Seelische Trümmer - Bettina Alberti - E-Book

Seelische Trümmer E-Book

Bettina Alberti

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Beschreibung

Traumata und seelische Verletzungen der Nachkriegsgeneration verstehen

2020 liegt das Ende des Zweiten Weltkriegs 75 Jahre zurück. Doch noch heute leiden viele Menschen unter vielfältigen Traumata. Selbst bei den längst erwachsenen Kindern der Kriegskinder zeigen sich Gefühle von Einsamkeit, Unsicherheit, Angst und Entwurzelung. Menschen, die in den 1950- und 1960er-Jahren geboren sind, tragen häufig eine kollektiv anmutende seelische Verletzung in sich, die durch die besondere Bindungs- und Erziehungserfahrung der Nachkriegszeit begründet ist.

Bettina Alberti lässt in ihrem Buch viele der heute 50- bis 70-Jährigen zu Wort kommen und zeigt an deren Beispiel, welche Folgen das kollektive deutsche Kriegstrauma auf diese Generation hatte und mit welchen besonderen Aufgaben sie betraut war – erschwert durch die selbst erlebte Phase des Kalten Krieges und der Teilung Deutschlands. Eine 1959 Geborene formuliert diese Aufgabe so: »Unsere Eltern räumten die Trümmer der zerstörten Häuser mit den Händen weg – wir, die nächste Generation, sind mit dem Aufräumen der seelischen Trümmer beschäftigt.«

Die Autorin zeigt darüber hinaus, wie es mit psychotherapeutischer Begleitung möglich ist, die Hintergründe der eigenen seelischen Verletzung zu verstehen, die Familien- und die kollektive Geschichte zu betrauern, die Sprache der Seele wiederzufinden und psychische Weiterentwicklung zu ermöglichen.

In die erweiterte Neuausgabe hat die Autorin Eindrücke und Rückmeldungen aus den vielen Vorträgen der vergangenen Jahre zum Thema dieses Buches aufgenommen, außerdem einen Bezug zur aktuellen Flüchtlingsthematik der vergangenen vier Jahre hergestellt sowie den Aspekt der (neuen) Ost-West-Spaltung im Kapitel über die deutsche Teilung erweitert.

Abgeschlossen wird dieses wichtige Buch durch ein ausführliches und einfühlsames Nachwort von Anna Gamma, der langjährigen Leiterin des Lassalle-Instituts in Bad Schönbrunn in der Schweiz.

  • Überarbeitete und erweiterte Neuauflage: Mit Bezug zur aktuellen Flüchtlingsthematik und Aspekten der neuen Ost-West-Spaltung
  • Über 33.000 verkaufte Exemplare der Originalausgabe
  • 75 Jahre nach Kriegsende beschäftigen die Folgen des Kriegstraumas weiterhin die Nachkriegsgeneration
  • Mit vielen Erfahrungsberichten und einem Nachwort von Anna Gamma
  • Rege Vortragstätigkeit der Autorin

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Seitenzahl: 249

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Die Autorin

Bettina Alberti, geboren 1960, ist Diplom-Psychologin, Psychologische Psychotherapeutin und tiefenpsychologisch orientierte Körpertherapeutin in eigener Praxis in Lübeck. Sie ist außerdem in der Fortbildung und als Supervisorin tätig. Ihr besonderes Interesse gilt der Bedeutung von Kontakt und Bindung für die psychische Entwicklung des Menschen unter der Berücksichtigung traumatischer Erfahrungen.

www.koerpertherapie-luebeck.de

Das Buch

2020 liegt das Ende des Zweiten Weltkriegs 75 Jahre zurück. Doch noch heute leiden viele Menschen unter vielfältigen Traumata. Selbst bei den längst erwachsenen Kindern der Kriegskinder zeigen sich Gefühle von Einsamkeit, Unsicherheit, Angst und Entwurzelung. Menschen, die in den 1950- und 1960er-Jahren geboren sind, tragen häufig eine kollektiv anmutende seelische Verletzung in sich, die durch die besondere Bindungs- und Erziehungserfahrung der Nachkriegszeit begründet ist.

Bettina Alberti lässt in ihrem Buch viele der heute 50- bis 70-Jährigen zu Wort kommen und zeigt an deren Beispiel, welche Folgen das kollektive deutsche Kriegstrauma auf diese Generation hatte und mit welchen besonderen Aufgaben sie betraut war – erschwert durch die selbst erlebte Phase des Kalten Krieges und der Teilung Deutschlands. Sie zeigt darüber hinaus, wie es möglich ist, die Hintergründe der eigenen seelischen Verletzung zu verstehen, die Familien- und die kollektive Geschichte zu betrauern, die Sprache der Seele wiederzufinden und psychische Weiterentwicklung zu ermöglichen.

In der erweiterten Neuausgabe hat die Autorin den Aspekt der (neuen) Ost-West-Spaltung im Kapitel über die deutsche Teilung erweitert, einen Bezug zur aktuellen Flüchtlingsthematik der letzten Jahre hergestellt sowie Eindrücke und Rückmeldungen aus vielen Vorträgen der vergangenen Jahre zum Thema dieses Buches verarbeitet.

