Scolari - Isa Sternitz - E-Book

Scolari E-Book

Isa Sternitz

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Beschreibung

Um kaum eine andere christliche Figur ranken sich Mythen und Gerüchte wie um Maria Magdalena. Isa Sternitz nimmt uns in ihrem Roman "Scolari - Sieben Gestalten des Zorns" auf eine Zeitreise mit in die Welt der Heiligen. Nach dem Quellenbuch "Der einstimmige Christenglaube in einem Geiste" bereits ihr zweites Werk. Sternitz schildert den geheimnisvollen Auftrag Jesu am Kreuz und seine Auferstehungsbotschaft. Im Spannungsfeld zwischen Verehrung und Verachtung prallt die Hymne des Mönchs Hermannus Contractus auf den Konflikt zwischen weltlicher und geistlicher Macht. Johann Sebastian Bach charakterisiert sie als erste Zeugin der Auferstehung und inmitten der Pandemie inspiriert und rettet Maria Magdalena die Neuinszenierung des Monteverdischen "L'Orfeo".

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Seitenzahl: 476

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Inhaltsverzeichnis

Impressum 4

Zum Geleit 5

Zitate 7

Prolog 8

Freitag, 3. April 33: Jerusalem 8

Kapitel 1 14

Freitag, 3. April 33 bis Sonntag, 24. Mai 33: Jerusalem – Die Reise der Gefährten 14

Tag 1 – Freitag, 3. April 33: Grablegung im Gartengrab 14

Tag 2 – Samstag, 4. April 33: Abendmahlssaal – Felsengrab 29

Tag 3 – Sonntag, 5. April 33: Maria Magdalena begegnet dem Auferstandenen 48

Tag 4 – Montag, 6. April 33 73

Tag 5 – Mittwoch, 8. April 33 75

Tag 6 – Freitag, 24. April 33: Maria-Magdalena-Archipel, Sardinien 79

Tag 7 – Pfingst-Sonntag, 24. Mai 33: Saintes-Maries-de-la-Mer 80

Kapitel 2 86

Mai 1008: Abt Berno rastet auf Burg Altshausen 86

Kapitel 3 110

1013–1020: Hermannus Contractus’ Kindheit in Burg Altshausen 110

Tag 1 – Sonntag, 18. Juli 1013: Geburt des Hermannus 110

Tag 2 – Freitag, 8. September 1020: Burg Altshausen 113

Tag 3 – Samstag, 9. September 1020: Drachenspiele 116

Tag 4 – Sonntag, 10. September 1020: Hermannus’ Lähmung 121

Tag 5 – Montag, 11. September 1020:Die Rosenfrau 123

Kapitel 4 128

1020–1054: Hermannus im Kloster Reichenau 128

Tag 1 – Donnerstag, 14. September 1020: Hiltrud, Wolfrad, Hermannus, Anna bei Meersburg 128

Tag 2 – Freitag, 15. September 1020: Hermannus trifft auf der Reichenau ein 136

Tag 3 – Sonntag, 24. September 1020: Vergiftung Hermannus’ durch Malvolo 146

Tag 4 – Donnerstag, 22. Juli 1047: Die wahre Maria Magdalena: Hermannus komponiert die Maria-Magdalena-Sequenz 157

Tag 5 – Montag, 24. April 1048: Weihe der Markusbasilika 179

Tag 6 – Dienstag, 25. April 1048: Markusfest – Ruhe vor dem Sturm 183

Tag 7 – Dienstag, 6. Juni 1048: Verbrennung der Maria-Magdalena-Sequenz 193

Tag 8 – Mittwoch, 7. Juni 1048: Tod Bernos nach 40jährigem Abbatiat 198

Tag 9 – Donnerstag, 8. Juni 1048: Beisetzung Bernos 208

Tag 10 – Samstag, 24. November 1049: Papst Leo IX. 215

Tag 11 – Freitag, 9. Januar 1052: Tod Hermannus’ Mutter Hiltrud 221

Tag 12 – Donnerstag, 22. Juli 1052: Annas Tod 223

Tag 13 – Mittwoch, 21. Juli 1053: Werinhars Abschied nach Jerusalem 228

Tag 14 – Montag, 18. Juli 1053: 40. Geburtstag Hermannus’ – Kritik an Kaiser Heinrich III. 232

Tag 15 – Sonntag, 24. September 1054: Hermannus’ Tod 234

Kapitel 5 242

1246 bis 1283: Die Heilig-Blut-Reliquie – Kloster Buchau – Weißenau 242

Tag 1 – Sonntag, 22. Juli 1246: Das Heilige Blut in Kloster Buchau 242

Tag 2 – Freitag, 22. Juli 1267: Äbtissin Mechthild von Bigenburg, Kloster Buchau 248

Tag 3 – Donnerstag, 22. Juli 1283: Äbtissin Adelheid von Markdorf – König Rudolf I. im Kloster Buchau – Weißenau 256

Kapitel 6 268

Johann Sebastian Bach, Leipzig 268

Tag 1 – 21. (julianisch) März / Samstag, 31. (gregorianisch) März 1725: Johann Sebastian Bach, Leipzig 268

Tag 2 – Ostersonntag, 1. April 1725: Erste Aufführung Osteroratorium 277

Tag 3 – Karfreitag, 11. April 1727: Matthäus-Passion St. Thomas, Leipzig 279

Kapitel 7 289

18.–22. Juli 2021: Hermia und Leonardo, Sion – Lac Souterrain 289

Tag 1 – Sonntag, 18. Juli 2021: Aufbruch Hermias zum Unterirdischen See St-Léonard, Sion 289

Tag 2 – Montag, 19.7.2021: Unterirdischer See St-Léonard – Basilika Valére, Sion 311

Tag 3 – Dienstag, 20. Juli 2021: Basilika Valére, Sion 327

Tag 4 – Mittwoch, 21. Juli 2021: Spital Sion – Hotel Brig – Basilika Valére 331

Tag 5 – Donnerstag, 22. Juli 2021: Lac Souterrain St-Léonard – Sion 345

Epilog 357

Dienstag, 31. August 2021: 25 Fontes – Madalena do Mar, Madeira 357

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2022 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99130-150-9

ISBN e-book: 978-3-99130-151-6

Lektorat: Tobias Keil

Umschlagfoto:Bernadino Luini,National Gallery of Art, Washington, D. C.,Robyn Mackenzie | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Zum Geleit

„… Nein; sie wird kommen, sie wird gewiß kommen, die Zeit

der Vollendung, da der Mensch … das Gute tun wird, weil

es das Gute ist, nicht weil willkürliche Belohnungen darauf

gesetzt sind …“

Gotthold Ephraim Lessing „Die Erziehung des Menschengeschlechts“, 1780

Auge in Auge mit dem sterbenden Jesus, erste Zeugin seiner Auferstehung, Apostolin der Apostel, die sein Wort nach Südfrankreich trug, Trägerin der Geheimnisse Jesu, auserwählte Jüngerin.

Oder: Sünderin, Hure, Gefährtin, Ehefrau Jesu, Mutter seiner Kinder.

Vielgestaltig sind die Zuweisungen an die Heilige Maria Magdalena.

Papst Gregor der Große formulierte 591 in seiner Interpretation des Lukasevangeliums 7,36–8,42, dass sie gleichzusetzen sei mit Maria von Bethanien und der namenlosen Sünderin. Bis in unsere Zeit wird Papst Gregor zugeschrieben, er habe Maria Magdalena als Hure tituliert.

Wer in der Publikation „»Der einstimmige Christenglaube in einem Geiste«Quellentexte zu Maria aus Magdala“ Gregors Predigten liest, stellt fest, dass er die große Liebe der namenlosen Sünderin und die Erlösung Maria Magdalenas von den sieben Dämonen durch Jesus preist.

Eingeprägt, ja eingebrannt hat sich die Papst Gregor untergeschobene Behauptung, Maria Magdalena sei eine Hure gewesen, in das Gedächtnis der Menschheit –, der Vergleich sei mir gestattet – wie die Bilder von 9/11.

Im Evangelium nach Maria, das 1896 von dem Koptologen Carl Schmidt in Kairo erworben wurde, – als Codex Berolinensis 8502 befindet es sich heute in einer Vitrine des Ägyptischen Museums in Berlin, der Blick der Nofretete-Büste weilt darauf – übermittelt Jesus Maria Magdalena Weisheiten vom Aufstieg der Seele durch vier furchterregende Klimata, die aufrufen, das „menschliche Wesen in seiner Vollkommenheit (zu) verwirklichen.“

Die sieben Gestalten des Zorns binden die unbewusste Seele an unheilvolle innere Zustände. Daraus resultieren kriegerische Handlungen, die sowohl gegen sich selbst als auch gegen Menschen, Tiere, Natur gerichtet sind. Dem entgegen steht die Entwicklung der Seele zum Nous (Geist, Vernunft, zu Gott gewandte Spitze der Seele) und Pneuma (der Geist Gottes).

