Secret Souls - Kira Borchers - E-Book

Secret Souls E-Book

Kira Borchers

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Beschreibung

Jolines größter Traum ist es, einmal bei Olympia den 5000m Lauf mitrennen zu können und für diesen Traum tut sie alles. Als ihr jedoch die Qualifikation zum Entscheidungslauf für eine Aufnahme für eines der besten Sportinternate des Landes misslingt, ist Joline am Boden zerstört. Ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt beschließt der gutaussehende und wohlhabende Jason Taylor, mit ihr in Kontakt zu treten und sie als Trainer zu unterstützen. Wird Joline es mit seiner Hilfe schaffen, beim Entscheidungslauf teilzunehmen und siegen zu können? Oder benutzt Jason sie bloß, um seine Ex-Freundin, und gleichzeitig Jolines Rivalin, eifersüchtig zu machen? Die Situation spitzt sich zu, als immer mehr Menschen in Jolines Alter verschwinden und nach wenigen Tagen als Leichen wieder auftauchen.

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Seitenzahl: 529

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Inhaltsverzeichnis
Titel
Impressum
Vorwort
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Epilog
Danksagung

Secret Souls

Kira Borchers

© 2019 Amrûn Verlag

Jürgen Eglseer, Traunstein

Covergestaltung: cover & books Buchcoverdesign

Lektorat: Simona Turini

Alle Rechte vorbehalten

ISBN TB – 978-3-95869-418-7Printed in the EU

Besuchen Sie unsere Webseite:

amrun-verlag.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Vorwort

Ich wünschte, dies alles wäre nie passiert.

Ich wünschte, ich hätte niemals eine Schwester gehabt

und meine Eltern wären normale Leute mit normalen Berufen gewesen.

Aber nicht alle Wünsche gehen in Erfüllung.

~ Joline ~

Prolog

Oh mein Gott, renn! Du musst schneller laufen!«, schrie ich immer wieder panisch über meine Schulter und dennoch war mir bewusst, dass wir es nicht schaffen würden. Wir hatten keine Chance, vor dem zu fliehen, was uns verfolgte. Es gab kein Entkommen. Nicht dieses Mal.

Ich überschlug mich mehrere Male, als ich im nassen Laub ausrutschte und der Weg einen steilen Hang hinunterführte. Schwer atmend rappelte ich mich am Fuße des Hügels auf und schaute hektisch um mich. Nein. Nein. Nein! Wieso musste es nur so dunkel sein? Ich hätte den Sturz vermeiden können …

Wo war sie? Ich durfte sie nicht verloren haben. Mein Herz raste, während ich mich hastig in alle Richtungen drehte und mich bemühte, etwas in der Finsternis auszumachen, das kein Baum war. Fast war es, als wäre es Nacht gewesen, aber es waren nur die Regenwolken, die sich beständig seit der Nacht über der Stadt hielten. Der Morgen brach bloß langsam an.

Mein Puls beschleunigte sich mit jedem Schritt und ich glaubte, dass ich mein Herz schlagen hören müsste. Meine Haut brannte an einigen Stellen. Ich musste sie mir an Ästen, die mir während des Laufens entgegengeschlagen waren, und bei dem Sturz aufgeschürft haben.

Ich hätte sie nicht alleine lassen dürfen! Voneinander getrennt konnten wir es noch weniger schaffen als zusammen. Nein, ich brauchte sie!

Ein Schuss durchbrach die Stille des Waldes. Eine Stille, die endgültig schien und mir jegliche Hoffnung entriss. Mein Kopf dröhnte und das Blut rauschte laut in meinen Adern. Bitte, es durfte nicht das sein, was ich dachte …

Eine Gestalt tauchte vor mir auf und leuchtete mir mit einer Taschenlampe ins Gesicht, sodass ich eine Hand in die Höhe riss und mir diese schützend über die Augen legte. Als der Lichtstrahl sich zum Boden senkte, erkannte ich, wer es war, der mir gegenüberstand und Tränen stiegen mir in die Augen.

»Nein«, hauchte ich kraftlos und sank auf die Knie. Und dann wiederholte ich dieses eine Wort immer wieder: »Nein, nein, nein!« Es wollte mir nichts anderes über die Lippen kommen, solange ich den Anblick ertragen musste, der sich mir bot.

Ein höhnisches Grinsen entstand in seinem Gesicht und seine Augen blickten verachtend auf mich hinunter. Als würde er es genießen, dass ich ihm derart schutzlos ausgeliefert zu Füßen lag. Aber war das ein Wunder? Er hatte mir alles genommen, was mir geblieben war. Alles, was mir etwas bedeutet hatte.

»Ich habe dich gewarnt.«

1 – Joline Thompson

Wie lange hatte ich auf diesen Moment gewartet? Wie oft hatte ich mir diese Situation in den letzten Wochen bereits vorgestellt? Und nun war es so weit. Der Tag – mein Tag – war gekommen und ich konnte endlich allen beweisen, was in mir steckte. Wofür mein Herz schlug.

Das hier würde nicht irgendeine Geschichte werden. Es würde meine Geschichte werden: Wie ich, Joline Thompson, gegen Helen Clark gewann.

Möglichst ruhig zog ich meine schwarze Trainingsjacke aus und zupfte mein weißes Sporttop zurecht. Meine Hände waren vor Aufregung eiskalt und zitterten leicht, sodass es mir schwerer als sonst fiel, eine vernünftige Schleife aus den Schnürsenkeln meines Turnschuhs zu binden. Ich atmete laut aus, um zumindest einen Teil der Anspannung loszuwerden, die bereits den ganzen Tag an mir zu haften schien. Nervös strich ich mit den Händen über meine schwarze Leggins und erhob mich schließlich von der Holzbank.

Mit langsamen Schritten ging ich durch den Umkleideraum zu einem bodentiefen Spiegel und blickte hinein, um mir ein letztes Mal ins Gesicht zu sehen, bevor ich mich unter die Leute mischte und mich ihren neugierigen, aufgeregten Blicken aussetzte.

Meine Haut war ganz blass und ich hatte den Eindruck, dass man mir meine wachsende Anspannung ansehen konnte. Ich atmete viel zu schnell und meine Lippen bebten.

Außerdem kitzelten meine langen Haare an meinen nackten Armen und in meinem Nacken. Einzelne Strähnen fielen mir ungünstig ins Gesicht und schränkten mein Blickfeld ein. Das musste ich ändern. Hastig zog ich mir ein Haargummi von meinem dünnen Handgelenk und bemühte mich, meine blonde Mähne zu bändigen, indem ich sie mir zu einem krausen Dutt hochsteckte.

Ich durfte es nicht länger hinauszögern, sondern musste meinen Traum endlich wahr machen. Verstecken half nichts mehr. Für einen kurzen Moment schloss ich meine Augen. Erst nachdem ich sie wieder geöffnet hatte, wandte ich mich von meinem Spiegelbild ab und machte mich auf den Weg.

Der Türgriff fühlte sich in meiner Handfläche kühl an und ich fragte mich unwillkürlich, wie es möglich war, dass das Metall noch kälter als meine Hände war. Dabei kam es mir vor, als wären meine Hände bereits zu Eisklötzen geworden, die mich wie schwere Gewichte Richtung Boden zogen.

Da stand ich nun und mich trennte lediglich eine weiße Tür von der Welt da draußen. Die Stille in diesem Raum fraß sich - wie ein kleiner Wurm – erbarmungslos in mich hinein. Dabei hörte ich mein Herz in einer unnatürlichen Lautstärke in meiner Brust schlagen, sodass ich dachte, es müsste aus mir herausspringen. Mein Magen passte sich dem Gefühlschaos an. Es kam mir vor, als wäre ein Zoo darin ausgebrochen.

Schließlich drückte ich die Klinke hinunter und stieß schwungvoll die Tür auf. Schlagartig rückten mein rasendes Herz und all die anderen seltsamen Gefühle in den Hintergrund.

Rufe, Lachen und fröhliche Musik dröhnten mir entgegen, als ich aus dem Umkleideraum ins Freie hinaustrat. Die Sonne strahlte hell vom wolkenlosen Himmel und löste meine eisigen Finger aus ihrer Schockstarre.

Es war genau richtig: nicht zu warm und nicht zu kalt. Perfektes Laufwetter.

Nach einigen Schritten wanderte mein Blick zur Tribüne, die sich neben der Laufbahn befand, auf der ich nun stand. Dort oben warteten sie gespannt. Sie wollten Talente sehen und Wetten gewinnen. Die Besten für den alles entscheidenden Wettkampf in drei Monaten fördern, bei dem nicht nur ein hohes Preisgeld unter den Läuferinnen meines Jahrgangs vergeben werden würde, sondern auch ein Platz am Sportinternat, an dem lediglich die Elite aufgenommen wurde. Mit Elite meinte ich nicht die außergewöhnlichen Talente, sondern die Reichsten der besten Läuferinnen.

Ich musste es schaffen. Ich musste diesen Lauf hier gewinnen, damit ich meinem Traum etwas näherkam. Denn nichts wollte ich lieber, als das Internat zu besuchen und später bei Olympia mitzulaufen. Niemand wollte eine Läuferin, die nicht alles für den Sieg gab.