Bettina Alberti

Seelische Trümmer

Geboren in den 50er- und 60er-Jahren: Die Nachkriegsgeneration im Schatten des Kriegstraumas

Mit einem Nachwort von Anna Gamma

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Copyright © 2010 Kösel-Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlag: Weiss Werkstatt München,

nach einer Idee von Kaselow Design, München

Umschlagmotiv: Charles Hewitt/Hulton Archive/Getty Images

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-25847-4V002

www.koesel.de

Inhalt

Einleitung

Was weiß ich über meine Eltern?

Erwachsene Kinder kriegsbelasteter Eltern erzählen

»Ich trage einen Schmerz, der meiner ist und doch nicht meiner« · Miriam, geb. 1959, Erzieherin, erzählt

»Krieg ist das Schlimmste« · Corinna, geb. 1963, Kinderärztin, erzählt

Psychisches Trauma und seine Auswirkungen auf die Seele

Die Folgen des kollektiven deutschen Kriegstraumas

»Der Krieg kostet den Soldaten fünf Jahre seines Lebens – aber kostet der Krieg nicht überhaupt das Leben?« · Franka, geb. 1965, Lehrerin, erzählt

Die Bedeutung von Bindung für die seelische Entwicklung

»Meine Eltern wollten nichts als leben« · Barbara, geb. 1959, Psychotherapeutin, erzählt

Bindung als Entwicklungsraum

»Es sind Werte entstanden, ein einfaches Leben zu führen – und wir halten zusammen« · Sebastian, geb. 1958, Diplom-Pädagoge, erzählt

Das Leid der Kriegskinder

»So viel Kummer und so viel Glück«· Joachim, geb. 1944, Soziologe, erzählt

Kindheit und Krieg

Bindung und Nationalsozialismus

Staatlich verordnete Bindungstraumatisierung: Die Hitler-Jugend

Die Folgen der NS-Erziehung für die Bindungsentwicklung

Beziehung und Erziehung mit belasteter Seele

Kriegskinder als Eltern

Die Unüberbrückbarkeit der Welten

Der schwierige Umgang mit dem Fühlen

Mitgefühl: Ohne Fühlen kein Mitgefühl

Funktionieren

Transgenerational vermittelte Angst

Angst als Kontrollmittel

Die ganz alltägliche Gewalt

Nicht mit euch und nicht mit mir – Seelische Einsamkeit als Normalzustand

Emotionell missbräuchliche Bindung: Wenn Kinder versuchen, den Schmerz der Eltern zu heilen

Transgenerationale Schuld und Scham

Stolz und Selbstbewusstsein – das verbotene Gefühl der Deutschen

Kriegsfolgen: Leben mit dem Kalten Krieg, leben mit der Teilung Deutschlands

Der Kalte Krieg und seine Auswirkungen auf die Generation der in den 50er- und 60er-Jahren Geborenen

Zwei Staaten – ein Deutschland

»Nie wieder werde ich einer Ideologie trauen, das ist sicher« · Susanne, geb. 1968, Krankenschwester aus Thüringen, erzählt

»Da ist das Brüchige, das Beschädigte, das Ringen um das, was bleibt …« · Andrea, geb. 1968, Produktmanagerin, erzählt

»Leben in der ›Diktatur des Proletariats‹« · Martin, geb. 1973, Landschaftsarchitekt, erzählt

Wege aus transgenerationaler Traumatisierung – die Verleugnung der Seele überwinden

Die Ermächtigung zum Fühlen

Das Verstehen von Zusammenhängen

Alte Eltern heute

Frieden mit der familiären Vergangenheit, Frieden mit sich selbst

Flucht damals – Flucht heute: Ist die aktuelle Flüchtlingskrise eine Krise der Humanität?

Ausblick: Die nächste Generation

Ausklang

Ein-Blick von außen – ein Nachwort von Anna Gamma

Anmerkungen

Bibliografie

Einleitung

Warum ein Buch über die in den 50er- und 60er-Jahren Geborenen aus Sicht der Psychotherapie? Menschen dieser Generation tragen häufig eine kollektiv anmutende seelische Verletzung in sich: Sie spiegelt ihre durch die Nachkriegszeit geprägten Bindungs- und Erziehungserfahrungen wider. In der Psychotherapie mit diesen Kindern der – meist – Kriegskinder, manchmal auch ehemaligen Kriegsteilnehmer, zeigt sich eine oft tief empfundene Einsamkeit, ein diffuses, depressives Lebensgrundgefühl, eine Unsicherheit, sich selbst sein zu dürfen, die immer wiederkehrende Frage nach dem eigenen Wert und die Angst vor Gefühlen. Dies ist mir und meinem Mann Heiner Alberti in Gesprächen über unsere seit über 30 Jahren praktizierte psychotherapeutische Begleitung von Menschen deutlich geworden. Und so sind viele Gedanken und Ausführungen zur Thematik dieses Buches in der Zusammenarbeit zwischen uns entstanden.

Die Folgen der elterlichen Kriegsbelastung für die erwachsenen Kinder verbergen sich oft hinter einem gut funktionierenden Pseudoselbst. Denn eine Botschaft in den 50er- und 60erJahren war auf seelischer Ebene eben ihre Verleugnung: Die Kriegstraumatisierung der Familien war unverarbeitet, das Erleben von existenzieller Not, von unfassbarer Zerstörung, von Verlust, von tiefer Schuld, Beschämung und seelischer Entwurzelung wirkte nach. Die zu Eltern gewordenen ehemaligen Kriegskinder hatten es teilweise schwer damit, die Seele ihrer jetzt eigenen Kinder in ihrem Bedürfnis nach Liebe und Anerkennung anzunehmen. Sie selbst waren in einer Zeit aufgewachsen, die die seelische Dimension des Lebens eingeschränkt oder zerstört hatte. Die nationalsozialistische Doktrin mit ihrer Idee des »unwerten Lebens« beanspruchte für sich das Recht auf Vernichtung auch bezüglich geistigen und seelischen Seins.

