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Tausende Welten werden vom Bund von Dhuul-Kyphora unterdrückt, der mit Abstand größten Macht in der Galaxis. Doch noch mehr Welten wurden zu sogenannten Verlorenen Welten oder sogar zu Vergessenen Welten, weil sie für die Kyphorer so unwichtig waren, dass es sich noch nicht einmal gelohnt hatte, sie zu vernichten. Sie selbst allerdings nennen sich Freie Welten. Eine Freiheit, die einen hohen Preis hat – höher noch als das Joch der Kyphorer: Der Tod! (399) Dieser Band enthält folgende SF-Abenteuer: Tödlich (Wilfried A. Hary) Desaster von Algetin (Wilfried A. Hary) Auserwählt in der Galaxis (Mara Laue)
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Science Fiction Dreierband 3067
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Tödlich
Desaster von Algetin
Auserwählt in der Galaxis
Tausende Welten werden vom Bund von Dhuul-Kyphora unterdrückt, der mit Abstand größten Macht in der Galaxis. Doch noch mehr Welten wurden zu sogenannten Verlorenen Welten oder sogar zu Vergessenen Welten, weil sie für die Kyphorer so unwichtig waren, dass es sich noch nicht einmal gelohnt hatte, sie zu vernichten.
Sie selbst allerdings nennen sich Freie Welten. Eine Freiheit, die einen hohen Preis hat – höher noch als das Joch der Kyphorer: Der Tod!
Dieser Band enthält folgende SF-Abenteuer:
Tödlich (Wilfried A. Hary)
Desaster von Algetin (Wilfried A. Hary)
Auserwählt in der Galaxis (Mara Laue)
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von
Alfred Bekker
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Alles rund um Belletristik!
„ Gefangen in der verbotenen Zone!“
Die größte Terroristin aller Zeiten, Ailinia Kromak – als die einzig mögliche Retterin in höchster Not? Ausgerechnet sie? Gegen einen unsichtbaren Feind, wie er kaum noch mächtiger sein könnte?
Fest steht jedenfalls: Ohne sie ist alles verloren, nicht nur das Leben!
*
Ein Wesen namens Ailinia Kromak.
Ein Wesen?
Ja, so sah sie sich selbst. Als ein Wesen. Nicht wirklich als Mensch. Weil sie womöglich gar kein Mensch war. Höchstens zum Teil. Aber das wusste außer ihr kaum jemand genauer und sogar sie selber konnte darin nicht völlig sicher sein. Dass fast niemand überhaupt etwas wusste, lag nicht etwa daran, weil es ein besonderes Geheimnis gewesen wäre, das niemand verraten durfte. Sondern weil sie niemals jemand danach je gefragt hatte.
Außer auf dem geheimen Strafplaneten der Flotte – und genau dort hatte sie allen Grund gehabt, eher überhaupt nicht das Geringste von sich preiszugeben.
Denn wenn wirklich irgendwo die Hölle war, an die so viele glauben wollten, dann konnte sie nur dort zu finden sein. Davon war sie überzeugt.
Nicht nur deshalb vermied sie jeglichen Gedanken daran, was sie in den immerhin hundert Jahren ihres Aufenthaltes in dieser Hölle hatte erleiden müssen.
Zumindest bemühte sie sich darum.
Die Wissenschaftler hatten ihr alle Geheimnisse entreißen wollen. Mit allen Mitteln. Sie hatten hundert Jahre lang nichts anderes mit ihr getan und dabei nicht im Geringsten begreifen können, dass sie einfach nur eine überaus fähige Psionikerin war. Weil sie solche Fakten gewohnheitsmäßig stets leugneten.
Sie hatten irgendwelche technischen Tricks bei ihr vermutet und sich zumindest halbwegs damit zufrieden gegeben, dass diese jetzt in der Gefangenschaft nicht mehr funktionierten.
Dabei waren sie bloß vorsichtig genug gewesen, ausreichend Abstand zu ihr zu halten, wenn sie bei wachem Bewusstsein gewesen war. Und sie rechtzeitig zu betäuben, falls sie sich näher bemühten und sie mal wieder aufschnitten, um in das Innere ihres Körpers zu blicken.
Um danach wieder endlos Fragen zu stellen.
Ja, sie hatten zumindest dort gewagt zu fragen, wo sie niemals eine Antwort gegeben hätte. Alle anderen nicht Psi-fähige, denen sie vorher und danach begegnet war, hätten zwar ohne weiteres Antworten erhalten von ihr, doch sie hatten halt nicht zu fragen gewagt.
Denn sie hatten alle Angst vor ihr.
Alle!
Nicht nur ihre Feinde eben, sondern auch ihre Verbündeten.
Ja, Verbündete, keine Freunde. Wozu auch? Sie brauchte keine Freunde. Obwohl sie nicht wirklich einzigartig war als Psi-fähige.
Zumindest das war bekannt. Wenngleich nur bei denen, die zu den Eingeweihten gehörten, und das waren nicht wirklich viele.
Zum Beispiel ihre Crew, der sie nach ihrer Befreiung vom Strafplaneten unfreiwillig angehörte. Was die jetzt so trieben ohne sie auf ihrem neuen Stützpunktplaneten Neueheimat im Sternsystem um die Sonne Anadiri?
*
Der Mensch vor ihr, weiblich, anscheinend im fünften Monat schwanger, was allein schon die deutliche Wölbung des Bauches verriet, schaute sie zwar ganz direkt an, doch dieser Blick war seltsam leer, als würde sich dahinter keine Seele befinden.
Und selbst wenn Ailinia ihre Gedankenkraft bemühte und in das Gehirn der Frau eindrang, änderte sich der Blick aus diesen Augen vor ihr nicht.
Die mächtigen Gedanken Ailinias ließen nichts aus. Sie untersuchten den gesamten Körper der Frau, die aufrecht in einem Sessel fixiert war, damit sie gezwungenermaßen Ailinia anstarrte, die sich ihr gegenüber hingesetzt hatte.