Ich erstarrte, als ich die wohlhabendste und wichtigste Familie der kleinen Stadt, in der ich mit meinen Eltern Lyss und Enry Thompson lebte, erkannte. Mrs und Mr Taylor hatten unter den Schaulustigen Platz genommen und beobachteten ebenfalls gespannt die Läuferinnen des diesjährigen »Islandcountry«, wie wir den Wettbewerb nannten.

Mein Puls beschleunigte sich, als ich bemerkte, dass ich die Aufmerksamkeit der Familie erregt hatte und mich Mr Taylor mit einem schmalen Lächeln und einem leichten Kopfnicken grüßte. Für sein Alter sah er erstaunlich gut aus - und dafür, dass er sich angeblich um die schwierigen Angelegenheiten des Landes zu kümmern hatte. Dabei wusste allerdings keiner so genau, um was genau es sich handelte und was eigentlich sein Job war. Jedoch musste er mit seiner Arbeit ziemlich gut verdienen.

Seine Ehefrau Scarlett war eine ebenso hübsche Frau. Stets trug sie teure Kleidung und aufwendige Frisuren, was sie jünger aussehen ließ.

Und neben seinen Eltern saß Jason Taylor. Obwohl er ungefähr in meinem Alter war – vielleicht ein wenig älter als ich –, sorgte etwas an diesem Jungen dafür, dass ich ihm für gewöhnlich aus dem Weg ging und kein Wort mit ihm wechselte. Gut möglich, dass es seine abweisende Art mir gegenüber war. Die Blicke, die er mir zuwarf – vorausgesetzt, er beachtete mich denn überhaupt einmal -, waren meist abschätzig. Und behauptete man nicht, dass Augen mehr als tausend Worte sagten?

Auch jetzt zeigte er keinerlei Regung in seinem Gesicht und starrte mich einfach mit seinen blauen Augen an, als könne er direkt durch mich hindurchsehen, wenn er sich nur genug anstrengte. Er wirkte in diesem Moment sogar abweisender als sein Vater George Taylor, was in meinen Augen eine beachtliche Leistung darstellte.

Nachdem ich das Nicken von Mr Taylor erwidert hatte, kämpfte ich mich durch die Menschenmengen zur Startlinie. Ich würde mit einigen anderen Mädchen aus meinem Jahrgang laufen und nur eine von uns würde eine Förderung von einem Spezialtrainer und einen Platz beim wichtigsten Rennen erhalten: die Gewinnerin.

Die Voraussetzungen waren für mich eigentlich nicht schlecht. Ich war ungefähr 1, 75 m groß, schlank und hatte eine gute Ausdauer. Eine Strecke von fünf Kilometern wäre da wohl kaum ein Problem. Gut, ein ganz kleines gab es: das Mädchen neben mir. Helen Clark. Genauso groß wie ich, wohlhabende Familie und ziemlich beliebt an unserer Schule. Dass das vermutlich an dem Geld ihrer Familie lag, musste ich niemandem sagen. Sollte ich noch auf dem neuesten Stand sein, befand sie sich derzeit in einer Beziehung mit Jason Taylor. Aber bei diesen Informationen konnte man nie sicher sein, ob sie noch aktuell waren. Der Kerl wechselte seine Freundinnen wie seine Unterwäsche.

Doch das Hauptproblem bei ihr war, dass sie schon seit ihrer Kindheit von einem Privattrainer gefördert worden war. Allerdings hatte Helen kurz vor diesem Lauf beschlossen, dass dieser nicht mehr ihrem Niveau entsprechen würde. Helen würde also um einen besseren Trainer und die Qualifikation zum alles entscheidenden Lauf kämpfen - nicht um das Geld, welches sie sowieso schon im Überfluss besaß.

Die übrigen Mädchen kannte ich nur vom Sehen und bei vielen reichte ein Blick auf ihre Haltung aus, um zu erkennen, dass sie keine Chance auf den Sieg haben würden. Der Lauf würde zeigen, ob sich mein Aufwand gelohnt hatte. Jeden Morgen war ich vor der Schule im Wald laufen gewesen und hatte es tatsächlich geschafft, jeden Tag etwas besser zu werden. Doch was half es mir, wenn ich heute versagte?

»Hey, Joline«, trällerte mir eine hohe Stimme entgegen, nachdem die Startblöcke in Sichtweite geraten waren. »Was machst du denn hier? Das ist eine Laufbahn. Bist du sicher, dass du an diesem Ort richtig bist? Der Aufgang zur Tribüne ist gleich dort hinten.« Helen hatte ein breites Grinsen aufgesetzt, das über beide Ohren reichte, deutete mit einem Finger in Richtung Tribüne und ihre funkelnden Augen sprachen Bände, für wen sie mich hielt. Ich war das Mädchen, das nicht in Geldscheinen badete und jeden Tag in einem neuen Outfit von Gucci erschien – oder wie auch immer ihre Markenklamotten heißen mochten. Für Helen war ich jemand, auf den sie hinabschauen konnte, um sich selbst besser zu fühlen. Sie sah mich an wie Jason.

Diese plötzliche Erkenntnis ließ mich erschaudern und ich überlegte kurz, ob es das war, was mich an ihr störte oder ob es lediglich das dämliche Verhalten mir gegenüber war.

»Ach, entschuldige. Ich vergaß! Du wolltest ja unbedingt zeigen, was es heißt, als Versagerin an dem Wettkampf teilzunehmen. Mach dir nichts draus. Es kann nur eine gewinnen und das wird niemand anderes sein als ich.« Die Sätze kamen viel zu selbstsicher aus ihr heraus, sodass ich mich zusammenreißen musste, keine Würgelaute von mir zu geben. Hörte das Mädchen sich selbst eigentlich einmal zu?

»Trotzdem viel Glück, Joline. Vielleicht schaffst du es ja, nicht Letzte zu werden!«, schob sie noch mit einem übertriebenen Klimpern ihrer Wimpern hinzu, bevor sie sich theatralisch von mir abwandte.

Kopfschüttelnd tat ich es ihr gleich und beschloss, ihre Aussagen kommentarlos im Raum stehen zu lassen. Ich war ohnehin aufgeregt genug. Da musste ich mich nicht noch durch solche sinnlosen Auseinandersetzungen vom Ziel ablenken lassen.

Ich trug die Startnummer zwei, die gemeinsam mit den anderen Nummern vor mir auf einer großen Leinwand angezeigt wurde. Wir Engländer machten unserem Ruf, dass wir gerne Wetten abschlossen, wirklich alle Ehre. Denn diese Tafel stand dort bloß, um zu verkünden, wer der diesjährige Favorit war.

Aufgeregt knetete ich meine Hände und hob den Kopf. Genauso neugierig wie alle anderen Personen, die sich im Stadion befanden, wartete ich das Ergebnis ab. Es musste jeden Moment verkündet werden, auf wen die meisten Leute bisher getippt hatten. Letzte Stimmen wurden allerdings noch abgegeben. Sobald das Startsignal ertönt wäre, würden keine Wettvorschläge mehr angenommen werden – zumindest nicht am offiziellen Schalter, der dafür zuständig war. Was unter der Hand alles stattfand, war kaum nachzuvollziehen.

Viele Menschen aus dieser Stadt, unsere gesamte Schule, sogar umliegende Städte und Dörfer, waren gekommen und erwarteten voller Vorfreude die Siegerehrung dieses Laufes.

»Meine Damen und Herren! Schön, dass ich Sie auch zu dem diesjährigen Lauf begrüßen darf! Die Spannung steigt und unsere Läuferinnen im Alter von fünfzehn und sechzehn Jahren haben sich nun an der Startlinie auf ihren Positionen eingefunden. In wenigen Minuten wird das Startsignal ertönen und Sie, liebe Eltern, Freunde, Sponsoren, scheuen Sie sich nicht davor, ihre Favoriten lautstark anzufeuern! Denken Sie daran: Nur eine von ihnen kann gewinnen. Nur eine von ihnen hat das Zeug dazu, das internationale Sportinternat zu besuchen! Bestimmt wollen Sie nun die bisherigen Ergebnisse unseres eifrigen Wettens sehen?«

Ohrenbetäubende Schreie und ausgelassenes Gelächter ließen auf ein eindeutiges Ja schließen. Auch ich konnte kaum noch abwarten, auf wen die Leute dieses Jahr gesetzt hatten.

»Okay. Dann lasst uns einen Blick auf die Anzeige werfen!«

Nach und nach wechselten die Startnummern ihre Plätze und ordneten sich in der Tabelle neu an. »Oh, das sieht gut aus! Unsere Favoritin dieses Rennens ist … Helen! Jedoch nur knapp Joline überlegen. Es wird schon gemunkelt, dass es ein heißes Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen diesen beiden Mädchen geben soll! Sehr ehrgeizige Sportlerinnen, die es offensichtlich verdient haben, einen Sponsor und einen vernünftigen Trainer zu erhalten, wenn Sie mich fragen.

