Sei also ohne Sorge, Liebling - Peter Matheson - E-Book

Sei also ohne Sorge, Liebling E-Book

Peter Matheson

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Beschreibung

Lilo und Ernst lernen sich 1935 während des Landjahrs kennen und verlieben sich ineinander. Sie schmieden Zukunftspläne, ziehen zusammen und heiraten schließlich. Beide sind vom Nationalsozialismus und seinen Werten überzeugt. Dann bricht der Krieg aus und Ernst wird eingezogen. Sie schreiben sich Briefe, die in einer unvergleichlichen Intensität den Zusammenprall ihrer persönlichen Träume mit den politischen und militärischen Realitäten des Dritten Reiches zeigen. Siebzig Jahre später entziffert ihre Tochter Heinke die in Sütterlin geschriebenen Briefe und stellt die Fragen der nachgeborenen Generation: Was wussten ihre Eltern? Warum glaubten sie an Hitler? Das Buch ist keine Anklage gegen die Eltern. Vielmehr ist es eine schmerzhafte Auseinandersetzung und eine historische Analyse der eigenen Familiengeschichte im Dritten Reich.

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Peter Matheson/Heinke Sommer-Matheson

Sei also ohne Sorge, Liebling

Briefe über Liebe und Schrecken im Dritten Reich

Vandenhoeck & Ruprecht

Copyright © 2019 Peter Matheson and Heinke Sommer-Matheson, of the English original version by Peter Matheson and Heinke Sommer-Matheson.

This edition licensed by special permission of Wipf and Stock Publishers.

www.wipfandstock.com

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

© 2021 Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: Lilo, Heinke und Ernst Sommer (1941). Foto aus Familienbesitz.

Externes Lektorat: Constanze Lehmann, BerlinSatz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.deUmschlaggestaltung: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Produktion: Lumina Datamatics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISBN 978-3-647-99446-8

Für Gesine, Catriona und Donald.

Inhalt

Vorwort

Danksagung

Chronologie

Liebesbriefe im Krieg (1935–1942)

Kindheit, Jugend, Ehe

Falscher Frieden

Warum Hitler? Warum Nationalsozialismus?

Fotos

Russland

Die letzten Tage

Die Bedeutung der Briefe

Schlusswort

Nachwort. Eine Pilgerfahrt

Anmerkungen

Quellen und Literatur

Vorwort

Es ist ein ungewöhnliches Buch, dass die Lehrerin Heinke Sommer-Matheson gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem Kirchenhistoriker Peter Matheson 2019 zunächst in englischer Sprache veröffentlicht hat und das nun glücklicherweise auch in deutscher Sprache vorliegt. Es handelt sich um den kommentierten Briefwechsel der Eltern von Heinke Sommer-Matheson, Ernst Sommer und seiner Frau Lilo (geb. Struck). Zwischen dem Jahr ihres Kennenlernens, 1935 und dem Tod von Ernst Sommer im russischen Dorf Borki am 11. Februar 1942 hatte sich das Paar 1.026 Briefe und Postkarten geschrieben, die Lilo Sommer zeitlebens in einer Holzkiste aufbewahrte. Heinke Sommer-Matheson hat die in Sütterlin-Schrift verfassten Briefe ihrer Eltern jahrelang transkribiert. Für die Publikation haben sie und ihr Ehemann die Briefe ausgewählt und mit Fotos und Tagebucheinträgen ergänzt.

Die Briefauszüge und ihre Analyse eröffnen zwei wichtige Perspektiven in die subjektive Dimension der Gesellschaftsgeschichte des »Dritten Reichs«. Sie zeigen zum einen die Wahrnehmungen des NS-Regimes durch ein junges Paar aus der Mittelschicht, das sich in hohem Maße mit dem Nationalsozialismus identifizierte. Zum anderen dokumentieren sie den schwierigen Umgang mit den Kriegsereignissen und vor allem mit der kriegsbedingten jahrelangen Trennung. Die Briefe, die zumeist Liebesbriefe sind, vermitteln intensive Einblicke in die persönliche Beziehung von Lilo und Ernst Sommer, sie verweisen aber auch auf das Alltagsleben in der Zeit des Zweiten Weltkriegs an der »Heimatfront« ebenso wie auf die Erfahrungen und inneren Rechtfertigungen von Wehrmachtssoldaten. Insofern leistet der Band einen wichtigen Beitrag zu einer Geschichte des Privaten im Nationalsozialismus, wie sie in den letzten Jahren vor allem am Institut für Zeitgeschichte, München erarbeitet wurde.

Es waren eine ähnliche Herkunft, geprägt durch eine protestantische Erziehung, und die Begeisterung für die nationalsozialistische Jugendbewegung, die das Paar zusammenbrachte. Der Nationalsozialismus, der Glaube daran, an dem Aufbau eines »neuen Reichs« mitwirken zu können und in einer »großen Zeit« zu leben, waren für Lilo und Ernst Sommer gleichermaßen attraktiv. Der Nationalsozialismus schien die Möglichkeit zu bieten, der dörflichen Enge in Mecklenburg-Vorpommern bzw. Schleswig-Holstein zu entkommen und neue Handlungsspielräume zu erhalten. Lilo wurde Führerin im »Landjahr«, Ernst unternahm als HJ-Führer zahlreiche Auslandsreisen mit seiner Jugendgruppe und trat 1936 der SA bei. Das Erleben der Gemeinschaft war bei beiden mit der Erfahrung der Selbstbedeutungssteigerung verbunden. Gemeinsam wollten sie Teil sein einer geistig überhöhten Zukunft unter Adolf Hitler, dessen Führermythos von beiden zu keinem Zeitpunkt in Frage gestellt, sondern im Gegenteil eng mit dem christlichen Glauben verwoben wurde.

Der kommunikative Austausch über das Medium der Briefe war für das junge Paar von Anfang an wichtig. Erst am 11. März 1938, einen »Tag vor dem Anschluss Österreichs« durften die Beiden heiraten, bis dahin hatte dies Ernsts Mutter verhindert. Nur ein Jahr, bis zur Einberufung von Ernst im Juli 1939 lebte das Paar zusammen im schleswig-holsteinischen Wrohm, wo Ernst eine Stelle als Volkschullehrer antrat. Davor und vor allem danach waren sie oft lange Zeit getrennt. Besonders wichtig wurde das Briefeschreiben für Lilo und Ernst Sommer im Zweiten Weltkrieg, um Nähe zu bewahren und eine trennungsbedingte Entfremdung abzuwenden, um sich ihrer Liebe zu vergewissern und um die Korrespondenz nach dem Krieg gemeinsam lesen zu können, so die gemeinsame Hoffnung.