Traumatische Erfahrungen können in Menschen lange weiterwirken und das Fühlen, Denken und Handeln beeinflussen. Aus der Traumatherapie wissen wir, wie viel Mut und schmerzvolle Einsicht, aber auch Befreiung es bedeutet, die eigene Seele wieder öffnen zu lernen, wieder lieben zu können und zu dürfen und Entspannung zu finden. Die Kinder der Kriegskindergeneration blieben zwar von den realen Schrecken des Krieges verschont, in der äußeren Welt herrschte wieder Frieden, nicht aber in der inneren, seelischen Welt. In deutschen Familien spielten sich in den 50er- und 60er-Jahren andere Kriege ab. Der Versuch, mühsam aufgebaute seelische Überlebensstrategien aufrechtzuerhalten, hatte seinen Preis. Erfolgreiche Filme wie Das Wunder von Bern1, Teufelsbraten2 und der schon in den 70er-Jahren produzierte und in der Bundesrepublik zunächst abgelehnte, im Ausland jedoch sehr anerkannte Film Deutschland bleiche Mutter3 versuchen, diese Dynamik aufzuzeigen. 2019 beeindruckte die hohe Zahl der Zuschauer des in den 60er-Jahren spielenden autobiografischen Films Der Junge muss an die frische Luft. Die Geschichte des kindlichen Hape Kerkeling zeigt einen Jungen, der vergeblich versucht, seine durch Kriegserfahrungen schwer depressiv gewordene Mutter emotional zu retten und sich als versagend und schuldig erlebt.

Nicht zu fühlen, was ist, ist einer unserer wichtigsten Überlebensmechanismen bei Bedrohung. Funktionieren, verdrängen, verleugnen, sich zurückziehen, nichts mehr zeigen von der inneren Wirklichkeit – ohne diese Fähigkeiten könnten Menschen in einer traumatischen Situation geistig und seelisch nicht überleben. Krieg ist aber eine der traumatischsten Situationen in dieser Welt, und so verschlossen diejenigen, die den Zweiten Weltkriegerlebt hatten, oftmals ihren inneren Seelenraum. Dies wirkte transgenerational auf die nächste Generation. Die Kriegstraumatisierung und die Prägung durch die NS-Paradigmen brachte viele Eltern dieser Zeit dazu, der Seele ihrer Kinder nicht begegnen zu können, was bei diesen Selbstverleugnung, Einsamkeit und Lebensangst bewirkte. Der Bindungssehnsucht Raum zu geben und das eigene Selbst zu besetzen, ohne in Narzissmus abzudriften, ist für die Generation der in den 50er- und 60er-Jahren Geborenen vor dem Hintergrund ihrer kriegsbelasteten Familienbiografie eine kollektive Aufgabe. »Unsere Eltern räumten die Trümmer der zerstörten Häuser mit den Händen weg – wir, die nächste Generation, sind mit dem Aufräumen der seelischen Trümmer beschäftigt«, sagt eine 1959 Geborene. Das braucht Anerkennung.

Ein wichtiger Aspekt dabei ist transgenerational vermittelte Schuld für die Verbrechen des Nationalsozialismus. Die Tätergeneration ist bis auf wenige Ausnahmen inzwischen nicht mehr am Leben. Im Juli 2015 wurde einer der wahrscheinlich letzten Prozesse gegen einen 94-jährigen ehemaligen Aufseher in Auschwitz unter Anhörung von noch lebenden ehemaligen Opfern vor dem Landgericht Lüneburg unter großem öffentlichem Interesse verhandelt. Kollektive Schuld wandelt sich langsam zu Verantwortung für das Bewahren von Erinnerung. Joachim Gauck konstatierte zum 70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz 2015: »Auschwitz gehört zur deutschen Identität.«Als Ausdruck einer sich verändernden politischen Landschaft beklagte der AfD-Bundestagsabgeordnete Marc Jongen 2019 zu diesem Thema: »Unsere Jugend wird systematisch zu Schuld und Scham über ihr Deutschsein erzogen.«

Der Zustand der Außenwelt in Kindheit und Jugend der in den 50er- und 60er-Jahren Geborenen hinterließ seine Spuren. Kein Kriegsgeschehen mehr in Deutschland, zum Glück, aber ein chronischer politischer Spannungszustand. Ein dazu 2008 herausgegebenes Heft »Spiegel Special Geschichte« trug den Titel »Der Kalte Krieg – Wie die Welt das Wettrüsten überlebte«. Wie aber wurde das Wettrüsten seelisch überlebt? Die nukleare Bedrohung war vielen über einen langen Zeitraum hinweg gegenwärtig. Die Friedensbewegung der 80er-Jahre in der Bundesrepublik und der kollektiv vermittelte Wunsch nach Frieden in der DDR boten neben der politischen Zielsetzung die Möglichkeit, der Kriegsangst in einer Gemeinschaft Ausdruck zu verleihen. »Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin« wurde zum geflügelten Wort, das die politische Situation ad absurdum führte.

