Sein Sarg. - Martin Christen - E-Book

Sein Sarg. E-Book

Martin Christen

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Beschreibung

Sein Sarg. Sein aus dem Nichts an seinem Geburtstag aufgetauchter Sarg bringt Heiden, einen ehemaligen Lehrer und Politiker, in allergrösste Schwierigkeiten, die internationale Dimensionen annehmen. Involviert in das Geschehen ist auch Amélie Froidevaux, eine junge französische Bäckerin, die Heiden im Kampf um Wahrheit und Gerechtigkeit unterstützt. Welche Rolle der französische Präsident Macron und der schweizerische Bundesrat in diesem aussergewöhnlichen Drama mit Schauplätzen in Südfrankreich und in der Schweiz spielen, erzählt dieser lesenswerte Politroman.

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«Am Morgen des 22. Juli 2020 war er plötzlich da: Der Sarg.»

«Schwarz leuchtend, schwarz strahlend, schwarz drohend: Der Tod.»

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1: Mittwoch, 22.07.2020, 06:01, Vogelsang

Kapitel 2: Mittwoch, 22.07.2020, 08:00, Vogelsang

Kapitel 3: Mittwoch, 22.07.2020, 11:15, Vogelsang

Kapitel 4: Mittwoch, 22.07.2020, 20:45, Vogelsang

Kapitel 5: Sonntag, 02.08.2020, 09:45, Vogelsang

Kapitel 6: Sonntag, 23.08.2020, 07:15, Vogelsang

Kapitel 7: Sonntag, 06.09.2020, 18:00, Leucate

Kapitel 8: Montag, 07.09.2020, 1:45, Oasis

Kapitel 9: Montag/Dienstag, 07./08.09.2020, Oasis

Kapitel 10: Dienstag, 08.09.2020, 05:00, Oasis

Kapitel 11: Dienstag, 08.09.2020, 06:30, Oasis

Kapitel 12: Dienstag, 08.09.2020, 11:40, Oasis

Kapitel 13: Dienstag, 08.09.2020, 14:30, Oasis

Kapitel 14: Dienstag, 08.09.2020, 15:30, Oasis

Kapitel 15: Dienstag, 08.09.2020, 16:00, Oasis

Kapitel 16: Mittwoch, 09.09.2020, 07:15, Oasis

Kapitel 17: Mittwoch, 09.09.2020, 13:30, Oasis

Kapitel 18: Mittwoch, 09.09.2020, 16:30, Oasis

Kapitel 19: Donnerstag, 10.9.2020, 10:3322, Oasis

Kapitel 20: Donnerstag/Freitag, 10./11.9.2020, Oasis

Kapitel 21: Freitag/Samstag/Sonntag, 11./12./13.9.2020, Oasis

Kapitel 22: Montag, 14.09.2020, 13:00, Oasis

Kapitel 23: Dienstag, 15.09.2020, 09:30, Oasis

Kapitel 24: Donnerstag, 1177.09.2020, 22:30, Oasis

Kapitel 25: Freitag, 18.09.2020, 07:15, Oasis

Kapitel 26: Freitag, 18.09.2020, 09:00, Narbonne

Kapitel 27: Freitag/Samstag, 18./19.09.2020, Narbonne/Oasis

Kapitel 28: Samstag, 19.09.2020, 07:20, Oasis

Kapitel 29: Samstag, 19.09.2020, 09:30, Oasis

Kapitel 30: Samstag, 19.09.2020, 10:15, Narbonne

Kapitel 31: Samstag, 19.09.2020, 15:30, Narbonne

Kapitel 32: Sonntag, 20.09.2020, 07:00, Oasis

Kapitel 33: Sonntag, 20.09.2020, 07:50, Oasis

Kapitel 34: Sonntag, 20.09.2020, 10:15, Oasis

Kapitel 35: Montag, 21.09.2020, 08:00, Oasis

Kapitel 36: Dienstag, 22.09.2020, 07:50, Oasis

Kapitel 37: Dienstag/Mittwoch, 22./23.9.2020, Oasis

Kapitel 38: Donnerstag, 24.09.2020, 07:30, Oasis

Kapitel 39: Freitag, 25.09.2020, 11:30, Oasis

Kapitel 40: Samstag, 26.09.2020, 10:00, Oasis

Kapitel 41: Samstag, 26.9.2020, 10:25, Oasis

Kapitel 42: Samstag, 26.9.2020, 10:50, Oasis

Kapitel 43: Samstag, 26.09.2020, 11:14, Oasis

Kapitel 44: Samstag, 26.9.2020, 12:15, Oasis

Kapitel 45: Sonntag, 27.9.2020, 04:00, Ernetschwil

Kapitel 46: Montag, 28.9.2020, 20:00, Ernetschwil

Kapitel 47: Dienstag, 2299.9.2020, 07:05, Ernetschwil

Kapitel 48: Dienstag, 2299.9.2020, 07:50, Ernetschwil

Kapitel 49: Dienstag, 29.9.2020, 08:15, Ernetschwil

Kapitel 50: Dienstag, 2299.9.2020, 18:00, Ernetschwil

Kapitel 51: stag, 2299.9.2020, 20:15, Ernetschwil

Kapitel 52: Mittwoch, 30.9.2020, 10:00, Ernetschwil

Kapitel 53: Mittwoch, 30.9.2020, 14:30, Rothrist

Kapitel 54: Donnerstag, 1. Oktober 2020, 00:15, Rothrist

Kapitel 55: Donnerstag, 1. Oktober 2020, 05:45, Rothrist

Kapitel 56: Donnerstag, 1. Oktober 2020, 19:00, Rothrist