Aber genug von dem Gerede! Wir wollen die Mädels ja nicht ewig auf ihren Blöcken warten lassen! Seid ihr fertig?«

Mein Herz raste, als ich mich auf die Laufbahn kniete und meine Finger noch fester auf den harten Boden drückte, sodass sie rot anliefen, damit man nicht sah, wie sehr ich zitterte. Kleine Steine bohrten sich schmerzhaft in meine Handflächen, wodurch meine Aufregung ein wenig abgeschwächt wurde. Nichtsdestotrotz nahm ich meine Umgebung schlagartig gar nicht mehr richtig wahr. Das Blut rauschte dermaßen laut durch meine Ohren, dass ich die Stimmen der Menschen nur noch gedämpft hörte und mein Puls raste.

Ich konnte es gar nicht fassen, was durch den Lautsprecher soeben verkündet worden war. Es klang dermaßen unrealistisch und ich kam mir wie in einem zu guten Traum vor, aber es war die Wirklichkeit. Ich war eine der Favoritinnen. Die Menschen hatten auf mich gesetzt! Umso mehr musste ich ihnen nun beweisen, was ich konnte. Ich musste Helen schlagen!

»Auf die Plätze!«

Ich atmete tief ein und schloss kurz die Augen, dachte an all die harten Trainingsstunden und versuchte, ein schönes Bild in den Kopf zu bekommen, um mir Mut zu machen.

Genug von Helen. Das hier war mein Lauf! Ich durfte mich nicht von ihr ablenken lassen, sondern musste mich jetzt auf mich selbst konzentrieren, musste einen klaren Kopf bekommen und …

»Fertig …«

Ganz ruhig! Ich war die Strecke bestimmt hundert Mal gelaufen. Es konnte gar nichts schiefgehen. Ich musste nur so laufen, wie ich es immer getan hatte. Hier war niemand. Keine Sponsoren, keine Freunde, keine Familie, kein Wettbewerb. Hier war nur ich und das hier, das war mein Rennen.

Jeder Muskel meines Körpers spannte sich an, als ich mich ein Stück weit von dem Startblock aufrichtete und meine Füße fester in die Tritte presste. Pures Adrenalin durchströmte mich und das Kribbeln in meinem Bauch verstärkte sich mit jeder Sekunde.

Vor uns hatte sich ein Mann auf die Laufbahnen gestellt, die Arme über seinem Kopf erhoben. Bereit, sie jeden Augenblick über sich zusammenzuschlagen.

Meine Lunge verengte sich unangenehm und nahm mir die Luft zum Atmen. Jede Sekunde baute sich mehr Druck in mir auf, sodass ich glaubte, diesem nicht mehr standhalten zu können. Aber ich schaffte es bestimmt. Es musste mir gelingen, als Erste durchs Ziel zu laufen.

»Los!«

Gekonnt drückte ich mich vom Startblock weg, richtete mich auf und lief los. All die in mir zusammengestaute Kraft entlud sich in Form von Energie und erleichterte mir das Rennen, sorgte für ein Gefühl der Schwerelosigkeit. Beinahe hätte ich es als Fliegen bezeichnet, diese Welle der Freiheit, die sich über mir ergoss.

Ein gelungener Start. Genauso hatte ich auch beim Üben begonnen, als ich meine Bestzeit gelaufen war. Der Wind blies mir ins Gesicht und erfrischte mich angenehm, meine Beine trugen mich, als würde ich über den Boden schweben und die Tribüne und das Stadion zogen an mir vorbei, sodass ich schon bald auf dem feuchten Sandweg des Waldes lief. Ein Schatten lief rechts von mir, links war niemand zu sehen, was darauf schließen ließ, dass es Helen sein musste, die da gerade seelenruhig an mir vorbeizog.

Es kostete mich einiges an Konzentration und Nerven, um nicht wie ein kleines, störrisches Kind hinterherzurasen. Doch das konnte ich nicht. Ich musste mir, im Gegensatz zu ihr, die Kräfte einteilen, um lieber am Ende noch etwas rausreißen zu können.

Zügig hatte ich meinen Rhythmus gefunden, war im Einklang mit der Umgebung, der Luft, hatte die perfekte Atmung gefunden und schon bald lief ich wieder direkt neben Helen.

Meine Schuhe schmatzten laut auf dem zum Teil nassen Boden und übertönten damit die Geräusche der Natur. Das fröhliche Zwitschern der Vögel, das leichte Rauschen der Blätter und das tiefe Ein- und Ausatmen von Helen und mir.

Obwohl mich ihr ganz anderer Takt hin und wieder durcheinanderbrachte, bog ich gut in der Zeit und zufrieden lächelnd fast zeitgleich mit Helen in die Zielgerade im Stadion ein.

Die tobende Menge begrüßte uns sofort. Das aufgeregte Johlen, wehende Fahnen, Plakate mit unseren Namen und die Lautsprecheransage hießen uns willkommen, zeigten, dass es nun auf die letzten Meter ankam, wer gewann und wer verlor.

Immer häufiger warf ich hektische Blicke zu Helen, die sich anscheinend gar nicht von mir beirren ließ. Egal, was um uns herum geschah, sie beachtete es nicht weiter. Ich hingegen konnte mich nicht von dem Trubel, der um mich herum herrschte, lösen.

»Und da sind sie auch schon, unsere diesjährigen Favoritinnen! Es hat uns wirklich niemand zu viel versprochen, wenn man sich die beiden so ansieht. Man könnte doch glatt meinen, es sei nur ein Rennen zwischen diesen beiden Mädchen, nicht wahr? Und wer von ihnen wohl gewinnen wird? Es bleibt spannend bis zum Schluss, meine lieben Zuschauer!«

Ich merkte, wie ich mich verschluckte und kurz unachtsam war. Wieder wertvolle Sekunden, die mir verloren gingen. Wehmütig beobachtete ich, wie das große, schlanke Mädchen mit Leichtigkeit an mir vorbeischwebte, immer der Ziellinie entgegen.

»Oh, unglaublich! Helen zieht an Joline vorbei, als hätte sie ihr ganzes Leben nichts Anderes gemacht, als zu laufen. Wahnsinn! Sehen Sie sich das an!«

Ich wollte diesem dämlichen Pressesprecher nicht länger zuhören. Am liebsten hätte ich ihm einen zusammengeknüllten Zettel in den Mund gesteckt. Sollte er doch sagen, was er wollte, aber ich würde diesen Leuten zeigen, wer die wahre Siegerin dieses Laufes war! Dafür hatte ich mir schließlich meine Kräfte aufgehoben …

»Und die letzten fünfzig Meter liegen vor ihnen. Joline muss jetzt nochmal alles geben, wenn sie nicht auf dem Trostplatz landen möchte! Und da …! Das ist unglaublich! Unglaublich, hören Sie!?«

Mit großen Schritten holte ich wieder auf, immer näher kam ich an Helen heran. Sie schien mir zum Greifen nahe. Ihr blonder Zopf hüpfte vor mir munter auf und ab und strich über ihr weißes T-Shirt, das von hinten Schmutz des feuchten Sandes aufwies, der an ihr hochgespritzt war.

Der Schweiß lief mir die Stirn hinunter, ich bekam Seitenstiche, atmete inzwischen stoßweise und nahm meine Umgebung nur noch verschwommen wahr.

Der Jubel der Massen dröhnte weiterhin in meinen Ohren, wirkte auf einmal wie Gift auf mich. Ich wollte sie alle nicht mehr hören. Meine Augen wanderten über den roten Boden unter mir, der plötzlich gefährlich dicht schien und dann war der Spuk vorbei. Einfach so. Völlig unerwartet.

***

»Und da haben wir sie! Die diesjährige Gewinnerin des Vorentscheids! Meine Damen und Herren, Familien, Freunde und Sponsoren! Hiermit gebe ich die Siegerin des Vorentscheids des ›Islandcountry-Rennes‹ bekannt. Und das ist niemand anderes als … lasst uns den Moment noch kurz genießen! Es ist … Helen Clark! Herzlichen Glückwunsch! Sie hat sich damit für die nächste Runde qualifiziert, bekommt einen Spezialtrainer und somit eine Chance auf einen Platz im besten Sportinternat des Landes!«

Und damit war es vorbei. Einfach weg. Mein Traum vom großen Rennen. Mein Traum vom Sportinternat.

»Joline konnte es leider nur auf den zweiten Platz schaffen. Aber meine Damen und Herren, schauen Sie sich die Zeiten an! Ein wirklich knappes Rennen, das …«

Kraftlos gaben meine Knie unter dem Gewicht meines Körpers nach und ich sank hilflos auf den roten Boden nieder. Mein Atem beruhigte sich allmählich und von der vorherigen Aufregung fehlte jede Spur. Dennoch vernahm ich die Stimmen um mich herum lediglich als dumpfe Töne.

Seufzend senkte ich den Kopf und schaute auf meine Knie, um welche ich bereits die Arme geschlungen hatte. Mein Hals brannte mittlerweile und schrie förmlich nach Wasser, aber ich hatte meine Flasche in der Umkleidekabine gelassen. Wem hätte ich sie auch in die Hand drücken sollen? Mich empfing anscheinend keiner nach dem anstrengenden Lauf mit offenen Armen und tröstete oder beglückwünschte mich wegen des zweiten Platzes. Meine Familie hatte der Wettkampf nicht sonderlich interessiert. Weshalb, waren sie sonst nicht erschienen und ließen mich alleine zwischen all den gaffenden Menschen?