Im August 1968 war ich durch die berufliche Tätigkeit meines Vaters zufällig in Prag, als die sowjetische Armee die Stadt besetzte. Ein kurzer Geschmack von Krieg, der mich als achtjähriges Mädchen erschütterte. Die plötzlich wieder erlebte Bedrohung durch »die Russen« war für meine 1945 als Kind aus Ostpreußen geflüchtete Mutter und für meinen 1959 aus der DDR geflohenen Vater, ebenfalls Kriegskind, unaussprechlich. Für mich also eine Ahnung von Krieg – und welch ein Glück, kein Kriegskind gewesen zu sein, sondern nur ein Kind kriegstraumatisierter Eltern, nur ein Kind des Kalten Krieges!

Eine weitere unmittelbare Folge des Krieges wirkte weit in die Nachkriegszeit bis 1989: die Teilung Deutschlands. Diejenigen, deren Familien getrennt worden waren, die Eltern oder Geschwister, Freunde und Kollegen im anderen Teil Deutschlands hatten, wurden damit konfrontiert. Kollektiv konnte die Kriegswunde der Spaltung nicht heilen und wird neben aller Freude über die Wiedervereinigung noch einige Zeit des gemeinsamen seelischen Heilungsbemühens brauchen.

Eine neue Ost-West-Spaltung ist im Jahr 2019, 30 Jahre nach der Wende, spürbar. Mangelndes Verständnis füreinander, mangelndes Wissen voneinander und eine Wiedervereinigungspolitik, die für viele DDR-Bürger neben guten neuen Erfahrungsmöglichkeiten auch zu Frustration und Identitätsverlust führte, scheint dazu beizutragen. Die Folgen der noch heute wirkenden politischen Systemtraumatisierung, der viele in der DDR lebende Menschen ausgesetzt waren, werden relativ wenig thematisiert.

Wie erlebt die mittlere Generation die alten Eltern heute, ihre nicht nur altersbedingte Bedürftigkeit? Wie begegnen die heute 50- bis 70-Jährigen der Aufgabe des Generationenvertrages? Geht es hier auch um Versöhnung, um Annäherung, um ein Annehmen des gravierend unterschiedlichen Erfahrungshintergrundes dieser beiden Generationen? Trennt die Kriegserfahrung unwiderruflich die jetzt älteste und durch den Krieg primär traumatisierte Generation von ihren Kindern, die von transgenerationaler Traumatisierung betroffen sind?

Die Folgen für eine seelische Integrität beeinflussen nicht nur das Schicksal eines Menschen vor dem Hintergrund seiner individuellen Biografie. Sie initiieren darüber hinaus ein in die Gesellschaft hineinwirkendes kollektives Geschehen. Das Verstehen von Zusammenhängen, das Betrauern der Familien- und der kollektiven Geschichte, das Erlauben der Sehnsucht und die Wiederermächtigung der Seele können Wege der psychischen Weiterentwicklung ermöglichen. Die Sprache der Seele will wiedergefunden, der innerseelische Krieg beendet werden.

Seit 2014 kommen wir auf neue Weise in Berührung mit Kriegsgeschehen in der uns umgebenden Welt. Angesichts der humanitären Aufgabe, von Krieg und Verfolgung bedrohte Flüchtlinge aufzunehmen und zu unterstützen, stellt sich die Frage nach unseren humanitären Werten. Ein Rückbezug zu Gefühlserbschaften von Fluchterfahrungen in Deutschland im Kontext des Zweiten Weltkriegs ist sinnvoll.

Auch die nächste Generation, die Generation eines wiedervereinigten Deutschlands ohne Kalten Krieg, ist sicherlich noch geprägt von der Suche ihrer Eltern nach seelischer Befreiung, nach Identität und Einbindung und trägt die kollektive Traumaverarbeitung mit. Gemeinsam mit ihrer Eltern- und Großelterngeneration haben die heutigen jungen Erwachsenen darüber hinaus andere Aufgaben durch neue kollektive Bedrohungen. Es gibt jedoch auch andere Spielräume der Lebensgestaltung und Lebenserfüllung. Der wiederzugewinnende Raum für die Seele mag dabei allen Generationen hilfreich sein.

Was weiß ich über meine Eltern?

Erwachsene Kinder kriegsbelasteter Eltern erzählen

»Natürlich weiß ich, wie meine Eltern im Zweiten Weltkrieg gelebt haben. Aber vermag meine Seele dieses Wissen zu fassen? Und wenn nicht, bleiben sie dann unberührt und bleibe ich letztlich mit ihnen unverbunden? Was bedeutet das für meine Seele, bleibt sie dann leer und auf der Suche nach Verbindung und Einklang? Die Kriegserlebnisse meiner Mutter und meines Vaters als Kriegskinder wurden nicht wirklich mitgeteilt, sie kamen manchmal wie nebenbei zur Sprache. So wurde meiner Tochter vom Großvater beim Essen erzählt, wie es war, zu hungern und Kartoffelschalen zu essen. Oder wie er Angst hatte vor den Besatzungssoldaten, als er als Junge 1946 Kohlen klauen ging – sie hatten zu Hause nichts zum Heizen. Meine Mutter erzählte so gut wie gar nichts: ›Lasst mal, es ist lange her, seid froh, dass ihr das nicht erleben musstet‹, war meist ihre Antwort auf unsere Fragen.«

