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Das totalitäre System Scientology – gerät der Sektenriese ins Wanken?
Sinkt der Stern von Scientology oder gelingt es der Sekte weiterhin, neue Mitglieder zu gewinnen? Die Diskussionen um ihre Existenz – gerade im Mutterland USA – werden schärfer.
Die ausgewiesene Scientology-Expertin Ursula Caberta legt ein neues Buch zu der umstrittenen Sekte vor: Im Fokus stehen aktuelle Entwicklungen und Erkenntnisse, die die Autorin kompetent darlegt und analysiert. Basierend auf ihrem Bestseller Schwarzbuch Scientology stellt sie Entstehung, Philosophie und Methoden der Organisation umfassend dar. Ein erschütterndes Zeugnis über das Vermächtnis des L. Ron Hubbard und die nach wie vor enormen Gefahren, die von Scientology ausgehen.
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Seitenzahl: 221
Veröffentlichungsjahr: 2014
Ursula Caberta
Scientology
Die ganze Wahrheit
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1. Auflage, 2014
Copyright © 2014 by Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
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Umschlagmotiv: © Bernd Vogel/Corbis
ISBN 978-3-641-10820-5
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Vorwort zur neuen erweiterten Ausgabe
Einleitung
Strategien und Vorgehensweisen
L. Ron Hubbard: seine Ideen – sein Vermächtnis
David Miscavige – der »neue« Boss und seine Methoden
Religion oder Sekte?
Vom irdischen Wesen zum Scientologen
Thetane in kleinen und großen Körpern
Handeln im Sinne aller Dynamiken
Wir haben dich lieber tot als unfähig
Von Krankheit, Tod und den erkannten bösen Mächten
Reinwaschung nach Hubbard
Der Thetan verlässt den Körper
Kampf den Drogen
Kampf der Psychiatrie
Gedrillte Eltern – arme Kinder
Bildung à la Hubbard
Angeworben – was nun? Familienkrisen durch Scientology
Die Sea-Org
Von zu kleinen Schiffen
Von Kindern und Kadetten
Strafe muss sein
Scientologys VIPs
Nichts wie weg – der Ausstieg
Die juristische und politische Diskussion
Mut zum Verbot!
Abschied der Autorin vom Thema und Danksagung
Literaturverzeichnis
Anmerkungen
Seit Erscheinen des Schwarzbuch Scientology im Jahr 2007 ist viel geschehen. Weder Menschen, die – in welcher Form auch immer – in Berührung mit der Organisation gekommen sind, noch die Teile der breiteren Öffentlichkeit, die an der Entwicklung der Organisation und des Umgangs mit ihr ein Interesse haben, können umhin, dies zu bemerken. Die Einordnung und Bewertung der Vorgänge in den letzten Jahren ist – wieder einmal – nicht einfach; die Einschätzungen erfahren eine gewisse Bandbreite: Von der Position »Scientology ist gefährlicher als je zuvor« bis zur Voraussage des Endes der Organisation scheint alles denkbar. Und das nicht nur in Deutschland. Auch im Stammland der Organisation, den USA, widerfährt den Machenschaften von Scientology nach Jahrzehnten des Stillschweigens eine breitere kritische Diskussion. Wie in keiner Zeit vorher äußern ehemalige, hochrangige Funktionäre von Scientology öffentlich Kritik, im Internet treffen sich Ex-Mitglieder zum Erfahrungsaustausch, und sogar das langjährige mediale Aushängeschild von Scientology, Hollywoodstar Tom Cruise, wird wegen seiner Zugehörigkeit zunehmend kritischer betrachtet, und es gibt sogar das eine oder andere Gerücht, dass selbst er mit der Organisation brechen könnte – für Scientology eine PR-Katastrophe.
Doch lässt sich anhand dieser Entwicklungen tatsächlich das baldige Ende von Scientology ablesen? Immerhin besteht das System um die Machtzentrale in den USA bisher trotz aller Turbulenzen weiter. Wie eh und je wird Kritik von außen als unwahr und als von feindlichen Mächten inszeniert dargestellt und intern auch an diese Behauptungen geglaubt. Dabei spielt es keine Rolle, wer Kritik äußert; die ehemaligen, jetzt kritisch eingestellten Freunde und Ex-Mitglieder gelten als Verräter, als Überläufer zum Feind.