Dabei verweisen die Briefe und Karten, die sich die beiden nun nahezu jeden zweiten Tag schrieben, von Heinke Sommer-Matheson und Peter Matheson sorgfältig herausgearbeitet, auch auf die sehr unterschiedliche Wahrnehmung des Zweiten Weltkriegs von Lilo und Ernst. Für Ernst hatte das Leben als Soldat zunächst eher abenteuerhafte Züge. Zunächst in Potsdam, dann in Pornic (Frankreich) und Graudenz (Polen) stationiert, wartete er auf seine Bewährung an der »Front« und schilderte seinen Einsatz mitunter fast als Ferienaufenthalt. Als er ab 1941 am deutschen Angriff auf die Sowjetunion teilnahm, blieb es bei heiteren Beschreibungen bzw. geradezu liturgischen Umschreibungen der Bedeutung des Krieges für den »Aufbau des neuen Reichs«. Seine junge Frau Lilo hingegen beurteilte den Krieg von Anfang an skeptisch, verbunden mit großer Angst um das Leben ihres Mannes. Die 1939 und 1940 geborenen Kinder Heinke und Hartmut zog sie allein auf, litt unter Erschöpfung und Einsamkeit und filterte immer wieder Nachrichten von der Front und Berichte von anderen Soldatenfrauen auf die reale Situation an der Front hin. Dabei stellte sie immer wieder die Frage nach dem Sinn des Krieges, der die Menschen wenn nicht tot, so doch körperlich und psychisch verletzt zurücklassen würde. Die Hoffnung ihres Mannes auf ein baldiges Ende des Krieges, sein optimistischer Blick auf die russischen Soldaten, die froh waren, sich den überlegenen Deutschen ergeben zu dürfen, konnte sie kaum teilen. Je größere Sorgen sich Lilo machte, um so mehr meinte Ernst, sie trösten und beruhigen zu müssen, was fast zum Zerwürfnis führte. Nur in wenigen Briefen benannte Ernst die Kriegsgräuel, die er erlebte, offen. Während Ernst sich in ständiger Aufregung, Bewährung und Bewegung befand, bedeutete für Lilo der Krieg Stillstand, Einsamkeit und vor allem Angst um ihren Mann und vor den Luftangriffen. Im Sommer 1941 flüchtete sie mit ihren Kindern nach einem Bombenangriff in ihren Heimatort Spantekow. Am 11. Februar 1942 fiel Ernst, den Lilo ein Jahr zuvor das letzte Mal gesehen hatte. In der Traueranzeige schrieb Lilo, dass ihr Ehemann »im schwersten Kampf gegen den Bolschewismus sein Leben für Familie, Führer und Vaterland mit dem Heldentode krönte«. Trotz ihrer pessimistischen Sicht auf den Krieg, die Lilo in ihren Briefen offen äußerte, stellte sie wie Ernst zu keinem Zeitpunkt das NS-Regime in Frage. Weder der Holocaust noch die Begegnung mit KZ-Insassen geschweige denn die mögliche Beteiligung von Ernst Sommer an Verbrechen der Wehrmacht spielen in den Briefen eine Rolle, wie Heinke Sommer-Matheson und Peter Matheson herausarbeiten.

Das Buch ist aber nicht nur bedeutend, weil es den Wahrnehmungs-, Erwartungs- und Erfahrungshorizont von »ganz normalen« Deutschen beispielhaft erfasst. Bemerkenswert ist auch die kriegsbedingte Vaterlosigkeit als Signatur des 20. Jahrhunderts, die subkutan mitläuft. Von der Erfahrung der kriegsbedingten Vaterlosigkeit waren alle der an den beiden Weltkriegen beteiligten Länder und ihre Gesellschaften, die hinterbliebenen Jungen und Mädchen sowie ihre Mütter betroffen. Ernst Sommer hatte seinen Vater August Sommer 1916 als Soldat im Ersten Weltkrieg verloren. Doch als junger Erwachsener sah auch er seine Bestimmung darin, sich im Krieg zu »bewähren«. Er selbst wiederum hinterließ mit Heinke und Hartmut Sommer zwei vaterlose »Kriegskinder«, die mit einem toten Vater aufwuchsen, der von der Mutter als »Lichtgestalt« dargestellt wurde, wie dies in Millionen Familien der Fall war. Seit den 2000er Jahren wurde der »Generation der Kriegskinder« sowohl in der geschichtswissenschaftlichen Forschung als auch im erinnerungskulturellen Diskurs Aufmerksamkeit geschenkt. Lebensgeschichtlich befanden sich insbesondere westdeutsche »Kriegskinder« zu diesem Zeitpunkt in einer biografischen Phase, in der sie ihr Leben bilanzierten und sich dabei auch und gerade mit dem Thema der Vaterlosigkeit auseinandersetzten. Heinke Sommer-Matheson reiste mit ihrem Bruder im Jahr 2001 nach Staraja Russa und Borki, wo ihr Vater verstorben war. Der Schluss des Buches enthält eine eindrucksvolle Beschreibung dieser Orte, die durch die Gespräche mit den dort lebenden Menschen zu einem »Platz der Freundschaft« wurden. Der Tod der Mutter führte ähnlich wie bei Heinke Sommer-Matheson bei vielen Betroffenen dazu, sich intensiv mit dem Nachlass der Mutter zu beschäftigen. Das Wissen um die Lebensgeschichte der Eltern wurde dabei vielfach erweitert bzw. modifiziert. Insofern stellt die Arbeit von Heinke Sommer-Matheson und Peter Matheson auch einen Beitrag zu einer Erinnerungskultur dar, die die Folgen der Teilhabe an Gewalt und Diktatur in Familienbiografien explizit thematisiert.

Lu Seegers, Bückeburg und Hamburg, Juni 2021

Danksagung

Viele Menschen standen uns zur Seite beim Entstehen dieses Buches und wir schulden ihnen mehr als wir ausdrücken können: Freunde und Freundinnen, Berater und Ermutiger, Computerexperten, Bibliothekare und Archivare. Ohne sie wäre das Buch nie erschienen. Es wäre unmöglich, alle zu nennen, aber ganz unvergesslich war die Unterstützung von Heather Cameron, Kevin Clements, Lindsay Matheson, Andrew Schuller, Brett Knowles, John Miller, Will Storrar, Ernst-Otto und Elke Bech, Susanne Greiter. Bei der Übersetzung des Buches ins Deutsche war der weise Rat von Professor emeritus Jochen Hoffmann unentbehrlich. Dank geht zudem an den Verlag Vandenhoeck und Ruprecht. Es war eine echte Freude, Ihre professionelle und freundliche Mitarbeit zu erleben.

Chronologie

12. September 1912

Ernst Sommer in Wienboeken, Schleswig-Holstein, geboren

4. August 1913

Lilo Struck in Spantekow, Mecklenburg, Vorpommern geboren

1914−1918

Erster Weltkrieg

1916

Tod von August Sommer, Kriegsgefangener in Rumänien.