Petra, geb. 1959, Lehrerin

»Mein Vater erzählte immer von seiner behüteten Kindheit, die Mutter habe gut für ihn gesorgt, er habe wohl nicht gelitten im Krieg. Sein Vater war nicht da, aber das störte ihn nicht, er kannte ihn ja eigentlich nicht. Eines Tages las ich seine von ihm aufgezeichnete Biografie und erfuhr mit Entsetzen eine ganz andere Wahrheit: Seine Schwester war an Hungerödemen gestorben, mit fünf Jahren verbrachte er Stunden allein im Luftschutzkeller, als die Mutter gerade bei Nachbarn war. Mehrere Kinderlandverschickungen ohne Kontakt zur Familie zeichneten seinen Weg.«

Uwe, geb. 1963, Sozialarbeiter

»Bei mir war es so: Gewalt war wohl normal in der Familie meines Vaters. Mein Großvater quälte gerne Tiere und später bei der SA dann Menschen. Das wurde erzählt, ohne dass es etwas Besonderes war, auch dass mein Vater am Stuhl angebunden wurde, wenn er nicht aufessen wollte. Den Willen des Kindes zu brechen, gehörte zur Erziehung. Mein Vater prügelte mich jahrelang gnadenlos, das habe ich später als Erwachsener damit in Zusammenhang bringen können – was es nicht besser machte.«

Wolfgang, geb. 1956, Wirtschaftsinformatiker

Übermittelte Geschichten, fragmentarisches Wissen und diffuse Eindrücke zur Kriegsvergangenheit der Eltern oder auch Großeltern sind aus vielen Gesprächen mit in den 50er- und 60er-Jahren geborenen Menschen hier zusammengetragen. Mit einigen gab es ausführliche Interviews, die in diesem Buch zu lesen sind. Die Fragen, die uns in diesen Gesprächen bewegten, lauteten:

Was weiß ich von der Lebenssituation meiner Eltern zur Zeit des Zweiten Weltkriegs? Wie und wo lebten sie während der Kriegsjahre?Was erlebten sie während der Kriegsjahre?Waren sie belastenden Erfahrungen ausgesetzt und wie wurden diese verarbeitet?Haben die Kriegserfahrungen meiner Eltern Auswirkungen auf mich gehabt, auf unsere Beziehung, auf meine seelische Entwicklung?Spüre ich das in meinem Leben jetzt?Gibt es davon Spuren in der Folgegeneration, bei meinen Kindern?

Die Aussagen der Interviewpartner vermitteln einen Eindruck über Wissen und Nichtwissen, über viel Fühlen, vielleicht Fühlenmüssen, über wenig Fühlen, vielleicht nicht Fühlendürfen. Sie beschreiben die Auswirkungen der Kriegsgeschichte der Eltern und Großeltern auf die eigene Persönlichkeit.

Einige weitere Beispiele:

»Ich habe mich immer gefragt, warum meine Mutter so hart zu uns Kindern war. Meine Großeltern mütterlicherseits waren herzliche Menschen, sie hatte wohl eine schöne Kindheit auf einem Bauernhof in Pommern. Meine Oma war meine Vertraute, oft wunderte sie sich über das Erziehungsverhalten meiner Mutter mir gegenüber. Wenn ich weinte, wurde ich in eine Kammer gesperrt. Bei Krankheit musste ich trotzdem zur Schule – einmal schickte mich die Lehrerin nach Hause, ich hatte hohes Fieber und eine beginnende Lungenentzündung. Dann fand ich ein Tagebuch meiner Großmutter von der Flucht 1945, meine Mutter war damals zwölf Jahre alt: ›Die Kindheit meiner Tochter ist mit dem heutigen Tag beendet. Ich muss sie jetzt zwingen, erwachsen zu sein, jede Gefühlsduselei gefährdet unser Leben. Wenn wir durchkommen wollen, dürfen wir nicht mehr weinen.‹ Das hat mir das Verhalten meiner Mutter mir gegenüber verständlich gemacht. Gefühle zeigen, Gefühle haben – das ging nicht. Und die Gefühle ihres Kindes, meine, wurden zur Gefahr für ihre traumatisierte und verschlossene Seele. Mein Weinen, meine Angst, meine Schwäche – das bedrohte sie.«

Anita, geb. 1958, Physiotherapeutin

»Ich erinnere mich an Kriegsgeschichten am Kaffeetisch, es wurde auch erzählt, wie mein Großvater einen Juden einer deutschen SS-Kompanie auslieferte. Eine Geschichte, über die alle lachten, der dumme und gutgläubige Jude! Der pflichtbewusste Großvater! Ich musste hinterher kotzen und zwischen mir und den anderen entstand eine Wand, die ich erst sehr viel später einreißen konnte.«

Klaus, geb. 1966, Arzt

»Ein Familientreffen, 75. Geburtstag der Mutter. Alle sind gekommen, mein Bruder, drei Schwestern, die Enkelkinder, noch lebende Geschwister der Eltern. Es gibt Essen in einem bayerischen Gasthof, gestärkte Tischdecken, Kerzenleuchter, Platzkarten. Die Kernfamilie sitzt zusammen, Vater, Mutter, fünf erwachsene Kinder.