Intern ist also keine Veränderung alter Strukturen feststellbar. Und das obwohl David Miscavige, Nachfolger des Gründers L. Ron Hubbard nach dessen Tod im Jahr 1986, neuerdings für diverse Negativschlagzeilen sorgt. Rufe gegen seinen menschenverachtenden Umgang mit Mitarbeitern und der Außenwelt werden immer häufiger. Läutet also vielleicht Scientologys Kopf selbst das Ende der Organisation ein? Wünschenswert wäre es, einen konkreten Grund zur Entwarnung gibt es bisher jedoch nicht.
Umso erstaunlicher ist es, dass entgegen der öffentlichen höheren Sensibilisierung speziell in Deutschland staatliche und kirchliche Institutionen dazu neigen, die Gefahr durch Scientology weniger ernst zu nehmen als noch vor zehn Jahren. Die Gefahren für Freiheit, Gesundheit und alle demokratischen Grundsätze durch die scientologische Ideologie werden zunehmend verharmlost, und die Diskussion um ein Verbot ist in sehr weite Ferne gerückt.
Ist dies der üblichen politischen Ignoranz geschuldet, die greift, wenn ein Thema keinen Erfolg bei der strategischen Wählerstimmengewinnung verspricht? Oder ist etwa die Lobbyarbeit der Scientology-Organisation in Deutschland aufgegangen? Oder liegt es an mangelndem Mut der deutschen Innenministerien, dem großen Freund USA zu zeigen, welches Vorgehen mit seinem »Kind« eigentlich angemessen wäre?
All diesen Fragen gilt es, in diesem erweiterten Schwarzbuch auf den Grund zu gehen. Hinzu kommen einige naheliegende Mysterien, die in der Ausgabe von 2007 bereits angerissen, aber noch nicht abschließend analysiert wurden. Zum Beispiel: Was bringt eine Vielzahl Menschen auch nach dem Verlassen der Organisation dazu, immer noch mindestens ein gutes Haar an der Ideologie zu finden? Ist es dabei relevant – und wenn ja: inwiefern –, wer wo und wie lange dabei war? Eines vorweg: Ja, es gibt diese Unterschiede, und um einzuordnen, wer welche Kenntnisse über das System hat und warum einigen der Ausstieg bzw. die Distanzierung vom Gesamtsystem leichter fällt als anderen, ist eine lohnenswerte Fragestellung, wenn man das Ziel verfolgt, dem Hubbard-Spuk, genannt Scientology, endlich ein Ende zu setzen.
Eine der wichtigsten Informationsquellen zur Klärung solcher Fragen sind die Menschen, auf die sich die Medienwelt gerne stürzt: die so genannten Aussteiger.
Aus vielen Diskussionen bei Vorträgen und durch persönliche Gespräche während meiner zwanzigjährigen beruflichen Auseinandersetzung mit Scientology weiß ich, dass diese mutigen Menschen häufig mit ungerechter Behandlung und Unverständnis zu kämpfen haben. Die immer wiederkehrenden Fragen, warum jemand bei Scientology aktiv wird und warum er sich schließlich doch wieder löst, sind nur zu beantworten, wenn man sich mit möglichst vielen dieser Aussteiger unterhält, ihnen zuhört und sich auf ihre Geschichten, ihre Erlebnisse und Wahrnehmungen einlässt.
Voraussetzung dafür, dass diese Menschen sich überhaupt öffnen und Vertrauen aufbauen, ist, ohne Voreingenommenheit auf sie zuzugehen und auch zu akzeptieren, dass sie nicht alles preisgeben wollen oder können. Sie in bestimmte Raster zu pressen, wie es Außenstehende leider in der Regel zu tun pflegen, ist nicht hilfreich. Raster lassen keinen Spielraum für Dialoge und damit auch keinen Spielraum für die Reflektion der eigenen Wahrnehmung.
Zum besseren Verständnis der Schwierigkeiten vieler Aussteiger, auf scheinbar simple Fragen zu antworten, zunächst ein paar grundlegende Erläuterungen zur scientologischen Systematik:
Einer der meist verbreiteten Irrtümer ist die Annahme, die Aussteiger/in wüssten alles über die Organisation. Das Gegenteil ist der Fall. Das Prinzip Scientology baut darauf auf, dass die Mitglieder, die in der Organisation arbeiten, nur die kleinen Bröckchen erfahren, die sie zur Ausübung ihrer Tätigkeit benötigen. Aus diesem Grund ist es in Beratungssituationen mit Aussteigern elementar, dass jemand zugegen ist, der genau weiß, wie die Organisation funktioniert, und der ggf. Wissens- und Verständnislücken des Aussteigers füllen kann. Nur so kann geholfen werden.