1920

Gründung der NSDAP

1929−1938

Weltwirtschaftskrise

30. Januar 1933

Hitler wird Reichskanzler Deutschlands

September 1935

Nürnberger Gesetze

31. Dezember 1935

Verlobung von Ernst Sommer und Lilo Struck

März 1936

Einmarsch deutscher Truppen ins Rheinland

September 1937

Ernst besteht das praktische Examen als Lehrer

11. März 1938

Ernst und Lilo heiraten, wohnen in Wrohm, Schleswig-Holstein

12. März 1938

Österreich ins Reich einverleibt

30. September 1938

Münchener Abkommen; Sudetenland annektiert

9. November 1938

»Reichskristallnacht«; Synagogen in Flammen

12. Februar 1939

Heinke geboren

März 1939

Einmarsch in die Tschechoslowakei

Juli 1939

Ernsts Einberufung

1. September 1939

Einmarsch in Polen; Kriegsbeginn

10− March 1940

Hartmut geboren

Mai−August 1940

Ernst in Potsdam, Offiziersausbildungs-Lager

10. Mai 1940

Einmarsch in die Niederlande und in Frankreich

23. August 1940

Nichtangriffspakt Deutschlands mit der Sowjetunion

Dezember 1940

Ernst in Pornic, Bretagne, Frankreich

März−Mai 1941

Ernst in Graudenz / Grudziądz, Polen, und Tilsit, Ostpreußen

22. Juni 1941

Einmarsch deutscher Truppen in Russland

Juni 1941 – Februar 1942

Ernst an der Front in der Nähe von Staraja Russa

21. Juli 1941

Lilo flieht von Wrohm nach Pommern

15. Januar 1942

Tod von Hans Sommer, Bruder von Ernst

11. Februar 1942

Tod von Ernst in Borki, in der Nähe von Staraja Russa

13. Oktober 1943

Tod von Lilos Bruder Hans-Dieter Struck

März 1945

Lilo flieht mit den Kindern von Pommern nach Wrohm

September 2001

Heinke Sommer-Matheson und Hartmut Sommer reisen nach Borki und Staraja Russa

22. August 2005

Tod von Lilo

30. August 2005

Heinke entdeckt die Briefe ihrer Eltern

Liebesbriefe im Krieg (1935–1942)

Es ist erschütternd, wie Tag für Tag nackte Gewalttat, Rechtsbruch, schrecklichste Heuchelei, barbarische Gesinnung ganz unverhüllt als Dekret hervortritt.

Victor Klemperer. März 1933

Ohne die begeisterte Bejahung im Familienmilieu wäre der rasende Erfolg des Nationalsozialismus undenkbar. Wie kam es dazu? Was brachte normale, liebenswerte Menschen dazu, Hitler als Deutschlands Erlöser zu bejubeln, sich apokalyptische Visionen von Rache und Eroberung zu eigen zu machen, jegliche Nüchternheit, Vernunft und Moral aufzugeben?

Die zufällige Entdeckung von fast tausend Briefen und Postkarten eines unauffälligen jungen Paares, Liselotte (Lilo) und Ernst Sommer, wirft ein Licht auf diese Frage. In Sütterlinschrift geschrieben, wurden diese Briefe von ihrer Tochter Heinke, jetzt in Neuseeland lebend, transkribiert. Durch ihre Offenheit, menschliche Wärme und ›Unschuld‹ öffnen diese Briefe zwischen dem zwanzigjährigen Liebespaar ein Fenster in die Welt junger Menschen in Hitlers Deutschland. Ihre Bücher, Liedersammlungen und Fotos ergänzen das Bild.

Man ahnt, was es hieß, in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg aufzuwachsen, beginnt auch zu begreifen, warum ein frommer, sensibler Mann wie Ernst Sommer sich mit solcher Begeisterung in die Hitlerjugend warf, danach in die SA, warum seine Verlobte Lilo Struck in den BDM eintrat, den Bund Deutscher Mädel, warum die harte Arbeit in dem »Jahr auf dem Land« ihnen so sinnvoll und lebenspendend erschien. Sie berichten ja von achtzehnstündigen Werktagen, Idealismus und Erschöpfung!

Ernst Sommer und Lilo Struck, das junge Paar, dem wir in diesen Briefen begegnen, sind recht sympathische junge Menschen. Umso rätselhafter, dass und wie sie die dunklen Seiten des Nationalsozialismus ignorieren konnten: Gewalttätigkeit, Antisemitismus, Kriegsvorbereitungen. Und warum lauschten sie dem Volksempfänger mit solcher Ergriffenheit, wenn Goebbels und Hitler ihre hetzerischen Reden schwangen?

Aus diesen Briefen strömt die Luft einer uns gänzlich fremden Welt. Der Lebensrhythmus in den kleinen Dörfern in Schleswig-Holstein und Vorpommern hat mit unseren heutigen Lebensbedingungen fast nichts gemein. Es war ein einfaches Leben, in dem sich alles um die Jahreszeiten drehte: Frühling, Sommer, Herbst, Winter; Plumpsklo draußen, Kochen am Herd, Kohlen aus dem Keller holen, kein Supermarkt um die Ecke. Für die Hausfrau war die Arbeit nie fertig: Kleider flicken und waschen, Obst einmachen, Kinder pflegen, pflanzen und jäten im Garten. In der Küche keine elektrischen Geräte. Dorfleben hieß eigentlich Subsistenzwirtschaft.

Autos waren unbekannt. Man ging zu Fuß oder bestieg das damals noch recht unhandliche Fahrrad. Manchmal radelte Ernst Sommer die ganze Nacht hindurch, um nach Hause zu kommen. Für längere Reisen standen nur Bus und Zug zur Verfügung. Mitten in dieses recht traditionelle Leben platzte der Nationalsozialismus, von vielen als befreiende Revolution erfahren. Aber mit der Bewegung kamen auch allerlei neue Erwartungen und Pflichten. Alle Medien – Radio, Film, Zeitungen, Zeitschriften – fielen unter die Kontrolle der Partei. Diese sogenannte Gleichschaltung umfasste ebenso Gewerkschaften, Jugendgruppen, Berufsverbände und alle bis dahin selbstständigen Organisationen. Nationalsozialismus bedeutete Gleichschaltung des Denkens, der Wahrheit.

Lilo und Ernst hatten nie Kontakt mit liberalen oder sozialistischen Gruppen, geschweige denn mit ausländischen Kollegen oder Freunden. Abgesehenen von der Familie war die Kirche die einzige Quelle von Ideen und Werten. Ihr Idealismus und ihre Hoffnungen für die Zukunft stammen alle aus der nationalsozialistischen Bewegung. Einmal, als sie und ihre Landjahr-Mädchen am Rand der Straße warteten, stand Lilo direkt vor Hitler. »Es war ein kurzer, aber unvergesslicher Augenblick. Er sah ganz aufmerksam unsern Wimpel an und grüßte ihn. Bis in die Nacht haben wir noch genäht, und nun ist er so herrlich durch seinen Blick geehrt worden.«1

Hitler hatte diese intuitive, magnetische Fähigkeit, junge Menschen wie Lilo zu fangen.

Für Ernst waren kulturelle und nationalsozialistische Werte nahtlos miteinander verbunden. Er schätzte klassische Musik, liebte Volkslieder und Märsche, kaufte sich von einem »Zigeuner«2 eine Geige und übte jeden Tag fleißig. Als junger Volksschullehrer liebte er die lokale und regionale Geschichte, und seine Schüler bemerkten schnell seine Leidenschaft für Wald, Felder und Flüsse. Mit der Hitlerjugend unternahm er viele Treffen, Lager, und Reisen, auch ins Ausland. Nach seiner Ausbildung in Pädagogik wollte er sein Denken weiterentwickeln, vertiefte sich in Psychologie und Geschichte, versuchte, den Sinn seines Lebens und die Sendung seiner Nation besser zu verstehen. Trotzdem hing er weiter an dem tiefen religiösen Glauben, den seine Mutter ihm vermittelt hatte, und erstrebte eine Synthese dieses Glaubens mit nationalsozialistischen Ideen. Eigentlich wollte er sich in seinem Dorf engagieren, war aber auch von den geopolitischen Strategien der Partei begeistert.