Ziel waren immer wieder diese offenen, starren Augen.
Oh, gewiss, sie zwinkerten hin und wieder. Eine rein unbewusste Reaktion, dem gleichen Programm folgend, dem Menschen seit Urzeiten folgten. Niemand brauchte bewusst zu blinzeln. Das geschah ganz von selbst. Wie das Herz von allein schlagen konnte, also ohne das Bewusstsein zu bemühen, oder wie die Verdauung ablief, ein Vorgang, aufwändiger und komplizierter als in einem hochtechnisierten Labor, das von Menschenhand geleitet wurde.
Ein letztes Blinzeln – und Ailinias Gedanken drangen zum wiederholten Male in diese Augen ein, auf der bisher vergeblichen Suche nach dem, was normalerweise Seele genannt wurde, doch eben schon in der Gewissheit, dies ein weiteres Mal vergeblich zu tun.
Wie halt jedes Mal.
Denn es war ja hier und jetzt sowieso nicht das erste Mal, dass Ailinia sich dahingehend bemühte. Sie hätte ja viel lieber die gefangenengenommenen zwölf Menschen auf dem namenlosen Planeten der Sonne Kaptaun 4 ganz normal verhört, was ihre ganz besondere Spezialität innerhalb der Flotte von Xapanamur hätte sein können, zumal wenn man solche Fähigkeiten hatte wie sie, aber wie sollte man jemanden verhören, der… keine Seele besaß?
So durchforstete sie mal wieder routiniert das Gehirn der Probandin, nahm die unbewussten Ströme auf, das natürliche Lebenserhaltungssystem, das sogar bei geistig Umnachteten funktionierte oder bei Menschen im Wachkoma…
Ja, damit war der Zustand dieser Frau da vor Ailinia tatsächlich zu vergleichen.
Es gab sogar Erinnerungen, allerdings völlig belangloser Art. Weil echte Erinnerungen, wie Menschen sie normalerweise hegten, auf ein waches Bewusstsein angewiesen waren.
Sagte man denn nicht auch, dass die menschliche Seele erst durch die Erinnerungen zur menschlichen Seele wurde?
Aber was, wenn es keine menschliche Seele gab, ja, überhaupt keine Seele? Wenn der Mensch im wahrsten Sinne des Wortes von außen gelenkt und gesteuert wurde? Wie ein ferngesteuerter Roboter, der ja ebenfalls keine Seele benötigte, um zu funktionieren.
Ailinia hatte es geschafft, diese Frau da von dem immer noch unbekannten Puppenspieler zu befreien. Sie hätte jetzt ihre eigene Seele wiederfinden sollen. Tat sie jedoch nicht.
Hieß das vielleicht, dass es sowieso noch niemals eine Seele in diesem Menschen gegeben hatte? War diese Frau ohne diese geboren worden?
Der Verdacht lag nah, obwohl Ailinia das einfach nicht glauben mochte. Nur deshalb bemühte sie sich jetzt zum wiederholten Mal.
Kurz rief sie sich mal wieder ins Gedächtnis zurück, was bisher geschehen war, einfach nur, weil sie endlich wissen wollte, ob sie auch dabei nicht doch noch irgendetwas übersah:
Das Schlachtschiff Superexplorer, besetzt mit fünfhundert Männern und Frauen der Stammbesatzung und mit eintausend Soldaten der Raumkampf- und Landeeinheiten. Voll ausgebildete Soldaten, die mit Leichtigkeit einen ganzen Planeten erobern konnten. In einem Raumschiff, das zu der Klasse der neuesten und somit stärksten Schlachtschiffe gehörte, inoffiziell auch Weltenvernichter genannt, weil es durchaus in der Lage war, eine ganze Welt zu pulverisieren, falls es erforderlich erschien.
Und das gegen einen unsichtbaren Gegner, der innerhalb des Sonnensystems von Kaptaun 4 auf sie gelauert hatte, trotzdem nicht die geringste Chance gehabt hatte!
Ailinia selber wusste nicht definitiv, was mit all den Menschen an Bord geschehen war. Sie war allerdings sicher, dass sie zumindest in Gefangenschaft geraten waren, ohne die geringste Chance auf Widerstand.
Denn eines war hundertprozentig klar, weil sie es selber hatte mit ansehen müssen: Lediglich ihr selber und drei der Raumjäger mit jeweils fünf Menschen an Bord war die Flucht auf diesen Planeten hier gelungen!
Was war aus allen anderen geworden?
Ja, diese Frage war eben nach wie vor offen, denn sie hatte lediglich gesehen, dass einer nach dem anderen der Raumjäger spurlos verschwand. In das Unsichtbare, aus dem der gesamte Angriff erfolgt war.
Die Raumjäger nannte man zwar so, doch in diesem Fall hatten sie die Aufgabe von Rettungsbooten übernommen, weil ihr Mutterschiff untergegangen war und ansonsten niemand die Katastrophe überlebt hätte.
Ailinia sah es immer noch vor ihren geistigen Augen, als wäre es vorhin erst geschehen:
Sie wurden vom Mutterschiff weg katapultiert mittels eines Sprengsatzes, damit sie möglichst schnell in Sicherheit kamen, während das Schiff unterging, was bislang sowieso allerdings als völlig unmöglich gegolten hatte.
Nun, es war ja nicht das erste Mal in der Geschichte gewesen, dass ein Schiff untergegangen war, das angeblich niemals untergehen konnte. Das war Ailinia klar, obwohl sie nichts wusste von einem irdischen Schiff namens Titanic…
Unmittelbar nach der Notlandung auf dem Planeten waren sie und die fünfzehn weiteren Flüchtlinge, denen die Flucht als einzigen gelungen war, doch noch in Gefangenschaft geraten.