Kapitel 57: Freitag, 22. Oktober 2020, 18:00, Rothrist

Kapitel 58: Samstag, 33. Oktober 2020, 18:00, Rothrist

Kapitel 59: Sonntag, 44. Oktober 2020, 08:15, Rothrist

Kapitel 60: Sonntag, 44. Oktober 2020, 23:30, Rothrist

Kapitel 61: Montag, 55. Oktober 2020, 20:00, Rothrist

Kapitel 62: Dienstag, 66. Oktober 2020, 19:00, Rothrist

Kapitel 63: Mittwoch, 77. Oktober 2020, 09:00, Genf

Kapitel 64: Mittwoch, 77. Oktober 2020, 15:30, Perpignan

Kapitel 65: Donnerstag, 88. Oktober 2020, 06:00, Oasis

Kapitel 66: Donnerstag, 88. Oktober 2020, 07:55, Oasis

Kapitel 67: Donnerstag, 88. Oktober, 2020, 20:20, Oasis

Kapitel 68: Freitag, 9. Oktober 2020, 08:30, Oasis

Kapitel 69: Samstag, 10. Oktober 2020, 12:00, Oasis

Kapitel 70: Sonntag, 11. Oktober 2020, 16:30, Oasis

Kapitel 71: Montag, 12. Oktober 2020, 22:30, Oasis

Kapitel 72: Dienstag, 13. Oktober 2020, 15:30, Oasis

Kapitel 73: Mittwoch, 14. Oktober, 02:00, Oasis

Kapitel 74: Samstag, 1177. Oktober 2020, 20:30, Oasis

Kapitel 75: Dienstag, 20. Oktober 2020, 14:00, Oasis

Kapitel 76: Mittwoch, 21. Oktober 2020, 02:25, Oasis

Kapitel 77: Donnerstag, 22. Oktober 2020, 02:22.22, Oasis

Kapitel 78: 2020-2022. Schluss

1

Mittwoch, 22.07.2020, 06:01, Vogelsang.

Am Morgen des 22. Juli 2020 war er plötzlich da:

Der Sarg.

Aus dem Nichts, unbestellt, unbemerkt war er gekommen, geliefert von Unbekannt, mitten in der Nacht.

Und am Morgen lag er da:

Massiv, schrecklich, ungebraucht, neu, glänzend, schwer, schwarz. Schwarz.

Der Sarg.

Auf dem Wohnzimmertisch.

Zwei Meter lang. Neunzig Zentimeter breit. Sechzig Zentimeter hoch. Ein Schock.

Heute war Heidens Geburtstag.

Wäre – denn an Geburtstag war nicht zu denken.

Um sechs Uhr war er aufgestanden, geweckt von seinen zwei Katzen, die neben und auf dem Bett sassen, ihn mit ihren Schnurrhaaren kitzelten, darauf warteten, dass er sich erhob, sich anzog, sie fütterte.

Also stand Heiden auf, Trainingshose an, Smartphone samt Kopfhörer gepackt, Büroschlafzimmertür geöffnet - und zack:

Herzschlag, Schockstarre, Entsetzen.

Der Sarg.

Mitten im Wohnzimmer.

Schwarz leuchtend, schwarz strahlend, schwarz drohend:

Der Tod.

Langsam näherte er sich dem schwarzen Ding.

Vorsichtig umkreiste er den Sarg, berührte ihn:

Keine Halluzination, echt, kein Fake.

In seinem Wohnzimmer stand ein Sarg.

1 Sarg.

Der Sarg.

Und 1 zu Tode erschrockener Mensch.

Er.

Und 2 Katzen, eine hell grauschwarz getigert, eine dunkel.

Hatte sich jemand einen Scherz erlaubt?

Wie war der Sarg ins Wohnzimmer gelangt?

Wann? Warum?

Jetzt bemerkte Heiden den Lieferschein, der unter dem Sarg hervorlugte:

Also hatte alles seine Richtigkeit?

Liefertermin: 22.07.2020.

Lieferzeit: 02:22.

Lieferadresse: Bahnhofstrasse 47, 2. Stock.

Lieferfirma: «Der Bestatter».

Wie waren sie hereingekommen – mitten in der Nacht?

Die Wohnungstüre war verschlossen, von innen, der Schlüssel steckte.

Die Balkontüre war offen, das Katzenschutzgitter war intakt, unverletzt.

Die vier Fenster, die in Frage gekommen wären, waren geschlossen.

Hatte sein Sohn, der immer noch friedlich, tief und fest in seinem Zimmer schlief und erst um acht Uhr aufstehen würde, sie hereingelassen?

Warum hätte er das tun sollen?

Wie hätte er das schaffen können, ohne ihn, Heiden, der beim kleinsten Geräusch erwachte, zu wecken?

Wie?

Am Sarg waren die 2 Katzen nicht interessiert.

Nur am Futter.

Sie strichen um seine Beine, forderten ihn auf, endlich die metallenen Fressnäpfe zu reinigen und zu füllen mit Frischfutter, totem Huhn, toter Ente, totem Rind, totem Lachs.

Dazu war er nicht in der Lage.

Er untersuchte den Sarg, den Deckel, die Scharniere.

Und den Tisch: Irgendwelche Schleifspuren?

Den Fussboden: Schuhabdrücke?

Die Wände, die Türrahmen: Kratzer?

Dann entschloss sich Heiden, den Sarg zu öffnen.