Die Helden dieses historischen Romans verwandeln sich in einem Prozess innerer Alchemie. Begünstigt durch die Heilkraft der Musik, der Literatur und Jesu geheimnisvollem Auftrag. Das Band der mystischen Verbindung zu Jesus und Maria Magdalena ist in bestem Sinne „religio“. Ganz im Sinne des frühchristlichen Kirchenvaters Lactantius (religare: zurück-, an-, festbinden): Das Band zwischen Mensch und Gott, Jesus und Maria Magdalena.

Das Ende der Feindseligkeit …

Der Beginn von …

Zitate

„Drei wandelten immer mit dem Herrn:

Maria, seine Mutter,

und die Schwester von dieser,

und Mirjam von Magdala,

die man seine Gefährtin nennt,

denn Mirjam ist seine Schwester,

seine Mutter und seine Gefährtin.“

Philippus Evangelium

„Es stand aber bei dem Kreuze Jesu seine Mutter

und seiner Mutter Schwester,

Maria, des Kleophas Weib, und Maria Magdalena.“

Evangelium nach Johannes: Kapitel 19, 25–42

Prolog

Freitag, 3. April 33: Jerusalem

Um die sechste Stunde verdunkelt sich der Himmel und Maria Magdalena sieht mit letzter Gewissheit zu Jesus hinauf. Ja, so hat sie das Ende des Geliebten vorhergesehen. Eine jähe Wehmut bedrängt ihr Herz, eine eiserne Faust presst es zusammen, und das Leid will nicht enden.

So, wie es mit ihm auf dieser Erde war, würde es nie wieder sein. Weder im himmlischen Reich seines Vaters noch in der künftigen Zeit, in der sie sich verpflichtet hatte, ohne ihn zu leben, um zu erfüllen, was sie ihm versprochen hatte: sein Wort in alle Welt zu tragen. Stunde um Stunde, Tag um Tag, Mond um Mond. Eine schier unendliche Zeit … Grauen bemächtigt sich ihrer.

Sie fällt auf die Knie, liebkost seine Füße, ihr Blick tastet sich über Jesu gemarterten Körper bis zu seinen Augen hinauf und erkennt, dass er sie schon eine Weile betrachtet. Ihre Augen tauchen ineinander, sie sieht den Schmerz der Welt in ihnen, aber auch eine stete Gewissheit, dass er sehr bald ein Ende haben wird.

Liebend gerne hätte sie seinem Vater ihr eigenes Leben angeboten. Aber Jesus hatte mit trauriger Gewissheit den Kopf geschüttelt. Oftmals war sie damals von unbestimmter Wut besetzt gewesen und hatte den einsamen Kampf mit einem Zorn, den sie längst niedergerungen glaubte, ausgefochten. Stets war Jesus in dieser Zeit bei ihr gewesen, hatte ihre Hand gehalten und ihr stumm Vertrauen zugesprochen. Unendlich getröstet, besänftigt, befriedet schöpfte sie Kraft, die sie aufstehen ließ, um ihm nachzufolgen. Seine Lehre war und ist es, die Freiheit des Körpers durch die bedingungslose Liebe des Geistes zu erlangen, den göttlichen Atem zu trinken.

Wieder blickt sie in seine Augen, und ihr Geist klärt sich, sie vergisst den Schmerz, sie vergisst das Leid und schaut und schaut, vertieft sich in seinen Blick und wird leer.

Nach Ewigkeiten der Gottesschau erkennt sie in seinem Blick, was ihre Aufgabe ist, was er ihr anvertraut, woraus die Menschheit über die Jahrtausende Heil erfahren wird: Jesus fordert sie auf, die Erde, getränkt mit seinem Blut, in ihr Salbgefäß zu füllen. Sie nickt als Zeichen des Einverständnisses, hält den Blick zu Jesus, nimmt ein Füllhorn mit Wasser zur Hand und beginnt, seine Füße zu waschen.

Maria Magdalena löst den Knoten ihrer Haare. Wie eine Kaskade fallen sie herab, glänzen wie das goldene Morgenlicht über den Bergen des Golan.

Das Salbgefäß öffnet sie, ohne den Blick von ihm zu wenden.

Anmutig und kraftvoll streichen ihre Finger das Heilige Blut in das Gefäß. Wie göttlich geführt nimmt sie das letzte Gran vom Boden auf, streicht es zärtlich in die Wunde des rechten Fußes, wo der Nagel ihn durchbohrte.

Maria Magdalena legt ihre Wange darauf, lehnt den Nacken weit nach hinten, blickt in Jesu Augen. Er nickt ihr zu, sein Kopf sinkt auf die rechte Schulter. Sein Blick bleibt auf ihr und jäh wird Maria Magdalena bewusst, dass die letzten Augenblicke gekommen sind.

Er ist bereit zu gehen, und sie ist bereit, ihn gehen zu lassen.

Schon sinken seine Lider herab, eine Träne bahnt sich den Weg über die geliebte linke Wange, das Herz hört auf zu schlagen und sein köstlicher, menschlicher Atem stockt für immer.

Die Welt versinkt.

Sie spürt, dass die Spitzen seiner Zehen erkalten, und außerstande, dies zu ertragen, sinkt sie in sich zusammen, schlägt die Hände auf den Boden. Noch etwas Feuchtes, das in der Erde versickern will, spürt sie. Bevor das Blut restlos in der Erde von Golgatha versinkt, muss sie das letzte, warme Angedenken Jesu aufsammeln und wie einen Schatz hüten.

Zusammengefaltet hockt sie auf der Erde. Sie spürt die Wärme der Blut-getränkten Erde. Sie fühlt den Trost, die Kraft. Sein Balsam spricht zu ihr.

Und sie hört seine Worte. „Dies ist mein Blut, das für euch vergossen wird, zur Heilung der Welt.“

Nach einem weiteren Gefäß suchend blickt sie um sich. Jesu Mutter steht starr vor Schmerz in den Armen des Johannes. Die Trauer seiner Mutter füllt auch Maria Magdalenas Herz und schon will sie sich dem hingeben, gänzlich ergeben, als sie wieder seine Stimme hört.

„Blut zu Blut heilt die Wunden der Welt.“

Sie versteht. Ein Beutel, verborgen unter dem Gewand, an ihrem Herzen, liegt ihr leicht in der Hand, und sie füllt ihn augenblicklich mit der blutgetränkten Erde.

Schon färbt der Balsam das Leder in einem rötlichen Schein.

Mit dem letzten Rest der Blut-getränkten Erde bestreicht sie die offen klaffende Wunde an seinem rechten Fuß. Rund um den Nagel ist sein Fleisch hineingezogen. Die Füße durchbohrt, wie von einem Dorn, der das Herz der Nachtigall durchdringt und sie singt, singt, singt, bis der Liebste genesen ist.

Sie liebkost seine Füße mit duftendem Nardenöl, schmiegt es in die Haut, es sickert in die grausame Wunde.

Sie hebt die Augen zu Jesu Gesicht – hofft, dass er noch lebt.

Das, was er an Wundern anderen tat, wie für Lazarus von Bethanien.

Der Tote, wieder Erweckte, öffnete die Augen und blickte Jesus mit Freundschaft und Liebe an.

Maria Magdalena erinnert sich, dass Maria von Bethanien zu Jesu Füßen hockte, wie jetzt sie selbst-, und atemlos die Erweckung ihres Bruders Lazarus erlebte.

Aber vergebens.

Maria Magdalena schließt ihre Augen und hebt die Hände, um mit der Salbung fortzufahren. Staunend stockt ihr der Atem: Die Wunde auf Jesu rechtem Fuß ist nicht mehr zu sehen.

Wie der Silberstrahl des ersten Mondes auf dem See Genezareth trifft der Nagel den Fuß, der in unbeflecktem Weiß glänzt.

Sie umarmt das Kreuz, umschließt seine Füße, bleibt und bleibt und will für Äonen hier bleiben.

Sanft hält sie seine Füße in ihren Händen, Abschied für immer nehmend.

Sie fühlt ein Beben durch ihren Körper, weiß um die Abgründe in ihrem Herzen. Und nun spürt sie, dass die Woge aus ihrem Körper nach außen weht.

Golgatha bebt unter der Gewalt von Jesu Tod.

Für immer wird die Natur Jesu Hinscheiden mit ihrem Schmerz verbinden.

Gezeichnet als Töchter Jerusalems „benat jerusalema“.

Johannes tritt zu ihr und hebt sie sanft auf die Beine.

Er deutet nach Süden: Die Schergen verschaffen sich Zutritt zur Kreuzigungsstätte. Maria Magdalena verbirgt Salbgefäß und Beutel in ihrem Gewand.

Johannes stützt Jesu Mutter und nimmt Maria Magdalena in seine Arme.

Nach einigen Schritten, in denen Johannes sie weg von Jesus führt, schaut sie sich um. Sanft löst sie sich aus seinem Arm, ergreift seine Hand.

Widerstrebend zwingt sie sich, zurückzublicken.

Sieht die Schergen, die die Nägel aus Jesu Händen und Füßen reißen und seinen Leib – nun da Pilatus’ Auftrag, Jesus zu kreuzigen erfüllt ist – vom Kreuz befreien. Sie will ihnen Einhalt gebieten, aber Johannes zwingt sie in seinen Arm.

Da hält sie inne: Die Schergen legen den Leichnam unter das Kreuz.