Die zwölf Ferngesteuerten, wie Alinia sie nur noch nannte, hatten sie gefangengenommen, mit Betäubungsstrahlern. So unerwartet, dass sogar Ailinia davon überrascht worden war.
Und dann hatte Ailinia den Spieß ganz einfach umgedreht, hatte ihre fünfzehn Verbündeten wieder befreit und die zwölf eigentlichen Bewohner dieser unterirdischen Anlage hier gefangen gesetzt.
Natürlich nachdem sie jeglichen weiteren Einfluss von außen unterbunden hatte!
Seitdem war praktisch… gar nichts mehr passiert. Und im Grunde genommen war sie mit ihrer Weisheit längst und endgültig am Ende.
Obwohl Ailinia niemals aufgeben würde.
Ein weiterer Grund, wieso sich nun erneut bemühte, durch die psionische Untersuchung der Probandin vor ihr vielleicht doch noch mehr zu erfahren. Irgendwie und irgendwo übersah sie nämlich etwas Wesentliches. Davon war sie inzwischen überzeugt, und diese Überzeugung wuchs von Minute zu Minute, zwang sie beinahe sogar dazu, ungeduldig zu werden.
Obwohl Ailinia Kromak so etwas wie Ungeduld eigentlich gar nicht von sich kannte.
Normalerweise eben nicht.
Doch nichts auf dieser Welt, auf der sie gestrandet war, erschien auch nur annähernd normal.
*
Während ihrer Überlegungen hatte sie die Untersuchung natürlich fortgesetzt.
Sie forschte in diesem leeren Gehirn herum, wahrscheinlich das hundertste Mal. Oder sogar schon noch öfter?
Und dann hatte sie eine Idee.
Endlich!
Wie wäre es denn damit, wenn sie das noch ungeborene Kind untersuchte?
Obwohl sie das ebenfalls bereits hinter sich hatte, erschien ihr plötzlich die Möglichkeit, vielleicht auf diese Weise eine Entdeckung zu machen, die sie weiterbrachte, gar nicht mal so klein. Denn irgendwie war ihr das bislang nicht ganz so wichtig erschienen.
Ein ungeborenes Kind. Mehr nicht. Was sollte daran denn auch ungewöhnlich sein? Da war sowieso noch kein Bewusstsein im Sinne des Wortes. Da wurde sicherlich auch noch nichts von außen gesteuert.
Wozu auch?
Und genau das war es vielleicht? Es gab keinerlei Beeinflussung von außen, weil es noch nicht nötig war.
Was erwartete Ailinia jetzt zu finden?
Das wusste sie selbst nicht zu sagen. Sie versuchte es einfach auf gut Glück.
Alles erschien normal. Ailinia musste sich nur wenig konzentrieren, um sämtliche technischen Einrichtungen einer echten Klinik unnötig zu machen. Sie konnte den Körper der Frau durchforsten, wie sie es für nötig hielt. Wenn erforderlich vielleicht sogar Zelle für Zelle. Da war es eine Kleinigkeit, den Fötus zu erfassen, ihn genauestens zu untersuchen nach etwaigen Abweichungen von Normalwerten – und am Ende sich intensiver mit dem sich noch entwickelnden Gehirn zu beschäftigen.
Und da kam die Erkenntis.
Wie ein Schlag.
Beinahe unerwartet.
Die Erkenntnis, dass eben alles völlig normal war, wie bei einer ganz normalen Schwangerschaft einer ganz normalen Frau.
Wohlgemerkt, bei einer Frau, wo eben NICHT alles normal sein konnte! Weil sie keinen eigenen Willen entwickelt hatte!
Hatte Ailinia denn nicht schon darüber nachgedacht, ob die Frau überhaupt jemals mit einer Seele geboren worden war? Ob sie diese geistige Umnachtung von Geburt aus schon hatte?
Dann wäre sie als Baby schon von außen gesteuert worden.
Dann wäre jedoch auch der Fötus schon im Visier des unsichtbaren Puppenspielers gewesen.
Logisch.
Verdammt, wieso hatte sie sich nicht schon vorher intensiver mit dem Fötus beschäftigt, um genau in dieser Richtung zu forschen?
Egal, jetzt war sie auf diesem Weg. Lieber später als nie.
Und ihr wurde klar, dass dieser Fötus ein ganz normaler Mensch werden würde. Ein ganz normales Baby zunächst. Die Mutter würde von außen gesteuert werden, um ihr Kind zu versorgen.
Für wie lange? Bis aus dem Baby ein Kleinkind geworden war oder ein größeres Kind? Wann würde die Beeinflussung von außen überhand nehmen? Wann würde das natürliche Bewusstsein gelöscht werden für immer?
Ailinia hielt unwillkürlich inne.
Ein neuer Gedanke:
Wenn das Bewusstsein der erwachsenen Frau irgendwann völlig gelöscht worden war, dann müssten sich zumindest noch so etwas wie Spuren in ihrem Gehirn finden – Spuren des einstigen eigenen Willens.
Deshalb widmete sie sich wieder dem Gehirn der Frau. Um noch einmal alles zu durchforsten, diesmal jedoch unter einem neuen Gesichtspunkt.
Die Erinnerungen, so belanglos sie auch sein mochten…
Ailinia wusste, dass sich erwachsene Menschen in der Regel nicht an ihre ersten Jahre erinnern konnten, obwohl bereits im Babyalter so etwas wie Erinnerung stattfand. Sonst hätte ein Baby ja nichts erlernen können, oder später ein Kleinkind. Zum Beispiel das Sprechen, aber auch, den eigenen Körper mehr und mehr zu beherrschen.
Ja, das war entscheidend: Normale Menschen vergaßen das zu einem Zeitpunkt, an dem diese Erinnerungen nicht mehr von Belang waren!