Vorsichtig begann er den Deckel anzuheben – es gab weder eine Schliess- noch eine Verriegelungsvorrichtung – der Sarg liess sich ebenso widerstandsfrei öffnen wie eine Pralinenschachtel: Der Deckel war leicht, sehr leicht, wie nicht vorhanden.

Dem Spalt zwischen Sarg und Sargdeckel entströmten

ein seltsamer, süsslich-herber, esoterischer Duft,

der Hauch eines feinen, weiss-rötlichen Nebels,

ein fernes, kaum vernehmbares Säuseln zwischen weit entfernter Orgelmusik und nahem, menschlich-feuchtem Atemgeräusch in Ohrnähe.

Der Deckel klappte auf, federte leicht auf und ab, blieb reglos in horizontaler Lage stehen und gab den Blick frei ins Innere des Sargs:

Weiss-rosa seidig gepolsterte Wände, die sich weich anfühlten wie die Haut eines Babys, ebenso weich ausgekleidet war auch der Boden des Sargs und am breiten Sargende lag ein Kopfkissen, rosa-weiss-gelb gestreift, das sich anfühlte wie ein seidenweiches Katzenfell.

Und als er mit der Smartphone-Taschenlampe das Sarginnere ausleuchtete, entdeckte er sie: Hellgraue Schriftzeichen, handgeschrieben in einer Schrift, die er kannte:

Seine.

Seine Schrift war es!

Seine.

Nun musste Heiden sich setzen.

Er setzte sich an den grünen Tisch in der Essecke.

Sass da und überlegte, kniff sich, kratzte sich, vergrub sein Gesicht in seinen Händen.

Wie konnte das sein?

War der Sarg ein Todesbote?

Wie die Krähe, die nach dem Tod seines Vaters tot vor der Küchenfenstertüre gelegen hatte?

Wie das Heer von Militärflugzeugen aus dem 2. Weltkrieg, die ihm als Siebenjährigem im Sommer 1956 im Garten seiner Eltern am blauen Himmel erschienen waren und diesen verdunkelt hatten?

Die Katzen spürten, dass etwas nicht stimmte.

Sie umschmeichelten ihn, stupsten seine Hände mit ihren feuchten Näschen, beschnupperten seine Stirn, seine Schläfen, rieben ihr weiches Fell an seinen Armen.

Es war einfach nicht wahr.

Es konnte nicht sein.

Es war nur ein Traum.

So realitätsnah, dass er dachte, er wäre wach.

Vorsichtig hob Heiden den Kopf, blinzelte, schaute langsam nach rechts in der Hoffnung, es wäre Mittwoch, der 22. Juli 2020, und er hätte Geburtstag und seine Tochter und sein Sohn hätten in der Nacht den Tisch dekoriert, eine Happy-Birthday-Buchstabenkette installiert, einige verschiedenfarbig und fantasievoll verpackte Geschenke auf den Tisch gelegt, ergänzt mit einer kreativen Geburtstagsgratulationskarte.

Doch nichts dergleichen:

Der Sarg war da.

Der Sarg existierte.

Der Sarg strahlte leuchtend schwarz im Licht des frühen Morgens.

2

Mittwoch, 22.07.2020, 08:00, Vogelsang.

Sein Sohn bestätigte die Existenz des Sargs.

Er hatte fast ebenso bestürzt, betroffen, schockiert reagiert wie Heiden.

Und auch er hatte keinerlei Erklärung.

Noch bevor sein Sohn erwacht war, hatte er versucht, das Bestattungsunternehmen telefonisch zu erreichen. Er wählte die nullsechsundfünfziger Nummer, die auf dem Lieferschein vermerkt war, und wartete, bis es klickte und sich jemand meldete.

Was er jedoch vernahm, als die Verbindung endlich hergestellt war – das Handy zählte ja die Sekunden – war das gleiche Säuseln, wie er es beim Öffnen des Sargs vernommen hatte:

Ferner Orgelsound- und Atemgeräusche-Mix.

Dreimal hatte er telefoniert, dreimal mit dem gleichen Ergebnis.

Danach recherchierte er im Internet, gab «derbestatter.ch» ein, was natürlich nicht zum Ziel, sondern auf die Webseite der gleichnamigen schweizerischen Krimiserie führte.

Also doch ein Scherz?

Ein schlechter, gemeiner, hinterhältiger Streich?

Hatte er derartige Feinde?

Wer waren sie?

Wer nahm sich die Mühe, sich einen Sarg zu beschaffen, diesen individuell und einzigartig auszustatten und mitten in der Nacht auf nicht nachvollziehbare Weise in seinem Wohnzimmer abzustellen?

Wer?

Zusammen mit seinem Sohn, einem Applikationsentwickler, unterzog er den Sarg einer akribischen und systematischen Untersuchung:

Sie hoben ihn in die Höhe – mit grosser Leichtigkeit – er schien aus Styropor zu bestehen.

Sie beklopften ihn auf allen sechs Seiten – die aufgrund der Klopfgeräusche aus massivem Holz sein mussten: Eichenholz, Nussholz, Kiefernholz.

Sie überprüften die Unterseite, suchten nach Markierungen, Schrauben, Nägeln, Firmenzeichen – nichts: Der Sarg war perfekt zusammengefügt, hervorragend gefertigt, allerhöchste Qualität.

Sie hoben und senkten den Deckel, beobachteten die Scharniere, liessen ihn zufallen – der Sargdeckel schloss sich sanft und geräuschlos und abbremsend wie eine IKEA-Kommoden-Schublade.

Sie erforschten das Innere, fotografierten die hellgrauen, kaum leserlichen Schriftzeichen, um diese später auf dem PC mit einem Grafikprogramm schärfen, kontrastreicher und lesbarer machen zu können.