Was um mich herum geschah, war plötzlich nicht mehr wichtig und ich wollte den bemitleidenden Gesichtern mir gegenüber nicht länger ausgesetzt sein. Bloß weg von dem Gemenge – und das möglichst schnell.

Mit letzter Mühe stemmte ich mich hoch und lief zum Gebäude zurück, aus dem ich vor nicht einmal einer Stunde gekommen war. Zu dem Zeitpunkt war noch alles möglich gewesen. Ich hatte Hoffnung auf den Sieg gehabt. Aber jetzt? Alles war verloren und das konnte ich einzig und allein mir selbst in die Schuhe schieben. Niemand außer mir hatte Schuld an meinem Versagen gegen Helen.

Als ich die Tür öffnen wollte, klemmte das blöde Teil und nachdem ich noch heftiger am Türknauf zerrte – und schon zweifelte, den »Drücken«-Aufdruck überlesen zu haben -, flog sie mir beinahe ins Gesicht. Fluchend betrat ich die Umkleide und setzte mich zu meinen Sachen auf die Bank. Dort schlug ich die Hände vors Gesicht, aber keine Träne wollte aus meinen Augen entweichen.

Ich wollte mich bewegen, schreien und all die Wut und Enttäuschung loswerden und gleichzeitig wäre mir nichts lieber gewesen, als in der Ecke zu sitzen und mich für mein Verhalten zu schämen.

»Wow, du warst wirklich super! Toller Lauf. Ich gratuliere!«, meinte jemand, der zu mir in den Raum getreten war.

Vorsichtig hob ich den Kopf und erblickte ein Mädchen, das etwas kleiner als ich war und das ich ebenfalls unter meinen Konkurrenten gesehen hatte. Ihre rötlichbraunen Haare hingen ihr rechts und links in kleinen, geflochtenen Zöpfen über den Schultern und wippten bei jeder Bewegung hin und her. Ihre ebenso braunen Augen waren neugierig auf mich gerichtet und auf ihrer etwas dunkleren Haut zeichneten sich noch letzte Schweißspuren ab.

Schwach lächelnd schaute sie mich an und wartete geduldig auf eine Reaktion von mir.

»Danke«, hauchte ich überrascht.

Ich wusste selbst nicht, weshalb mich das Lob unerwartet erreichte. Sollte ich nicht stolz sein, dass ich es auf das Treppchen geschafft hatte? Gewiss waren über zehn Mädchen in meinem Alter angetreten und hatten denselben Traum verfolgt wie ich. Und ich hatte es immerhin unter die besten Drei geschafft. Sie hatte recht. Womöglich sollte ich das mehr wertschätzen und nicht den Kopf hängen lassen.

»Bist du sehr traurig? Ich kann dich gut verstehen, aber als Zweite hast du trotzdem noch eine Chance, dich zum nächsten Lauf zu qualifizieren. Auf jeden Fall drücke ich dir ganz fest die Daumen! Ich werde unter den Zuschauern sein, wenn du das nächste Mal an der Startlinie stehst, und dich anfeuern«, bemühte sie sich weiterhin, mich aufzumuntern.

Ein Lächeln entstand auf meinen Lippen. »Wie heißt du?«

»Sanja. Nach deinem Namen braucht niemand mehr zu fragen. Du bist eine kleine Berühmtheit geworden, Joline! Entschuldige mich. Ich muss leider schon gehen. Meine Mutter hat noch einen wichtigen Termin am Abend. Man sieht sich bestimmt noch einmal, spätestens beim entscheidenden Rennen auf der Tribüne.«

Ich war mir unsicher, was ich von dem Gespräch halten sollte, allerdings schenkte es mir neuen Mut. Andere ständen nun gerne an meiner Stelle und es gab sogar Mädchen wie Sanja, die mich bewunderten. Ja, ich hatte nicht gewonnen und das war ärgerlich, aber ich würde von nun an noch härter kämpfen, um zu erhalten, was ich mir erträumt hatte. Ich konnte es schaffen, sobald ich mit dieser Niederlage abgeschlossen hatte.

Mit besserer Laune sprang ich von der Bank auf, schnappte mir ein Handtuch und Duschkram, um damit in den Waschräumen im Nebenzimmer zu verschwinden. Das warme Wasser lief meinen Rücken hinunter und löste die Verspannungen etwas auf. Obwohl es draußen nicht kalt gewesen war, hatte ich durch den Schweiß angefangen, zu frieren. Umso besser tat mir die heiße Dusche.

Die Augen geschlossen, legte ich meinen Kopf in den Nacken und ließ das Wasser einfach über mich fließen – durch die Haare, über mein Gesicht, meinen Rücken, die Beine hinab. Glucksend verschwand es im Abfluss.

Es ist nicht allesverloren, erinnerte ich mich immer wieder. Ich durfte jetzt nicht allzu enttäuscht sein. Es war okay, zu verlieren. Ich musste nur wieder aufstehen.

***

Die Tasche war schnell gepackt. Ich hatte es erfolgreich geschafft, die Letzte zu sein, die diese Umkleide verließ. Schwermütig schulterte ich den Rucksack und wollte schon gehen, als ich ein weiteres Mal an dem Wandspiegel vorbeikam. Davor verharrte ich und mein Blick schweifte über meinen Körper.

Genervt riss ich mir das Zopfgummi aus den Haaren, die inzwischen wieder trocken waren. Als ein welliger Haufen fiel mir das Knäuel den Rücken hinunter. Das sah doch scheußlich aus. Ich sah scheußlich aus.

Mit grimmigem Gesicht musterte ich mich im Spiegel und wünschte mir, dass nicht ich hier stände und mir Gedanken über mein Aussehen machte, sondern Helen. Aber die war währenddessen bestimmt im Gemeindehaus eingetroffen, wo sie gleich ihre Urkunde und die Medaille in die Hände gedrückt bekam. Ich konnte mir richtig gut vorstellen, wie sie ihr gekünsteltes Lächeln aufsetzte, sich nach allen Richtungen für die Fotografen in Szene setzte und fantastische Interviews gab. Und das Schlimmste daran war, dass sie dies womöglich noch professioneller tat, als ich es je können würde. Vielleicht wäre der erste Platz gar nicht gut für mich gewesen und ich hätte nicht damit umzugehen gewusst. Im Gegensatz zu Helen wäre ich ernsthaft überrascht gewesen.

Kopfschüttelnd löste ich mich von dem Abbild im Spiegel und rannte zur anderen Tür, die zum Inneren des Gebäudes und zum Flur führte. Ich schniefte und kramte mein Handy aus der Tasche meines grauen Pullovers, den ich übergezogen hatte. Zumindest Lisa wollte ich noch eine Nachricht zukommen lassen, wie das Rennen gelaufen war. Als meine beste Freundin hatte sie es verdient, das zu erfahren. Außerdem war sie die Einzige gewesen, die wirkliches Interesse gezeigt hatte, während ich ihr von meinen Plänen berichtet hatte. Dass sie nicht hatte kommen können, war nicht ihre Schuld gewesen.

Ich verließ die Umkleide, darauf konzentriert, die Nachricht zu versenden und nicht auf irgendwelche Tasten zu kommen, die ich nicht berühren wollte. Dabei fand ich es nicht sonderlich wichtig, auf meine Umgebung zu achten. Es waren ohnehin fast alle gegangen, denn es hielt kaum jemanden in diesen Räumlichkeiten, wo doch ein paar hundert Meter weiter bereits die Siegerehrung vorbereitet wurde.

»He, pass auf, wo du hinläufst!«, schimpfte jemand vor mir. Die Warnung erreichte mich allerdings zu spät. Ungebremst lief ich in die Person hinein und bemühte mich dabei lediglich, mein Handy vor dem Aufprall auf den Boden zu schützen.

Als ich aufblickte, schaute ich in zwei kalte blaue Augen, die mir allzu bekannt vorkamen. Irritiert wanderten meine Augen über sein Gesicht zum Mund hinunter, bevor ich realisierte, dass ich selten einem Jungen derart nah gekommen war. Meine Hände lagen auf seinem Bauch, das Handy fest daran gepresst, damit es nicht hinunterfallen konnte. Ich konnte jeden Muskel unter seinem Top fühlen, was mich leicht verunsicherte. Unsere Gesichter trennten wenige Zentimeter voneinander und ich spürte seinen Atem auf meiner Haut.

Sofort fingen meine Wangen an zu glühen und ich stieß ihn mit verengten Augen von mir.

»Normalerweise werfen sich mir Mädchen nicht so unangekündigt an den Hals.« Ein amüsiertes Grinsen deutete sich auf seinen Lippen an und ich ohrfeigte mich innerlich, abermals auf seinen Mund gestarrt zu haben. Hoffentlich war ihm das nicht aufgefallen!

»Ich habe mich dir nicht an den Hals geworfen!«, stieß ich entsetzt und mit viel zu hoher Stimme aus. Was bildete dieser Idiot sich eigentlich ein?