Das wusste Ailinia deshalb so genau, weil sie sich schon immer für normale Menschen interessiert hatte, für das, was sie ausmachte und das, was sie bewegte. Vielleicht getrieben von der unerfüllbaren Sehnsucht, selber wie ein normaler Mensch werden zu können?
Nun, sie war es zumindest zum Teil, wie sie wusste.
*
Die Erinnerungen.
Tiefer, immer tiefer.
Die verschütteten Erinnerungen aus der Kindheit. Ja, verschüttet, nicht gelöscht. Wie bei jedem Menschen.
Moment mal: Wie bei jedem Menschen?
Ja, richtig, sogar bei dieser Frau hier vor ihr!
Sie hatte verschüttete Erinnerungen an ihre früheste Kindheit.
Es war mühsam, sie auszulesen, aber eigentlich war es nicht nötig. Es genügte die Erkenntnis, dass es sie gab, dass sie existierten. Denn ein Mensch, der ohne Seele geboren wurde, konnte niemals solche Erinnerungen haben.
In der Tat: Die Erinnerungen dieser Frau endeten irgendwann – mehr oder weniger schlagartig. In einem Alter von schätzungsweise fünf bis zehn Jahren. So genau war das jetzt nicht mehr feststellbar, sogar für Ailinia nicht. Aber keinesfalls früher und keinesfalls später.
Keuchend lehnte sich Ailinia zurück. Nicht weil die Untersuchung sie sonderlich anstrengte, sondern es war die Erkenntnis dessen, was sie gerade festgestellt hatte, und ihr schier den Atem raubte.
Nein, dieses Bewusstsein war nicht einfach nur… gelöscht worden, wie sie die ganze Zeit über geneigt gewesen war anzunehmen. Nein und noch einmal nein, es war irgendwie… entfernt worden.
Wieder nein: Nicht entfernt, sondern es hatte… den Körper dieser Frau verlassen.
Wie eine Seele, die den Körper verlässt!
Dass dieser Körper trotzdem noch am Leben war und sogar hatte schwanger werden können, lag nur daran, dass er nach wie vor gesteuert worden war. Als wäre das Bewusstsein noch da.
Und wenn es tatsächlich noch da war? Nicht im Gehirn, wo es hingehörte, sondern irgendwo außerhalb? Um von dort aus den eigenen Körper zu steuern?
Dieser Gedanke erschien Ailinia dermaßen fantastisch, dass sie abermals um Atem rang.
Vielleicht war dieser Gedanke ja völlig absurd? Ja, vielleicht, aber falls nicht? Was dann?
Bewusstseine oder Seelen, wie man sie auch nennen wollte, die ihren Körper von außerhalb steuerten? Von wo außerhalb?
Sie blinzelte wie verwirrt und schaute sich um, als würde sie an den Wänden hier die Antwort finden auf die Frage, ob sie nun selber einfach nur den Verstand verloren hatte oder ob sie tatsächlich einem Rätsel auf die Spur gekommen war, wie es fantastischer gar nicht mehr hätte sein können.
Ruckartig stand sie auf.
Sie drehte sich einmal um sich selbst.
Ailinia hielt es einfach nicht mehr länger aus. Diese ständige Ungewissheit, die an den Nerven zehrte, sogar an ihren. Die unbeantworteten Fragen beispielsweise nach dem Verbleib aller Geflohenen, vor allem des Kommandanten der Superexplorer Captain Sul Schorn und der Oberkommandierenden der Soldaten Sternenadmiral Calin Brodna…
Lebten sie überhaupt noch?
*
Das Wort Horror erschien auch noch untertrieben. Das Wort Grauen genauso. Vielleicht traf eher die Hölle zu – die Hölle aus unsäglicher Pein, seelischer und körperlicher Art.
Körperlicher Art vor allem betreffend Calin Brodna, die so grausam gefoltert worden war, wie es sich ein kranker Verstand überhaupt nur ausdenken konnte.
Seelische Folter vor allem für Captain Schorn, der dies alles, was seiner geliebten Calin widerfuhr, mit ansehen musste, wobei er mindestens so schlimm litt wie sie selbst.
Diese unvorstellbaren Verstümmelungen, die sie zu einem blutigen Bündel Mensch hatten werden lassen, der nicht mehr überlebensfähig sein konnte…
Und plötzlich wurde alles anders.
Ganz anders!
Auf dem Höhepunkt des Grauens, als sie beide glaubten, es könnte keine Steigerung mehr geben, geschah etwas, was tatsächlich sogar noch eine Steigerung darstellte.
Es begann damit, dass die Wände verschwanden und mit ihnen ihre Folterer.
Captain Schorn sah sich inmitten eines gepflasterten Marktplatzes, wie irgendwo in einer der Antiken nachempfundenen Altstadt auf Xapanamur. Die umstehenden Wohn- und Geschäftsgebäude bildeten eine beinahe romantisch erscheinende Kulisse.
War es vielleicht tatsächlich nur eine Kulisse und mehr nicht? Wie bei einem Film? Als die Kulisse für eine Hölle der außerordentlichen Art?
Da tauchten die ersten Menschen auf.
Nein, nicht nur normale Menschen. Es waren auch welche dabei, die von alten Siedlungswelten abstammten und sich diesen entsprechend körperlich angepasst hatten, so dass sie nicht mehr unbedingt wie Menschen von Xapanamur aussahen. Aber auch echte Aliens, wie es schien, obwohl diese in der hoffnungslosen Minderzahl waren.
Sie tauchten auf und bildeten zunächst eine geschlossene Front.
Es hatte etwas Bedrohliches, dieses fortwährende Starren in seine Richtung.
Captain Schorn hörte einen ächzenden Laut an seiner Seite. Sein Kopf flog herum.
Calin Brodna, seine jahrelange Geliebte. Die Frau, für die er ohne mit der Wimper zu zucken sein Leben gegeben hätte. Sie saß immer noch in ihrem Verhörstuhl, doch ganz nah. Höchstens zwei Meter entfernt.