Scientology wirbt mit den Möglichkeiten jedes Einzelnen, seine persönliche Situation zu verändern. Die meisten werden nach der Anwerbung die Versprechungen so interpretieren, dass es eine positive Entwicklung für sie geben wird. Dieses kann sich auf alle Lebensbereiche beziehen: Job, Partnerschaft, Gesundheit etc. Der Weg bei Scientology hat einen Namen: »Die Brücke zur Freiheit.« Diese Brücke ist lang und teuer. Irgendwann lockt der Titel OT (Operierender Thetan), dazu später mehr. Entgegen der häufigen Annahme kommt es bei der Hierarchie der Organisation nicht darauf an, welcher Grad auf der so genannten »Brücke zur Freiheit« in Scientology erreicht wurde. Zwar genießen jene, die die Stufe »Clear« oder die weiteren Stufen des so genannten Operierenden Thetans (OT) erreicht haben, durchaus einen gewissen Respekt und auch Anerkennung bei den anderen Mitgliedern bzw. Mitarbeitern. Um Machtpositionen in der Organisation einzunehmen, ist dies jedoch keine Voraussetzung. Bei mehreren Begegnungen mit hauptamtlich in höheren Funktionen tätigen Mitarbeitern in Deutschland konnte ich feststellen, dass sich diese auf der doch angeblich sie so glücklich machenden Brücke zur Freiheit in den Kursen abstrampeln, die Expansion der Organisation vorantreiben wollen und die glückselig machenden Stufen so nur schwer erreichen. Um die angebotenen Stufen zu erklimmen, und das auch noch möglichst schnell, ist nach meiner Erfahrung eines notwendig: Geld. Immer wieder sind mir diese Geschichten begegnet: Ist genügend auf dem Konto, dann kann der Weg zügig beschritten werden. Wird das Geld knapp, zeigt sich nach den mir bekannten Erfahrungsberichten schnell ein anderes Gesicht der Organisation:
Die Betroffenen können – vor allem kurz nach ihrem Ausstieg – häufig das Ausmaß des Eingriffes in ihr Leben durch die Hubbard-Lehren nicht sofort einschätzen. Die von ihnen als belastend eingestuften Erfahrungen werden fast ausnahmslos zu Beginn der Beratung nicht auf die Lehren und das System zurückgeführt, sondern einzelnen Personen in Scientology zugerechnet. Erst im Lauf der folgenden Jahre wird ihnen bewusst, was im Einzelnen mit ihnen passiert ist und wie isoliert sie gelebt haben. Besonders schmerzlich ist es für die Betroffenen, wenn sie Familienangehörige oder nahestehende Personen im System zurückgelassen haben. Sind sie erst einmal als in das Feindesland der Außenwelt gegangenes Ex-Mitglied in der Organisation klassifiziert, ist in der Regel jeder Kontakt mit den in der Organisation Verbliebenen ausgeschlossen. Besonders rigoros wird diese Trennungsmaschinerie betrieben, wenn jemand aus der Eliteeinheit, der Sea-Org, die Organisation verlässt. Der Schmerz, den viele erleiden müssen, wenn ihnen klar wird, dass sie wahrscheinlich nie wieder ihre Kinder, Enkelkinder, Geschwister oder Eltern sehen werden, ist kaum in Worte zu fassen. Viel Leid hat diese Organisation schon über Familien weltweit gebracht.
Das vorliegende Buch fußt in wesentlichen Teilen auf dem ursprünglich 2007 erschienenen Bestseller von Ursula Caberta SCHWARZBUCH SCIENTOLOGY, das seit geraumer Zeit nicht mehr lieferbar ist.
Es bietet dem Leser in einigen wichtigen Punkten Aktualisierungen und bringt in puncto Entstehung und Ideologie, Organisation und Finanzierung, Methoden, Ziele und Aktivitäten auf den Punkt, was die nach wie vor enormen Gefahren angeht, die von Scientology ausgehen.
Scientology – ein Begriff, der seit über 60 Jahren weltweit diskutiert wird. Ob in den Medien, Parlamenten, Behörden und Regierungen –, die Auseinandersetzungen waren und sind vielfältig. Über den Gründer L. Ron Hubbard wurde viel geschrieben; sein Leben, die Entwicklung und die Strategien, die zum System Scientology geführt haben, warfen immer wieder Fragen auf, wieso es ausgerechnet ihm gelungen ist, auf allen Kontinenten dieses weltumspannende Netz zu etablieren, das seine brav funktionierenden Mitglieder malträtiert wie ein Überwachungsstaat seine Bürger.