»Nicht? Na dann. Ich sollte froh sein. Hatte ohnehin keine Joline auf meiner To-do-Liste stehen.«

»Du hast was?!«

Ich glaubte, ich hörte nicht richtig. Dieser Typ führte eine Liste, mit welchen Mädchen er noch etwas starten wollte? Kein Wunder, dass mich mein Kopf bisher um Jason herumgeleitet hatte und damit um jegliche Probleme, die sich Herz oder Verstand verlieren nannten.

Mit leicht geöffnetem Mund starrte ich ihn an. War das sein Ernst? Die Worte wollten nicht in meinen Kopf.

»Kleiner Scherz am Rande«, erklärte er belustigt. Er musste meinen schockierten Gesichtsausdruck bemerkt haben.

Ich schnaubte verächtlich. »Sehr lustig. Siehst du nicht, dass ich mich vor Lachen kaum noch halten kann?«

Ohne darauf einzugehen, schob er mich mit einer Hand zur Seite, holte einen kleinen Schlüssel hervor und schloss die Tür hinter mir ab.

»Weißt du, dass du das Allerletzte bist? Hat dir irgendwer schon einmal gesagt, dass du dich wie ein arrogantes Arschloch verhältst? Wieso kommst du nicht einmal von deinem hohen Ross herunter und benimmst dich wie ein normaler Junge in deinem Alter? Ach, ich vergaß! Du könntest dir die Schuhe schmutzig machen«, schimpfte ich drauflos.

Ich musste meine Wut auf Jason endlich loswerden und Platz in meinem Körper schaffen. Wie lange war ich diesem Jungen schweigend aus dem Weg gegangen? Viel zu lange.

»Nein, es war mir noch nicht bekannt, dass es arrogante Arschlöcher gibt. Vielleicht möchte ich gar nicht normal sein? Normal ist langweilig«, sagte Jason völlig ruhig und drehte sich mit ausdruckslosem Gesicht zu mir herum. Nichts war darin zu erkennen.

Ich wusste nicht, ob er sich gerade aufregte oder sich darüber lustig machte, was ich hier tat. Und das brachte mich fast um den Verstand. Er setzte jedoch noch einen obendrauf. »Und was das Pferd angeht … siehst du hier eines? Ich denke, die machen sich nicht so gut in Sporthallen oder Umkleidekabinen, was?«

»Nein, vor allem sollte man mit einem Pferd nicht in der Mädchenumkleidekabine auftauchen!«, fauchte ich.

Warum wusste Jason auf alles eine Antwort? Wieso konnte er nicht eine Aussage kommentarlos im Raum stehen lassen, wie ich es bei Helen getan hatte? Und warum ließ er mich nicht einfach im Gang stehen, sondern unterhielt sich mit jemandem wie mir? Normalerweise interessierte es ihn schließlich auch nicht, was ich tat oder sagte. Langeweile?

»Sag mir, stehen wir in oder vor der Umkleidekabine?«

Ich spannte meine Kieferknochen an und musste mich arg zusammenreißen, um nicht mit den Augen zu rollen oder mit dem Fuß aufzustampfen. Krampfhaft suchte ich nach weiteren Dingen, die ich ihm an den Kopf schleudern konnte, aber er wechselte abrupt das Thema.

»Ärgerlich, gegen Helen verloren zu haben, oder?«

Er sagte das mit einer unfassbaren Gelassenheit, verschränkte die Arme vor seiner Brust und hob abwartend die dunklen Augenbrauen in die Höhe. Sein dunkelbraunes Haar hatte er leicht nach oben und zur Seite gegelt und mit seinem weißen Top sah er aus wie ein Profisportler. Unwillkürlich musste ich mich fragen, was er tat, damit er solche Muskeln aufweisen konnte.

»Wenn du mir jetzt auf diese Weise kommst, dann hau ab!«

»Du willst also keine Revanche gegen Helen? Gibst du etwa kampflos auf? So hätte ich dich gar nicht eingeschätzt.«

Das Gespräch hatte eine Richtung eingeschlagen, die ich nicht in meinen kühnsten Träumen erwartet hätte. Was genau hatte dieser Kerl vor? Irgendeinen Plan oder einen Haken musste es geben. Mit Sicherheit wollte er mich reinlegen, um anschließend etwas zum Lachen zu haben und mich nach den Sommerferien vor seiner gesamten Truppe fertigmachen zu können. Nein, nicht mit mir.

»Ich würde dir meine Hilfe anbieten. Ruf mich an, wenn du sie annimmst.«

Schon wieder war mir Jason zuvorgekommen.

»Nein. Ich werde deine Hilfe nicht annehmen und selbst wenn ich wollte, könnte ich nicht. Ich habe deine Nummer gar nicht, weil ich die Nummer eines selbstgefälligen Mistkerls nicht brauche!«, erwiderte ich, hob mein Kinn in die Höhe und verschränkte ebenfalls die Arme vor der Brust.

Jason entwich etwas, das wie ein belustigtes Lachen klang. »Du machst es mir aber auch nicht leicht«, stellte er fest.

»Wieso sollte ich?«, gab ich schnippisch zurück und hob mein Kinn noch ein bisschen mehr in die Höhe.

Langsam und kaum merklich tat er einen Schritt auf mich zu, sodass wir erneut dicht voreinander standen. Ich wollte zurückweichen, allerdings hinderte mich die abgeschlossene Tür zur Umkleidekabine daran.

Mit einem raschen Handgriff hatte er mir mein Handy aus der Hand genommen und ich verfluchte mich, dass ich kein Passwort zum Entsperren hatte. Er musste lediglich mit den Fingern über das Display wischen.

Panisch sprang ich vor und wollte ihm das Handy entwenden, Jason war jedoch schneller, sodass ich ein weiteres Mal gegen seinen muskulösen Oberkörper stolperte und zusehen musste, wie er außerhalb meiner Reichweite etwas in mein Handy eintippte.

Nach wenigen Sekunden, die mir unendlich lang vorkamen, meinte ich, ein Lächeln bei ihm zu erkennen. Danach reichte er mir das Handy zurück.

»So. Jetzt hast du meine Nummer.«

»Großartig, danke schön, du überaus freundlicher Typ, den ich schon immer mal kennenlernen wollte«, entgegnete ich frustriert. Tatsächlich hatte er seine Nummer in mein Handy eingegeben, wie ich mit einem flüchtigen Blick auf den Bildschirm feststellen konnte. Rasch steckte ich mein Telefon in meine Tasche.

»Gern geschehen, wusste ich doch!«, antwortete Jason, als wären meine Sätze ernst gemeint gewesen.

»Was ist das für Hilfe, die du mir anbietest? Einen Nachmittag mit dem tollen Jason und seiner Freundin zusammen ins Kino gehen und ihnen beim Knutschen zugucken, damit man daran erinnert wird, dass man selbst Single ist?«

Mir waren die Worte bereits peinlich, nachdem sie meinen Mund verlassen hatten, aber jetzt gab es kein Zurück mehr. Dennoch hätte ich gerne so ein Männchen im Kopf, das meine Sätze, die ich von mir gab, zunächst überprüft und jeden Quatsch daraus strich. Oder am besten schlug es gleich Antwortmöglichkeiten vor. So: Wenn Sie Antwort a wählen, dann wird ihr Gegenüber so und so reagieren. Wählen Sie Antwort B und erreichen Sie das, was Sie wollten. Antwort c würde wiederum auf das und das hinauslaufen …

»Nein, das gehörte nicht zu meinen Vorschlägen«, sagte Jason kühl. »Schreib mir einfach, wenn Interesse von deiner Seite aus besteht. Solltest du zustimmen, erkläre ich mehr.«

Ich wollte widersprechen, meine Kehle war jedoch wie zugeschnürt. Als hätte mir jemand die Luft zum Atmen genommen. Was sollte das? Wenn Interesse von deiner Seite besteht … Pah!

Ein Nicken und Jason wandte sich zum Gehen. Nach einigen Schritten verharrte er jedoch im Gang und drehte sich nochmals zu mir um. »Hast du dort Wurzeln geschlagen? Trink lieber noch etwas und komm danach ins Gemeindehaus!«

Ich betete, dass ich nicht rot angelaufen war, weil meine Wangen schon wieder glühten und es mir unangenehm war, ihm hinterhergeguckt zu haben.

»Du hast mir gar nichts zu sagen, du Idiot!«

»Gewöhn dich lieber dran, wenn du meine Hilfe in Anspruch nehmen solltest!«

Daraufhin wusste ich nichts mehr zu sagen. Das durfte doch nicht wahr sein! Der Junge sorgte dafür, dass ich sprachlos war. Dabei wusste ich fast in jeder Situation zu allem etwas zu sagen.

»Ich glaube, die hier kannst du jetzt gut gebrauchen. Du solltest ein wenig mehr auf deine Gesundheit achten, Joline«, schob Jason noch hinzu und riss mich damit zumindest kurz aus meinen Gedanken. »Hier, fang!«

Ehe ich mich versah, hielt ich eine Wasserflasche in der Hand. Erleichtert atmete ich auf, da ich sie glücklicherweise gefangen hatte. Was kümmerte Jason meine Gesundheit? Das war doch absurd! Ich durfte mir das nicht gefallen lassen, wie er mit mir umging.

Zu gerne hätte ich gewusst, was dieses Angebot war, das er mir vorgeschlagen und für das er mir sogar seine Nummer gegeben hatte, aber das kam nicht in Frage.