Wieder wie ein verängstigter Vogel in Johannes’ Arm.

Sie wendet sich.

Er rempelt einen anderen an und deutet wie auf einen Dämon auf Jesu Füße. Beide sehen, dass nur ein Fuß von verkrustetem Blut bedeckt ist. Ungläubig zerren sie an Jesu rechtem Fuß, um eine Wunde des Nagels zu entdecken. Aber rein und weiß, ohne jemals schmutzigen Boden berührt zu haben, liegt er da.

Entsetzt fliehen sie in alle Winde, als der Lanzenträger sie zurückruft und befiehlt, ihr Tagwerk zu Ende zu bringen.

Mit Angst geweiteten Augen nähern sie sich dem Leichnam. Um ihn so wenig wie möglich zu berühren, stoßen und rollen sie ihn auf eine Bahre. Mit dem Gesicht nach unten kommt Jesu Leichnam auf der Bahre zu liegen. Sie heben an, sein Arm fällt herunter, und er winkt und grüßt seine Mutter, Johannes und Maria Magdalena, die wie versteinert im letzten Abschied Schutz im Schatten eines Ölbaumes suchen.

Maria Magdalena löst sanft Johannes’ Arm von ihrer Schulter. Sie will hier verweilen und Johannes nickt ihr in stillem Einverständnis zu.

Sie blickt ihnen nach, Salbgefäß und Beutel im Arm hütend. Sie schaut und schaut dem entschwindendem Leichnam Jesu nach, schließt erschöpft die Augen, als ein letzter Gruß seines Armes ihn ihr entreißt.

Einsam will sie Wache halten und seinen Tod bezeugen für alle, die nicht glauben wollen.

Stunden später erwacht sie, spürt die müden Glieder. Warme Freude über ihr erfülltes Leben mit Jesus durchströmt sie, als sie gewahr wird, dass er nicht mehr bei ihr ist. Sie besinnt sich auf die Lehre, spürt den göttlichen Atem, der sie umhüllt, denkt an sein Wort und die Aufgabe, die er ihnen allen aufgetragen hat. Spürt seine Liebe, die sie selbst heilte von den sieben Gestalten des Zorns und ihre zerrissenen Seelen vereinte.

Eine Hand berührt sie an der Schulter, sie blickt auf in das starre Gesicht Maria Salomes. Langsam erwachend flüstert ihr Maria Magdalena Worte des Friedens, des Vertrauens und der Liebe zu.

Das Leben kehrt in Maria Salomes Gesicht zurück, sie ergreift ihre Hände.

„Wir müssen fliehen, geliebte Maria Magdalena. Die Schergen Pilatus’ sind dir schon auf der Spur. Sie zeigten dem Herrscher, dass Jesu rechter Fuß unversehrt ist, und versuchen das Wunder vor dem Volk zu verbergen. Aber du bist in äußerster Gefahr. Nur du allein bist zu Füßen Jesu Stunde um Stunde geblieben, hast einsame Wache gehalten.

‚Nur ein Dämon wie Maria Magdalena könne dies getan haben‘, sagen sie. Wir müssen fliehen! Nach Sonnenuntergang treffen wir uns mit den Gefährten im Haus, in dem Jesus das Abendmahl gehalten hat. Petrus und die anderen sind in geheime Verstecke geflohen und zittern vor Angst um ihr Leben. Wir werden uns sammeln und beraten, was geschehen soll. Jetzt komm, wir müssen eilen, um dein Leben zu retten.“

Sie reicht Maria Magdalena die Hände, beide blicken zum Kreuz. Dort, wo sie gelegen ist, schimmert etwas silbrig sanft, und sie erkennt sein Auge, das ihr lächelnd die Angst vertreibt.

„Komm Maria Magdalena, dort drüben sehe ich vom Palast des Pilatus Fackeln leuchten. Sie kommen, um dich zu holen. Bitte, jetzt, verweile nicht beim Geliebten, sonst bist du für uns und die Verkündigung seines Wortes für immer verloren.“

Maria Magdalena nickt und fügt sich. Sie ist ohne Furcht, denn nur Jesu Körper ist zu seinem Vater gegangen. Sein Geist, seine Lehre und seine Liebe werden sie auf immer begleiten und erleuchten.

So ist es!

Kapitel 1

Freitag, 3. April 33 bis Sonntag, 24. Mai 33: Jerusalem – Die Reise der Gefährten

„Du lieber Heiland du, wenn deine Jünger töricht streiten,

dass dieses fromme Weib mit Salben deinen Leib zum

Grabe will bereiten, so lasse mir inzwischen zu, von meiner

Augen Tränenflüssen ein Wasser auf dein Haupt zu gießen!“

Johann Sebastian Bach & Picander, Matthäuspassion, BWV 244, Nr. 5 Recitativo (I) Alto; I Tochter Zion

Tag 1

Freitag, 3. April 33: Grablegung im Gartengrab

Starr vor Schmerz hält seine Mutter Jesu Kopf in ihren Händen. Maria Magdalena greift die Pein in die Gedärme. Sie nimmt das Heilige Blut aus dem Lederbeutel, mischt es mit Nardenöl, öffnet sanft Marias Hände und gießt den Heiligen Balsam hinein. Mit unendlicher Geduld legt sie der Gepeinigten die Hände auf seinen Kopf. Beide waschen Jesus die Haare, berühren ihn ein letztes Mal mit kreisenden Bewegungen der Fingerspitzen, gießen köstliches Wasser über ihn. Der silbrige Wasserfall glänzt in Erwartung himmlischer Freuden.

Joseph von Arimathäa steht hinter den beiden Marien, betrachtet stumm fern der Freude die Salbungen. Reglos und gefangen im Leid wartet er mit stieren Augen, eingegossen in einem Leib, der sich nicht zu rühren vermag. Eingegraben in den Gedanken „das ist Frauenarbeit“.

Er hat das Gartengrab von Pilatus erbeten, ja ertrotzt. Dessen Schuldgefühle benutzt, dass er nicht auf sein Weib hörte und Jesus zum Tod am Kreuz verurteilte. Das gehört sich nicht, dass ein jüdischer Mann, ein von Rom gesandter Statthalter, sich den Frauen untertänig zeigt.

Machterhalt durch das Zu-Tode-Verurteilen, sich nicht schwach zeigen im Angesicht Roms. Nicht auf die törichten Träume eines Weibes achten! Und doch die Empfindungen seiner geliebten Frau wahrzunehmen. Diesen widerstehen und damit hin- und hergerissen sein zwischen Verantwortung für Rom, dem brüllenden Volk scheinbar die Entscheidung zu lassen zwischen Leben oder Tod – Barrabas oder Jesus. Kühle Berechnung, die fehlschlug und sich damit bis in seine verzweifelten Träume einen Weg sucht und findet in sein Inneres, das ihn verfolgten wird bis an das Lebensende, das er sich selbst setzen wird?

Unfähig die Anfeindungen in seinem Inneren zu befrieden, zu besänftigen, sich selbst und anderen zu vergeben.

Joseph erwacht aus seiner Erstarrung, führt Johannes, Maria Salome, Maria Jacobi herbei. Die beiden Männer heben Jesu Leichnam an.

Wie in nicht endendem Schmerz eingegraben, geleitet Maria ihren Sohn in die Grabeskälte der Gruft.

Weihrauch erfüllt das uralte Gemäuer, frisch dem Stein abgerungen, nimmt den sieben Menschen die Angst, findet den Weg zu ihren Herzen.

Die drei Marien, Maria Salome, Maria Jacobi, Maria Magdalena, kauften bei einem Apotheker im alten Jerusalem Tücher, duftendes Zeug, Salböl, scharf duftende Kräuter.

Sanft betten sie Jesus auf den kalten Stein. Maria Magdalena bricht das Alabasterfläschchen am Hals ab und gießt es über Jesu Herz aus.

Die Frauen salben seinen Leib, bedecken ihn mit frischem Linnen.

Mechanisch, erstarrt im Schmerz, selbst leblose Statuen, erfroren im Inneren wie der Schnee auf dem Golan, der dem Sonnenaufgang zugewandten Seite am See Genezareth. Und doch glitzert der Schnee im Schein der aufgehenden Sonne.

Maria Magdalena fasst zärtlich Jesu Füße, liebkost sie, betrachtet den glänzend weißen rechten Fuß. Atmet staunend das Wunder ein.

Erinnernd das Heilige Blut, tastet sie nach dem Lederbeutel, entnimmt ein Gran und bestreicht Jesu linken Fuß. Die Wunde schließt sich. Maria Magdalenas Blick streift die anderen, versichert sich, dass sie, eingemauert in den Schmerz, sie nicht beobachten. Sie wendet sich Jesu rechte Seite zu, salbt das Heilige Blut ein.

Jesu Worte „Blut zu Blut heilt die Wunden der Welt“ sirren in ihr auf wie die Fluten eines Wasserfalls, der auf die spiegelklare Fläche eines Sees trifft.

Maria Magdalena sieht auf und blickt in Maria Jacobis Augen. In stummem Einverständnis, das Geheimnis des Heiligen Blutes zu bewahren, nicken sie sich zu. Und Maria Jacobis Schultern fallen wie das schwindende Gletschereis der gefrorenen Berge in der Frühlingssonne herab.