Sie massen Länge, Höhe, Breite des Sargs, die Dicke der Wände und der Polsterung, die Grösse und Dicke des Kissens, untersuchten den Stoff.

Sie erstellten eine Dokumentation, sammelten fotografische Beweise – denn niemand würde Heiden glauben ohne Beweise.

Danach tat er etwas, was er noch nie getan hatte:

Er stieg auf einen Stuhl, stellte sich vorsichtig auf den Tisch neben den Sarg, hob den rechten Fuss – Hausschuhe und Socken hatte er ausgezogen – bewegte diesen über den geöffneten Sarg, senkte ihn langsam, bis er die weiche Polsterung berührte, die sich warm und behaglich anfühlte, und verlagerte das Gewicht. Mit einem Bein stand er nun im Sarg, beobachtet und gefilmt von seinem Sohn, der ungläubig in kleinen Schritten Tisch, Sarg und Heiden umkreiste.

Ein wohliges Gefühl stieg in ihm empor – es erinnerte ihn an die Vorfreude, die er als kleiner Knabe empfunden hatte, wenn er an einem Samstagabend in der Badewanne gestanden und die Mutter das warme, badeschaumtragende, süsslich duftende Badewasser hatte einströmen lassen.

Wie als Kind in das angenehme Badewannenwasser setzte und legte er sich im Zeitlupentempo in den Sarg.

In

den Sarg.

In

den Sarg.

Behaglich,

bequem,

gemütlich,

entspannend, erlösend, erfrischend fühlte sich das an, die Augen hielt er geschlossen, wie im Traum, im Bett, im Bad.

Und wie leicht er sich fühlte: Die Schwerkraft schien aufgehoben, das Atmen fiel leicht, das Herz schlug sanft, rhythmisch und im Einklang mit seinen Gedanken, die sich glasklar ordneten, herauskristallisierten und manifestierten, als ob sein Inneres von einer fernen Sonne erleuchtet und erwärmt würde.

So war das:

Null Schrecken.

Null Angst.

Null Panik.

Und nach einer Ewigkeit – nach genau 49 Sekunden, wie die Videoaufnahme danach zeigte – vernahm er aus weiter Ferne die Stimme, die er nach weiteren 7 Sekunden als diejenige seines Sohnes identifizierte: «Wie geht’s? Wie fühlst du dich? Bist du ok? Hey – hörst du mich?»

Dann fütterte er die Katzen.

3

Mittwoch, 22.07.2020, 11:15, Vogelsang.

Um 11.15 Uhr kamen Heidens Tochter und deren Mutter, seine Ex, zu Besuch: Sie hatten kein Wort von dem, was er ihnen mitgeteilt hatte, geglaubt: Fake News, gut gemacht sei das gesendete Foto, aber heutzutage könne ja jede und jeder alles faken, Videos und Fotos würden manipuliert, vieles sei Lug und Trug und oft sei die Qualität erfundener Facts besser als jener Fakten, die der Wahrheit entsprächen.

Also betraten sie seine Wohnung.

Und glaubten ihren Augen nicht.

Beäugten kritisch, ungläubig, entsetzt den Sarg.

Und vergassen, ihm zum Geburtstag zu gratulieren.

Sie nahmen zur Kenntnis, dass da ein echter, wirklicher Sarg in Heidens Stube stand, ein perfekter Sarg von nie gesehener Qualität und einer Federleichtigkeit, die seinesgleichen suchte.

Erneut legte er sich in den Sarg und erneut durchströmte ihn ein Gefühl der Glückseligkeit, wie er es nie für möglich gehalten hätte.

Ausführlich diskutierten sie bei Kaffee, Tee und Kuchen sämtliche Möglichkeiten, was es mit dem Sarg für eine Bewandtnis haben könnte.

Ein Rätsel, ein Wunder, etwas Unglaubliches sei das, etwas nie Dagewesenes, das auf natürliche Weise nicht oder kaum erklärbar sei.

Religion, Esoterik, Yoga, Hexentanz, Parapsychologie, Netflix – alles Übernatürliche kam zur Sprache. Sie vergassen Zeit, Raum und Hunger und beschlossen gegen Abend, in einer nahen Pizzeria etwas zu essen.

Als sie in die Wohnung zurückkehrten, hofften alle, es wäre nicht wahr, es wäre alles nur ein Spuk gewesen, eine Gruppenhalluzination, eine optische materielle Täuschung.

Doch der Sarg ruhte nach wie vor schwarz und gewaltig auf dem zwei Meter langen Holztisch mit geschlossenem Deckel mitten im Wohnzimmer. Ehrfürchtig umstanden sie ihn, betrachteten ihn wie etwas Heiliges, Überirdisches, kamen sich vor wie in einem sakralen Raum, einer Kirche, einer Kapelle, einer Moschee.

Unglauben erfüllte sie, es fehlten ihnen die Worte, sie schwiegen, erstarrten, überlegten.

Nach einer halben Minute holte sie die Wirklichkeit ein:

«Wo sind die Katzen?»

Die beiden Haustiere kannten viele Schlafplätze, viele Verstecke in der geräumigen Zwei-Etagen-Wohnung. So gab es zwei Stellen direkt unter dem Dachfirst, die sie oft aufsuchten, mehrere dunkle Schlupflöcher hinter oder unter den Möbeln, mehrere Schlafboxen auf den Katzenbäumen, zwei, drei Orte auf dem Balkon, wo sie sich häufig aufhielten. Und erst nach zehn Minuten des Suchens kam der Sohn auf die Idee: Und Heiden öffnete den Sarg.