Seine Hilfe würde ich ganz sicher nicht in Anspruch nehmen. Egal, was kam. Aber eines musste ich ihm lassen: Abgang mit Stil, sich wie ein Arschloch verhalten und auch noch gut dabei aussehen. Das konnte nur Jason.

2 – Joline Thompson

Erschöpft stellte ich das Fahrrad in einen der eisernen Ständer, die vor dem Gemeindehaus standen. Kein anderes Rad war zu sehen, sodass ich freie Auswahl hatte und mich nirgendwo umständlich zwischenquetschen musste, um mein Rostgestell anzuschließen. Nicht, dass die Möglichkeit bestand, dass dieses Ding, das man unmöglich noch als Fahrrad bezeichnen konnte, irgendjemand klauen würde, aber man sollte ja niemals nie sagen.

Meine Beine schmerzten bei jedem Schritt und trotz des warmen Pullis musste ich zugeben, dass es mit der allmählich einbrechenden Dunkelheit frisch geworden war. Mein Fahrrad sich selbst überlassend schritt ich zum Eingang. Das Licht, das vereinzelt aus den Fenstern drang, erleuchtete die Pflastersteine vor mir und leitete mir meinen Weg.

Die ausgelassene Stimmung war bereits vor dem Haus zu spüren und mir widerstrebte es, hineinzugehen. Wirklich zum Feiern war mir nicht zumute, aber ich sollte wohl zumindest an der Siegerehrung teilnehmen und Helen zu ihrem Triumph gratulieren.

»Joline!«, rief jemand fröhlich hinter mir, weshalb ich erschrocken zusammenfuhr und mich umschaute. Lisa kam mit ausgebreiteten Armen auf mich zu gestürmt und nur wenige Sekunden später hing sie mir wie ein kleines Klammeräffchen am Hals. »Was stehst du denn noch so unschlüssig hier draußen in der Kälte?«

Gute Frage. Ich konnte wahrscheinlich nicht davon ausgehen, dass meine Nachricht noch an sie hinausgegangen war, nachdem Jason mir einfach mein Handy entrissen hatte. Dann musste ich es ihr wohl oder übel doch persönlich berichten.

»Ich habe den zweiten Platz gemacht«, gab ich kleinlaut zu.

»Was?! Das ist doch großartig!« Lisas Augen weiteten sich sprachlos, allerdings veränderte sich ihr Blick misstrauisch, als von mir keinerlei freudige Regung kam. »Oder nicht?«

»Lisa. Das ist zwar toll, aber es ist egal, ob ich Zweite oder Letzte bin. Das Ergebnis ist dasselbe. Ich werde niemals einen Platz im Elitesportinternat erhalten, kein Preisgeld, keinen Sponsor, …«, erklärte ich mit hängenden Schultern.

Grübelnd musterte sie mich von oben bis unten. »Nein. Es ist nicht egal, ob du die Zweite oder Letzte bist. Wenn ich das aus deinen Erzählungen richtig verstanden habe, dann stehst du jetzt auf der Ersatzliste der Läufer für den nächsten und letzten Entscheidungslauf ganz oben. Sobald Helen oder eine der anderen vier Läuferinnen also ausfallen sollte, nimmst du deren Platz ein und kannst dein Können erneut unter Beweis stellen. Kein anderes Rennen war so knapp, wie das von Helen und dir. Deswegen stehst du ganz sicher an erster Stelle auf der Ersatzliste.« Als ich auch darauf nicht groß reagierte, bis auf ein »Mh«, das unschlüssig aus mir herauskam, knuffte Lisa mir lachend in die Seite. »Du kleines pessimistisches Grummelmonster.«

»Ich bin kein Grummelmonster«, widersprach ich und zog eine Flunsch.

»Oh doch! Und glaube mir, beim nächsten Lauf bin ich dabei und dann ziehst du die alle ab! Falls meine Oma dann wieder ein Treffen mit mir plant, muss sie mit zu mir kommen und dich ebenfalls anfeuern, einverstanden? Ich komme nämlich gerade direkt von ihr.« Lisa verwies auf das wegfahrende Auto hinter uns, dessen Scheinwerfer schnell von der Finsternis verschluckt wurden. »Und jetzt möchte ich dich da drinnen auf dem Siegerpodest stehen sehen. Also ab ins Gemeindehaus mit dir!«

Seufzend gab ich nach und folgte ihr. An der Tür angekommen, sah sie mir eindringlich in die Augen und meinte: »Lächle mal mehr. Das steht dir ungemein gut.«

Sie sah mich an wie Jason. Gott, wie oft hatte ich jetzt an diesem Tag schon an diesen Kerl gedacht? So oft hatte ich - bestimmt mein gesamtes Leben zusammengerechnet – noch keine Gedanken an ihn verschwendet. War das noch normal? Aber vorher hatte er auch nicht wirklich mit mir gesprochen; geschweige denn, mir geheimnisvolle Angebote gemacht. Früher oder später würde ich Lisa davon erzählen müssen und davor bangte mir schon jetzt.

Nach einem unschlüssigen Nicken willigte ich ein und trat nach ihr ins Innere. Augenblicklich überwältigte mich ein Lärmpegel, den ich mir gar nicht derart schlimm vorgestellt hatte. Ein Durcheinander aus Worten, Gelächter, Rufen und Geklatsche rollte wie eine Welle über mich hinweg.

»Sieh mal! Sie haben gerade mit der Siegerehrung begonnen«, meinte Lisa aufgeregt in meine Richtung und zeigte mit einem Finger über die Köpfe der Leute hinweg nach vorne. Tatsächlich. Dort hatte sich ein menschenleerer Halbkreis vor einer weißen Wand um das Podest herum gebildet. Ich schluckte bei dem Anblick, weil es bedeutete, dass ich bald vor die Gesichter der Versammelten zu treten hatte. An sich machte mir die ganze Aufmerksamkeit wenig aus, allerdings fühlte ich mich in diesem Moment nicht in der Lage, mich all dem zu stellen. Am liebsten wäre ich direkt wieder umgedreht und hinausgelaufen. Lisa war jedoch schneller, packte mein Handgelenk und zog mich mit sich durch die Menge hindurch, bis wir in der ersten Reihe warteten. Gerne hätte ich sie dafür beschimpft, dabei konnte sie gar nicht nachvollziehen, weswegen ich mich dermaßen schlecht fühlte. Es wäre ihr gegenüber nicht fair gewesen, sie für ihre Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft zu bestrafen. Also beschloss ich, zu schweigen und diesen Abend über mich ergehen zu lassen.

Wenige Meter neben mir entdeckte ich Helen, die mich nahezu im selben Moment bemerkte, denn unsere Blicke begegneten sich. Höhnisch grinsend, beinahe mit ein bisschen Mitleid, wanderten ihre Augen langsam an mir herunter, um danach abermals meinen eigenen Augen zu begegnen.

Auf unerklärliche Weise schlich sich Unbehagen in mich und verunsicherte mich. Was tat ich hier eigentlich? Sie war hierfür geboren worden und ich? War es wirklich mein größter Traum im Leben, auf ein Sportinternat zu gelangen und für Olympia gefördert zu werden?

»Herzlichen Glückwunsch!«, schrie der Mann am Mikrofon über die Menschen hinweg, während er dem Mädchen, das den dritten Platz belegt hatte, eine Urkunde überreichte, lächelnd ihre Hand schüttelte und anschließend eine Bronzemedaille über ihren Kopf um ihren Hals legte.

Mr Taylor – Jasons Vater - verteilte die Urkunden und Medaillen persönlich. Das war Grund genug, damit mein Herz mir endgültig in die Hose rutschte. Ich wollte diesem Mann nicht direkt gegenübertreten und ihm schon gar nicht die Hand schütteln. Gewiss waren meine Finger zusätzlich noch ziemlich verschwitzt von der Fahrradfahrt hierher. »Ein super Ergebnis und ein schöner Lauf!«

In meiner Umgebung wurde noch lauter geklatscht und einige stampften sogar mit den Füßen auf die Holzdielen am Boden, um ihr Grölen zu verstärken.

»Aber es gibt ein Mädchen, das diese Zeit noch um fast zwei Minuten – zwei Minuten, meine Damen und Herren! – untertreffen konnte. Applaudieren Sie für eine talentierte Läuferin, die nur knapp am ersten Platz vorbeirannte. Joline Thompson!«, fuhr der Mann am Mikro fort.

Mein Kopf wollte nicht realisieren, dass ich soeben wirklich nach vorne gerufen worden war, dass mein Name gefallen war. Die Sekunden, in denen ich mich wie in Trance umsah und die vielen anerkennend nickenden Gesichter bemerkte, waren viel zu schnell vorbei. Ich verbannte die Fassungslosigkeit aus meinen Gliedern, zwang mir ein Lächeln auf die Lippen und ging aufrecht, den Kopf leicht erhoben, auf Mr Taylor zu. Ich dachte daran, wie Helen zu ihm schreiten würde und dass ich das auch konnte. Nicht so gut, aber ich gab mein Bestes, um in dieser Rolle als zweite Siegerin aufzugehen. Bloß nicht zu überheblich, nicht zu traurig, nicht zu hibbelig. Ruhig – gleichmäßig - und glücklich. Das zarte Lächeln für die Presse.