Sie richtet sich auf, breitet das weiße Linnen auf Jesu bleichen Körper.

Es bläht sich auf wie ein Segel in günstigem Wind, dessen Boot einem sicheren Ort zustrebt.

Fern von Jerusalem, fern von Galiläa.

An einem Gestade türkis schimmerndes Wasser, das eine Arche am vom Meer umspielten Felsen birgt.

Sechs Menschen stehen um Jesus, halten ihm Totenwache. Berühren in Andacht Kopf, Hände, Füße, Herz, nicken sich Trost zu, halten die Stille, halten das Gebet, das wie Weihrauch zum Himmel steigt.

Abba selbst neigt das Haupt, dankt seinem Sohn für die vollbrachte Tat, dankt den sechs Begleitern, die Jesus vorbereiten für die Lösung von der Erdenschwere des Körpers. Sie bereiten Geist und Seele und Nous auf die Reise vor.

„Dein Licht, erweise mir deine Barmherzigkeit!

Mein Erlöser, erlöse mich, denn ich bin der deine,

der durch dich hervorgekommen ist!

Du bist mein Verstand, mein Nous, bring mich hervor!

Du bist meine Schatzkammer, öffne dich mir!

Du bist meine Fülle, mein Pleroma, nimm mich bei dir auf!

Du bist meine Ruhe, verleihe mir das Vollkommene,

das nicht ergriffen werden kann!

Ich flehe dich an, der du existierst und der du präexistent bist,

in dem Namen, der über allen Namen ist,

durch Jesus Christus, den Herrn der Herren, den König der

Äonen. Verleihe mir deine Gaben, die dich nicht gereuen,

durch den Menschensohn, den Geist, den Fürsprecher der

Wahrheit! Verleihe mir die Vollmacht, dich zu bitten!

Verleihe mir Heilung meines Leibes,

wenn ich dich bitte durch den Evangelisten,

und erlöse meine ewige Lichtseele und meinen Geist!

Und den Erstgeborenen der Fülle, des Pleroma, der Gnade –

offenbare ihn meinem Verstand, den Nous!

Gewähre, was keines Engels Auge gesehen

und keines Archonten Ohr gehört hat

und was in keines Menschen Herz gelangt ist,

der engelsgleich

und gemäß dem Bilde des psychischen Gottes entstanden ist,

als er geschaffen wurde von Anfang –

weil ich den Glauben und die Hoffnung habe!

Und lege mir deine geliebte,

auserwählte und gesegnete Größe auf,

den Erstgeborenen, den Erstgezeugten

und das wunderbare Geheimnis deines Hauses,

denn dein ist die Kraft und die Herrlichkeit

und der Lobpreis und die Größe für immer und ewig.

Amen.“

Das Gebet des Apostels Paulus

1. Weg

Gartengrab – Gethsemane – Abendmahlssaal

Eingekerkert in den Schmerz wählen Maria Magdalenas Füße blind den Weg an der Stadtmauer vorbei, überqueren das Kidrontal, durchstreifen den Garten Gethsemane.

Maria Magdalena denkt an die letzten Stunden Jesu, in denen er Blut schwitzte vor Verzweiflung, da ihn der Mut, in der Gnade seines Vaters zu sein, verlassen hatte.

Hier war er ganz alleine, ohne ihren Atem gewesen, weil Petrus sie in einem Augenblick ihrer Unachtsamkeit zu einem sterbenden Knaben gerufen hatte.

Nachdem sie das vollbracht hatte, eilte sie zu Jesus.

Zu seinen Füßen hatte sie ihn um Verzeihung gebeten, und er hatte ihr in der unendlichen Milde seines Wesens geantwortet, dass sie ruhig sein könne. Er habe begriffen, dass er diese letzte Prüfung, den gewissen Kreuzestod allein bestehen müsse. Sein lächelnder Blick, seine sie wissend berührenden Hände und endlich, sein erlösender Kuss stärkte sie in der Gewissheit, dass er sie nicht nur beruhigen wolle, ihr einen leeren Trost spenden wolle, sondern die Wahrheit sprach.

Glücklich lehnte sie mit dem Haupt an seiner linken Schulter, während in der Ferne die Fackeln der Schergen leuchteten. Ohne Furcht stand er auf, fasste ihre Hände, zog sie zu sich herauf und befahl ihr, in den Schutz des abendlichen Gartens zu fliehen. Sie hatte sich noch geweigert, aber er hatte sie festen Blickes in die Arme genommen.

„Du musst leben und mein Wort der Welt verkünden. Du hast, wie ich, einen vollkommenen Menschen aus dir gemacht. Du hast die sieben Gestalten des Zorns überwunden, die dich an die materielle Welt gebunden haben. Das ist mein Auftrag für dich. Niemand von meinen Jüngern hat sich so vervollkommnet wie du und lebt Tag für Tag meine Lehre. Es ist der Nous, den du zu den Menschen tragen und ihn in Liebe und Freundschaft der Welt anvertrauen wirst. Und in meinem letzten Augenblick am Kreuz werde ich dir einen Auftrag geben, den nur du erfüllen kannst.“

Maria Magdalena spürt wieder den Trost seiner Worte und die Aufgabe, sein Evangelium zu verkünden. Das bindet sie an diese Welt, hält sie aufrichtig an sein Wort, löst im täglichen Sprechen über Jesus und seine Taten den Schmerz des unerträglichsten Verlustes, der sie schlug. In ihren Gedanken an ihn, im Sprechen über ihn, wird er immer in ihrem Inneren bei ihr sein. Auf ihre Art und Weise wird sie leben, sprechen und handeln. Frei sein von den Anfeindungen des Petrus, dessen verletzende Worte und dessen Verrat sie nie verstanden hatte.

Je deutlicher wurde, dass Jesus sein Leben hingeben würde, desto mehr war Petrus verzweifelt. Jesus hatte ihn zum Anführer der Männer bestimmt und sie, Maria Magdalena, für die Frauen. Sie folgten Jesus, bereit, sein Wort zu hören, ihr Wesen zu verwandeln und es schließlich fest im Glauben zu verkünden.

Je mehr sich Maria Magdalena vervollkommnete, je mehr sie Jesu Lehre anhing, sie beherzigte, sie zu Taten des Mitgefühls und der Nächstenliebe machte, desto heftiger wurden Petrus’ Angriffe gegen sie.

Jesus hatte sie vor ihm in Schutz genommen, der sie aus der Mitte der Jünger fortschicken wollte. Petrus sagte in seinem Inneren aufrichtig der jüdischen Meinung folgend, dass Frauen des Lebens nicht würdig sind.

Jesus hatte geantwortet.

„Seht, sie ist eine Frau. Sie mag Kranke zu heilen mit ihren empfindsamen Händen. Sie begleitet Sterbende mit ihrem liebevollen Blick zu meinem Vater.“

Jesus hielt in sich gekehrt inne.

„Seht, so wird sie es an mir tun, in nicht allzu ferner Zeit. In der Weisheit ihrer Fragen ist sie euch Männern überlegen. Sie scheut sich nicht, unwissend zu erscheinen, wenn sie mich fragt. Aber ich sage euch, ihre Fragen sind voller Klugheit und mehr noch: Sie sind voller Weisheit des Herzens. Und ich werde ihr einen prächtigen Palast im Himmelreich bereiten.“

Jesus sah alle Gefährten lange an, er umarmte Maria Magdalena und setzte sie zu seiner Rechten an den Tisch.

Maria Magdalena blickt an sich herunter, sieht sich auf dem steinigen Weg neben Maria Jacobi wandeln und erkennt, dass sie wieder im Nous war. Jenem Zustand des Geistes, der weder Raum noch Zeit kennt. Wieder wendet sie sich zur Güte, wie Jesus sie gelehrt hatte, und wird gewahr, dass sie in ihren Wachträumen, die Jesus im Mittelpunkt hatten, ganz auf Maria Jacobi vergessen hatte.

Die Liebe hastet neben ihr her, den Blick auf die Umgebung richtend, um sie beide zu schützen vor den Verfolgungen der Häscher. Dann verweilt der Blick auf der geliebten Gefährtin, die in einer fernen Welt mit Jesus in der Himmelsstadt zu leben scheint.

„Sehnst du dich, bei Jesus und Gott Vater im Himmel zu sein?“

Maria Magdalena schüttelt traurig den Kopf.

„Nein, ich darf nicht selbstsüchtig sein. Nein, wir versprachen ihm, sein Wort zu verkünden und darüber müssen wir mit den Jüngern sprechen.“

Maria Magdalena fasst das Salbgefäß und den Lederbeutel fester, die sie an ihrem Herzen trägt. Maria Jacobi streift sie mit ihrem Blick und Maria Magdalena weiß, dass das Geheimnis von Jesu letztem Auftrag bei der Freundin bewahrt ist.