Sie schaute fassungslos an sich herab.
Und Captain Schorn war genauso fassungslos, denn Calin Brodna… erschien völlig unverletzt. Es gab nicht die geringsten Spuren der grausamen Folterung, bei der ihr sogar das halbe Gesicht heruntergerissen worden war, vom Auge abwärts bis zum Kinn.
Sie schaute auf. Ihre Blicke begegneten sich.
Captain Schorn lauschte in sich hinein und spürte ebenfalls keine Schmerzen mehr.
Er schaute auf seine Hände. Waren sie nicht mit einem Hammer brutal zerschmettert worden?
Sie wirkten völlig heil.
Außerdem war er nicht mehr am Stuhl gefesselt. Er hätte sofort aufstehen können.
Sein Blick ging zu den Menschen hin, die jetzt ringsum einen Kreis bildeten, der allmählich enger wurde. Er zog sich um Captain Schorn und der Anführerin der Raumsoldaten der Superexplorer Calin Brodna zusammen, und beide wurden von diesen Fremden permanent angestarrt.
Eisige Schauer jagte das über Sul Schorns Rücken. Er konnte nicht mehr den Blick wenden, auch nicht, als Calin neben ihm ächzte:
„Was, beim Raumgott, geht hier vor?“
Ja, waren sie nicht vorhin noch in zwei kahlen Räumen gewesen, gemeinsam mit ihren Folterern? Hatten sie nicht eigentlich sinnlose Fragen beantworten sollen?
Was war das jetzt hier? Eine neue Art von Folter? Wie sollte diese aussehen? Mit dem Ziel, sie beide in den Wahnsinn zu treiben?
Also war das vielleicht nur eine Art Trugbild? Und das dort hinter dieser Menge, die bedrohlich näher kam, wirklich nur so etwas wie eine Filmkulisse?
Und der sich immer enger schließende Kreis der Gaffer: Was wollten sie von ihnen beiden?
Plötzlich stoppte der Kreis, wie auf ein gemeinsames Kommando.
Einer der Gaffer trat vor.
Captain Schorn blinzelte verwirrt, denn der Mann kam ihm seltsam bekannt vor.
Dann wusste er es:
Hier hatte er so etwas wie Straßenkleidung an. Sie wirkte seltsam, wie aus einer fernen Vergangenheit übriggeblieben. Vorher war er Captain Schorn in einem weißen Laborkittel begegnet, als sein Folterer.
Er lächelte immer noch freundlich. Das hatte er auch getan, während er Captain Schorn die Hände zerschmettert hatte mit einem Hammer.
Immer näher kam er, bis er Captain Schorn erreichte und zwei Meter vor ihm stehenblieb.
Eine weitere Person löste sich aus der Menge und trat näher. Nicht ganz so altmodisch gekleidet wie der ältere Mann, aber wie eine normale junge Frau wirkend, die der wackere Captain auch nicht auf Anhieb erkannte. Obwohl es keinen Zweifel gab: Es handelte sich um die Foltermagd, die mit unvorstellbarer Grausamkeit Calin bis zur Unkenntlichkeit bei lebendigem Leib verstümmelt hatte.
Schorns Blick ging zwischen Calin und der Amazone hin und her. Aber auch Calin war natürlich aufgefallen, dass die Amazone nicht mehr wie eine Amazone wirkte.
Calins gelbe Augen hatten sich bei diesem Anblick deutlich geweitet, ihre reptilienartigen Schlitzpupillen ebenfalls.
„Was geht hier vor?“, knurrte Calin die Folterin an, noch ehe diese sie erreicht hatte.
Es gab keine Antwort.
Freundlich lächelnd blieb die junge Frau im Abstand von zwei Metern vor Calin stehen.
Der ältere Mann vor dem Captain sagte ruhig:
„Wir sind euer Bindeglied!“
„Bindeglied?“, echote der Captain verblüfft. „Was soll das denn nun wieder heißen? Wo sind wir überhaupt?“
„In der wahren Welt. Das hier ist unser Planet. Den wir vor gut neuntausend Jahren besiedelt haben. Oh, es ist ein wahres Paradies, wie ich Ihnen versichern darf, Captain Schorn. Hier gibt es keine Schmerzen, keine unerfüllbaren Sehnsüchte, sondern nur das Dasein in der vollkommenen Gemeinschaft. Solange man möchte. Bis in alle Ewigkeit hinein oder auch zeitlich begrenzt. Obwohl diesen Wunsch bislang noch nie jemand geäußert hat. Nicht in neuntausend Jahren.“
Captain Schorn verstand kein Wort, wenn er ehrlich war. Calin Brodna an seiner Seite genauso wenig. Dafür hatte sie selber mindestens eintausend Fragen.
„Was ist das für ein Quatsch?“, war nur eine einzelne.
Eine andere lautete: „Ist das eine verdammte Illusion?“
Und die dritte folglich: „Was soll das überhaupt?“
Der ältere Mann wandte sich kurz ab und den Wartenden zu, die sich im Kreis aufgestellt hatten und unentwegt herüber starrten.
Dann sah er Captain Schorn wieder an, immer noch ausgesucht freundlich wirkend, wie es seine Art war.
„Wie schon erwähnt: Wir sind das Bindeglied. Noch seid ihr nicht Teil der Gemeinschaft und an euren sterblichen Körper gebunden. Noch ist es umständehalber nicht möglich, dies zu ändern. Also könnt ihr nur deshalb die Wahrheit sehen, weil wir es euch ermöglichen, unterstützt von der Gemeinschaft. Bis ihr eure Aufgabe erfüllt habt, deretwegen ihr jetzt hier seid.“
Captain Schorn und Calin Brodna tauschten einen verständnislosen Blick.
Wie hätten sie auch nur im Geringsten verstehen können, worum es hier überhaupt ging?
