mir. Als ob ich nicht gut genug wäre für seine Leute.
Wollte ich mit so einem Mann mein Leben verbringen?
Gute Frage.
Die fratelli d’Italia, also die Brüder Italiens, verstummten, und ich setzte meinen Weg fort. Wenn ich die Torte abgeliefert hatte, war immer noch Zeit, die Nachricht zu lesen. So wahnsinnig eilig hatte ich es im Moment nicht, Neuigkeiten von Dario zu erfahren.
Sorry, amore mio, aber ich konnte ja nicht wissen, was los war. Und es ist echt nicht meine Schuld, wenn du gerade voll im Stress bist. Für dumme Scherze bin ich nicht zu haben!
Ach ja, und richte deinen Entführern aus, die sollen mit ihrer Lösegeldforderung bloß nicht bei mir ankommen. Ich bin sowieso schon pleite.
Mafia, Makkaroni und Mandolinen
»Hier, bitte. Trinken Sie einen Schluck.«
Thorwald Feddersen hielt mir ein Glas Wasser hin.
Woher stammt eigentlich der Glaube an Wasser als Allheilmittel?
Völliger Blödsinn.
Ich hatte vor zwei Minuten den größten Schock meines Lebens erlitten, und Wasser war im Augenblick das Letzte, was ich brauchte. Das galt auch für aufmunterndes Schulterklopfen von einem großen dicken Reeder, in dessen Diele ich gerade zusammengebrochen war. Ich hatte pünktlich die Torte abgeliefert und war noch nicht ganz aus dem Haus gewesen, als ich Darios Nachricht las. Daraufhin waren die holzgetäfelten Wände von rechts und links auf mich zugestürzt.
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