Beide Marien bereiten den Leichnam auf seiner Wanderung in die andere Welt vor, wie Moses sie geheißen hatte:

„Bereitet Linnen und bedeckt den Leichnam und bringt wohlriechende Öle und gießt sie auf ihm aus … So sollen alle Toten begraben werden, bis zum Tag des Weltendes.“

Mit einer müden Bewegung wischt Maria Magdalena ihr Schweigen weg, das ihr im Anblick der geliebten Freundin wie ein Verrat vorkommt.

Aufatmend hört sie Maria Jacobi.

„Ich höre deine eigenen Anschuldigungen in deinem Inneren. Und ich erinnere dich, dass Jesus zu den Jüngern sagte, dass du die Einzige bist, die ihn in all der Güte, Liebe und Freundschaft verstanden hat. Die Einzige, die mit ihren Händen Kranke wie durch ein Wunder heilen konnte. Du bist die Einzige, die sein Wort in allem begriffen hat. Du warst für ihn die Frau, die das All kannte. Du bist es, die ihm die Schmerzen am Kreuz genommen hat. Er hat dich vor allen anderen Aposteln ausgezeichnet, weil du nicht müde wurdest, ihm alle Fragen zu stellen, die dir dein Herz befahl.“

Maria Magdalena legt ihren Arm um Maria Jacobis Schultern. Die beiden Frauen legen den steinigen Weg durch das nächtliche Jerusalem eine Weile schweigend zurück.

„Ich stellte die Fragen nicht mit Anmaßung oder Hochmut auf meine Klugheit.“

„Das weiß niemand besser als ich, Liebe. Aber bis auf Johannes sind alle anderen Jünger vor Jesu Kreuzestod geflohen. Sie sind neidisch und kleinlich, weil Jesus dich mehr liebt als sie. Sie haben zwar allen Besitz hinter sich gelassen, um ihm zu folgen, aber sie vermögen nicht zu erkennen, dass auch ihr Körper Jesus in den Tod folgen wird. Die Angst um ihr eigenes Leben frisst an ihren Gedärmen. Und Jesus hat uns allen anvertraut, dass wir für die Verkündigung seines Wortes unser Leben hingeben müssen, wie er es getan hat. Damit die Herzen der Menschen vom Nous beseelt werden, dass sie vollkommen werden und erkennen, dass sie ihren Körper hinter sich lassen müssen, um den göttlichen Atem zu spüren.“

Maria Magdalena nickt und schweigt. Sie drückt Maria Jacobi an sich, bleibt stehen und blickt ihr lange in die Augen.

Maria Jacobi erkennt in den Augen Maria Magdalenas eine Antwort, die sie aus Demut nicht geben will, und löst sich gewaltsam aus dem Schweigen.

„Wie können wir den anderen Jüngern helfen, aus ihrer Angst herauszukommen und mit Mut, Zuversicht und Vertrauen die Fülle der Lehre Jesu zu verkünden?“

„Jesu letzter Auftrag war, die mit seinem Blut getränkte Erde aufzusammeln und für das Heil der Welt zu bewahren. Ich werde ein Gran davon mit Honig und Milch vermischen und alle Gefährten damit salben. Das wird sie stärken, dass auch sie den Tod überwinden und den Blick auf den himmlischen Geist wenden.“

Maria Magdalena holt das Salbgefäß heraus, öffnet es und beide Frauen berühren mit Ehrfurcht das Heilige Blut. Ein leichter rötlicher Schimmer umhüllt die beiden, sie umarmen sich lange. Dann drängt Maria Jacobi zum Weitergehen. Maria Magdalena schließt das Salbgefäß und erkennt in der Ferne die schlichten Säulen des Saales, in dem Jesus mit ihnen das letzte Abendmahl feierte.

Sie wird gewahrt, dass Jesus hier vor sechs Tagen am Palmtag auf dem jungen Esel geritten war. Die Freude der Menschen, die sich von seiner Lehre und seinem lichtumspielten Körper mitreißen ließen. Die Kinder, die mit trunkenem Jubel den Esel und Jesu Gewand – den schönen, langen, wollgelben Rock – berührten. Die Hände, die erfrischende Getränke reichten: ein Tag der Freude und Leichtigkeit … und doch war Jesus gewahr, dass in Jerusalem der Tod auf ihn warten würde.

Die beiden Marien durchschreiten die schlafende Stadt, in der nächtliche Schatten Maria Jacobi erschrecken.

Und Maria Magdalena erinnert sich an die verächtliche Rede des Petrus. Hier, im Schatten des verfallenen Hauses, beschimpfte er sie wegen ihrer Eitelkeit, mit der sie nicht von Jesu Seite wich.

„Glaubst du wirklich, dass er dich am meisten liebt? Nein, du Hochmütige, du betäubst nur seine Todesangst.“

„Warum sagst du das, Petrus? Du glaubst, dass mit seinem Leib auch seine Lehre stirbt. Weil dein Fleisch schwach und es dir nicht möglich ist, Jesu Lehre auch zu leben. In deinem Herzen fehlen die Liebe, das Erbarmen mit den Armen, den Kranken, den Sterbenden. Und weil dir die Liebe fehlt, musst du glauben, dass er nicht sterben muss, nicht sterben darf. Weil du dann nach Jesu Tod von Reue und Bedauern übermannt würdest, ihm in seinen letzten Stunden nicht beigestanden zu haben.“

Starr wegen des unvermittelten Angriffs und ihrer eigenen heftigen Worte hatte sie Petrus ihre Hand auf den Arm gelegt, der sie aber mit vor Hass trunkenen Augen weggestoßen hatte.

„Deine Sünde ist immer noch der Hochmut.“

Mit gesenktem Kopf war Maria Magdalena gestanden und befragte ihr Gewissen, ob sie die Sünde ihrer Jugend immer noch nicht überwunden hatte, als sie der Blick Jesu traf. Mit seinem liebevollen Lächeln schüttelte er leise den Kopf und richtete sie mit seiner Zuversicht wieder auf.

Er streckte ihr seine Hand entgegen. Gestärkt wandte sich Maria Magdalena von Petrus ab, ging mit taumelndem Schritt auf Jesus zu.

Sein fester Händedruck versicherte ihr die Reinheit ihres Gewissens, gleichzeitig nahm sie die Verwirrung dankbar an, die ihr versicherte, dass sie fest in Glauben und Handeln in Jesu Wort wohnte.

„Ach, liebe Schwester, verzeih mir meine Abwesenheit.“

Maria Magdalena schlingt ihren Arm um die Hüfte Maria Jacobis, die ihren Kopf auf Maria Magdalenas Schulter legt. Blind tasten ihre Füße in der Dunkelheit den Weg. Eng umschlungen erreichen sie den Abendmahlssaal.

***

„… und zeigte uns, wie er müsste hin gen Jerusalem gehen

und viel leiden von den Ältesten und Hohenpriestern und

Schriftgelehrten und getötet werden und am dritten Tage

auferstehen. Und du, Petrus nahmst ihn zu dir, du fuhrst ihn

an und sagtest: ‚Herr, schone dein selbst; das widerfahre dir

nur nicht!‘ Aber unser Erlöser wandte sich um und sprach zu

dir: ‚Hebe dich Satan, von mir! Du bist mir ärgerlich; denn

du meinst nicht, was göttlich, sondern was menschlich ist.‘“

Matthäusevangelium 16,21–23

„Doch Er fragte sie: ‚Wer sagt denn ihr, dass ich sei?‘ Da

antwortete Simon Petrus und sprach: ‚Du bist Christus, des

lebendigen Gottes Sohn.‘ Und Jesus antwortete und sprach

zu ihm: ‚Selig bist du, Simon, Jonas Sohn; denn Fleisch und

Blut haben dir das nicht offenbart, sondern mein Vater im

Himmel. Und ich sage dir auch: Du bist Petrus, und auf diesen

Felsen will ich meine Gemeinde bauen, und die Pforten der

Hölle sollen sie nicht überwältigen.‘“

Matthäusevangelium 16, 15–18

Sie steigen die Treppen zum Abendmahlssaal hinauf und sehen sich elf verängstigten Männern gegenüber, in deren Mitte Petrus hockt und müde den Blick auf Maria Magdalena und Maria Jacobi wendet.

Maria Magdalenas und Petrus’ Blick tauchen ineinander.

Er sieht die Kreuzigung, er sieht die Qual seines Herrn.

Und Maria Magdalena sieht die Fesseln um Petrus’ Herz. Sie sieht seine Verzweiflung, sein Ringen, seinen Neid um Jesu Mutter und Maria Magdalena, die mit Johannes am Kreuz standen. Sie sieht auch die Angst, die Petrus zwang, Golgatha zu meiden.

Wie herrenlose Hunde sitzen Jesu Jünger verängstigt beieinander: Sie fanden wieder ein Zuhause, sie gehorchten ihrem neuen Herrn nicht und erwarten nun eine ungewisse Strafe.

Sie kann aus dem Mitleid nicht heraus. Es lähmt sie und lässt sie verstummen.

Und Petrus ergreift das Wort.

„Er ist tot, und wir alle sind verloren. Warum lässt er uns allein in der Furcht vor Pilatus und seinen Schergen? Warum straft er uns so, die wir an ihn glauben? Warum lässt er das Unheil in der Welt zu? Sind wir ihm so wenig, dass er einfach dahingeht, um im väterlichen Paradies zu leben, und uns der Grausamkeit Pontius Pilatus’ überantwortet?“

Stammelnd vor Wut und Angst stockt Petrus.

