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"Nella Larsens Roman "Seitenwechsel" ist das Gegenstück zu Scott Fitzgeralds "Der große Gatsby"." Irene Redfield flieht vor der Hitze eines heißen Sommertages ins Dachrestaurant des Drayton Hotels in Chicago. Sie traut ihren Augen kaum, als sie hier ihre Freundin aus Kindertagen wiedertrifft. Clare Kendry ist nach dem frühen Tod ihres Vaters bei weißen Verwandten aufgewachsen und der Kontakt zwischen den Freundinnen abgerissen. Zwei Jahre später zieht Clare nach New York und meldet sich bei Irene, die in Harlem lebt, während Clare in der Welt der Weißen zu Hause ist. Clare ist mit einem Rassisten verheiratet, der nicht auch nur entfernt von ihrer schwarzen Herkunft ahnt. Zudem beunruhigt Irene mehr und mehr, daß Clare eine magische Wirkung auf ihren eigenen Ehemann zu haben scheint. Clare, die Wanderin zwischen den Welten, liebt die Gefahr und das Spiel mit dem Feuer - und droht ständig, sich zu verbrennen.
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Seitenzahl: 173
Nella Larsen
Seitenwechsel
Roman
Aus dem Amerikanischen von Adelheid Dormagen
DÖRLEMANN
Die Originalausgabe erschien 1929 unter dem Titel Passing bei Alfred A. Knopf, New York. eBook-Ausgabe 2013 Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten Copyright © 2011 Dörlemann Verlag AG, Zürich Umschlagfotografie: Constantine Manos, Magnum Photos Umschlaggestaltung: Mike Bierwolf Porträt Nella Larsen: © Yale Collection of American Literature, Beinecke Rare Book and Manuscript Library Satz und eBook-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde ISBN 978-3-908778-19-6www.doerlemann.com
Nella Larsen
Für Carl van Vechten und Fania Marinoff
Jahrhunderte verbannt
Von Orten, den Ahnen lieb,
Würziger Hainduft, Zimt,
Was ist Afrika für mich?
Countee Cullen
erster teil
Die Begegnung
eins
Es war der letzte Brief in Irene Redfields kleinem Stapel Morgenpost. Nach den üblichen und deutlich adressierten Briefen zuvor wirkte der längliche Umschlag aus dünnem italienischem Papier mit dem fast unleserlichen Gekritzel fehl am Platz, fremdartig. Auch haftete ihm etwas Geheimnisvolles und leicht Verstohlenes an. Ein dünnes, heimlichtuerisches Ding, das keinen Absender trug, der den Schreiber verriet. Als wenn sie dennoch nicht sofort gewusst hätte, wer es war. Vor etwa zwei Jahren hatte sie schon einmal einen Brief von sehr ähnlichem Aussehen erhalten. Verstohlen, aber dennoch auf eine ganz eigene, entschlossene Weise ein wenig protzig. Violette Tinte. Fremdes Papier von ungewöhnlichem Format.
Der Brief war, stellte Irene fest, am Vortag in New York abgestempelt worden. Ihre Augenbrauen zogen sich fast unmerklich zusammen. Das Stirnrunzeln drückte eher Verwirrung als Ärger aus; doch in ihren Gedanken war von beidem etwas. Aus dem Brief, dessen war sie sich sicher, sprach eine Einstellung gegenüber der Gefahr, die ihr nicht begreiflich war, und die Vorstellung, ihn zu öffnen und zu lesen, missfiel ihr.
Es passte nur zu gut zu allem, was sie von Clare Kendry wusste. Immer am Rand der Gefahr. Sich immer dieser bewusst, aber nie sich zurückziehen oder sich abwenden. Schon gar nicht, weil andere erschrocken oder verletzt sein könnten.
Und einen Augenblick lang sah Irene Redfield ein kleines, helles Mädchen auf einem verschlissenen blauen Sofa vor sich, das Teile eines leuchtend roten Stoffs zusammennähte, während sein betrunkener Vater, ein großer, kräftig gebauter Mann, im schäbigen Zimmer herumtobte, bedrohlich und laut fluchend, zwischendurch plötzlich nach der Kleinen grapschte, was nicht an Schrecken verlor, dass es meist erfolglos blieb. Manchmal gelang es ihm jedoch, nach ihr zu greifen. Aber nur die Tatsache, dass das Kind sich mitsamt seiner armseligen Näherei ans äußerste Ende des Sofas verzogen hatte, deutete an, dass es sich und seine Näharbeit doch gefährdet sah.
Clare hatte ja gewusst, dass es riskant war, sich etwas von dem Dollar abzuzwicken, ihrem wöchentlichen Verdienst für die vielen Besorgungen, die sie für eine Schneiderin im Dachgeschoss des Gebäudes machte, in dem Bob Kendry Hausmeister war. Aber dieses Wissen hatte sie nicht abgeschreckt. Sie wollte zu dem Picknick der Sonntagsschule, und sie hatte es sich in den Kopf gesetzt, dabei ein neues Kleid zu tragen. Also hatte sie trotz der vorhersehbaren Unannehmlichkeit und der möglichen Gefahr das Geld beiseitegetan, um sich den Stoff für jenes rührende rote Kleidchen zu kaufen.
Schon damals gab es keine Bereitschaft zur Entsagung, keine Loyalität jenseits ihres eigenen direkten Verlangens in Clare Kendrys Auffassung vom Leben. Sie war egoistisch, kalt und hart. Und doch hatte sie auch die seltsame Fähigkeit, einen Wärme und Leidenschaft spüren zu lassen, was manchmal aber geradezu theatralisch wirkte.