Lilo als junge, sportliche Frau sang, turnte und tanzte gern. Hitlers »Neues Deutschland« bot ihrer Meinung nach allen Mädchen attraktive neue Möglichkeiten und ein gesundes, glückliches Leben. Sie verstand es als ihre Aufgabe, den jungen Mädchen unter ihrer Aufsicht zu helfen, ihre Begabungen zu entdecken und zu entwickeln, das Leben in Gemeinschaft zu genießen und ihren Beitrag zum Gemeinwohl zu leisten. Wie Ernst war Lilo von einer Welle von Idealismus getrieben.

Mehr als siebzig Jahre später sollte ihre Tochter ihre Korrespondenz finden. Ihr Staunen über das widersprüchliche Zeugnis von Hoffnung und gebrochener Integrität, das diese Briefe ausdrückten, wollte niemals enden. Dies sind ihre Worte:

»Meine Mutter starb 2005. Als ihrer Tochter oblag es mir, ihren Nachlass zu sortieren. Dabei fiel meine Aufmerksamkeit auf eine große Holzkiste auf dem Boden des Kleiderschranks. Die Existenz der Kiste war mir bekannt, was die Kiste enthielt, jedoch nicht. Als ich den Deckel zurückschob, fiel ich aus allen Wolken. Der Inhalt bestand aus einem Berg von Briefen. Bruder Hartmut wusste mehr als ich über die Existenz dieses Briefwechsels. Aber für ihn waren die Briefe zutiefst persönlich und privat. Diese Briefe, die von Liebe und Verlust und Gewissheit sprachen, gehörten einzig und allein unseren Eltern und waren nicht für die Augen anderer bestimmt. Ich selber war mir auch bewusst, dass ich in das Privatleben meiner Eltern eindrang und mich auf ethisch empfindlichem Boden bewegte.

Wie dem auch sei, ich nahm sie mit nach Neuseeland – diese Sammlung von Briefen, eingequetscht in diese Holzkiste. Für eine geraume Zeit widmete ich mich nicht ihrem Inhalt, denn ich war mir nicht sicher, ob und wie ich mich ihnen nähern sollte. Die Briefe waren in Sütterlinschrift geschrieben und diese war mir völlig fremd. Einer der Briefe war jedoch von meiner Mutter mit der Schreibmaschine transkribiert. Es ging in diesem Brief um die Reaktion meines Vaters zum Beginn des Krieges 1939. »Es ist Krieg«, schrieb er. Auf Urlaub vom Militärtraining in Heide, nicht weit von dem Dorf in Schleswig-Holstein, in dem er als Lehrer tätig war, saß er bis spät in die Nacht an seinem Schreibtisch und gab seinen Gedanken und Gefühlen schriftlich Ausdruck. Es war mir klar, dass dieser Brief für meine Mutter eine besondere Bedeutung gehabt hatte. Ich wunderte mich warum, und für wessen Augen er bestimmt war. Dieser getippte, ominöse Brief öffnete mir den Weg. Ich wurde neugierig, was die Briefe betraf.

Ich war tief bewegt von einem Besuch in Russland, dem Land, in dem mein Vater gefallen war. Der Kontakt mit einer holländischen Historikerin in St. Petersburg, die sich für die Reaktion der Kinder der deutschen Gefallenen interessierte, bahnte mir einen weiteren Weg. Ihr Interesse ließ mich erahnen, wie wenig ich von meinem Vater wusste. Diese Begegnung beschämte mich durch die Tatsache, dass ich, zum Beispiel, keine Kenntnis hatte von der Existenz des Westerbork Sammellagers, in dem die zusammengetriebenen holländischen Juden ihr grausames Schicksal erwarteten. Wie wenig, in der Tat nichts, wusste ich von der holländischen Arbeit der Versöhnung mit jüdischen Überlebenden des Dritten Reiches. Weitere Lektüre über die Gründe, die zum Zweiten Weltkrieg führten, über Antisemitismus und vor allem über meine Generation, also die Kinder und deren im Krieg gefallene Väter, brachten mich näher an die Zeit des Dritten Reiches.

Ich war sehr von Ulla Hahns Roman Unscharfe Bilder beeindruckt. Das Buch spricht von dem Schweigen, den Missverständnissen zwischen meiner Generation und der meines Vaters. Ich widmete mich intensiv dem Inhalt der Liederbücher, hinterlassen aus der Nazizeit, und den noch existierenden Kinderbüchern aus der Kindheit der Eltern. Das Fotoalbum meiner Mutter gab mir einen Einblick in die Familiengeschichte, die zurückging bis zu den ernst aussehenden Urgroßeltern. Familienfeste wurden zum Leben erweckt, meine eigene Kindheit wurde lebendig, und das Leben meiner jungen, strahlend in die Kamera blickenden Mutter.

Vor allem ließen die Fotos mich hineinblicken in das Leben meines Vaters: Ernst als Junge, als Student, dann als Lehrer, danach in der Uniform der Wehrmacht im grausam kalten russischen Winter.

Schnappschüsse aus einer Wirklichkeit, die mir völlig fremd war. All dies rumorte in mir. Ich hatte die schwere Holzkiste den langen Weg nach Neuseeland mitgeschleppt. Sie stand dort in der Ecke und wurde zu einer Herausforderung. Die Briefe mussten gelesen werden, um meine Neugier zu befriedigen.

Anfänglich war es ein schweres Unterfangen, diese zu entziffern. Ernst und Lilos Briefe mussten sortiert und dann chronologisch geordnet werden. Zu Beginn verging eine Stunde, bis ich einem Satz seinen Sinn entlockt hatte; viele Namen von Personen und Orten waren verschlüsselt. Die schräge Handschrift meines Vaters bereitete mir besondere Schwierigkeiten. Zu Beginn verbrachte ich Stunden über einzelnen Abschnitten, es gab zahlreiche inhaltliche Lücken – es war ein fragwürdiges Unterfangen. Immer wieder unterliefen mir Fehler – bei schwierigen Paragraphen war es ein einziges Rätselraten.

Die Fragen häuften sich. Warum handelten meine Eltern in der Art und Weise, was motivierte sie zu gewissen Aussagen? Der Inhalt machte mich unruhig, seelische Aussagen wühlten mich auf, verstörten mich. Ich erinnere mich, dass ich mir sagte; Hör auf, lies nicht weiter, du gerätst beim Lesen in einen intimen, ganz privaten Bereich, den du nicht betreten solltest. Aber ich war gefangen, wie gebannt. Ich musste dahinterkommen, das Geheimnis lüften, das ihre Sorgen und Nöte betraf, ihren Einsatz für den Nationalsozialismus begreifen, und vor allem, wie es zu ihrer leidenschaftlichen Beziehung zueinander kam. Ich war zäh und wollte nicht die Flinte ins Korn werfen, wollte nicht aufgeben.