Von Rückschlägen, die es ohne Frage immer wieder gab, erholte sich das System Scientology bisher stets ohne bleibende Schäden. Doch seit einiger Zeit sind die Gerüchte um ein Scheitern des Systems hartnäckiger: Ehemals tragende Kräfte verlassen die Organisation, sind geflohen aus dem so genannten Rehabilitationsprojekt (eine Art internes Umerziehungslager), in das sie DM, wie der neue Boss, David Miscavige, genannt wird, gesteckt hatte.
Ähnliche Vorgänge waren schon in den 1990er-Jahren, nach Miscaviges Machtübernahme zu verzeichnen. Einige hochkarätige Aussteiger haben schon damals Fakten aus dem Machtzentrum der Organisation offengelegt, die ein sofortiges Ende von Scientology hätten einleiten können. Doch die Organisation bestand fort.
Nach wie vor gilt: Nur der genaue Blick in die einzelnen Einheiten von Scientology, in die verschiedenen Aufträge und Funktionen der Abteilungen und der in ihnen wirkenden Mitglieder kann dazu beitragen, das System zu durchschauen. Denn die Organisation versteht es, sich in verschiedenste Gewänder zu kleiden. Grund zur Entwarnung gibt es bisher nicht. Nach wie vor gilt die Erkenntnis, wer sich mit dem System Scientology befasst, stuft die aktiven Mitglieder und damit das System selbst bei näherer Kenntnis relativ schnell als bedrohlich und kalt ein. Allerdings nur dann, wenn die Werbe- und Verharmlosungsstrategien durchschaut werden. Denn Scientology ist ein in sich geschlossenes System, eine Parallelwelt mit eigenen Gesetzen.
Um die Funktionsweise der Organisation zu begreifen, sind zwei Zitate des Gründers L. Ron Hubbard hilfreich, die unmissverständlich klarmachen, welche Zielsetzung Scientology verfolgt und welche Mittel dabei zum Einsatz kommen: »Die Ethik hat ... ihre eigene Technologie – eine in der Tat überlegene Technologie. Mit der Ethik (der scientolgischen Definition davon, Anm. d. Verf.) könnte man eine ganze Nation säubern ...« und »Der einzige Weg, um Leute zu kontrollieren, ist, sie anzulügen«.1 Hubbards Intention ist also unzweifelhaft der Gewinn von Macht über andere Menschen zur Durchsetzung seiner eigenen Zwecke.
Ein vertraulicher Richtlinienbrief, der unter David Miscavige neu herausgegeben wurde, unterstreicht diese Aussagen, indem er folgende langfristige Ziele benennt:
»Ausschaltung des Gegners (alle Nicht-Mitglieder, Anm. d. Verf.)
Übernahme der Kontrolle oder Gefolgschaft der führenden Vertreter oder Eigentümer aller Nachrichtenmedien
Übernahme der Kontrolle oder Gefolgschaft der Personen, welche die internationalen Finanzströme steuern und
Übernahme der Kontrolle oder Gefolgschaft der Personen in politischen Schlüsselfunktionen.«
2
Wie mit den als Feinden klassifizierten Personen oder Institutionen umzugehen ist, um die Ziele zu erreichen, zeigt sich in einer in der Zeitschrift IMPACT abgedruckten Rede, in der David Miscavige die »Feinde« mit »Bakterien« vergleicht, die man besser »vernichtet«.3 Kern allen Bestrebens der Organisation ist folglich die Erschaffung einer rein scientologischen Gesellschaft.
Vor dem Hintergrund dieser Zielvorgaben kann eigentlich niemandem mehr logisch erscheinen, dass sich immer noch Menschen von der Organisation einfangen lassen. Deswegen wird häufig angenommen, dass nur labile oder in einer Krisensituation befindliche Menschen für die Anwerbung durch Scientology empfänglich sind. Diese Erklärung scheint jedoch unzulänglich, wirft sie doch die Frage auf, warum so viele Mitglieder jahre- oder sogar jahrzehntelang an der Organisation festhalten und es nur einer Minderheit gelingt, sich von irgendwann wieder von ihr zu lösen.