Mr Taylor reichte mir mit einem viel zu freundlichen, aufgesetzten Lächeln die Hand und zog mich näher zu sich. Erschrocken wollte ich einen Schritt zurückweichen, sein Griff war allerdings so fest, dass mir dies nicht glückte. Er beugte sich leicht zu mir und flüsterte etwas in mein Ohr, das mir eine Gänsehaut bescherte.

»Pass auf dich auf, Joline. Zwischen den Fronten überleben die Wenigsten lange!«

Seine zuvor makellose Maske hatte für eine winzige Sekunde Risse bekommen, aber das war anscheinend lediglich mir aufgefallen, denn die Leute klatschten munter weiter.

Meine Nackenhärchen hatten sich aufgestellt und mein Magen begann abermals Loopings zu schlagen, sodass mir übel wurde. Hoffentlich war ich nicht so blass, wie ich mir gerade vorkam. Der Handdruck von Mr Taylor wurde nochmals fester und über seine Augen erreichte mich eine stille Drohung. Oder bildete ich mir das etwa ein? War da gar nichts und meine Gefühle spielten mir einen Streich? Diese ganze Aufregung war mit Sicherheit einfach zu viel für mich.

Und was sollte das heißen, dass ich auf mich aufpassen sollte? Es war doch gar nichts los? Welche Fronten? Wovon hatte dieser Mann gesprochen?

Als wäre nichts geschehen, drückte er mir die Urkunde mit Name, Zeit, Ort, Datum und sämtlichen Stempeln und Unterschriften in die Hand. Wie bei meiner Vorgängerin erhielt ich danach eine Medaille – eine silberfarbene.

Nachdem das getan war, wandte er sich nochmals mit mir zusammen den Reportern zu, die eilig ein paar Fotos machten und mir ihre Fragen förmlich an den Kopf warfen.

»Was ist das für ein Gefühl? – Zweite zu sein?«

»Wie lange läufst du schon?«

»War das Sportinternat schon immer dein Ziel?«

»Bist du nicht traurig, dass du keine Chance mehr für den Platz im Internat hast?«

Ich antwortete auf keine der Fragen. Dafür waren sie mir schlichtweg zu blöd und einige Aussagen sogar falsch. Mit einem selbstsicheren Lachen lief ich zu dem Mädchen, das auf dem dritten Platz des Podests stand, und reichte diesem die Hand, um ihr zu ihrem Erfolg zu gratulieren. Das erledigt, nahm ich meinen Platz ein und schaute zu Lisa, die mir beide Daumen entgegenstreckte und bis über beide Ohren strahlte.

Schließlich trat Helen neben mich auf das höchste Treppchen, streckte ihre Medaille lachend in die Höhe und umklammerte ihre Urkunde vor dem Bauch. Sie trug ein elegantes, schwarzes Kleid, das ihr gerade so über die Hüfte reichte und ihre Kurven betonte. Ihre Haare fielen auf ihre Schultern und beim Lachen konnte man ihre weißen Zähne erkennen. Ich fragte mich, wie jemand auf ähnliche Weise wie Helen gleichzeitig selbstbewusst, schön und sportlich sein konnte. Auf einer Skala von eins bis zehn war dieses Mädchen eine neun. Ihr Charakter war für den Minuspunkt verantwortlich. Kein Wunder, dass sie Jason den Kopf verdreht hatte.

Jason. Die Tür zum Gemeindehaus schwang auf und der Junge mischte sich unter die Menschen, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt, zu spät zu kommen, alle Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und danach einfach unterzutauchen.

Nach dem Blitzlichtgewitter streckte ich Helen freundschaftlich meine Hand entgegen und wollte ihr gratulieren, aber sie würdigte mich bloß mit einem nicht wirklich, oder? Blick, bevor sie nach weiteren Posen und den Abschiedsworten von Mr Taylor vom Podest stieg. Zielstrebig steuerte sie die Pressesprecher an, warf sich gekonnt in Szene und beantwortete die auf sie einregnenden Fragen, als hätte sie nie etwas anderes gemacht.

Ich wollte zum Ausgang eilen und draußen etwas Luft schnappen. Dabei fiel mein Blick jedoch auf Jason, der gar nicht in der Menge verschwunden war, sondern sich lässig an die Wand gelehnt hatte und mich belustigt anstarrte.

Wut stieg ungewollt in mir auf. Er hatte die Abfuhr von Helen bestimmt mitbekommen und lachte mich deshalb innerlich aus. Wieso ging er nicht ihr auf die Nerven? Sicherlich freute sie sich, wenn Jason sich neben den Presseleuten an ihre Seite stellte und einen guten Eindruck machte.

Kurz überlegte ich, doch nicht das Gebäude zu verlassen. Entschied mich allerdings schlussendlich doch dafür. Dieser Junge durfte mein Leben und mich nicht beeinflussen. Was machte ich mir eigentlich schon wieder darüber Gedanken?

Ich beglückwünschte mich zu meiner Dummheit, ihn überhaupt eines Blickes gewürdigt zu haben. Ignoranz wäre an dieser Stelle gewiss von Vorteil gewesen.

Lisa war dabei, sich zu mir durchzukämpfen. Mit ihr wollte ich in diesem Augenblick aber am allerwenigsten reden. Ich musste für ein paar Minuten alleine sein, um meine Gedanken und Gefühle zu ordnen. Das Chaos brachte mein Gehirn womöglich zum Platzen, wenn das so weiterging.

Ohne länger abzuwarten, rannte ich los. Jeder, der mir im Weg stand, bekam meine Ellbogen zu spüren, wofür ich den ein oder anderen Fluch kassierte. Das spielte aber keine Rolle für mich – nicht jetzt.

Erleichtert streckte ich meine Hand nach dem Türgriff aus und holte tief Luft, da ich es tatsächlich bis zu diesem Ort geschafft hatte, ohne von Lisa erreicht zu werden oder mich von Jason ablenken zu lassen.

Eine warme Hand legte sich auf meine Schulter und eine weitere umfasste meinen ausgestreckten Arm. Seine raue Hand strich über meine Haut und hinterließ ein heißes Brennen, durch das ich zu frösteln begann. Ich musste mich nicht umdrehen, um zu wissen, dass ich in die einmalig blauen Augen sehen würde, die mich sofort in ihren Bann rissen.

Ich spürte seinen Atem an meinem Ohr, als er seinen Kopf an meinen Hals legte, was für einen Kurzschluss in meinem Gehirn sorgte. Sämtliche Sicherungen, die mögliche Warnsignale abgegeben hätten, waren durchgebrannt und zurück blieb eine gespenstische Leere. Eine Leere, die nicht aus Dunkelheit oder Ähnlichem bestand, nein. Ich war der Sprache nicht mehr mächtig und glaubte, jegliche Worte verlernt zu haben, da nichts mehr aus mir herauskommen wollte. Dafür presste er seinen Bauch viel zu eng an meinen Rücken und löste zu viele Gefühle durch seinen an mich gelehnten Kopf in mir aus.

Er spielte mit mir wie mit einer Puppe. Dessen war ich mir bewusst und der Zeitpunkt, ihn von mir zu stoßen, ihm eine zu scheuern und abzuhauen, war längst gekommen. Aber mein Körper war wie versteinert.

»Joline, wo wollen wir denn so schnell hin? Die Party fängt doch gerade erst an«, hauchte er in mein Ohr. Ein Schub von Emotionen überlief mich heiß.

»Partys sind nicht so mein Ding. Wenn du mich also bitte entschuldigen würdest, Jason«, erwiderte ich ebenso leise.

Ich wollte mich aus seiner Umarmung befreien, aber Jason riss mich abrupt zu sich herum und nagelte mich mit seinen durchdringenden Augen an die Wand hinter meinem Rücken.

»Kein Wort zu niemandem, verstanden?« Seine Tonlage hatte sich schlagartig verändert. Von dem eben noch charmanten Jungen war nichts zurückgeblieben. An seine Stelle war ein verärgerter junger Mann getreten, der mein Handgelenk nun so fest drückte, dass es weh tat.

Ich verzog meine Lippen zu einem schmalen Strich und bemühte mich, Jason standzuhalten. Ich würde nicht aufgeben und mich wie ein kleines, schüchternes Mädchen verziehen. Das konnte er vergessen. »Hast wohl Schiss bekommen, was? Dein Ruf schwebt in Gefahr, sollte jemand erfahren, dass ausgerechnet du mir deine Nummer zugesteckt hast und es nicht andersherum passiert ist. Du machst mich verdammt neugierig auf dieses Angebot, das du mir gegeben hast, weißt du das? Aber schmink es dir ab, dass ich darauf eingehe. Auf das Niveau begebe ich mich nicht hinunter, träum weiter. Ich werde mich dir nicht zu Füßen werfen«, entgegnete ich kühl. Ich war selbst erstaunt, dass mir dies gelang, ohne mit der Wimper zu zucken oder die feste Stimme zu verlieren.