Zunehmend begriff ich, wie Lilo von Ernst abhängig war, wie er sie formen konnte, geistig beleben und emotional unterstützen. Ich war als Kind Zeuge ihrer resoluten Loyalität gewesen, was die Erinnerung an ihren toten Ehegatten betraf. Jetzt endlich konnte ich meine mageren Kenntnisse mit Leben füllen.

Meine Arbeit an den Briefen dehnte sich über Jahre aus. Sie wurde unterbrochen von Krankheit, namentlich Brustkrebs, und einem Wohnungswechsel, aber ich ließ nicht ab vom Transkribieren. Dazu galt es, eine ziemlich große Fotosammlung aus meiner Kindheit und der Kriegszeit auszusortieren. Ich widmete mich der »Pilgerschaft« nach Russland, wurde weiter animiert von meinem Vetter Ernst Otto Bech und seiner Frau Elke, die an ihrer Familienchronik arbeiteten und mir Briefe zusandten, von Ernsts Mutter und seiner Schwester Leni geschrieben. Die Überzeugung, dass die Beschäftigung mit den Briefen sinnvoll war, wurde stärker. Sie bot eine Gelegenheit zu einem detaillierten und echten Zugang in die Gefühlswelt und in das Leben und Denken meiner Eltern. Es genügte bei dieser Arbeit nicht, an der Oberfläche zu kratzen. Alles musste transkribiert werden, all diese Briefe und Postkarten, Spuren aus einer anderen Welt. Ich hatte als Dreijährige meinen Vater verloren, jetzt war auch meine Mutter gestorben – alles, was ich von ihnen besaß, lag in den Briefen vor mir.

Es überraschte mich, eine Mutter zu entdecken, die ich nicht kannte, und ich gewann beim Lesen ein neues Bild von ihr: ihre feste Entschlossenheit, der langen Verlobungszeit mit Ernst ein Ende zu setzen; mit welcher Entschiedenheit sie sich bemühte, die Hindernisse aus dem Weg zu räumen, die Ernsts Familie der Heirat in den Weg stellte; mir unbekannt war auch ihr Hass gegen den Krieg. Ich fühlte in mir ein großes Mitleid. Mein Gott, wie hatte sie fast immer alleine und ohne Beistand anderer gelitten.

Dickköpfig fuhr ich fort mit dem Transkribieren, wenngleich ich oft das Gefühl hatte, dass mir die Arbeit emotional und intellektuell über den Kopf zu wachsen drohte. Hinzu kam, dass es so viel meiner Zeit in Anspruch nahm.

Sicherlich sah ich mich nie als Historikerin. Doch langsam verdichtete sich das Bild aus der Vergangenheit, vom Leben eines Lehrers und seiner Frau in dem Dörfchen Wrohm. Ich gewann einen Einblick in das Schulhaus und den Gemüsegarten, in das dörfliche Leben. Und ich sah mich als kleines Mädchen. Wer war ich? Wer war dieses Kind, das mich anschaute? Durch Ernsts ungewöhnlich detaillierte Fragen, die ständig aus Frankreich oder Russland kamen, füllte sich diese für mich verlorene Welt mit Leben. Ich sah, wie wissbegierig Ernst war, die Entwicklung seiner Tochter Heinke und seines kleinen Sohnes Hartmut aus der Ferne, bis in die kleinste Einzelheit, zu verfolgen. Ich begann teilzunehmen an den kleinen kindlichen Abenteuern, an allen Kinderkrankheiten bis hin zu den ständig wachsenden sprachlichen Errungenschaften.

Durch diese Briefe konnte ich einen Einblick in diese verlorene Welt gewinnen. Vieles war mir neu. Ich wurde Zeugin der erstaunlich tiefen Liebe zwischen Lilo und Ernst. Diese zeigte sich an dem Reichtum der Briefe und vor allem in der Leidenschaft, die in den Briefen Ausdruck fand, bis hin zur praktischen Sorge füreinander. Ich war überrascht, von den intensiven Konflikten zu lesen, die ab und zu auftauchten. Vor allem lernte ich, innerlich erschüttert, viel über die Brutalität des Krieges und die sinnlose Verwüstung, die er mit sich brachte und die auch vor dieser kleinen Familie nicht haltmachte.

Ich bin geneigt zu sagen, dass die Briefe mich näher zu Ernst als zu Lilo brachten. Durch die Kindheit hindurch war mir der Vater unbekannt geblieben, er blieb mit seinem Foto auf dem Klavier ein fernes Heiligenbild, eine Ikone. Beim Lesen der Briefe jedoch sah ich ihn als Ehemann, gefüllt mit inniger Liebe für seine Lilo, auf die er so stolz war. Ständig kreisten seine Gedanken um sie. Mit Geringschätzung sah er auf andere Offiziere, die ihren Ehefrauen untreu wurden. Es blieb nicht aus, dass die lange Trennung voneinander ihnen Schwierigkeiten bereitete. Zwar sorgte er sich um sie und bestand darauf, bei meiner Geburt anwesend zu sein. Ständig bot er Ratschläge über die kindliche Entwicklung, und die unvermeidlichen Trotzphasen erklärte er Lilo als ein natürliches Phänomen.

Alles in allem hatte ich den Eindruck, dass er Tag und Nacht über mich und Hartmut nachdachte. Ich fühlte mich betrogen, dass ich – selber Lehrerin – keine Gelegenheit gehabt hatte, mir eine Meinung zu bilden über die pädagogischen Fähigkeiten meines Vaters. Ohne Zweifel war er ein ausgezeichneter Lehrer mit seinen musikalischen Fähigkeiten, seiner Liebe zur Natur, zur Geschichte und Tradition, zum Märchen- und Sagengut seines Heimatlandes Schleswig-Holstein.

Es war mir jedoch unmöglich, ein Gespür zu bekommen für dieses »Neue Deutschland« und für Hitler als »Führer«. Ich empfand kein Verständnis für sein tiefempfundenes Pflichtgefühl, für seinen Patriotismus.

All diese Dinge ließen mich kalt. Es lag mir auch fern, Ärger zu empfinden für diesen Soldatenvater, ihn als »Nazi« zu sehen. Mehr als Lilo empfand er Verantwortung für ein weiteres Feld als nur für seine Karriere und seine Familie. Über allem stand sein überwältigend tiefer Sinn für die Pflicht seinem Vaterland gegenüber.

Die Briefe veranlassten mich, über meine eigene Identität nachzudenken. Was geschah mit mir in diesem Krieg, der mir den Vater raubte, der Krieg, der mir die innere Sicherheit nahm? Und immer wieder quälten mich Gewissensbisse, dass ich mich nicht mehr meiner Mutter gewidmet hatte, da ich jetzt, im Nachhinein, wusste, wie schwer der Krieg ihr mitgespielt hatte.