Traurig steht Johannes auf und fasst Petrus bei den Händen.

„Du musst keine Furcht haben, Petrus. Er hat uns alle mit seinem Wort und seinen Taten erfüllt und uns gestärkt, dass wir ihm nachfolgen können.“

„Aber wie sollen wir sein Wort verkünden, wenn wir ihm nachfolgen müssen in den Tod.“

Petrus schlingt die Arme um sich, blickt mit leeren, starren, verständnislosen Augen.

Alle blicken stumpf vor sich hin, erschüttert. Petrus, der von Jesus als Fels für seine Kirche ausgewählt wurde.

Joseph von Arimathäa bricht das Schweigen, steht auf und kniet zu Petrus’Füßen.

„Ich war bei Pilatus. Mich erschreckte sein einsames Prätorium. Feindliche Eisenkörbe an Stangen, Holzscheite als Fackeln, als Laternen. Trutziger Proviant in Lederranzen. Ein grauenhafter Ort. – Er ließ sich versichern, dass Jesus tot ist. Und er war einverstanden, dass wir Jesu Leichnam in ein Felsengrab bringen, das ich für mich erworben hatte.“

Betrübt hält Joseph inne.

Die Starre des Petrus löst sich. Wie brodelnde Lava schüttelt sich sein Leib in heftigem Schluchzen. Sein Zwerchfell bebt, zuckt, er mag sich nicht beruhigen. Sein Bruder Andreas umschlingt seine Knie, nimmt ihn in die Arme. Langsam versiegt der Schmerz und weicht einem versteinerten Gesicht, das sich Joseph wieder zuwendet.

„Jesus wurde in das Felsengrab gebracht und mit allen jüdischen Bräuchen bestattet. Maria Magdalena, Maria Jacobi und Maria Salome salbten ihn, kleideten ihn in weißes Leinen.“

Petrus schreit auf.

„Nein, warum immer die Besessene? Sie hat schwer gesündigt. Jesus befreite sie von den Dämonen. Und sie ist nicht rein, um seinen geschundenen Körper zur letzten Ruhe zu betten.“

„Petrus, lass ab von deinen Verleumdungen. Der Erlöser hat sie für wert befunden, die Anführerin der Frauen zu sein. Denke daran, als du ihn nach der ewig währenden Materie fragtest und was er darauf antwortete.“

„Der Erlöser antwortete: ‚Alles Geborene, alles Geschaffene, alle Elemente der Natur sind miteinander verwoben und verbunden. Alles Zusammengesetzte wird sich auflösen; alles geht zu seinen Wurzeln zurück; die Materie wird zu den Ursprüngen der Materie zurückkehren. Wer Ohren hat zu hören, der höre!‘“

Wie in Trance schweigt Petrus und sanft fragt Joseph weiter.

„Erinnere dich, sage uns jetzt, was du dann Jesus fragtest.“

Petrus blickt Josef starr und trotzig in die Augen.

„Da du uns die Elemente und Ereignisse der Welt deutest, so sage uns: Was ist die Sünde der Welt?“

„Richtig, Petrus, das fragtest du. Aber warum fragtest du nach der Sünde der Welt?“

Unverhohlener Hass lodert in Petrus auf, seine schwarze Stirnlocke sticht wie ein Dolch hervor.

„Ich wollte, dass Jesus sie als die zeichnen musste, die sie ist. Als eine Besessene, eine von Dämonen Beherrschte. Sie ist nichts, sie ist nur eine Frau, die ihn mit ihren Zaubereien umgarnte. Und er – er ließ sich von ihr salben. Mit ihren ekelerregenden Händen streichelte sie seine Füße. Sie war die Einzige, die er auf den Mund küsste. Nicht einmal bei seiner Mutter tat er das. Sie ist nicht würdig in unserer Mitte zu sein. Und sie ist nicht würdig, sein Wort zu verkünden, wie wir Männer.“

„So hast du nie gesprochen, als der Herr noch bei uns war. Und du weißt, Petrus, dass er dich traurig angeblickt hätte, wie er es nicht einmal tat, als du ihn drei Mal verleugnetest. Er hat es dir vorher gesagt, und du hast ihm nicht geglaubt. Lass deinen Hochmut fallen. Erinnere dich der Worte, die dir Jesus über die Sünde sagte. Wiederhole sie uns jetzt allen und lege sie als dein Bekenntnis an ihn ab. Präge es dir ein als deinen Leitspruch, der dich begleiten wird, wenn du sein Wort verkündigst. Der dir helfen wird, dass du nach deiner Natur forschst und nicht andere Menschen verdammst.“

Joseph fasst sich mit Mühe in Geduld. Er kann seine Aufregung nur mit dem Gedanken auf Jesu Worte bändigen.

„Der Erlöser sprach: ‚Es gibt keine Sünde. Ihr seid es, die der Sünde Bestand verleiht, wenn ihr den Gewohnheiten eurer ehebrecherisch verderbten Natur folgt; da ist die Sünde.‘“

Petrus stammelt die Worte in einem übermenschlichen Kampf heraus, senkt beschämt den Kopf und schweigt.

Maria Salome fasst sich, um Petrus’ Worte nicht wie Joseph zu strafen. Sie presst die Hände auf den Mund.

Ihr Sohn Jakobus erhebt sich und spricht.

„‚Deshalb ist die Güte in eurer Mitte erschienen; sie hat sich mit den Elementen unserer Natur verbunden, um sie wieder mit ihren Wurzeln zu vereinen. Deshalb leidet ihr und deshalb werdet ihr sterben, das ist die Folge eurer Taten; ihr tut, was euch entfernt … Wer es fassen kann, der fasse es!‘“

Joseph von Arimathäa senkt den Kopf, fragt sein Inneres, fragt Jesus, wie er die Worte wählen muss, damit Petrus ihnen angehört.

„Ich sehe, dass du viele, die sich Jesus anschließen wollen, ablehnst. Ich bitte dich, Petrus, überwinde deinen Groll und deine Ablehnung und erkenne alle, Heiden und Griechen, Juden und Essener, an. So, wie du jetzt Maria Magdalena aus Neid und Eifersucht ablehnst, so könntest du auch die verstoßen, die du Andersgläubige nennst, weil sie an die Thora glauben. Ich bitte dich, Petrus: Lege deinen Hochmut ab. Erinnere dich deiner schwachen Stunde, als du Jesus verleugnet hast und ihm nicht die Treue bis zum Kreuzestod geleistet hast.“

„Mich hat der Herr vor allen ausgezeichnet. Es schickt sich nicht, dass du mich wie einen Schüler unterweist, Joseph.“

Petrus steht auf, blickt sich mit finsterer, wütender Miene um und verlässt trotzig das Haus.

Die Jünger blicken sich ratlos an, lange spricht niemand ein Wort.

Endlich fasst Joseph von Arimathäa sich ein Herz.

„Er wird wiederkommen, er hat genauso viel Angst wie wir alle, vielleicht sogar noch mehr.“

Johannes schüttelt nachdenklich den Kopf.

„Nach Jesu letzter Nacht auf dem Ölberg sprach ich mit Petrus. Ich fühlte mich schuldig. Jesus hatte Petrus, meinen Bruder Jakobus und mich auserwählt, um mit ihm zu beten. Dann bat er uns, ihn alleine zu lassen und zu wachen. Dreimal kam er zurück in seiner Herzensangst und dreimal waren wir eingeschlafen. Ich schämte mich so. Auch Jakobus war außer sich vor Unverständnis seiner eigenen Schwäche. Aber Petrus mochte es nicht zugeben. Auch als nur wenige Stunden vorher Jesus ihm vorhersagte, dass er ihn dreimal verleugnen würde, konnte er es nicht ertragen, als es wirklich geschah. Ich begreife Petrus nicht. Er gibt uns solche Sicherheit mit seinen Worten, aber in der Tat ist er nicht bei sich, fast als ob ein anderer Mensch nicht so handeln könnte, wie es seine Worte verkünden.“

„Oder er hebt sein Schwert, um dem Hohepriester das Ohr abzuhauen. Jesus tadelte ihn dafür und Petrus weiß immer noch nicht den rechten Weg.“

Johannes schüttelt unglücklich den Kopf.

„Es ist für uns alle schwer, dass Jesus von uns gegangen ist. Auch wenn er es immer wieder sagte, wir konnten ihm nicht wirklich glauben. So viele Menschen hat er von den Toten erweckt. Zuletzt dich, Lazarus.“

Maria Magdalena blickt in Lazarus’ Augen, der sie niederschlägt.

Fast unhörbar flüstert Lazarus.

„Ich werde es mir niemals verzeihen können, dass ich Jesus nicht zum Kreuz gefolgt bin. Aber ich wagte es nicht, mich gegen Petrus aufzulehnen. Ich vertraute mich ihm in Bethanien an und sagte, dass ich nach Jerusalem gehen wolle, um Jesus im Tod nahe zu sein. Aber er spottete meiner und sagte, wer ich glaube zu sein. Jesus habe mich nicht als Jünger erwählt. Ich hätte kein Recht, ihm nahe zu sein.“

Johannes nickt stumm. Eine lähmende Stille erfasst alle.