Irene, etwa ein Jahr älter als Clare, erinnerte sich an den Tag, an dem Bob Kendry tot nach Hause gebracht worden war, umgekommen in einer dummen Kneipenschlägerei. Clare, damals knapp fünfzehn Jahre alt, hatte nur dagestanden, die Lippen aufeinandergepresst, die dünnen Arme über der schmächtigen Brust gekreuzt, und hatte mit etwas wie Verachtung in ihren schräg stehenden dunklen Augen auf das vertraute, kreidebleiche Gesicht ihres Vaters hinuntergesehen. Sehr lange hatte sie so dagestanden, stumm und starrend. Dann war sie urplötzlich in Tränen ausgebrochen, wobei sie ihren mageren Körper hin und her wiegte, sich die hellen Haare raufte und mit den kleinen Füßen stampfte. Der Gefühlsausbruch hatte genauso plötzlich geendet, wie er begonnen hatte. Sie schaute sich rasch im kahlen Zimmer um, registrierte jeden, selbst die beiden Polizisten, mit einem durchdringenden Blick aufblitzenden Hohns. Und im nächsten Moment hatte sie sich umgewandt und war durch die Tür verschwunden.
Über die Zeit gesehen, erschien die Sache eher wie ein Herausschießen von über Jahre angestauter Wut als ein Überquellen von Trauer über ihren toten Vater; auch wenn Clare, wie Irene zugab, ihn in ihrer katzenhaften Weise durchaus gemocht hatte.
Katzenhaft. Das war das Wort, das Clare Kendry am besten beschrieb, wenn ein einzelnes Wort sie beschreiben konnte. Manchmal war sie hart und scheinbar ohne irgendwelches Gefühl; manchmal herzlich und leichtsinnig impulsiv. Außerdem steckte sie voller erstaunlicher, gedämpfter Bosheit, gut versteckt, bis sie geweckt wurde. Dann konnte sie kratzen, und das sehr eindrucksvoll. Und wenn man sie wütend machte, kämpfte sie mit einer Verbissenheit, die jede Gefahr, Übermacht oder Überzahl der anderen oder sonstige Widrigkeiten völlig außer Acht ließ. Wie hatte sie den Jungen an dem Tag zugesetzt, als diese selbstverfasste Spottverse auf ihren Vater gejohlt hatten, die seinen seltsamen Watschelgang aufs Korn nahmen! Und wie bewusst hatte sie –
Irenes Gedanken kehrten in die Gegenwart zurück, zu Clare Kendrys Brief, den sie noch immer ungeöffnet in der Hand hielt. Mit einem unguten Gefühl schnitt sie den Umschlag betont langsam auf, zog die gefalteten Seiten heraus, strich sie glatt und begann zu lesen.
Es war genau das, was sie erwartet hatte, als sie dem Poststempel entnommen hatte, dass Clare in der Stadt war. Eine extravagant formulierte Bitte, sie wiederzusehen. Nun, sie musste ja nicht darauf eingehen, sagte Irene sich, nein, keinesfalls. Ebenso wenig würde sie Clare bei ihrem unsinnigen Wunsch unterstützen, für einen Augenblick in jenes Leben zurückzukehren, das sie vor langer Zeit und aus eigenen freien Stücken hinter sich gelassen hatte.
Sie überflog den Brief und enträtselte, so gut sie konnte, die nachlässig hingeworfenen Wörter oder erriet sie instinktiv.
»… Denn ich bin einsam, so einsam … sehne mich unaufhörlich danach, wieder bei dir zu sein, so wie ich mich noch nie nach irgendetwas gesehnt habe; und ich habe mir in meinem Leben schon viele Dinge gewünscht … Du kannst nicht ahnen, wie ich in diesem meinem farblosen Leben ständig die strahlenden Bilder jenes anderen Lebens vor mir sehe, von dem ich mich einst glücklich befreit wähnte … Es ist wie ein Schmerz, eine nie endende Pein …« Ein dünnes Blatt Papier nach dem anderen. Und schließlich endete der Brief: »… und es ist Deine Schuld, ’Rene, Liebes. Zumindest teilweise. Denn ich würde jetzt vielleicht nicht diese schreckliche, diese heftige Sehnsucht fühlen, wenn ich Dich nicht damals in Chicago getroffen hätte …«
Hellrote Flecken zeigten sich auf Irene Redfields olivbraunen Wangen.
»Damals in Chicago.« Die Worte hoben sich von all dem Wortschwall ab und brachten eine klar umrissene Erinnerung mit sich, in der sich selbst jetzt, nach zwei Jahren, Demütigung, Groll und Wut vermischten.
zwei
An Folgendes erinnerte sich Irene Redfield.
Chicago. August. Ein heller Tag, heiß, und eine grausame, grelle Sonne sandte Strahlen herab wie geschmolzenes Eis. Ein Tag, an dem selbst die Umrisse der Gebäude bebten, als protestierten sie gegen die Hitze. Zuckende Linien hoben sich ab vom trockenharten Straßenpflaster und schlängelten sich auf den glänzenden Schienen dahin. Die am Bordstein geparkten Autos waren ein flirrendes Leuchten, und die Schaufensterscheiben strahlten blendenden Glanz aus. Staubkörnchen wirbelten von den heißen Bürgersteigen auf und reizten die ausgetrocknete oder triefend nasse Haut ermatteter Fußgänger. Was es an schwacher Brise gab, schien wie der Hauch einer Flamme, die von einem Blasebalg träge angefacht wird.
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