Oft überwältigten mich die Briefe emotional. Das traf insbesondere für die letzten Briefe vor seinem Tod zu, um Weihnachten 1941 herum und zum Jahresbeginn. Am schwersten war es, Lilos letzte Briefe an Ernst zu lesen, Briefe an einen Ehemann, der bereits unter der Erde lag. Einen Monat lang ging ich den Briefen aus dem Weg. Die Einsamkeit meiner Mutter nachzuempfinden, war sehr schmerzhaft. Dazu kamen ihre Schlaflosigkeit und Verzweiflung. Meine emotionalen Kraftreserven reichten nicht aus, mich den Todesanzeigen in der Zeitung zu stellen, Anzeigen, die den Heldentod für das Vaterland verherrlichten. Hinzu kamen die Kondolenzbriefe von seinen ehemaligen Offizierskameraden, mit echter Anteilnahme geschrieben, aber qualvoll zu lesen.

Das Transkribieren war eine Liebesarbeit, ich verbrachte tausend und mehr Stunden dabei mit dem Resultat, dass ich heute nicht nur besser informiert, sondern stolz auf beide Eltern bin. Sie waren entschlossen, mit Integrität und Zielstrebigkeit ihr Bestes für ihre Kinder zu tun. Sie waren normale Menschen in außergewöhnlichen Zeiten, auseinandergerissen durch den Krieg, betrogen von denen, die es hätten besser wissen müssen.

Es war nicht leicht, die Tatsachen, die ich über das Dritte Reich aus den Briefen erfuhr, von den Tatsachen zu trennen, die mir in zahllosen Büchern und Filmen begegneten, von Berichten anderer Menschen, zum Beispiel von denen meiner jüdischen Freunde, und den Erlebnissen, die sich mir in Israel boten. Die Gesamtheit dieser Erlebnisse bestimmte mein Denken. Sie gewannen an Klarheit durch die Postkarten, Fotos und die Inhaltsbeschreibungen der Päckchen, die Ernst und Lilo sich schickten. Durch das Lesen der Briefe kannte ich die Gefühle der Sorge und Angst um ihre Kinder, als die Bomben auf ihr kleines Dorf regneten. Zuvor hatte ich nur eine vage Idee von dem Effekt, den die Bomben erzielten. Jetzt jedoch konnte ich mich von Frau zu Frau identifizieren mit dem, was meine Mutter empfunden hatte.

Desgleichen vermittelten mir die Briefe ein Bild von dem nächtlichen Marschieren, dem Vorwärtsdrängen der deutschen Truppen zur russischen Grenze. Ich konnte die Kameradschaft zwischen Ernst und seinen Männern, als sie das Blockhaus im russischen Wald bauten, nachempfinden. Ich sah die Brüder Hans und Ernst vor mir während des unglaublichen Treffens in Ostpreußen auf dem Vormarsch zur Grenze. Sie liehen sich Fahrräder und trafen sich an einem kleinen Fluss, warfen sich, nur mit Turnhosen bekleidet, ins Wasser und sangen aus voller Kehle Lieder wie »Schon wieder blühet die Linde«. So wurde Ernst ein leibhaftiger Mensch. Mein Vetter Ernst-Otto kommentierte dieses Treffen der beiden Brüder mit den Worten »Nur die Sommers konnten so etwas tun!«

Wie beschränkt ihr Wissen war und wie eng ihr Einblick in die Ereignisse, die sie umgaben, war offensichtlich. Ich bemerkte, wie schnell Lilos anfängliche Begeisterung über die Siege in Polen und Frankreich sich in Stress, Spannung und Angst verwandelte, verdeutlicht durch ihren drastischen Gewichtsverlust, als sie von Ernsts Einmarsch in Russland hörte. Sie war von Natur aus ängstlich und beobachtete die Entwicklung des Krieges mit Sorge. Ihre Einschätzung des Krieges war wesentlich realistischer als die meines Vaters, der immer zuversichtlich, fast gutgläubig war. Ihre Briefe brachten mich der Realität des Frontlebens näher, sie verliehen ihrer Besorgnis um seine Gesundheit, seine Zahnhygiene, seinen Schutz gegen den grimmigen Winter und vor allem seine Überlebenschancen Ausdruck. Doch viele meiner Fragen blieben unbeantwortet.

Lilo fand Verständnis für ihre Besorgnis um Ernst bei anderen Soldatenehefrauen. Sie erzählten von schrecklichen Szenen im Lazarett und der zunehmenden Anzahl der Todesfälle. Es befriedigte oder beruhigte Lilo keineswegs, die Nachrichten in der Zeitung und im Radio zu lesen und zu hören. Die offizielle Propaganda wurde von den Erfahrungen und Gesprächen anderer beteiligter Frauen widerlegt.

Es war ihr unverständlich, dass die Versorgung der Armee, was die Bekleidung betraf, völlig unzureichend war. Die Verhältnisse im russischen Winter waren den Verantwortlichen schließlich bekannt, da die Erinnerung an Napoleons Russlandfeldzug immer noch präsent war.

Von Goebbels dazu angehalten, Socken zu stricken und für warme Kleidung zu sorgen, begann sie, die ganze Kriegsplanung in Frage zu stellen. Ernsts Briefe bestätigen, dass er Lilos Sorgen ernst nahm, obwohl seine grundsätzliche Einstellung auf einer falsch verstandenen Fürsorge beruhte. Es ärgerte Lilo, dass er die Schwierigkeiten und Gefahren bagatellisierte, wenngleich sie Ernsts Reife und Weisheit niemals in Frage stellte. Ernst war besorgt, dass Lilo die militärische Zensur und Geheimhaltung auf die leichte Schulter nahm, konnte auch ihrem Wunsch, seine genaue Position an der Front zu erfahren, nicht nachkommen.

Alles in allem überwältigten mich die realistischen Einzelheiten und die tiefe Zuneigung und Liebe, die sich mir beim Lesen bot. Aus verschiedenen Gründen brauchten beide Partner die Bestätigung ihrer Liebe zueinander, und diese Liebe lebte für mich in den Briefen weiter.«

Kindheit, Jugend, Ehe

Wenn man weit voneinander ist mit dem Leibe, doch kann man mit Briefen und Schreiben gegenwärtig sein, der eine mit dem anderen reden und sein Herz anzeigen.

Martin Luther

Denkt man an das Dritte Reich, kommen einem sofort seine Gräueltaten, der Totalitarismus und Nihilismus in den Sinn. Doch der Fokus auf das System, auf die Nürnberger Reichsparteitage, die Konzentrationslager, den Blitzkrieg und dergleichen verdeckt leicht den Abgrund der alltäglichen menschlichen und sozialen Tragödie des Dritten Reiches. Die radikale Bosheit, die Perversität der Ideologie erscheint noch krasser und subtiler in den familiären Schicksalen, in der Art und Weise, wie das totalitäre Regime die Liebe und Begeisterung gerade junger Menschen missbrauchte. Persönliches und Politisches gingen Hand in Hand. Im neuen Reich musste Familie und Haushalt ebenso umgestaltet werden wie Nation und Welt. Hitler war auch die unfehlbare Autorität für Familie und Weiblichkeit.