›Eleonore, das Fleisch ist zäh.‹ Der Vater brüllt, die Mutter zuckt zusammen. ›Wer hat das ausgesucht, Eleonore?‹ Alle schweigen, schauen auf ihre Teller, kauen. Der Vater ruft nach dem Kellner: ›Nicht mal zum Fünfundsiebzigsten gibt’s was zum Essen, ja sind wir denn noch im Krieg?‹ Ich bin 48 Jahre alt und mir gefriert das Blut in den Adern. Kindheitserinnerungen kommen, an das früher häufige Schreien des Vaters am Mittagstisch, das Weinen der Mutter, an die Ausweglosigkeit, den noch eben gemeinsamen Moment. Fragil wie eine Glaskugel ist er schon zersprungen – durch nichts lässt er sich in meiner Seele wieder zusammensetzen.«

Katja, geb. 1961, Ergotherapeutin

»Eine Weihnachtseinladung. Mutter verteilt den Gänsebraten, sie selber nimmt nur trockenes Brot, sorgsam gesammelt von den Vortagen. Vater versucht sie zum Essen zu bewegen, schließlich habe sie doch die ganze Arbeit des Kochens gehabt. ›Ich brauche nichts, ich kann auch von trockenem Brot leben. 44, 45, da war es doch auch so. Glaubt nicht, dass es da mehr gab, warum soll es heute mehr geben?‹

Mir bleibt wie jedes Weihnachten der Gänsebraten im Hals stecken. Auf einmal verstehe ich, warum ich so leicht verzichten kann und was es mir so schwer macht, Wünsche zu äußern. Ich bin 1966 geboren, bin 43 Jahre alt, nicht in Hungerszeiten, sondern im deutschen Wirtschaftswunder aufgewachsen. Sonntags gab es meistens einen Braten mit Kartoffeln und brauner Soße, und doch betonte Mutter immer wieder, wie dankbar wir sein müssten. Oft fühlte ich mich schuldig angesichts des gedeckten Tisches. Niemand schien froh darüber zu sein, dass es zu essen gab, die Eltern aßen mit starrer Miene ihre Bratenstücke. So früh ich konnte, flüchtete ich aus dieser bleischweren Sonntagsstimmung, machte sogar freiwillig den Abwasch, um mich wieder zu spüren. Und mit jedem Wasserstrahl wusch ich die aggressive Trauer der Eltern und meine Verzweiflung von den Tellern. Heute weiß ich, dass meine Mutter Weihnachten 1944 als 15-Jährige vergeblich auf ihren Vater wartete, er sollte Fronturlaub bekommen. Er ist dann nie mehr gekommen.«

Hildegard, geb. 1966, Journalistin

Der familiäre Austausch zwischen den Generationen ist normalerweise geprägt von Geschichten und Anekdoten aus der Vergangenheit. Gemeinsames Stöbern in Fotoalben lässt Erinnerungen aufleben und hilft, sie zu bewahren. Bei Treffen mit Familienmitgliedern über meist drei Generationen zu besonderen Anlässen können die Kinder teilhaben am kollektiven Familiengeschehen und -gedächtnis. Es vermittelt ihnen eine Zugehörigkeit zu ihrem Familienstamm, und das gibt Verwurzelung. Die Eltern zeigen dabei den Kindern ihre eigene Einordnung in den Familienverband: Sie werden selbst sichtbar als Kinder der Großeltern, zu Bruder und Schwester von Tante und Onkel. So können die Kinder die Kontinuität innerhalb ihrer Herkunftsfamilie spüren und die Kontinuität des Lebens selbst.

Neben einer positiven Verankerung kann es Kindern auch helfen, ungesunde Abhängigkeiten von den Eltern zu relativieren. Sind die Eltern in ihren fürsorglichen Fähigkeiten begrenzt, können konkrete Bindungsangebote von Verwandten an das Kind für seine Entwicklung große Bedeutung haben und es vor seelischer Belastung schützen. Oft spielen die Großeltern eine wichtige Rolle, meist verfügen sie über Zeit und fühlen sich nicht mehr verantwortlich für die Erziehung des Kindes. Menschen, die an einem unsicheren oder traumatisierenden Bindungsverhalten der Eltern litten oder noch leiden, erzählen oft, wie wichtig einzelne, sie unterstützende Familienmitglieder für sie waren und noch sind:

»Besuche bei meinem Opa waren für mich die Highlights des Jahres, er ging mit mir angeln, zeigte mir Tiere und Pflanzen im Wald, nahm sich einfach Zeit für mich – etwas, was mein Vater nie hatte. Ich fühlte mich von ihm ernst genommen – auch etwas, was meinem Vater mir gegenüber ganz abging. Aber schließlich musste er ja auch arbeiten«, erzählt der 1959 geborene Peter.

Und Maria, Jahrgang 1964, sagt dazu: »Ohne die Schwester meines Vaters wäre ich am Leben verzweifelt. Da meine Mutter immer wieder psychische Zusammenbrüche hatte, war ich oft unendlich traurig. Meine Tante bekam das mit und unterstützte mich so gut sie konnte, ich hatte bei ihr ein zweites Zuhause, jedenfalls für meine Seele. Sie ist jetzt schon 80 und ich besuche sie immer noch gern.«

Die lebendige Weitergabe der familiären Vergangenheit wurde in den 50er- und 60er-Jahren durch die Kriegserfahrungen erschwert. Die traumatisierten Eltern hatten durch den Krieg oft Familienmitglieder verloren, bei vielen betraf das die Väter. Eine 1950 erstellte Statistik zur Vaterlosigkeit der Kinder in Deutschland spricht von drei Millionen gestorbenen und zwei Millionen vermissten Vätern – aber auch Großeltern, Geschwister der Eltern, eigene Geschwister und Mütter starben während des Krieges. Die Einbindung in die Großfamilie war nicht mehr gesichert. Lässt man in den 50er- und 60er-Jahren Geborene einen Familienstammbaum zeichnen, wie es in einer Psychotherapie manchmal gemacht wird, fällt auf, wie oft Großeltern und andere Familienangehörige kriegsbedingt nicht erlebt werden konnten, und erschreckend oft fehlen wichtige Informationen.