Endlich bricht Maria Magdalena das Schweigen.

„Ich werde zum Grab gehen und Jesus salben. Sein Körper bereitet sich darauf vor, zum Vater heimzukehren. Heute Abend, vor dem Sabbat, werden Pilatus’ Schergen nicht am Grab sein.“

Sie holt das Salbgefäß mit der Blut-getränkten Erde und füllt sie in einen Lederbeutel. Maria Jacobi gibt ihr das zweite, deren Inhalt sie in den Lederbeutel füllt. Frisches Leinen packt sie zusammen und füllt es mit Nardenöl. Den Lederbeutel verbirgt sie sicher unter ihren Kleidern und vergewissert sich, dass die Freunde sie nicht beobachten.

„Ich begleite dich, Maria Magdalena.“

Maria Jacobi tritt zu ihr. Maria Magdalena will ablehnen, als sie in Maria Jacobis entschlossenes Gesicht sieht. Sie nickt und blickt Martha an, die in ihrem schlichten Kleid an der Kochstelle das Abendmahl für die Apostel bereitet.

„Morgen früh werden wir wieder hier sein, liebe Martha. Bitte Petrus zu kommen, damit wir uns hier versammeln.“

Die Apostel umringen Maria Jacobi und Maria Magdalena und drücken den beiden Frauen zum Abschied die Hände.

„Möge Jesus mit uns sein und uns seinen Weg weisen!“

Tag 2

Samstag, 4. April 33: Abendmahlssaal – Felsengrab

In der frischen Morgenluft wendet Maria Magdalena ihren Geist in die Leere. Bilder ihrer Heimat Magdala am See Genezareth steigen auf. Sie erinnert sich, als sie Jesus begegnete.

„Erzähle mir, wie du Jesus das erste Mal sahst, Maria Magdalena.“

Sie lächelt, weil Maria Jacobi ihre Gedanken spürt, und umarmt die Freundin zärtlich.

„Ich war des reichen Lebens überdrüssig. Ich sehnte mich nach einem Sinn in meinem Leben. Etwas für die Armen und Kranken und Sterbenden zu tun. Die wirren Gedanken und Gefühle in meinem Inneren zu ordnen und anderen Menschen etwas von meinen Abgründen und der mich spaltenden Sehnsucht nach Liebe zu erzählen. Den Zorn und die Wut in mir zu bändigen. Aber mein Vater ließ es nicht zu. Meinem Stand sei dies nicht angemessen. Aber mein Sehnen nach Liebe hörte nicht auf.

Da hatte ich einen Traum: Einen jungen Weisen hörte ich von Vollkommenheit sprechen, von der Überwindung des Körpers, von Himmelsschau und göttlichem Atem. Ich sehe es heute vor mir, wie ich von meinem Lager aufsprang und durch die morgendlichen Gassen von Magdala eilte, auf der Suche nach etwas Unbekanntem, das meine zerrissene Seele heilte. Die Sehnsucht im Herzen, etwas zu hören, zu sehen, zu begreifen, das mich schützte vor den Gestalten des Zorns.

Eines Nachts hörte ich eine Stimme, die mir zuflüsterte:

‚Ich will aufstehen und in der Stadt umgehen auf den Gassen und Straßen und suchen, den meine Seele liebet.‘

Plötzlich war ich erfüllt von dem Gedanken zu lieben und suchte ein Bild von dem Gefährten, der diese Liebe einer Unwürdigen annahm, mein ganzes Sein erkannte. Über Jahre begegnete mir niemand, der der Phantasiegestalt im gelben Wollrock und braunen Oberkleid ähnlich war.

Viele, unerträglich lange Jahre vergingen und kein Laut, keine Botschaft drang von dem Unvergleichlichen zu mir.

Bis ich eines Tages – das Gesetz des Vaters missachtend – einen Brunnen am See Genezareth aufsuchte.

Eine Menschenmenge nahte. Er war in der Mitte, führte sie heran und ging auf mich zu. Als er unverwandten Blicks mich fand, erkannte und grüßte, wusste ich, dass mein Sehnen ein Ende hatte.

Ich kniete vor ihm nieder, wusch seine Füße mit dem Wasser des Brunnens, trocknete sie mit meinen Haaren und salbte sie mit Nardenöl, das ich immer bei mir hatte. Er lächelte mir zu, hieß die Frevler schweigen, die ihm rieten, mich als von den Dämonen Besessene zu verurteilen und zu meiden.

Wieder und wieder, jeden Tag begegneten wir uns um die gleiche Stunde am Brunnen. Und ich fand Zuflucht bei ihm, sprach mit ihm über die Gestalten des Zorns, die mich beherrschten, und er erlöste mich, einen um den anderen, von ihnen. In den furchtbaren Schmerzen, die mich zerrissen, hielt mich Jesus fest in seinen Armen. Bis die Dämonen ihre Beute aus den tödlichen Krallen losließen.

Eines Tages, als ich zum ersten Mal seinen Himmel sehen durfte, sagte er mir, dass er nach Jerusalem müsse, um den Auftrag seines Vaters zu erfüllen. Ich sagte Jesus im gleichen Augenblick, dass ich mit ihm gehen wolle. Er antwortete, dass er in Jerusalem getötet werde.

In jener Stunde sprach er zum ersten Mal von dem Auftrag seines Abba. Dass er am Kreuz sterben müsse.

Ich verstand nicht, klagte, suchte einen Ausweg. Konnte nicht verstehen, dass ein Vater dies von seinem geliebten Sohn verlangen könne. Beinahe stritt ich mit ihm: Nur er könne sein Wort verkünden, dass alle es verstehen.

Er sagte damals traurig und entschlossen, dass seine Jünger ihm folgten, sein Wort anderen wiederholten, aber es ihre eigenen Herzen nicht füllte. Sie bräuchten seine Belehrungen, seine Gleichnisse. Ihr unermüdliches Fragen hatte zwar ihren Wissensdurst gestillt. Aber was er tue, könnten sie noch lange nicht tun.

Da küsste er mich zum ersten Mal auf den Mund. Wir blieben lange schweigend.

Sein Kuss war sanft und berührte meinen Geist, mein Herz.

Dieser Kuss ist und wird mir alles sein. Die Berührung der Lippen, die Liebe, seine Lehre – er gab mir sein Wort von seinem Mund zu meinem Mund. Sein menschlicher und göttlicher Geist empfingen in mir eine Ahnung des göttlichen Atems, den er beim Vater empfangen würde.

Dieser Kuss ist die Brücke zwischen menschlicher und göttlicher Welt. Dieser Kuss ist die Überwindung von Zeit und Raum. Dieser Kuss verbindet alle Wesen. Dieser Kuss ist Anfang und Ende.

Nach seinem Kuss wusste ich, was er sagen würde.

‚Du vergehst dich an dir selbst, geliebte Gefährtin. Du allein vermagst meine Worte zu leben. Du allein bist durch das Reich der Dämonen gegangen, hast alle Schrecknisse geschaut. Und du hast sie überwunden. Niemand von allen Aposteln ist durch die sieben Gestalten des Zorns, durch solche Qualen gegangen. Aber genau aus diesem Grund verstehst du die Abgründe der Menschen. Das gewährt dir, anderen in ihrem Leid beizustehen und sie nicht zu verurteilen. Du weißt, wie schwer die sieben Gestalten des Zorns zu überwinden sind.‘

‚Alle würden es tun, mein Erlöser. Alle haben geschworen, dich auf immer zu begleiten, dir in allem Übel beizustehen.‘

Wieder gebot er mir Ruhe, nahm mich in die Arme, löste mein Haar, dass es wie ein Wasserfall herabglitt. Er strich mir über den Kopf, und seine Augen wurden schwarz wie der See Genezareth bei Nacht.

‚Sie sagen es, aber sie werden es nicht tun. Nur Johannes wird von den Aposteln am Kreuz stehen.‘

‚Aber Petrus, den du deinen Felsen nennst, der deine Kirche erbauen wird, er wird bei dir sein, bis zur letzten Stunde.‘

‚Deine Großherzigkeit, die kein Arg an anderen sieht, lässt dich sprechen. Bedenke vor allem, dass es nicht die Kirche ist, auf der mein Wort aufgebaut wird. Es sind die Taten aus den Worten. Es ist die wahrhafte Begegnung mit dem Leid, es ist die Überwindung der Materie und vor allem … es ist der Nous.‘

In der Stille des Herzen stand ich und nahm seine Worte mit jeder Faser meines Körpers auf, tauchte meinen Geist in seine Lehre. Ich dankte ihm für seine Worte und nahm sie in meinem Herzen auf. Ich sagte ihm, dass alles an mir ihn nach Jerusalem begleiten und ihm in den dunkelsten Stunden vor dem Tod beistehen wolle.

‚Du willst deinen Vater verlassen, um mir nach Jerusalem zu folgen? Wenn du das tust, wartet der Tod auf dich, weil du zu mir gehörst.‘

Ich antwortete: ‚Ja, das will ich.‘

Ich war sicher und geborgen in seiner Lehre, in seinen Taten, in seinem Herzen und wollte ihn bis zu seinem Tod, den ich annehmen musste, nicht mehr verlassen.