Grundlage für die Erkenntnis der persönlichen und gesellschaftlichen Gefahr durch Scientology muss daher sein: Scientology kann jeden treffen! Es kommt darauf an, wann und wie man mit der Organisation in Kontakt kommt, und – nicht unbedeutend – durch wen.
Die nach außen sichtbarste Variante ist das Auftreten in Form von Missionen oder Kirchen. Interessant ist, dass innerhalb der Organisation diese Einheiten – also die Kirchen – als »Orgs«, der Abkürzung für »Organisation«, bezeichnet werden. An den Gebäuden steht allerdings der Kirchenbegriff in großen Lettern.
Die Einheiten haben einen klar umschriebenen Auftrag: das »Raw Meat« von der Straße zu holen. »Raw Meat« – rohes Fleisch, so werden intern diejenigen bezeichnet, die angeworben werden sollen. Auf der Straße, im Kollegenkreis, in der Familie, in Vereinen oder anderen Institutionen. Insbesondere für die Straßenwerbung sind die »Orgs« oder Missionen zuständig. Durch direkte Ansprache sollen Passanten in die Gebäude gelockt werden. »Jegliche Idee, dass eine Org aus irgendeinem anderen Grund existiert als dem, Materialien und Dienstleistungen an die Öffentlichkeit zu verkaufen und zu liefern, muss verworfen werden«, so eine der verbindlichen Anweisungen des Gründers L. Ron Hubbard an diese Abteilungen der Organisation.4
Die Art der Präsentation im öffentlichen Raum ist zwar unterschiedlich, der Sinn und Zweck aber immer gleich: neugierig machen auf eine Idee, auf sich selbst oder auf die Möglichkeit der Lösung gesellschaftlicher Probleme. Alle, die sich darauf einlassen, berichten von den gleichen Erfahrungen: Es bleibt nicht bei einem Gespräch. Um mehr zu erfahren, ist ein weiteres Einlassen notwendig. Das kann das Ansehen eines Filmes im Gebäude sein, die Demonstration von Techniken zur Bewältigung von Problemen oder meistens, bei besonders eiligen Menschen, die Übergabe oder der Verkauf einer kleinen Broschüre. Nicht selten wird dies mit der Einladung zu einem »zwanglosen« Brunch in den Gebäuden der Organisation verbunden.
Bei den »Besuchen« in den Gebäuden kommt dann häufig sozusagen einer der Klassiker der Anwerbung zum Einsatz: der Persönlichkeitstest. Bekannt geworden als Werbemethode für die Organisation ist dieser Test vor allem durch geschaltete Anzeigen in Zeitungen und Zeitschriften. »Wir nutzen nur 10% unseres geistigen Potenzials«, verkündeten die Annoncen, darüber ein Bild von Einstein. In den letzten Jahren sind diese Anzeigen eher selten geworden, den Test aber gibt es natürlich noch, und er wird weiter angewandt. Die Überschrift ist schon, vorsichtig ausgedrückt, eine Ungenauigkeit: Oxford Capacity Analyse. Die meisten Menschen stellen dank dieser Überschrift wahrscheinlich sofort eine gedankliche Verknüpfung mit der renommierten Universität in Oxford her – und das ist auch gewollt! So soll ein vermeintlich wissenschaftlicher Hintergrund und folglich Seriosität vermittelt werden. Tatsächlich ist es aber nichts anderes als ein Werbemittel. Die Auswertung des Tests erfolgt zumeist mündlich, kurz und knapp, und endet in der Regel mit der Feststellung, dass die getestete Person mindestens ein belastendes Problem hat. Für dieses gibt es – so die vermittelte Botschaft – nur eine Lösung: das Kursystem. Und da man sich – wie praktisch – schon im Gebäude befindet, in dem dieses Wunder vollbracht werden kann, lässt der ein oder andere sich auf die angebotene Hilfe ein.
Hängt das »rohe Fleisch« erst einmal derart »sozusagen« am Fleischerhaken, bedarf es schon einer gehörigen Portion Klarheit und Konsequenz, um die nun folgenden weiteren Umwerbungsmethoden abzuwehren. Nicht selten werden bereits bei der ersten Kontaktaufnahme dieser Art Kurse gebucht und auch gleich im Voraus bezahlt. Dabei mag es dann auch schon mal vorkommen, dass der scientologische Mitarbeiter den Neuzugang zum Geldautomaten begleitet – wahrscheinlich um zu verhindern, dass dieser sich auf dem Weg dorthin das Ganze noch einmal überlegt und womöglich wieder abspringt. Spätestens ab diesem Moment hängt man fest. Schließlich möchte man für sein Geld ja auch etwas bekommen, und wahrscheinlich klingt die Aussicht auf die angebotene so genannte »Brücke zur völligen Freiheit« für viele sehr verführerisch. Endlich im Beruf Karriere zu machen, Eheprobleme zu lösen oder auch gesundheitliche Einschränkungen beheben zu können, sind äußerst reizvolle Versprechungen.