Der Dialog über die familiäre Vergangenheit zwischen den Generationen wirkt verschleiert oder verstummt. Im Vergleich zu unbelastet aufgewachsenen Menschen scheint die Fähigkeit, sich wirklich mitzuteilen, von einer kollektiven Sprachlosigkeit im Nachkriegsdeutschland überlagert zu sein. Der für viele notwendige seelische Rückzug führte manchmal auch zum Abbruch noch vorhandener Großfamilien-Zusammenhänge.

Sabine, 1964 geborene Juristin, empfindet darüber oft Trauer: »Meine Mutter ist 1944 geboren, im letzten Kriegsjahr. Sie hat sieben Geschwister, sechs ältere und ein jüngeres. Der Vater kam aus dem Krieg nicht wieder, meine Großmutter blieb allein mit acht Kindern. Meine Mutter erzählte wenig von ihrer Kindheit, nur, dass es hart war. Ihre sehr belastete Mutter gab wenig Geborgenheit und die Geschwister konkurrierten um die wenige Zuwendung. Auch heute gibt es kaum Zusammenhalt in dieser Großfamilie. Ich habe ungefähr 25 Cousins und Cousinen, kenne aber nur einen davon, von den Tanten und Onkeln nur zwei. Meine Mutter war immer ängstlich und leidend. ›Mama geht es schlecht‹ war ein häufiger Satz in meiner Familie. Mein Bruder und ich haben beide keine Kinder. Erstaunlich bei dieser Großfamilie – aber eigentlich auch wieder nicht.«

Das folgende Interview mit der 1959 geborenen Erzieherin Miriam vermittelt einen Eindruck über die Komplexität der Traumatisierung ihrer Eltern und über die daraus entstandene und auf sie wirkende Familiendynamik. Im Interview danach berichtet Corinna vor allem von den Auswirkungen der Kriegstraumatisierung ihres Vaters auf seine Erziehungshaltung und im darauffolgenden Kapitel geht es um Grundlagenwissen zur Thematik psychischer Traumatisierung unter Bezugnahme auf Kriegstraumata als sogenanntes Man-made-Disaster.

»Ich trage einen Schmerz, der meiner ist und doch nicht meiner«

Miriam, geb. 1959, Erzieherin, erzählt

»Bei uns zu Hause wurde viel erzählt vom Krieg. Es gab hauptsächlich Geschichten von meinem Großvater mütterlicherseits, er war Jahrgang 1896 und schon im Ersten Weltkrieg Soldat gewesen. Im Zweiten Weltkrieg wurde er durch seine Kriegsversehrtheit nicht mehr eingezogen. Meine Großeltern lebten bei uns, mein Vater war früh gestorben. Mein Opa erzählte immer wieder von der Flucht aus Ostpreußen im Winter 1944/45, sie waren Hals über Kopf aufgebrochen. Sie wussten an dem Tag nicht, wo meine damals 18-jährige Mutter sich gerade aufhielt, sie waren getrennt voneinander. Als Kind empfand ich das als sehr beängstigend. Mein Großvater erzählte auch von Erfrierungen, zum Beispiel waren seine Zehen abgefallen, und andere für mich gruselige Geschichten. Sie hatten sich versteckt, es waren schon russische Soldaten im Haus, und er konnte nicht richtig laufen. Ein Fuhrwerk nahm sie mit und sie kamen dann relativ schnell davon. Mich belasteten diese Erzählungen sehr, ich stellte mir alles sehr konkret vor mit meiner kindlichen Fantasie, die Kälte, die Flucht. Ich liebte meinen Großvater, und seine Geschichten berührten mich auf eigentümliche Weise. Ich konnte mich ihnen nicht entziehen.

Meine 1926 geborene Mutter fing erst an zu erzählen, als ich Fragen stellte, mit Beginn meiner Pubertät. Ich wollte wissen, wie sie gelebt hatte in der Zeit. Sie hatte nie das werden können, was sie eigentlich wollte: Lehrerin. Sie konnte bei Kriegsbeginn nicht weiter die Schule besuchen, die sie dafür gebraucht hätte. Am Tag der Flucht versuchte sie noch zu ihren Eltern zu kommen, aber sie verpassten sich und trafen sich erst viel später wieder. Sie nahm ihre Schlittschuhe mit auf die Flucht, und das brachte mich ihr nahe: Ich selbst hatte damals gerade gelernt, Schlittschuh zu laufen, ein Weihnachtsgeschenk von ihr. Sie jedoch hatte sie seinerzeit als Schuhe benutzt, hatte die Kufen abmontiert und lief auf diesen Schlittschuhen.