»Verdammt, Joline! Darum geht es gar nicht!«

»Ach nein? Du hast mir immer noch nichts zu sagen. Gut, es bleibt dir überlassen, es zu versuchen. Erfolgreich wirst du damit weniger sein. Lass mich in Ruhe!« Mittlerweile schrie ich fast und ein Pärchen, das in unserer Nähe stand, schenkte uns überraschte Gesichter.

»Nicht so laut! Es …«, fing Jason ein weiteres Mal an, wurde allerdings erbarmungslos von mir unterbrochen.

»Ich verbringe meine Zeit, mit wem ich will und ich rede so laut, wie ich es möchte. Einen schönen Abend!«

Jasons Maske fiel ihm von seinem Gesicht. Was ich darunter zu sehen bekam, war alles andere, als das, was ich erwartet hatte. Seine sonst unveränderten Züge entglitten ihm, er schloss die Augen und holte tief Luft. Seine Haut war blass geworden und seine Kieferknochen traten deutlich unter seinen Bartstoppeln, die er über das Kinn, unter der Nase und bis zu den Ohren hatte, hervor.

Ich schluckte, um den Kloß aus meinem Hals zu bekommen, der sich schlagartig gebildet hatte. Mitleid war an dieser Stelle wirklich nicht angebracht, fand ich. Er hatte mich hinterhältig ausnutzen wollen. Ich war nicht wie seine anderen Mädchen und wollte schon gar nicht zu seiner dämlichen Liste gehören. Ob Helen davon wusste – von dieser Liste, die es angeblich nicht gab? Ich bezweifelte es. Ebenso, dass sie eine Ahnung hatte, was er soeben mit mir abgezogen hatte. Allerdings gab es genügend Zuschauer, die es ihr berichten konnten. Wenn Jason unauffällig hatte mit mir reden wollen, war ihm das in jeder Hinsicht misslungen.

Mit zügigen Schritte rannte ich hinter einem anderen Mädchen aus der Tür. Das Mädchen verließ kurz darauf mit einem Auto die Auffahrt und ich blieb alleine zurück. Meine Lunge wurde durch die klare Luft von dem Kloß befreit und es kam mir vor, als würde ich das erste Mal, seit ich das Gemeindehaus betreten hatte, erneut richtig zu Atem kommen.

Ich stellte mich links neben der Tür in eine Nische und drückte meinen Rücken so fest an die rauen Steine, dass es schmerzte. Unter keinen Umständen wollte ich gesehen werden. Jason sollte mir nicht nachlaufen und Lisa durfte mir ebenso wenig begegnen.

Richtig geraten: Jason tauchte tatsächlich draußen auf und schaute sich aufgelöst um. Gott, er wirkte in der Tat ziemlich fertig. Das konnte unmöglich an mir alleine liegen. Sollte ich den Platz im Schatten doch aufgeben und ihn zur Rede stellen, was los war? Nein, dieser Kerl hatte eine Abfuhr sowas von verdient. Heute würde ich mich nicht für mein Verhalten rechtfertigen.

Zu meinem Erstaunen lief Lisa nicht an ihm vorbei, sondern blieb neben ihm stehen und verschränkte herausfordernd die Arme vor ihrer Brust. »Wo ist Joline?«

»Ich habe keine Ahnung.«

»Jetzt stell dich nicht dümmer, als du bist. Du bist doch schuld daran, dass sie hinausgestürmt ist! Was hast du zu ihr gesagt? Was hast du getan?«, drängte Lisa, wobei ich deutlich ihre Anspannung zwischen den Sätzen wahrnehmen konnte. Sie war aufgeregt. Weil sie mit Jason sprach? Weil ich abgehauen war?

»Scheiße!« Fluchend trat Jason mit einem Fuß vor sich in die Luft, drehte sich um und tauchte im Dunkeln ab, ohne ihr eine Antwort zu geben.

Mein Herz hämmerte noch lauter in meiner Brust als bereits zuvor. Was war das denn für eine Reaktion gewesen? Irgendwie hatte ich mit fast allem gerechnet, nur nicht mit einem solchen Gefühlsausbruch.

Lisa schien es sehr ähnlich zu ergehen, denn sie verharrte noch eine ganze Weile genau an der Stelle, an der sie vor Jason stehen geblieben war, bevor sie kopfschüttelnd erneut das Gemeindehaus betrat und aus meinem Blickfeld verschwand.

Die Kälte kroch von meinen Füßen meine Beine hinauf und beim Anblick meiner Turnschuhe musste ich grinsen. Helen musste mich für völlig bescheuert gehalten haben, dass ich mich in einer solchen Verfassung auf’s Podest zu stellen gewagt hatte. Mit ihren schwarzen Highheels konnten meine Schuhe in der Tat nicht mithalten. Aber wieso dachte ich dermaßen häufig über Helen nach und verglich mich mit ihr? Konnte mir dieses Mädchen nicht am Allerwertesten vorbeigehen?

Ich war nicht sie und wollte es irgendwie auch gar nicht sein. Manchmal gefiel mir meine seltsame, dickköpfige Art sogar, aber das würde ich selbstverständlich niemals laut zugeben.

3 – Enry Thompson

Mit rasendem Herzen hielt er den Wagen vor dem Wohnhaus an. Seine Frau Lyss saß auf dem Beifahrersitz, Schweiß rann ihr die Stirn hinunter und ihr Körper zitterte unter den Qualen.

Hoffentlich konnte Ella – ihre Hebamme - ihren Schmerzen bald ein Ende bereiten, wenn sie Lyss bei der Geburt behilflich war. Ellas Tochter Sanja würde ihnen gewiss zusätzlich unter die Arme greifen.

Enry wusste, dass das Mädchen - wie seine eigene Tochter Joline auch - vom Laufen begeistert war und er sich schon häufiger vorgestellt hatte, wie Sanja und Joline gute Freundinnen werden konnten. Aber das war nicht möglich. Sanja war eine von ihnen, Ella wusste zumindest von der Existenz dieser Fähigkeit und somit war Joline bisher die einzige in der Familie und in ihrem Freundeskreis, welche weder die Gabe besaß, noch eine Ahnung hatte, dass diese existierte. Unter keinen Umständen durfte seine Tochter von dieser Gabe erfahren oder Verdacht schöpfen, dass etwas mit ihnen – mit Lyss und ihm - nicht stimmte. Auch Sanja durfte ihre wahre Gestalt nicht vor Joline offenbaren und Steve und Ella waren gezwungen, den Mund zu halten, wenn keine Schwierigkeiten entstehen sollten.

Nachdem er den Motor abgestellt und den Schlüssel in seine Tasche gesteckt hatte, sprang Enry aufgeregt aus dem Auto. Er hechtete mit eiligen Schritten um den Wagen herum und öffnete seiner Frau die Autotür. Ella – die nicht nur eine Hebamme, sondern inzwischen auch Freundin ihrer Familie war - kam aus dem Haus gerannt, begrüßte ihn nur flüchtig mit einem Nicken und griff Lyss danach mit unter die Arme, um der schwangeren Frau aus dem Auto zu helfen.

Eigentlich war Enry froh, da bis jetzt alles nach Plan verlaufen war und selbst der Stichtag auf die Stunde genau hatte vorhergesagt werden können. Lyss brachte kein gewöhnliches Kind zur Welt. So viel stand fest.

Obwohl Ella und er seine Frau nur langsam zum Haus begleiten konnten, schafften sie es rechtzeitig in das Innere. Keiner der Nachbarn würde Zeuge bei der Geburt werden und würde damit auch nicht mitbekommen, dass Lyss erst seit neun Tagen ein Kind im Bauch trug.

Das Bett, auf dem sie Lyss niederlegten, stand gleich im Zimmer neben dem schmalen Flur. Sanja hatte sich mit einer Schale warmen Wassers an das Fußende gesetzt und guckte ihrer Mutter zu, wie diese Lyss aus ihrer Kleidung befreite. Lyss schrie sich die Seele aus dem Leib und ihr Gesicht war mittlerweile rot angelaufen. Sobald Enry die Haut seiner Frau mit seiner Hand berührte, zuckte er verängstigt zusammen. Sie glühte förmlich und war klatschnass. Das konnte unmöglich normal sein.

Gerne wäre er auf- und abgelaufen, um seiner Nervosität Raum zu geben, aber das hätte womöglich bei Lyss für Unruhe gesorgt und das wollte er nicht. Besser er stellte seine eigenen Bedürfnisse für die nächste Zeit in den Hintergrund, damit er für seine Frau da sein konnte.

Das weiße Laken, auf dem Lyss lag, verfärbte sich durch die geplatzte Fruchtblase relativ schnell und Enry betete, dass bei der Geburt alles gut ging. Er vertraute auf das Können von Ella und Sanja. Währenddessen quetschte seine Frau ihm förmlich seine Hand ab und Enry war sich unsicher, ob ihm die Finger nur eingeschlafen oder bereits abgefallen waren.

Ihm kam die Zeit unendlich lang vor, in der er am Kopfende des Bettes hockte und seiner Frau Beistand leistete. Sanja reichte ihrer Mutter, was diese brauchte und sagte dabei keinen Ton. Insgesamt wurde die Stille lediglich durch das Schreien von Lyss durchbrochen und Enry befürchtete, ein Nachbar könnte doch vorbeischauen und sich erkundigen, ob alles in Ordnung wäre. Aber es kam niemand.