Immerhin ist in den bei der Straßenwerbung verteilten Broschüren vermerkt, dass es sich um eine Veröffentlichung der Scientology Organisation handelt. Nicht gleich zu erkennen sind jedoch die Vereinigungen I HELP oder The Way to Happiness.
I HELP kommt mit den so genannten »Ehrenamtlichen Geistlichen« daher. Bei den in die Außenwelt gerichteten Veröffentlichungen nennt sich diese Vereinigung Hubbard Internationale Kirchenvereinigung von Pastoren. In der Organisation sind diese »Geistlichen« die »Auditoren«, also diejenigen, die neben der Beschreitung der Brücke für die persönliche geistige Befreiung eine Ausbildung zur Anwendung und Verbreitung der scientologischen Techniken genossen haben.
Wenn möglich, kündigen große gelbe Zelte die Werbeaktionen von I HELP an. Von der internationalen Ebene aus Los Angeles werden diese Werbekampagnen geplant und gesteuert. I HELP betreut die so bezeichneten »Feldauditoren«, also Personen, die nicht zwingend Mitarbeiter der örtlichen Missionen oder Orgs sind, sondern auch aus den verschiedenen Einflussbereichen des Scientology-Netzwerkes stammen. Als Feldmitarbeiter wird man natürlich in der Anwerbung neuer Mitglieder geschult. In der Veröffentlichung der Organisation mit dem Titel Was ist Scientology wird diese Mobilmachung so umschrieben:
Die kontinentalen Büros von I HELP ... halten lokale Veranstaltungen, Tagungen und Seminare ab, bei denen Mitglieder von I HELP spezielle Workshops zur Verbesserung ihrer Fähigkeiten besuchen können. I HELP gibt jedem, der außerhalb der Kirchen und Missionen Dianetik und Scientology praktiziert, Rat und Beistand, damit er in seiner Gemeinde wirksam und erfolgreich sein kann.
»Wirksam« und »erfolgreich« sind hier wohl die Schlüsselwörter, die den Auftrag der Feldauditoren klar formulieren: Was zählt, ist die Expansion der Scientology-Organisation.
Auf den Straßen werden auch andere Institutionen der Organisation beworben. Zumeist im Zusammenhang mit Anti-Drogen-Kampagnen wird ein scientologisches Drogenrehabilitationsprogramm angepriesen: NARCONON. Die Organisation rühmt sich mit seiner auf internationaler Ebene berühmten Sprecherin, der US-amerikanischen Filmschauspielerin Kirstie Alley. Prominente im Einsatz für eine gute Sache – Kirstie Alley ist bekennendes Mitglied der Organisation und erfüllt mit der Sprecherrolle ihre Aufgabe. Das sollte man wissen, bevor man ihr Engagement gegen Drogen würdigt.
Das NARCONON-Programm für Süchtige unterscheidet sich in keinem wesentlichen Aspekt von dem »Weg zur völligen Freiheit« in einer Scientology-»Kirche«. Ebenso wie beim auf der Straße angeworbenen »raw meat« kommen auf den im Haus von NARCONON lebenden suchtkranken Menschen ein Kommunikationstraining, der Kurs zur persönlichen Integrität und Ethik, der Kurs über das Auf und Ab im Leben sowie der von der Scientology so genannte Moralkode »Der Weg zum Glücklichsein« zu. Selbstverständlich steht im Mittelpunkt ein Reinigungsprogramm, das genauso aber auch in der »Kirche« durchgeführt wird: Laufen, hohe Dosen von Vitaminen und Sauna, Sauna, Sauna. Scientology statt Heroin, das ist das Drogenrehabilitationsprogramm.