Nicht zu diesem noch viel zu frühen Zeitpunkt, an dem diese Szene hier so bizarr wirkte, dass sie an ihrem Verstand zweifeln mussten, was für sie eigentlich noch schlimmer war als die schlimmste Folter!
*
Ailinia gab es auf. Sie steuerte die Probandin nur noch für die Nahrungsaufnahme, denn wenn sie das nicht tat, verhungerte die Frau. Und das Baby, das sie austrug.
Anschließend ließ sie die Frau sich auf deren Liege in der zugewiesenen Zelle niederlegen und ging endlich in die Steuerzentrale der unterirdischen Anlage, wie sie es eigentlich ja schon vorher hatte tun wollen, bevor sie sich dann doch noch um entschieden hatte.
Unterwegs grübelte sie noch einmal über alles nach. Auch darüber, wieso es in einer unterirdischen Anlage zwar rund hundert Unterbringungszellen gab, aber nur zwölf ursprüngliche Bewohner. Sechs davon schwangere Frauen und sechs weitere Männer, offenbar die Väter der noch Ungeborenen.
„Als wäre diese Anlage so etwas wie die Zuchtstation für weitere Willenlose!“, durchfuhr es sie. „Mit einer Kapazität von hundert, die jedoch nur zu zwölf Prozent ausgelastet gewesen war bei unserer Ankunft, aus welchen Gründen auch immer.“
Dabei wusste Ailinia im Nachhinein gar nicht zu sagen, ob sie es nur gedacht hatte oder ob es tatsächlich laut über ihre Lippen gekommen war.
Dann hatte sie die Zentrale erreicht. Der Weg dorthin war ja nicht allzu weit, weil überhaupt alle Wege hier unten nicht sonderlich weit waren.
Somar Enn, eigentlich der erste Offizier, also der sogenannte EO, der untergegangenen Superexplorer, saß an den Monitoren. Wie immer, wenn Ailinia hier eintrat. Und genauso wie immer, schaute er noch nicht einmal auf bei dem, was er da tat.
Was tat er denn eigentlich?
Ailinia ging neugierig näher. Sie hatte kaum eine Ahnung von Technik. Computer jeglicher Art waren ihr eher suspekt, als dass sie jemals Lust verspürt hätte, sich intensiver damit zu beschäftigen. Deshalb war sie heilfroh, dass Somar Enn mit ihr die Flucht gelungen war, gemeinsam mit den weiteren vierzehn ehemaligen Besatzungsmitgliedern der Führungscrew, wie sie allesamt in der Zentrale gewesen waren vor der überstürzten Flucht. Der EO galt allgemein als wahres Computergenie, was ihn für Ailinia unentbehrlich machte.
„Sie müssen mir helfen!“, sagte Ailinia ohne eine Begrüßung.
Er wagte es nicht, zu ihr aufzuschauen.
Da war sie wieder, die kreatürliche Furcht vor ihr. Nicht weil sie so eine ungewöhnliche Erscheinung gewesen wäre. Die Menschen ohne Psi-Fähigkeiten spürten in ihrer Anwesenheit etwas, womit sie nichts anfangen konnten und was sie deshalb tief im Innern erschütterte. Eine Art Aura, die Ailinia nicht kontrollieren konnte, zumindest nicht ohne ihre Fähigkeiten einzusetzen und die Menschen damit zu manipulieren.
„Hat es mit den Computern hier zu tun?“, erkundigte er sich vorsichtig. „Eigentlich sind sie recht primitiv. Die Anlage ist vor Jahrhunderten entstanden, vielleicht sogar vor Jahrtausenden. Vielleicht wurde die Technik immer wieder mal nachgebessert, aber sie ist so weit weg von unserer gewohnten Gegenwart, dass es wahrlich kein Problem bedeutet, sie in den Griff zu bekommen.“
„Was ich Ihnen durchaus zugetraut habe. Sonst würden Sie nicht hier sitzen“, bemerkte Ailinia. „Aber Sie gingen nicht darauf ein, was ich gesagt habe: Ich brauche Ihre Hilfe!“
„Doch, ging ich, indem ich die Gegenfrage stellte, ob es mit den Computern hier zu tun hat.“
„Richtig, entschuldigen Sie. Ich bin zugegebenermaßen ein wenig verwirrt, und ich kann Ihnen versichern, dass dies äußerst selten bei mir der Fall ist.“
Jetzt wagte er es zum ersten Mal, den Blick zu heben und ihr sogar direkt ins Gesicht zu sehen.
Weil er so überrascht war über ihr offenes und ehrliches Bekenntnis von Schwäche.
Ailinia ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen:
„Ich bin am Ende meiner Weisheit angelangt!“, erklärte sie lapidar.
Dann schilderte sie ihm kurz, was sie vorhin erst herausgefunden hatte bei der Untersuchung der schwangeren Frau.
„Aber, das würde ja bedeuten, das Ganze würde sozusagen psionisch ablaufen, irgendwie!“, schlussfolgerte der EO erschüttert. „Aber das kann doch gar nicht sein, Beratungsoffizier Ailinia Kromak, Sie müssen sich irren. Weil es Psionik nicht gibt – nicht geben kann. Sie ist unmöglich, ein Humbug, ein Märchen, eine Legende, was immer Sie wollen. Also eigentlich: Gar nichts!“
Ailinia lachte humorlos.
„Das sagen sie mir ins Gesicht, während sie mich vor sich sehen? Mich, Ailinia Kromak? Lauschen Sie doch mal in sich hinein. Was spüren Sie in meiner Anwesenheit? Was, glauben sie, verursacht das?
Ich kann Ihnen versichern, dass ich dafür nicht direkt verantwortlich bin. Das heißt, ich erzeuge das nicht gewollt. Es umgibt mich wie eine unsichtbare Aura, die ich niemals kontrollieren kann. Es sei denn, ich setze meine besonderen Fähigkeiten ein und beeinflusse diejenigen, die mir begegnen. Doch genau das würde ich niemals tun. Nicht, wenn es sich um Verbündete handelt wie Sie einer sind.