Zwischen den grotesken Extremen, den protzenden Gauleitern und den gespensterhaften Gestalten in Auschwitz, den Luftmenschen, lagen endlose Schichten von scheinbarer Normalität: liebevolle Mütter, junge Menschen auf der Suche nach Gemeinschaft, gewissenhafte Lehrer, die mit Blockflöten und Volksliedern die Kinder ermunterten. Die Unmenschlichkeit und Brutalität des Dritten Reiches stehen außer Zweifel. Alle moralischen und religiösen Werte fielen schließlich unter seine Räder. Und vielleicht bestand eine der furchtbarsten Steigerungen dieser Perversität darin, dass idealistische junge Menschen ahnungslos für dämonische Zwecke funktionalisiert wurden. Corruptio optimi pessima. Nichts Schlimmeres als die Verführung guter Menschen.

Lilo Struck und Ernst Sommer führten ein recht sparsames Leben. Jede Ausgabe musste vorsichtig erwogen werden, aber ohne ein Klavier zu leben, war ihnen unvorstellbar. Ihre Briefe, Tagebücher, Fotoalben, Kinderbücher, Gesangbücher, die billigen Editionen deutscher Lyrik und Literatur öffnen uns eine Tür in die Gedankenwelt normaler Bürger in einer höchst anormalen Zeit. Ihr kulturelles Leben war reich, auch tief empfunden, aber sein synkretistischer Inhalt lässt einen erstaunen. In ihrem Bücherschrank lagen neben der Bibel und den Werken Schillers, gleichsam als Klassiker, auch Hitlers Mein Kampf und Rosenbergs rassistischer Mythus des zwanzigsten Jahrhunderts. Wie Ernst Sommer an Lilo schrieb: »Bin gern bei den Alten zu Gast und genieße das geistige Brot, sei es nun von Jesus, Kant, Schiller oder Rosenberg gereicht.«3

Das ist keineswegs untypisch. In zahllosen Dorfkneipen und zu Hause am Klavier sang man die alten Volkslieder, dazu lutherische Hymnen und mitreißende Marschlieder der Hitlerjugend. Im Winter drängten sich die Kinder um den Ofen, lauschten den Märchen von Hans Christian Andersen und den Geschichten Mark Twains und Karl Mays – ebenso aber auch den Heldengeschichten aus dem Ersten Weltkrieg.4 Die zerlesenen Gedichtsammlungen Ernsts und Lilos, oft dicht kommentiert, bezeugen ein brennendes Interesse für deutsche Literatur, das selbst mittelhochdeutsche Gedichte einschloss. Zahllose Gedichte lernten sie auswendig.

Die Briefe von Ernst Sommer und Lilo Struck bieten uns einen Einstieg in diese Welt. Sie schrieben einander fast jeden zweiten Tag. Die Menge der Briefe, Pakete und Fotos dokumentiert ihr einfühlsames Auge für jeglichen Aspekt des Lebens ihres Partners. Sie berichten über ihre Mahlzeiten, die Krankheiten der Kinder, ihre Familientreffen.

Während seiner Zeit als Soldat bündelte Ernst Lilos Post, die er bis dahin in der Satteltasche seines Pferdes Titus aufbewahrt hatte, und schickte sie an Lilo zurück, damit sie die Briefe nach Kriegsende gemeinsam lesen könnten. Oft dachten sie an die Nachkriegszeit. Wie Lilo einmal schrieb: »Wie gern will ich Dir später helfen, Dich im Zivilen zurechtzufinden, wie wird es schön werden, wenn wir ganz bewusst unsere Liebe leben ohne die Erstlingskrankheiten einer Ehe, nicht wahr?«5 Ihnen war bewusst, dass die Trennung während des Krieges sie voneinander zu entfremden drohte. Lilos Erfahrungen als junge Mutter im Dorf waren so anders als die ihres Mannes im Kampfgebiet: »Ich kann mir denken«, schrieb sie, »dass sich viele Eheleute auseinander leben. Krieg ist das Schlimmste auf Erden. Glaubst Du, dass wir bald wieder vereint sind? Es ist mein innigster Geburtstagswunsch für Dich«6 Das emsige Briefeschreiben war auch als Strategie gedacht, um eine eventuelle Entfremdung zu vermeiden.

Tragisch nur, dass dieses retrospektive Lesen nie stattfinden sollte. Unglaublich aber, dass alle Briefe den Krieg überlebten. Trotz des Chaos am Kriegsende, als die Mutter Hals über Kopf mit zwei Kleinkindern aus Pommern in den Westen flüchten musste, gelang es ihr irgendwie, die ganze Korrespondenz zu retten. Jahrelang lagen die Briefe ungelesen in einem großen braunen Holzkasten. Obwohl Lilo viele Male versuchte, sie wieder zu lesen, konnte sie es nicht über sich bringen. Es war ihr, wie sie an ihre Tochter Heinke schrieb, einfach zu schmerzlich.

Die Korrespondenz fing 1935 an, als Lilo und Ernst sich verliebten und sich bald danach verlobten. Die erstaunliche Fülle von Briefen entstand, weil sie auch nach ihrer Heirat fast immer an entfernten Enden Deutschlands getrennt leben mussten. Die Briefe bieten einen faszinierenden Blick auf ihr Zusammenleben in Wrohm, einem kleinen Dorf in Schleswig-Holstein, ebenso auf ihre sehr verschiedenen Familien, von denen eine in Hamburg und in schleswig-holsteinischen Dörfern, die andere weit weg im Osten, in Vorpommern, lebte. Es sind vor allem Liebesbriefe, zuerst in Friedenszeiten geschrieben, dann mitten im Krieg. Ihre Liebe füreinander fanden beide einmalig erhaben und schön. Mag sein, dass alle Liebenden das so empfinden. Tatsächlich aber bemerkt man an der Beziehung dieses jungen Paars etwas sehr Bewegendes.

Als der Krieg ausbrach, waren Ernst und Lilo Sommer noch in ihren Zwanzigern. Was bedeutete es für junge Menschen, deren eheliches Leben erst am Anfang stand, unversehens in die großen politischen und militärischen Dramen des Zweiten Weltkrieges geworfen zu sein? Nach einer schmerzlich langen Verlobungszeit im März 1938 endlich verheiratet, hat die Kriegsmobilisierung sie fast sofort auseinandergerissen, und dann kam Ernsts Kriegsdienst in Frankreich und Russland.

Beide waren in der nationalsozialistischen Jugendbewegung begeisterte Mitglieder und später sogar Leiter gewesen. Beide hatten eine ausgeprägte christliche Erziehung hinter sich. Aus den Briefen strahlt Ernsts pädagogische Begabung als Volksschullehrer. Auch bekommen wir von ihm, noch zu Friedenzeiten, ungewöhnliche Einsichten in seine Ausbildung als Leutnant. Wir lernen, wie beide die Erfolge von Hitlers Außenpolitik genießen, registrieren auch ihren Stolz, dass Deutschland wieder eine wichtige Rolle in der Weltpolitik spielt. Ihre Freude aneinander und an der Geburt ihrer zwei Kinder geht unmittelbar über in ihre Begeisterung für Hitlers »Neues Deutschland«, ihre Bewunderung über die geniale Begabung des Führers. Die geschickte Symbolik der Bewegung, das dramatische Hissen und Einziehen der Fahne bei Sonnenauf- und Sonnenuntergang, bei Schnee, Wind und Regen, die raffiniert choreographierten Massenversammlungen – dergleichen hat beide, wie viele Briefe bezeugen, zutiefst bewegt. Aller Reserviertheit sentimentalen Exzessen gegenüber zum Trotz wurden sie wie Millionen Andere von der Gewalt übermächtiger Hoffnungen beschwingt, ja durchdrungen. Eine neue Ära sei angebrochen, und sie durften ihren Teil dazu beitragen.