In der Kritik steht NARCONON in den unterschiedlichsten Ländern immer wieder. Schon 1978 fasste der damalige Drogenbeauftragte des Landes Berlin in einer Publikation zu NARCONON Folgendes zusammen:
In erster Linie müssen Bedenken gegen die beim Narconon e.V. angewandten Methoden erhoben werden. Durch die Anwendung des »Hubbard-Elektrometers« kann einerseits die bei Drogenabhängigen ohnehin vorhandene Tendenz zur Flucht in eine unrealistische Vorstellungs- und Erlebniswelt gefördert werden, andererseits eine massive Abhängigkeit der Drogenabhängigen von der Einrichtung auf Dauer entstehen. Durch das Kurssystem wird eine Ausblendung von Emotionen ohne wirkliche Aufarbeitung der dahinterliegenden Konflikte erreicht, zugleich besteht die Gefahr einer irrationalen Anpassung an die hausinterne Hierarchie sowie eines ebenso irrationalen Überlegenheitsgefühls gegenüber den Menschen außerhalb des Narconon e.V. Das systematische Training einer Binnensprache verstärkt die Abhängigkeit von der Gruppe erheblich und behindert eine gesellschaftliche Reintegration.5
Auch im Stammland, den USA, nimmt die Skepsis um NARCONON zu. Bleibt zu hoffen, dass hierdurch in Zukunft das Rühren der Werbetrommel für das angebliche Anti-Drogen-Programm zumindest erschwert wird.
Werbewirksamkeit wird bei Scientology groß geschrieben, und dabei scheint kein Versprechen zu utoptisch. So schreibt sich der scientologische Arm CRIMINON die Schaffung einer Welt ohne Kriminalität auf die Fahnen. Parallelen zu NARCONON fallen schnell ins Auge und sind kein Zufall: Laut eigenen Bekundungen von Scientology hat sich dieses so genannte Rehabilitationsprogramm für Strafgefangene aus dem Angebot von NARCONON heraus entwickelt. Auch bei CRIMINON ist eine zentrale Zielsetzung der Kampf gegen Drogen, denn Drogen – im scientologischen Sinne also Medikamente aller Art – befördern die Kriminalität. Bekämpft man Drogen, verringert sich die Kriminalität. So schlicht kann der Blick auf die Welt sein. Definitionskonform lehnt der CRIMONON-Ansatz jegliche Behandlung mit Psychopharmaka ab – ein Grundsatz, der auch in der scientologischen Kernideologie verankert ist.
Es ist ein Schwerverbrechen, sich öffentlich von Scientology abzukehren.6
Entsprechend drohen jedem, der auf diese Weise gegen scientologische Normen verstößt, Strafen, deren Vollzug Hubbard in seinem Handbuch des Rechts legitimiert:
Niemand unter uns richtet oder bestraft gerne. Trotzdem sind wir vielleicht die einzigen Leute auf der Erde mit einem Recht zu bestrafen.
Angesichts dieser verbalisierten Inanspruchnahme von Selbstjustiz kann es nur als höchst gefährlich bewertet werden, wenn Scientology in irgendeiner Form einen Beitrag zur Rehabilitation von Gefängnisinsassen leistet. Für die nichtscientologische Welt klingt CRIMINON allerdings tatsächlich zunächst nach Engagement im Strafvollzug, und damit ist die nächste der Propaganda dienliche Nebelkerze in der Welt gezündet.
Eines der Ziele von Organisationen wie NARCONON und CRIMINON ist die »Demaskierung der Psychiatrie«. So sehen sich alle auf dem Psychiatriesektor tätigen Menschen den verbalen Angriffen dieser Teile von Scientology ausgesetzt, und genauso werden die zugelassenen Medikamente verschrien. Unter dem Stichwort »Psychiatrische Drogen« werden die Hersteller von Psychopharmaka quasi als Drogenhändler diffamiert. Bei der Hetze gegen die angeblichen psychiatrischen »Verbrechen« wird tief in die demagogische Kiste gegriffen. Die Psychiatrie und ihre Gefolgsleute werden fleißig für das Böse in der Welt verantwortlich gemacht.
Die Erklärung für diesen massiven Kampf gegen Psychiatrie und allem, was damit zu tun hat, liegt – wie kann es anders sein – in der von Hubbard entwickelten Ideologie. Danach sind alle Menschen, die sich gegen Scientology stellen, psychisch krank. So schreibt der Gründer auch in einem der Standardwerke – Die Ethik der Scientology –, nach seinen »Forschungen« könnten fast alle Menschen zu Scientology gebracht werden; der restliche Anteil sei psychisch so krank, dass er unter Quarantäne zu stellen und nach der Durchsetzung scientologischer Gesellschaftsformen in Lager zu bringen sei.