Ich ging zu meinem Vater und sagte ihm, dass ich Jesus nach Jerusalem folgen werde.

Mein Vater war außer sich vor Wut, weil sein einziges Kind ihn verlassen wollte. Wem sollte er alles, was er angehäuft hatte, geben, wenn nicht mir? Rasend vor Zorn schloss er mich ein, und drei Tage war Jesus ohne Nachricht von mir. Ohne Jesus zu sehen, den ich so lange erhofft hatte – das tauchte diese drei Tage in eine grausame Ewigkeit, der ich nicht standhalten konnte, aber musste. So besann ich mich auf Jesu Lehre und wandte mich zur Güte. So wurde mein Herz still und am nächsten Tag kam mein Vater zu mir.

Er befragte mich mit ernster Miene über Jesus von Nazareth. Er wollte wissen, ob ich bei ihm gelegen war. Unsere Augen tauchten ineinander und mein Vater gab sich selbst die Antwort. In der Stille seines Herzens wollte er wissen, welches von Jesu Worten mir das wichtigste war. Ich besann mich eine Nacht, und am nächsten Morgen sagte ich ihm die Worte: ‚Jesus liebt uns.‘

Da weinte mein Vater, er segnete mich, wollte mich mit allen Kostbarkeiten ausstatteten. Ich lehnte ab und bat ihn, sie auf seiner Burg Magdala zu behalten, um die Armen und Kranken von Galiläa zu heilen und zu umsorgen.

Er nahm mich in die Arme, pries mein edles Herz und bat mich, für meine Mutter zu beten, die er schon so lange vermisse.

Ich fasste das Nötigste, um Jesus und seine Gefährten auf dem weiten Weg von Magdala nach Jerusalem zu nähren.

So verließ ich die Burg meines Vaters und wandte mich zur gleichen Stunde zum Brunnen, die Jesus und mich immer vereinte.

Jesus hatte schon befürchtet, mich auf immer in Magdala zurückzulassen, weinte und freute sich, als er mich kommen sah.

Von da an folgte ich ihm, hörte sein Wort, stellte ihm meine quälenden Fragen, die er mit unendlicher Geduld und Liebe beantwortete. Und mein Fragen ehrte er vor allen anderen Jüngern.

Als wir Magdala verließen, ich weinte und den einsamen Vater bedauerte, gab er mir meinen Namen, nicht nach meinem Vater oder als Mutter eines Sohnes, den ich nie geboren hatte, sondern nach dem Ort, in dem wir uns begegneten: Magdala.

Er nannte mich Maria Magdalena.“

Schweigen fasst beide Frauen. Stumm klingen die Worte in ihren Herzen.

„Geliebte Maria Magdalena, hab Dank für deine Worte. Sieh, dort leuchten schon die Fackeln auf der Mauer zum Palast. Lass uns schweigen und das Grab Jesu suchen, das uns Joseph von Arimathäa beschrieb.“

***

Beide Marien eilen mit prüfendem Blick durch die dunklen Gassen von Jerusalem. Leise züngelnde Holzstöckchen in einsamen Töpfen, an langen Stangen hängend, werfen ihre leuchtende Glut auf den Weg.

Sie finden das Grab.

Es steht offen, der Stein ist nicht davorgerollt. Zwei Wachen schlafen vor dem Eingang.

Maria Magdalena erkennt die beiden, die Jesus vom Kreuz nahmen. Wie kleine Kinder, unschuldig und rein, schlummern sie. Der eine hat seinen Kopf auf den Arm gelegt, der auf dem Stein ruht, welcher noch davorgerollt werden muss. Ein feines Lächeln umspielt seine Lippen, und er spricht leise im Schlaf: „König der Juden.“

Maria Magdalena neigt den Kopf und fragt sich, wie ein so reines Wesen Jesus so hartherzig behandeln konnte, bittet ihren Schöpfer um Vergebung. Gewiss fand er keine Arbeit, um – fast selbst noch ein Kind – seine Familie zu ernähren, und musste die grausame Arbeit bei Pilatus annehmen.

Der andere wirft sich – etwas abseits vom Eingang des Grabes auf dem Feld gelegen – unruhig hin und her. Er stammelt unverständliche Worte, richtet sich plötzlich wie von einem Gespenst geweckt auf und starrt Maria Magdalena und Maria Jacobi angstvoll ins Gesicht.

Maria Magdalena legt der Freundin den Arm um die Hüfte, um sie ruhig zu halten. Wie Statuen bleiben die beiden Frauen stehen, blicken dem Jungen ins Gesicht, der sich beruhigt niederlegt und friedlich einschläft.

Aufatmend zieht Maria Magdalena sie zum Eingang des Grabes. Voller Furcht hält Maria Jacobi vor dem Grab inne.

„Ich vermag nicht, hineinzugehen. Ich bin voller Angst vor dem toten Jesus. Bitte lass mich hier stehen und Wache halten.“

Maria Magdalena streicht ihr über das Haar, küsst sie auf die Stirn und nickt ihr liebevoll zu.

„Ja, warne mich mit unserem Zeichen, wenn die beiden Jungen erwachen. Ich sehe, was ich für Jesus tun kann.“

Aufseufzend löst sie sich, geht zum Eingang des Grabes.

Wie ein fleischfressendes Monster gähnt der Eingang des Grabes vor ihr. Sperrt seinen gierigen Rachen auf, um sie zu verschlingen.

Ihr stockt der Schritt. Sie faltet die Hände, wendet sich noch einmal zu Maria Jacobi um, macht einen weiteren Schritt zum Grab hin, stockt wiederum und kniet nieder.

„Bitte, mein Herr Jesus. Hilf mir, den Anblick deines toten Körpers zu ertragen. Ich weiß, dass es nur dein Körper ist, aber mir fehlen dein Wort, dein Lächeln, deine Freundschaft, deine Liebe. Wie soll ich weiterleben, ohne deine Ermutigungen? Bitte leite mich, was ich an dir tun soll.“

Sie neigt den Kopf, hockt wieder unter seinem Kreuz, wie noch vor wenigen Stunden. Sein Geist begegnet ihr, und sie weiß, was zu tun ist. Den Lederbeutel mit seinem Blut fasst sie, erhebt sich und geht mit sicherem Schritt auf das Grab zu.

Sie schiebt die innere Tür auf, tritt ein, und ihre Augen sehen das feine Linnen. Wieder führt sie das silbrige Schimmern seiner Augen zu dem Stein, auf dem er gebettet ist.

Ihre Augen gewöhnen sich an die Dunkelheit.

Der Schein seiner Augen beleuchtet die Stirn. Blutige Punkte, wie Mahnmale vor dem Tor zur Ewigkeit gesetzt, sind wie geheimnisvolle Zeichen eingraviert.

Sie nimmt den Lederbeutel mit seinem Heiligen Blut, bereitet die Salbe aus Milch und Honig.

Wiederum stockt sie und vermag Jesu Körper nicht zu berühren. Die marmorne Blässe seines Körpers rührt sie an. Kein Blut fließt mehr in seinen Adern, nie mehr werden seine Augen sie freundlich anblicken. Nie mehr wird seine Hand über ihr Haar streichen. Nie mehr wird sein Mund sie küssen.

Ermattet gleitet sie wieder auf die Knie und fühlt alle Kraft dahinschwinden.

Die Schale mit einem Gran seines Blutes! Sie taucht die Finger hinein und benetzt ihre Lippen.

Vor ihren Augen explodiert eine Feuersalve, die das Grab in rötliches Licht hüllt. Gesegnete Worte wollen seine Lehre erzählen, die Menschen beglücken mit seiner Liebe. Gestärkt erhebt sie sich und beginnt, seine Stirn mit der heilenden Erde zu bestreichen.

Dann wäscht sie seine Füße, der rechte glänzt in edler, unverletzter Schönheit. Und auch den linken Fuß salbt sie mit der heiligen Erde.

Erschöpft hält sie inne, betet zu seinem Vater, dass er seinen Sohn aufnehme, und ihn sanft in seinen Himmel führe. Und sie betet inständig zum Abba, dass er sie – wenn ihre Zeit gekommen ist – aufnähme, damit sie auf ewig an Jesu Seite die Freuden des himmlischen Glücks genieße.

Mit Gewalt reißt sie sich aus der himmlischen Betrachtung. Sie nimmt das Linnen von ihm, benetzt es mit köstlichem Wasser. Mit ihren Haaren trocknet sie seinen Leib, salbt und deckt ihn zärtlich mit dem weiß glänzenden Linnen zu.

Aufrecht – das Haupt zum Himmel gestreckt, um seine Auffahrt in den Himmel zu begleiten – steht sie wie eine Statue, die Hand liegt auf seiner Seite, die durchstochen von der Lanze wie der blutende Krater eines Vulkans liegt. Blut sickert schon durch das Linnen, befleckt es und Maria Magdalena deckt ihn erneut ab, versorgt die Wunde mit seinem Heiligen Blut, säubert das Linnen.