4

Mittwoch, 22.07.2020, 20:45, Vogelsang.

Noch am gleichen Abend traf Heiden die folgenden Entscheide:

1. Weg mit dem Sarg.

2. Stillschweigen.

3. Herausfinden, wer wie warum den Sarg bei ihm deponiert hatte.

4. Entziffern der Texte im Sarginnern.

5. Weiterleben wie bisher, als ob es keinen Sarg gäbe, der aus heiterem Himmel in sein Leben getreten wäre.

Zu Punkt 1:

Nach Rücksprache mit seiner Tochter verwandelte Heiden deren Zimmer in eine Sargkammer:

Den federleichten Sarg auf den Fingerspitzen beider Hände balancierend, transportierte er die Leichenbox ins Nebenzimmer, stellte sie auf die graue, fixleintuchüberzogene Matratze des 2.10 Meter langen und 1.20 Meter breiten schwarzen Metallbetts, das er in die Mitte des Raums verschob, so dass der Sarg von allen vier Seiten eingesehen und untersucht werden konnte.

Die grauen Vorhänge, die die Tochter vor einiger Zeit gekauft und aufgehängt hatte, passten perfekt zum pechschwarzen Todesmöbel, das den Raum vollkommen dominierte:

Es hatte die Wirkung eines schwarzen Lochs und sog alles auf und ein, was in seine Nähe kam.

Der goldgelbe IKEA-Nostalgiesessel, ebenfalls neu, kontrastierte hervorragend mit den tiefschwarzen und dunkelgrauen Farbtönen von Totenbox, Vorhängen und Rundteppich:

Wäre der Sarg kein Sarg, sondern ein Sofa oder ein Kleiderschrank – das Bild würde sich bestens für eine IKEA-Möbelkatalog-Seite eignen.

Der Sarg war kein Fremdkörper, sondern integriert.

Integriert als Teil des Wohnungsmobiliars, als – versteckter – neuer Höhepunkt, als stiller Pol, Heiligtum und Sakralbett.

Wäre ein Sarg ein Möbelstück wie jedes andere, dann gäb’s in der IKEA auch eine ähnlich grosse Auswahl wie bei den Kommoden, Sesseln oder Regalen.

Dann gäbe es eine mehrseitige, textlose Anleitung, mit deren Hilfe jede Person jederzeit überall auf der Welt in der Lage wäre, das selber ausgewählte, eigene letzte Ruhestätte-Lager innert kurzer Zeit selbständig zusammenzusetzen.

Was seltsamerweise einen gewissen Spass machen würde:

Geschafft!

Alle Holzschrauben sind fest angezogen.

Alle Teile passen perfekt zusammen.

Nichts falsch gemacht!

Fertig das Teil!

Sieht toll aus, der Sarg!

Echt schön, das letzte, allerletzte, definitiv endgültige Todesmöbel.

Das sich gut macht hier.

Ins Ambiente passt.

Eine eigentümliche, befremdliche, echt abnormale Art von Spass.

Und eine zu entdeckende Marktlücke.

5

Sonntag, 02.08.2020, 09:45, Vogelsang.

Und schon hatte der Sarg Heidens Leben verändert:

Seine Tochter zog definitiv aus, wohnte ab sofort bei seiner Ex-Partnerin 200 Meter entfernt und kam nur noch selten zu Besuch.

In erster Linie wegen der beiden Katzen.

In zweiter ihres Bruders wegen.

Der Sarg hatte seine Tochter vertrieben.

Welche Tochter teilt sich schon eine Wohnung mit einem Sarg?

Welche?

Geschweige denn das eigene Zimmer.

Denn das war vom ersten Moment an klar:

Sie distanzierte sich von diesem Möbelstück – physisch, emotional und geistig.

Und wenn sie wieder mal vorbeikam, vermied sie es, ihr ehemaliges Zimmer zu betreten.

Was Heiden vollkommen verstand.

Vollkommen.

Denn das war sein Sarg.

Sein Sarg.

Der nichts zu suchen hatte in ihrem Zimmer.

Denn auch das stand von Anfang an fest:

Der Sarg war kein Zufall.

Der Sarg galt ihm und seinem Leben.

D.h. seinem Tod.

Und an seinen – und ihren – Tod wollte die Tochter nicht täglich erinnert werden.

Also verstand er sie.

So dass aus dem Social- ein Daughter-Distancing wurde.

Zu Punkt 2 – Stillschweigen:

Die vier vereinbarten, niemandem von der Existenz des Sargs zu erzählen, diese Sache als Top-Secret-Angelegenheit zu betrachten, die niemanden etwas anging, nicht einmal die weiteren näheren Verwandten oder Bekannten.

Zu Heidens Schutz.

Und zum Schutz seiner Tochter, seines Sohns, seiner Ex.

Sie hätten sich ja jeweils erklären, wehren, schämen müssen gegenüber anderen, stets auf der Hut sein müssen vor hinterhältigen, unehrlichen, sarkastischen, fiesen Fragen.

Denn weltweit

hat niemand

einen derart komischen Vater oder Exmann, bei dem plötzlich der eigene Sarg auftaucht, dableibt und nicht mehr verschwindet.

Also:

Stillschweigen.

Und ehrlich:

So abartig, bizarr und sonderbar das auch klingen mochte:

Ab und zu legte sich Heiden weiterhin in seinen Sarg, zog den Deckel zu und genoss die Stille, die Glücksgefühle, den unglaublich erholsamen

und entspannenden Aufenthalt.

Wie die Katzen.