Nicht nur die Werbung im öffentlichen Raum dient dem Expansionsdrang. Ob über den Einfluss im Wirtschaftsleben, durch Prominente oder Lobbyisten oder auch über die vermeintlichen Bildungsangebote der Organisation: Die Expansionsstrategie lässt kaum einen Bereich der Gesellschaft aus. Gibt es bei den Anwerbungen auf der Straße zumindest noch eine Chance, relativ schnell zu erkennen, wer sich da um einen bemüht, wird es bei den anderen Angeboten schon schwieriger. Dies gilt in besonderem Maß im Hinblick auf die Aktivitäten in der Wirtschaft. Hier ist das World Institute of Scientology Enterprises (WISE) für die Einflussnahme der Organisation zuständig. Seine Aufgabe: »Die administrative Technologie L. Ron Hubbards in jedem Unternehmen der Welt voll zum Einsatz zu bringen.«7
Für einen geschulten Scientologen, der in der scientologischen Welt lebt und nach ihren Lehren denkt, stellt der innerhalb von WISE anzuwendende Verhaltenskodex selbstverständlich kein Problem dar. Die WISE Directory aus dem Jahr 1997 ist im Ganzen so interpretierbar, dass jedes WISE-Mitglied, egal mit welchem Status ausgestattet, immer und überall einzig und allein nach der Hubbard’schen Verwaltungs-, Ethik- und Rechtstechnologie zu handeln hat. Im englischen Original liest sich das unter Punkt 3 folgendermaßen: »I promise to always acknowledge L. Ron Hubbard as the source of the administrative, ethics and justice technologies and to ensure others do as well.« Mit einer derart unmissverständlichen, im Wirtschaftsleben beispiellosen Unterwerfungserklärung unter eine Ideologie verabschiedet sich das WISE-Mitglied von den außerhalb der Scientology-Welt geltenden Regeln. Doch trotz dieser Abspaltung vom üblichen System gelingt es den Mitgliedern von WISE bis heute, ihre Lehre (und deren Vertreter) in Unternehmen zu platzieren.
Angeknüpft wird hierbei zumeist an den so genannten Ruin-Punkt eines Menschen bzw. Unternehmens. Diesen zu finden ist die Einstiegsstufe, die Vorbereitung, um anschließend die Neugierde auf das so wundersam hilfreiche Kursangebot zu wecken. Anschließend wird die Neugierde auf die so wundersam hilfreichen Kurse gelenkt, und schon ist die Scientology-Maschinerie in vollem Gange.
Das alarmierende Resultat lässt sich exemplarisch am folgenden dokumentierten Arbeitsgerichtsprozess ablesen:
»Missbrauch der Vertrauensstellung, Kollegen, die Rat suchten, wurden nach Frankfurt/Main ins Dianetik-Center geschickt, um dort ihre Nöte durch scientologische Maßnahmen zu lindern. … Störung des Betriebsfriedens durch aktive Werbung für Scientology am Arbeitsplatz, Weitergabe von Adressen ohne Wissen der Beteiligten und der Missbrauch betriebseigener Mittel ...«8
Das Rheinland-Pfälzische Ministerium für Kultur stellte außerdem fest: »Der bei Scientology systemimmanente hohe Geldbedarf kann unter Umständen zu strafrechtlich relevantem Verhalten führen. Realitätsfremde und damit firmennachteilige Entscheidungen sind denkbar. Ein weiterer Aspekt ist die mögliche Erpressbarkeit von Mitarbeitern, z.B. in Bezug auf Firmenloyalität, Adressenweitergabe bzw. Weitergabe von firmeninternen Daten.«9
Alle Lehren, Denk- und Handlungsvorlagen von Scientology gehen auf den Gründer der Organisation zurück: auf Lafayette Ron Hubbard. Die scientologischen Geschichtsschreiber verklären ihn als Gelehrten, Forscher, Arzt, Bestsellerautor, eine Art omnipotenten Wissenschaftler. Vom Religionsführer ist dagegen in den euphorischen Schriften eher wenig zu lesen. Und doch sind alle davon überzeugt, dass er die Probleme der Menschheit erkannt und mit seiner Ethik einen Ansatz entwickelt hat, mit dem er die Menschheit, die Erde und das Universum vor Verfall und Verderbtheit – kurz: vor dem Untergang – retten kann. Einzige Bedingung dafür ist strikter Gehorsam. Eine Einbahnstraße zur Unsterblichkeit. Doch wem gegenüber eigentlich genau? Wer war L. Ron Hubbard und wie schaffte er es, sein scientologisches System zu etablieren?