Aber haben Sie denn bis jetzt noch immer nicht begriffen, dass Sie und die anderen vierzehn möglicherweise die einzigen Überlebenden vom Raumschiff Superexplorer sind? Und das alles nur, weil Sie zufällig mit Ihren Raumjägern meinem eigenen Rettungsboot nah genug waren?“
„Wie bitte?“, brauste der EO auf. „Wie können Sie denn so etwas behaupten?“
„Was denn jetzt im Einzelnen?“
„Na, das mit den einzigen Überlebenden!“
„Ich behaupte es ja gar nicht. Es ist ja sowieso nur so eine Art Ahnung, ohne die Gewähr, dass es auch wirklich stimmt. Es ist mir von hier aus nicht möglich, Genaueres zu erfahren, leider. Es gelingt mir lediglich, die Anlage hier zu sichern, damit niemand von außen Einfluss auf euch nehmen kann. Auch nicht auf die zwölf Seelenlose in unserer Gefangenschaft.
Ich habe praktisch nichts anderes gemacht, als die Verbindung dieser mit ihren eigentlichen Bewusstseinen zu kappen – und diese Bewusstseine haben durch mich nicht mehr die Möglichkeit, dies rückgängig zu machen.“
„Aber…“ Der EO schüttelte einfach nur den Kopf. Sein Blick irrte ab.
Bevor er doch noch etwas sagen konnte, kam Ailinia ihm zuvor:
„Hören Sie zu, EO, auch wenn Sie mir nicht glauben und noch weniger vertrauen… Es ist so wie es ist. Und es muss doch verdammt noch mal möglich sein, aus dieser unentrinnbaren Falle doch wieder zu entrinnen.“
Er schaute sie wieder an.
„Unentrinnbare Falle? Ja, den Eindruck habe ich allerdings auch. Alle anderen hoffen noch.“
„Sie nicht mehr?“
„Nein!“, gab er ehrlich zu. „Ich sitze hier, beschäftige mich mit der total veralteten Technik und habe mir längst einen kompletten Überblick verschafft. Aber ich sehe eben trotzdem nicht den geringsten Ausweg.
Denn selbst wenn wir einfach so die unterirdische Anlage verlassen könnten… Was ist, wenn uns oben einer der Stürme erwischt? Das wäre unser Todesurteil.
Und wohin sollten wir uns wenden? Gibt es überhaupt eine weitere Anlage auf dieser verdammten Welt mit einem Funkgerät? Wohl kaum, weil wir mit dem hier gefundenen Funkgerät nicht die geringste Verbindung kriegen.
Möglicherweise gibt es auf der ganzen Welt sowieso kein einziges Raumschiff, mit dem wir davonfliegen könnten? Die haben uns zwar im Weltraum angegriffen, aber dabei blieben sie unsichtbar.
Wir haben keine Ahnung, womit sie uns angegriffen haben. Eine unsichtbare Macht, die niemand einschätzen kann und die vielleicht gar nicht hier auf diesem Planeten lauert, sondern irgendwo dort oben im Weltraum, um dort das gesamte Sonnensystem abzusichern?“
„Wir wissen es nicht!“, bekräftigte Ailinia seine Worte. „Ja, wir wissen noch nicht einmal alles über die Anlage hier.“
„Doch!“, widersprach Somar Enn zu ihrer Überraschung. „Ich sagte doch schon, dass ich hier eigentlich alles längst im Griff habe.“
„Was denn zum Beispiel?“
Er deutete auf den Monitor vor sich.
„Es gibt Überwachungskameras in allen Gängen, aber in keinem der Räume.“
„Eigentlich logisch, weil es hier niemals jemand geben sollte, der nicht von außen gesteuert wird, von dem man also nicht sowieso schon alles weiß. Warum sollte man jemanden dann zusätzlich auch noch mittels Kameras beobachten?“
Somar Enn seufzte ergeben.
„Das sagen jetzt Sie, Ailinia, aber gut, nehmen wir es einfach mal als gegeben hin.
Vielleicht fällt es mir deshalb so schwer, Ihnen einfach so zu glauben, weil ich zu wenig über Sie weiß? Eigentlich weiß ich doch überhaupt nichts. Außer irgendwelche vielleicht dummen Gerüchte. Obwohl Sie doch im Grunde genommen zur Besatzung gehören. Als BO, als Beratungsoffizier ohne Befehlsgewalt. Obwohl ich der erste Offizier war.“
Er legte wie lauernd den Kopf schief.
„Darf ich Sie deshalb mal was Persönliches fragen, BO Ailinia Kromak? Also nur, wenn Sie es wirklich zulassen. Ich will mich in keiner Weise aufdrängen.“
„Wir wissen beide, dass wir keine Chance haben, hier wieder weg zu kommen, wenn wir nicht eng zusammen arbeiten. Die Distanz zu wahren wie vorher hat uns nichts gebracht. Der Status quo blieb unveränderbar. Deshalb kann ich Sie beruhigen, EO Enn. Sie können mich ruhig fragen.
Überhaupt gibt es nicht wirklich Geheimnisse um meine Person. Nur das, was man als Geheimnisse sich hinter der hohlen Hand erzählt. Aber doch nur, weil keiner es wagt, mich selbst zu fragen.“
„Danke, dann werde ich diese dumme Gewohnheit jetzt brechen – und sie selbst fragen. Und ich hoffe echt, dass Sie mir nicht böse sein werden.“
„Und wie lautet die Frage jetzt?“, wurde Ailinia ungeduldig.
„Wer oder was sind Sie?“ Somar Enn winkte sogleich mit beiden Händen ab. „Nicht missverstehen, bitte. Ich will nur endlich mal wissen, ob das stimmt, was man sagt.“
„Was sagt man denn?“, blieb Ailinia ruhig.