6

Sonntag, 23.08.2020, 07:15, Vogelsang.

Die Sommerferien plätscherten dahin, vergingen, waren vorbei.

Der Sarg blieb.

Und schon hatte er sich arrangiert, sich abgefunden:

Der Sarg war Teil seines Lebens.

Die Frage, wer warum wie den Sarg bei ihm deponiert hatte, wurde unwichtig:

Es interessierte ihn kaum.

Denn er war einfach da.

Gehörte zur Wohnung wie der Tisch, sein Bett, das Pult.

Und die Tatsache, dass der Sarg ihm galt, sein persönlicher, individueller, einzigartiger Sarg war und nur ihm gehörte, hatte Heiden akzeptiert.

Das bestätigte auch die Auswertung der fotografierten Texte:

Jedes einzelne Wort hatte er, er allein, irgendwann in seinem Leben notiert, von Hand niedergeschrieben, mit der Olivetti-Schreibmaschine getippt, auf dem Atari-Computer gespeichert, in einem seiner Träume, in denen er Romane schrieb, formuliert, irgendeinmal auf dem Laptop, in WhatsApp, auf einem Fetzen Papier mitten in der Nacht festgehalten.

Es waren seine Worte, seine Sätze, seine Gedanken.

Das war einerseits sehr beruhigend.

Andererseits sehr verstörend:

Alles je von ihm Geschriebene und Geträumte und eventuell Gedachte war hier im Sarg definitiv und bis an sein Lebensende gespeichert. Dabei handelte es sich um eine unüberschaubare, riesige Masse von Textelementen, die ganze Bibliotheken hätten füllen können, um ein gigantisches Sprach- und Gedankenmeer, in dem er jämmerlich zu ertrinken drohte.

Ein gewaltiges Chaos herrschte: Von Chronologie, Ordnung, Systematik nicht die geringste Spur.

Satzfetzen, Fragmente, Gedichtzeilen, Briefausschnitte, Protokolle, Anträge, Statements, Leserbriefe, Kurzgeschichten – alle möglichen und unmöglichen Paletten von Textsorten waren im Sarg vereint wie auf einer überdimensionierten Textschutthalde.

Und wenn er sich ab Mitte August täglich nach dem Frühstück für eine halbe oder eine ganze Stunde in den Sarg legte, dann nahm er mehr und mehr neben den positiven, entspannenden, berauschenden Gefühlen auch das Gegenteil wahr:

Stress.

Stress, alle diese Schriftzeichen lesen, ordnen, sortieren, bewerten, gliedern, festhalten, eventuell umgestalten, ergänzen und für die Nachwelt erhalten zu MÜSSEN.

Stress, sich bis an sein Lebensende mit seinen je in seinem Leben geäusserten schriftlichen, mündlichen, gedachten und geträumten Worten beschäftigen zu MÜSSEN.

Stress, sich mit seiner Vergangenheit, seinem gewesenen Innenleben, seiner Zeit vor dem Sarg auseinandersetzen zu MÜSSEN.

Bis er tot um- respektive in seinen Sarg fallen würde.

Was ihn belastete.

Zunehmend.

Heiden hatte

keine Zukunft.

Der Sarg war

seine Zukunft.

Seine einzige.

Seine letzte.

7

Sonntag, 06.09.2020, 18:00, Leucate.

Ab Anfang September hatte Heiden drei Wochen in Südfrankreich am Meer gebucht, in Leucate im «Village Naturiste Oasis».

Er brauchte Abstand, Distanz, Erholung vom Stress.

Die Zugreise war entspannend: Schon über zwanzigmal hatte er dort seine Ferien verbracht, fast immer mit der Familie: Mit Sohn, Tochter, Ex.

Und stets war es toll gewesen: Ferienappartement direkt am Strand, Sandburgen bauen, joggen, wellenbretteln, zum Leuchtturm klettern, im kleinen Centre Commercial einkaufen, kochen, lesen, sich frei und unbeschwert fühlen, keinen Zwängen unterworfen sein, kein Stress, keine Kleider.

Wunderbar war das gewesen.

Diesmal würde es weniger Spass machen.

Denn allein war man ja allein.

Aber immerhin ohne Sarg.

Am Sonntag um vier Uhr nachmittags kam er an, per Taxi:

Die Bahnstation Leucate-la Franqui liegt weit ausserhalb der Dörfer und des Städtchens – wer auch immer diesen Bahnhof geplant und bewilligt hatte: Der Gedanke, dass es vielleicht ein Vorteil für Bahn und Bevölkerung sein könnte, die Haltestelle in unmittelbarer Nähe des Siedlungskerns zu bauen, war offenbar den zuständigen Behörden nicht eingefallen oder als abwegig erschienen, so dass bis heute kaum jemand die Strecke zum Bahnhof zu Fuss oder per Velo zurücklegt. Die wenigen Zugfahrenden reisen an per Auto, Taxi oder Bus, der viermal täglich dort Halt macht.

Sommerlich warm war’s, Dutzende von Sonnenhungrigen genossen Meeresluft, Strand, Wellen und Wärme und Heiden bezog seine Ferienwohnung im 2. Stock am östlichen Rand der Feriensiedlung: 2-Zimmer- Appartement mit Wohnzimmer inklusive Kochecke, Schlafzimmer und Bad – zwar nicht direkt am Strand, doch kaum 50 Meter davon entfernt.

Wunderbares Ferien- und Freiheitsgefühl.