Sie erzählte viel von ihrer Angst vor den russischen Soldaten während der Flucht, als junges Mädchen wunderte es mich, dass sie mir gegenüber davon sprach, denn es ging um die Angst vor Vergewaltigung. Sie war allein unterwegs und schloss sich zwei flüchtenden, desertierten deutschen Soldaten an, zwei jungen Männern. Und dann kommt eine skurrile Geschichte: Sie verhandelte mit dem einen darüber, ob er mit ihr schlafen wolle. Sie hatte solche Angst vor einer Vergewaltigung und es dann so »das erste Mal« wird, dass sie auf diese Idee kam. Sie wollte wissen, was normalerweise passiert zwischen Männern und Frauen. Ich fand diese Lösung beeindruckend und erschreckend zugleich. Sie übernachteten in einem Schuppen, es passierte nichts und als sie frühmorgens aufwachte, waren beide weg. Sie haben wohl selber Angst bekommen. Ihre Geschichte faszinierte mich als junges Mädchen, und gleichzeitig überforderte sie mich. Aber ihre Angst war mir sehr deutlich.

Sie erzählte noch mehr vom Krieg, vom Alltag, vom Mangel. Alte Kleidungsstücke wurden aufgetrennt, mühsam Neues daraus genäht. Schwer war für sie, alle ihre männlichen Freunde durch den Krieg zu verlieren. ›Wieso hast du erst so spät geheiratet, mich so spät bekommen?‹ Diese Frage beschäftigte mich. ›Na ja, meine Freunde sind gefallen, die Jungen in meinem Alter mussten im letzten Kriegsjahr noch zum Militär, es ist kaum einer wiedergekommen‹, lautete ihre Antwort. ›Die Jungen aus der Tanzstunde waren weg. Sie rissen sich noch drum, Soldat zu werden, sie durften dann schneller Abitur machen. Alle, praktisch alle, sind nicht wiedergekommen.‹

Von den Judenverfolgungen hatten sie angeblich nichts gewusst, es fällt mir nach wie vor schwer, das zu glauben. Sie müssen sich doch zumindest gewundert haben, es lief doch nicht alles nur im Stillen ab.

Sehr geprägt wurde meine Mutter von der ersten Zeit im Sauerland nach der Flucht. Sie kamen in ein Flüchtlingslager, mein Großvater hatte keine Papiere, er stand da und konnte gar nichts machen. Er erkämpfte dann eine kleine Wohnung für die Familie, und als meine Mutter meinen Vater kennenlernte und heiratete, zogen alle zusammen. Aber sie fühlte sich nie wohl dort. Noch Mitte der 60er-Jahre sagte eine Nachbarin einmal vom Balkon aus zu einer anderen über unsere Familie: ›Das ist ja alles Pack aus dem Osten.‹ Dieser Satz verfolgt meine Mutter bis heute, sie ist froh, dort nicht mehr zu wohnen. ›Natürlich haben viele andere auch unter dem Krieg gelitten, aber manche haben zumindest ihr Zuhause behalten und den Ort, an dem sie aufgewachsen sind‹, sagte sie vor Kurzem. Sie waren sehr arm in der Nachkriegszeit, alles wurde genutzt, Seifenreste noch mal in Baumwollsäckchen genäht. Ständig gab es den damals sehr billigen Hering zu essen. Sie drehten wirklich jeden Pfennig um und schafften es, sich etwas aufzubauen.

Ich glaube, dass ihre Vergangenheit sehr auf unsere Beziehung gewirkt hat. Sie hatte um mich als Mädchen sehr viel Angst und da wirkte wohl ihre alte Angst. Mir wurde schon früh vermittelt, dass Männer gefährlich sind, das beeinflusste meine Sexualität.

Ein großes Thema in unserer Familie war: bloß nicht auffallen, nichts Besonderes sein, nicht laut sein, immer schön bescheiden, sich am besten gar nicht rühren. Das lernte ich von Kind an. Und ich war der Sonnenschein meiner Mutter, das war auch eine Last. Sie war auf ihre Art sehr depressiv, obwohl sie immer kämpfte und weiterarbeitete – aber sie trug eben sehr viel Traurigkeit in sich. Ich war wichtig für sie und ich fühlte mich gefangen.

Als Jugendliche fragte ich mich oft, wie das alles geschehen konnte, der Nationalsozialismus, der Krieg – ich kann es nach wie vor nicht wirklich nachvollziehen. Ich überlegte auch: ›Wie hätte ich das wohl gemacht?‹ und kam zu dem Schluss, dass ich höchstwahrscheinlich auch nicht viel Widerstand geleistet hätte. Das ist beschämend. Und immer wieder empfand ich Verzweiflung darüber, dass Menschen so sind. Ich fühlte mich schuldig.

Erst mit 14 Jahren erfuhr ich: Ich gehöre bezüglich der Vergangenheit meiner Familie nicht nur zur Täterseite, ich gehöre auch zur Opferseite. Mein Vater war Halbjude, meine Mutter gab mir diese Information in Bruchstücken. Mein Großvater war Jude gewesen, meine Großmutter Katholikin, mein Vater wurde 1913, seine Schwester 1930 geboren. Er war Ingenieur, seine Firma schickte ihn 1938 in eine Niederlassung nach Sumatra, um ihn vor der Judenverfolgung zu schützen. Er überlebte dort in einem Internierungslager. Meine bei Kriegsbeginn neun Jahre alte Tante wurde in einem katholischen Nonneninternat unter falschem Namen versteckt. Mein Vater litt sehr darunter, nicht in Deutschland bleiben zu können, nicht anerkannt zu werden. Er war ein sehr intelligenter Mann, er war sehr sportlich – aufgrund seiner jüdischen Abstammung musste er aus seinem Ruderklub austreten. Und es gibt noch mehr solcher Geschichten.