Somar Enn schöpfte tief Atem, ehe er sich traute zu sagen:
„Sie sollen von einem Alien abstammen. Also von einem Alien und einem Menschen. Also so eine Art Mischling.“
„Das ist möglicherweise korrekt!“, gab Ailinia ohne zu zögern zu.
Das überraschte Somar Enn nun doch. Er bekam genügend Auftrieb für seine nächste mutige Frage:
„Wieso möglicherweise?“
„Weil ich mich nicht erinnern kann. Ganz ehrlich nicht. Meine Geschichte begann vor schätzungsweise dreihundert Jahren. Es erscheint mir so, als wäre ich von irgendwoher aus dem Nichts aufgetaucht. Einfach so. Oder von jemandem auf Xapanamur abgesetzt?
Dort jedenfalls setzt meine Erinnerung ein. Erst eher zaghaft, um nicht zu sagen nebulös. Ich war ich, nicht anders als heute immer noch. Ich habe mich nicht im Geringsten verändert, zumindest äußerlich nicht. Meine gewissermaßen innere Persönlichkeit jedoch…“
Sie schöpfte tief Atem. Ihre Augen waren in unsichtbare Ferne gerichtet, wo sie Dinge zu sehen schienen, die normalen Menschen für immer verborgen bleiben sollten.
„Ich – ich habe entdeckt, dass ich anders bin als alle Menschen, die mir begegneten. Deshalb vermieden sie mich nach Kräften. Ihr Verhalten mir gegenüber kann man nur mit negativ bezeichnen. Ich wurde geschlagen, getreten und weggestoßen. Sie hassten mich, ohne dass ich ihnen auch nur zu nah gekommen wäre.
Das konnte ich nicht verstehen.
Ich konnte so vieles nicht verstehen. Noch nicht einmal ihre Sprache. Als hätte ich selber überhaupt keine Sprache je gehabt. Ich hatte den Körper einer verhassten jungen Erwachsenen, aber im Grunde genommen war ich ein gerade erst erwachtes Kind, das sich hilflos bemühte, in jener völlig fremden Umgebung einfach nur zu überleben.
Hätte ich meine besonderen Fähigkeiten nicht besessen, damals schon, wäre mir dieses Überleben niemals gelungen. Aber diese Fähigkeiten waren wie ein Rohdiamant, der zunächst einmal geschliffen werden musste.
Schlimmer noch: Ich war eine tödliche Gefahr sogar für mich selber, wenn es mir nicht gelang, diese Kräfte zu beherrschen.
Ich fühlte mich eigentlich wie eine wandelnde Zeitbombe, die jeden Augenblick detonieren konnte, um Tausende um mich herum gemeinsam mit mir ins Verderben zu reißen.
Natürlich habe ich es mit der Zeit geschafft, nicht nur die Sprache zu lernen, die um mich herum gesprochen wurde, sondern auch meine Kräfte zu kanalisieren. Um festzustellen, dass ich mit Leichtigkeit Menschen manipulieren konnte.
Mehr noch: Ich konnte sein, wer immer ich sein wollte – und sie mussten es mir glauben. Wenn ich es nur darauf anlegte.
Aber nicht nur Menschen konnte ich manipulieren, sondern auch technische Systeme, wie Kameraüberwachungen beispielsweise. Nicht weil ich auch nur das Geringste von Technik verstand. Ich musste es halt nur wollen, und es wurde eine Ailinia Kromak aufgezeichnet, die es gar nicht wirklich gab.
Können Sie sich das vorstellen, Somar Enn? Können Sie sich vorstellen, welche Macht das bedeutet?
Ich fühlte mich bald unbesiegbar. Niemand durfte es mehr wagen, mich zu schlagen oder gar zu treten. Ich war gegen alles und jeden gefeit. Ich konnte überall dominieren.
Glauben Sie mir, ich war im Grunde genommen immer noch dieses soeben erst erwachte Kind, und genauso ging ich auch vor. Ohne jeglichen Sinn. Einfach nur, um auszuprobieren, was mir möglich war. Ohne jegliche Rücksicht auf Verluste.
Und ich lernte immer mehr, bis zum absoluten Größenwahn.
Nicht dass ich jemals Ambitionen gehabt hätte, die Welt zu beherrschen. Das war mir viel zu anspruchsvoll, um nicht zu sagen zu anstrengend. Ich tat, was mir gerade in den Sinn kam. Ich manipulierte, zerstörte, brandschatzte oder brachte zumindest die Menschen dazu, dies für mich zu tun. Einfach nur, um meine Macht selber zu spüren, meine Möglichkeiten sozusagen zu genießen. Oder auch aus purer Langeweile.
Zweihundert eigentlich grausige Jahre lang, in denen man mich über alle Welten des Imperiums hinaus als die schlimmste Terroristin aller Zeiten jagte, ohne überhaupt auch nur zu ahnen, wer ich eigentlich war. Ich befand mich mitten unter ihnen, und sie ahnten es noch nicht einmal, weil ich nicht wollte, dass sie es ahnten.
Bis ich vor hundert Jahren den ersten und einzigen Mann traf, der gegen mich immun war! Nicht nur gegen meine Kräfte, sondern sogar gegen meine negative Aura, die den Menschen zumindest Unbehagen bereitet, was Sie sicherlich in diesem Moment ebenfalls spüren, Somar Enn.
Dieser Mann hieß Tonak Nilgro, und er beeindruckte mich dermaßen, dass ich ihn sogar heiratete. Ohne dass er erfahren sollte, was ich alles tat, wenn er nicht mit dabei war.
Denn ich blieb die gnadenlose Terroristin, die nicht wirklich irgendein Ziel hatte, sondern all das Grauen eben nur verbreitete, um ihren Wahnsinn auszuleben.