Aus unserer heutigen Perspektive ist klar, dass in den späten dreißiger Jahren alles auf einen kommenden Krieg deutete. Davon ist aber in den frühen Briefen kaum etwas zu spüren. Hitler werde dafür sorgen, so ihre Überzeugung, dass das Schiff des Staates einen sicheren Hafen erreiche. Krieg brach trotzdem aus. Ernst fand sich bald in einer kleinen Besatzungsstadt an der französischen Küste. Anschließend wurde er nach Russland versetzt. Britische Bomben fielen auf Wrohm, wo Ernsts Frau und Kinder lebten, und Lilos Ängste vor dem Schrecken des Krieges wuchsen, als sich die Zahl deutscher Verwundeter und Toter im Ostfeldzug täglich vermehrte. Ganz schrecklich sei dieser Krieg!

Ernst Sommer aber blieb bis zum bitteren Ende der sorgende Vater und Ehemann, zuversichtlich, immer Trost spendend, in festem Glauben an den Endsieg. In dieser Gewissheit starb er 1942 in einem weltvergessenen russischen Dorf, am Vorabend des dritten Geburtstags seiner Tochter Heinke. Lilo war von nun an allein, Witwe mit zwei kleinen Kindern, alle Hoffnungen und Träume in Trümmern. Sie musste mit dem Tod von Ernst, dem ihres Vaters, ihres Bruders, fast jeden Mannes in ihrer Familie leben. Ihre Ehe, mit so großen Hoffnungen begonnen, hatte in einer Tragödie, wie Hunderttausende sie erleiden mussten, ihr Ende gefunden. Stunde Null, 1945, markierte auch keinen Endpunkt, keinen wirklichen Neuanfang. Zwar verliert sich die Spur der Briefe. Aber für die Schmerzen von Mutter und Kindern, den täglichen Kampf ums Überleben, für bittere Fragen – persönlich, politisch und geistig – schlug erst jetzt die Stunde.

In diesen Briefen von Lilo und Ernst folgen wir einer Liebesgeschichte, die uns von entlegenen Dörfern im Norden Deutschlands zu Ausbildungszentren für Offiziere im Baltikum führt, dann ins besetzte Frankreich und letztendlich zu den entsetzlichen Kämpfen an der russischen Front wechselt. Wir werden recht intime Briefe lesen, in ihrer Ekstase und Verzweiflung ungeschminkt, oft in extremis geschrieben, niemals für fremde Augen gedacht. Welche Handschuhe sollen wir anziehen, wenn wir sie durchblättern? Mit welcher ethischen Berechtigung können wir Lilo und Ernst über die Schulter schauen?

Lilo Struck und Ernst Sommer haben sich leidenschaftlich ineinander und in Hitlers »Neues Deutschland« verliebt. Ihr christlicher Glauben lag ihnen am Herzen, und sie glaubten zugleich innig an die Sendung des Nationalsozialismus und an seinen Führer. Sie waren entschlossene junge Menschen mit hochfliegenden Hoffnungen. Ihre Postkarten und Briefe bezeugen in jeder Zeile das Ineinandergreifen von öffentlichen und familiären Welten, die Umwälzung jeglicher politischer und militärischer Sicherheit, ihre unbegrenzte Freude als Liebespaar und Eltern. Am Neujahrsabend 1940 fügt Lilo unmittelbar nach einer leidenschaftlichen Liebeserklärung an Ernst die Mitteilung an, dass sie sich jetzt auf eine Radiosendung von Goebbels freue.7 Ihre soziale und persönliche Rolle als Eltern und Liebende war unlösbar verknüpft mit einer katastrophal falschen Sicht auf die kulturelle und politische Wirklichkeit.

Ihre intensive Liebe, Ernsts Tod, ihr lebenslanges Dasein als Witwe stellen unerbittliche Fragen. Wie soll der normale Mensch seine Haltung und Integrität bewahren in einem Land, in dem Krieg herrscht, seine Integrität bewahren, dem Partner im Sturmwind geopolitischer Kämpfe gegenüber loyal bleiben? Was hieß eigentlich »Deutschland« für sie? Für die meisten Menschen dürften Land und Nation eher kulturelle und linguistische Wirklichkeit als politische Realität sein, allenfalls gepaart mit patriotischen Träumen. Neil MacGregor hat uns eindringlich erinnert, wie fremd politische Einheit im zwanzigsten Jahrhundert für die Deutschen war. Wolf Lepenies hat gezeigt, wie wenig Fingerspitzengefühl die kulturelle Elite für empirische politische Fragen zeigte, wie wenig Toleranz die Deutschen in den Jahrhunderten ihrer nationalen Zerrissenheit für politische Kompromisse entwickelt hatten, die in demokratischer Praxis gang und gäbe sind.8 Konzilianz war ihnen fremd, ein Zeichen der Schwäche, der dekadenten »Zivilisation«, verglichen mit hehrer deutscher »Kultur«. Noch schwieriger ist zu begreifen, was es für normale Deutsche wie Lilo und Ernst hieß, Christen zu sein. Schließlich sah Hitler das Christentum als die systematische Kultivierung von Schwäche an. Wie kam es, dass so viele, die ihn verehrten, wie Ernst und Lilo auch, in der Überzeugung lebten, dass ihr christlicher Glaube und ihre christliche Praxis mit den Idealen und Programmen vom Nationalsozialismus zu vereinbaren waren?

Ernst Sommer wurde im September 1912 in Wienböken, einem Dorf in Schleswig-Holstein, geboren. Sein Vater, August Sommer, entstammte, wie Ernst bemerkt, mitteldeutschem und ostfriesischem Blut, und zog, als der Sohn erst vier Jahre alt war, als Freiwilliger in den Ersten Weltkrieg. Er berichtet 1936 an Lilo: »Als 1918 die Nachricht kam, dass Vater 1917 in der rumänischen Gefangenschaft höchstwahrscheinlich an Hungertyphus gestorben wäre, da brach Mutter zuerst zusammen. Ich erinnere mich deutlich an die Stunden. Wir Kinder spielten im Walde. Grete Peters, die Nachbarstochter holte uns. ›Din vater ist dot‹ sagte sie zu mir und ging mit mir. Mir war nicht klar, was mir da passierte. Nur von dem Ton und dem undeutlichen Gefühl eines Furchtbaren geschüttelt, ging ich voller Angst nach Haus. Mutter lag im schwarzen Kleid auf dem Liegesofa, Frau Dunkere bemühte sich um sie. Ich habe nur noch ein totenbleiches Gesicht vor Augen und weiß, dass wir zu Tode erschrocken unsere Mutter anstarrten.«9