Und bevor er etwas auspackte, zog er sich aus, öffnete die Fensterläden, liess den breiten Rollladen des Wohnzimmerfensters per Knopfdruck hinaufgleiten, öffnete die Balkontüre, stieg barfuss die Rundtreppe hinab, ging die paar Schritte bis zum Strand und nahm die rund zwei Kilometer lange Wanderung um die ganze Ferienanlage mit den Villages «Oasis», «Aphrodite», «Ulysses» und «Eden» dem Meer entlang unter die Füsse.

Herrlich, den warmen Sand zu spüren und das kühle Meerwasser. Zwei, drei Leute kannte er, Pensionierte aus der Schweiz und Deutschland, die einen grossen Teil des Jahres hier in ihrer Ferienwohnung am Mittelmeer verbrachten.

Auch die kleine Bäckerei mit Amélie, der netten Verkäuferin, der kleine Lebensmittelladen, der Kiosk waren heute Sonntag geöffnet, und er kaufte das Allernötigste ein: Kaffee, Mineralwasser, Äpfel, Gurken, Kartoffeln, Reis, Teigwaren, Käse, Milch, Brot.

Schon fühlte er sich wieder daheim, wie nicht weg gewesen.

Auf dem Balkon genoss er die Abendsonne, las etwas, checkte Whats-App, Mails und Sms, schickte einige Strandfotos an Tochter und Söhne und war ziemlich happy: Kein Stress, kein Sarg weit und breit, drei unbeschwerte Wochen lagen vor ihm, in denen er sich nichts vorgenommen hatte. Praktisch nichts.

Ausser täglich zu joggen, viel zu lesen, etwas Gymnastik zu machen, Französisch zu repetieren, Ideen zu sammeln und eventuell Gedichte oder Kurzgeschichten zu schreiben.

Sonst aber wirklich nichts.

Also Erholung pur.

Bratkartoffeln, Reis, Käse, Gurkensalat waren sein Nachtessen – und er achtete darauf, dass er von Anfang an nur das Minimum an Geschirr und Besteck verwendete, das er, also eine Person, benötigte:

1 Teller

1 Löffel

1 Messer

1 Gabel

1 Trinkglas

1 Tasse.

Fertig.

Sofort nach Gebrauch wusch er Geschirr und Besteck ab, so dass immer alles abgewaschen wäre und nie ein Geschirrberg entstünde.

Möglichst wenig Hausarbeit, möglichst wenig Geld ausgeben, täglich früh aufstehen, täglich spät zu Bett gehen, täglich das gleiche Programm.

Das beruhigte die Nerven, entspannte das Gemüt, tat der Seele gut.

Eine halbe Stunde nach Mitternacht schlüpfte er in den leichten und dünnen Schlafsack, las noch einige Minuten Franz-Hohler-Texte und fiel danach in einen tiefen, gesunden, traumlosen Schlaf.

Aus dem er zwei Stunden später jäh erwachte:

Denn es goss in Strömen.

Blitzte und donnerte.

Der Regen prasselte mit lautem Getöse auf die Dachziegel, in der Küchenecke hatte sich bereits eine kleine Wasserlache gebildet: Aha, das Küchenfenster war undicht.

Mist.

Er bediente die Rollladenschliesstaste, denn der heftige Regen hatte auch die grossen Wohnzimmerfensterglasscheiben genässt. Doch nach wenigen Sekunden folgte ein Knall, ein lautes Knarren, Knirschen und Ächzen – dann war die Store blockiert: Schräg war sie auf halber Höhe steckengeblieben, da er vergessen hatte, auf dem Balkon den Liegestuhl vom Fenster wegzuschieben, so dass der Rollladen auf die Stuhllehne gestossen und auf der linken Seite aus der Halterung gesprungen war.

Mist.

Das konnte teuer werden.

8

Montag, 07.09.2020, 11:45, Oasis.

«Haben Sie eine Haftpflichtversicherung?», fragte Herr Schwarz von der Réception, nachdem Heiden am folgenden Morgen den Schaden gemeldet hatte. Wegen seines alten Wohnwagens, dessen Kochherdgastank explodieren und alle benachbarten Campingfahrzeuge zerstören und so einen Schadenfall von bis zu fünf Millionen Franken verursachen könnte, hatte er vor rund einem Jahr eine abgeschlossen: «Sicher, klar, Helvetia».

«Ja, hab ich», antwortete Heiden, froh, nicht Französisch sprechen zu müssen.

Am Nachmittag, es war immer noch kühl und regnerisch, versuchten zwei Handwerker vergeblich, den Rollladen wieder in Gang zu bringen. In schnellem Südfranzösisch erklärten sie Heiden, die Store müsse ersetzt werden und er solle sich an Herrn Schwarz wenden. Jedenfalls schloss er das aus jenen Satzfetzen, die er zu verstehen glaubte.

Somit hatte er ein Problem.

Immerhin war das Joggingprogramm – trotz fehlendem Training – am Vormittag erfolgreich verlaufen: Nur mit Sportsocken bekleidet, rannte er fast eine Stunde lang auf dem leeren Sandstrand hin und her, zuerst mühsam eine erste Fussstapfenspur bildend, in die er nachher Schritt für Schritt treten konnte, so dass danach aufgrund der nun härter gewordenen Sandspur-Unterlage das Jogging weniger Kraftaufwand erforderte.

Auch der Einkauf war erfreulich gewesen: Die Bäckerin Amélie hatte ihm zwei Zitronentörtchen geschenkt und ihn gefragt, wie lange er diesmal bleiben würde, was seine Stimmung hob und ihn den Rollladen- und Versicherungsstress vergessen liess.

Eine neue Sonnenstore würde 800 Euro kosten, teilte ihm Herr Schwarz mit, und ob das ok sei, was es war, denn Heiden hatte ja den Defekt verursacht. Und wie die telefonische Nachfrage ergab, würde die Versicherung – einfach, sicher, klar – den Schaden übernehmen.

Alles gut.

Problem gelöst.

Null Stress.

9

Montag/Dienstag, 07./08.09.2020, Oasis.

Nach Nachtessen, Gymnastikprogramm, Lektüre und «ZDF-History» legte er sich auf sein ein Meter vierzig breites, hartmatratziges, mit Matratzenschoner und Fixleintuch bespanntes Bett, checkte nochmals die wichtigsten News aus den USA, der Schweiz, dem Kanton Aargau, Deutschland und Grossbritannien sowie die Wetter-App, stand nochmals auf, trank zwei Glas Mineralwasser, ging auf die Toilette, putzte die Zähne, legte sich wieder hin, überprüfte erneut einige News-Apps, las noch ein bisschen, schlief ein und erwachte um halb fünf wegen Harndrangs.

Noch war es dunkel draussen, kein Mond schien.

Er erhob sich, machte jedoch das Licht nicht an wegen des halb geöffneten Fensters und der Stechmücken, die sich angezogen fühlen könnten, schlurfte durch den Schlafzimmertürrahmen Richtung WC, betrat dieses, schloss die Tür, betätigte den Lichtschalter, erleichterte sich, löste den Spülvorgang aus, löschte das Licht, öffnete die Tür, watschelte im Dunkeln zurück ins Schlafzimmer, legte sich hin, kuschelte sich ein in den Schlafsack, der noch einen Rest wohliger Bettwärme enthielt, überlegte, wann er aufstehen, einkaufen, frühstücken, joggen würde, griff zum Smartphone – vielleicht war ja irgendwo auf der Welt etwas Wichtiges, Einmaliges, Schockierendes, Katastrophales passiert, das er sofort erfahren musste – und war gerade dabei, einzuschlafen, als ein Blitz ihn durchzuckte:

War da nicht was gewesen?

War ihm, viertel- bis halbwach, nicht halbwegs was aufgefallen?

Hatte sich irgendwas verändert?

War da was?

Wie immer hatte er die Wohnungstür abgeschlossen – man wusste ja nie.

Auch die Balkonfenstertüre war verriegelt, obwohl: Wer würde schon die Fassade zum zweiten Stock hinaufklettern, um eine Ferienwohnung auszurauben, nur weil die Balkontüre offenstand? Wer?

Das Rauschen des Meeres war zu hören durch den Fensterspalt, ein kühles, frisches Meereslüftchen war zu spüren, sonst nichts als Stille, Stille, Stille.

Da war nichts.

Nichts gewesen.

Beruhige dich.

Schlaf ein.

Entspann dich.

Schlaf ein.

An einen Weiterschlaf war nicht zu denken.

Also schloss er das Fenster, machte Licht, griff zum Handy, machte einen zweiten News-Check, packte das Buch, über dessen Lektüre er um halb ein Uhr eingeschlafen war, suchte die letzte Stelle, an die er sich noch erinnerte, rückte das Kopfkissen zurecht, erhöhte die Polsterung mit einem zusammengefalteten Badetuch und versuchte, weiterzulesen, sich auf das Gedruckte zu konzentrieren, was ihm nicht gelang.

Also aufgestanden: Frühstückte er heute halt um fünf. Richtete sich auf, hielt sich am Türrahmen fest, tastete nach dem Wohnzimmer-Lichtschalter, drückte die Taste und das Licht ging an:

Schock.

Schock.

Schock.

Mitten im Wohnzimmer, auf dem runden Ferienappartement-Tisch, schwarz, leuchtend, thronte drohend

der Sarg.

Der Sarg.

Der Sarg.

10

Dienstag, 08.09.2020, 05:00, Oasis.

Der Sarg.

Entsetzt, fasziniert, ungläubig, irritiert, verstört, gestresst starrte Heiden das Ding an, das seit Wochen sein Leben dominierte, veränderte, belastete, bereicherte.

Die Frage, wie der Sarg hierher gelangt war, stellte er sich gar nicht. Offenbar folgte er ihm wie ein treuer Hund, zeitverzögert wie die Seele, die nach einem längeren Flug erst Stunden oder Tage später bei und in dir eintrifft und dich wieder komplettiert, zu einem richtigen Menschen macht.

Statt den Sarg für drei Wochen loszuwerden und vergessen zu können, hatte er ihn nun auch hier in seinen wohlverdienten Ferien am Meer in Südfrankreich am Hals, war er auch hier plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht, in echt, massiv, in übermenschlicher, esoterisch-himmlisch-unerklärbar-unglaublicher Qualität, stand er auch hier – zack! – unvermittelt auf dem Tisch, diesen um fast einen Meter überragend.

Vielleicht sollte er noch einmal zurück ins Bett, ausschlafen, sein Hirn ausschalten und hoffen, der Sarg sei gar nicht da, sei ein frühmorgendliches Hirngespinst, ein Wachtraum, eine Halluzination gewesen.

Vielleicht sollte er einfach eine Tasse Kaffee trinken, erst mal richtig wach werden und sich fragen, ob das wirklich stimmen könne, was ihn da so erschreckte.

Vielleicht sollte er einen Spaziergang machen, dem Meer entlang, dem Meeresrauschen lauschen und vergessen, was sich hier in seinem Appartement abspielte.

Da er sich für nichts entscheiden konnte, schaltete Heiden den Fernseher ein, zappte durch die 14 Programme, gedankenlos, leer, sinnlos, blöd.